Das Rosen-Experiment - Jan Böttcher - E-Book
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Das Rosen-Experiment E-Book

Jan Böttcher

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Beschreibung

Ein fabelhafter historischer Stoff aus dem Berlin der 1920er Jahre, furios erzählt

Berlin, 1928. Im Stadtschloss an der Psychologischen Fakultät widmet sich die hochbegabte Doktorandin Zenia gemeinsam mit ihrem Professor Zadek und der Kellnerin der Erforschung der Seele. In ihrem bahnbrechenden Rosen-Experiment untersucht sie Affekte wie Wut und Ärger und revolutioniert ihr Fach. Doch je tiefer Zenia forscht, desto stärker sind auch die Gefühle, die sie als Wissenschaftlerin und Jüdin auf sich zieht. Wohin mit der Liebe, wenn man gleichzeitig ausgegrenzt wird? Ein glänzender Roman, der eine flirrende Zeit spiegelt – ganz nah am Seelenzustand der Gegenwart. 

»Klug aufgebaut, hochoriginell und voll neuer Einsichten.« Wolfram Eilenberger.

»›Das Rosen-Experiment‹ ist Sittengemälde, Psychogramm einer Zeit, Sprachkunstwerk – ein tiefenscharfer Blick in die Vergangenheit, der die Gegenwart erhellt.« Katerina Poladjan.

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Seitenzahl: 446

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Über das Buch

Berlin, 1928. Vom Tanz und Glanz der Goldenen Zwanziger lässt sich die hochbegabte Doktorandin Zenia nicht ablenken. Sie will im Stadtschloss, wo die Psychologische Fakultät der Berliner Universität zu Hause ist, die Kräfte der Seele erforschen.

Als sie die Berliner Kellnerin Helene zu ihrer Assistentin macht, weist Professor Leonard Zadek den beiden Frauen eine anspruchsvolle Aufgabe zu. Sie sollen den Affekten Ärger und Wut auf den Grund gehen. Zenia entwickelt dafür eine neue, bahnbrechende Art der Versuchsleitung – mit ihrem Rosen-Experiment wird sie Geschichte schreiben.

Doch kann man zum Ärger forschen, ohne Ärger zu wecken? Zenia zieht als Wissenschaftlerin und Jüdin starke Gefühle auf sich. Und sowohl Zadek als auch Helene haben unterschätzt, wie sehr sich Liebe und Leben mit Zenias Experiment überschneiden.

Jan Böttcher hat einen glänzenden Roman geschrieben, inspiriert von realen Figuren und hochatmosphärisch erzählt – ganz nah am Seelenzustand der Gegenwart. 

»Klug aufgebaut, hochoriginell und voll neuer Einsichten.« Wolfram Eilenberger    

Über Jan Böttcher

Jan Böttcher wurde 1973 in Lüneburg geboren, war zunächst Songtexter und Sänger der Berliner Band »Herr Nilsson«. Mit seinem Text »Nachglühen« gewann er den »Ernst-Willner-Preis« beim Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb. Im Aufbau Verlag sind seine Romane »Das Kaff« und »Am Anfang war der Krieg zu Ende« erschienen. Jan Böttcher lebt in Berlin. Mehr unter www.janboettcher.com

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Jan Böttcher

Das Rosen-Experiment

Roman

Übersicht

Cover

Titel

Inhaltsverzeichnis

Impressum

Inhaltsverzeichnis

Titelinformationen

Informationen zum Buch

Newsletter

ERSTER TEIL

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

ZWEITER TEIL

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

DRITTER TEIL

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

VIERTER TEIL

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Nachbemerkung

Primärquellen (Auswahl)

Dank

Impressum

ERSTER TEIL

Denn der wissenschaftliche Versuch hat niemals das unbearbeitete Material der sinnlichen Wahrnehmung zu seinem eigentlichen Gegenstand, sondern setzt an seine Stelle ein Ganzes an Bedingungen, das er selbst konstruiert und dem er seine Grenzen vorgeschrieben hat. Das Experiment geht daher streng genommen niemals auf den wirklichen Fall, wie er hier und jetzt in aller Fülle seiner besonderen Bestimmungen vorliegt, sondern auf einen idealen Fall, den wir ihm substituieren.

Ernst Cassirer (1910)

1

Zenia grüßte nickend den Brunnen, doch sie meinte das Abendlicht, das auf den Brunnen fiel. Den weichen Schatten unter Neptuns Muschelschale und wie die Wasserspeier, ja sogar die Wasserfontänen, ihr ein Stück entgegenrückten! Sie atmete tief ein, tief aus, entzog Neptun den Blick und nahm schließlich vom Hauptportal den geraden Weg über den Schlossplatz. Zügig, den Schritt noch beschleunigend, wo Passanten und Passantinnen ihren pfeilengen Korridor zu gefährden drohten. Zwei Hüpfer über die Tramschienen, endlich wurde es Frühling.

Sie ließ das kurze vertraute Klingeln in ihr Herz, als sie die Tür zum Schwedischen Café aufzog; nur ein paar weitere Schritte und man war am Tresen angelangt. Unter der Glasglocke ruhten die letzten Zimtschnecken des Tages, einige Narzissen im Glas wachten über eine Gruppe Zuckerstreuer. Im Vorbeigehen strich Zenia mit der Hand über den Tresen. Der Abstand zwischen den Deckenlampen wurde größer, auch passten die Stühle nicht mehr einheitlich zueinander, dafür drangen Stimmen aus der Tiefe des Cafés, aus der Wand, und die Wand wich, ein letzter Schritt, um zwei Meter zurück.

In der Nische bekam sie die Stimmen zu Gesicht. Vera, Karl, Lisabet, all die anderen begrüßten die Freundin lächelnd, winkend, Emiljana führte sogar eine kleine Tanzeinlage auf und nahm ihr die Mütze vom Kopf, um sie sich selbst aufzusetzen. Zenia mimte nach dem langen Studientag die Erschöpfte, sie ließ sich tief in einen Sessel fallen, seufzte.

Um sich gleich wieder aufzubäumen. Nur ein Spaß, natürlich. Man war ja nicht erschöpft, bevor das Kolloquium überhaupt angefangen hatte.

Die Kellnerin nahm erste Bestellungen auf, reihum mit den Augen, jede Einheit verarbeitete sie per Lidschluss. Dreimal Berliner Weiße, zweimal Pils, ansonsten Sodawasser. Zenia nahm einen Tee, für den Professor bestellte sie Schwarzbier und dazu den Rübeneintopf. Dienstags blieb Leonard Zadek zum Mittag mit einer Stulle in seinem Büro und las, abends war er dann hungrig, man kannte seine Marotten. Es war auch nicht außergewöhnlich, dass er auf sich warten ließ; Zadek hatte seine Sprechstunde vor das Kolloquium gelegt und vergaß oft die Zeit.

Es war Zenia nur recht. Sie brauchten schließlich eine Weile, um die jeweils letzte Unterredung oder Lektüre zu verdrängen und Platz zu schaffen im Kopf. Und dies war die einzige Vorbereitung, die der Professor von ihnen erwartete: Platz schaffen, in Bereitschaft sein. Was auf sie zukam, welchen Weg die Unterhaltung einschlagen würde, das wusste niemand.

Die Kommilitonen waren alle da, alle neun, mit ihr zehn. Konnte gar nicht anders sein. Wer fehlte, lag womöglich im Sterben, war aber mindestens ernsthaft krank. Wohlgefühl und Pflichtgefühl, dachte Zenia, waren auch durch einen geheimen Gang verbunden. Sie streckte sich, um von der Nische aus in den vorderen Teil des Cafés zu spähen, dort hing die große Uhr.

Schon zwanzig nach sieben. Plötzlich stand Emiljana vor ihr, sie war um den halben Tisch herumgekommen und flüsterte Zenia ins Ohr. Stimmt. Das war ihr entfallen. Schon vor Wochen hatten sie für den Fall einer so argen Zadek’schen Verspätung gemeinsam eine Übung vorbereitet, die Emiljana bei ihren Forschungen helfen konnte.

»Wir möchten euch bitten«, hob Emiljana an, während sie noch zu ihrem Platz zurückkehrte, »Bleistift und Papier herauszuholen. Schreibt einen Brief an eure Liebste oder euren Liebsten. Wer nicht liiert ist, schreibt an die Mutter. Bleistift heißt: Korrekturen sind erlaubt. Sonst keine weiteren Vorgaben. Die Versuchsleitung liegt bei Zenia und mir.«

Zenia musste lächeln über Emiljanas Strenge. Jetzt fielen einige flapsige Sprüche, ob dies mit Zadek abgesprochen oder ob das Matriarchat ausgebrochen sei etc., aber schnell kehrte Ruhe ein, bückten sich alle nach der Ausrüstung in ihren Taschen. Weiterführende Fragen zu einer Aufgabenstellung waren in ihrer psychologischen Fakultät ohnehin strengstens verboten. Nebenbei kamen die ersten Bestellungen.

Dass sie Bleistifte nahmen, erleichterte den Schreibprozess. Anrede und einleitende Sätze waren schnell geschrieben. Danach wuchs die Intimität; Augenpaare suchten Stellen an der Decke oder an der Wand, an denen sie ganz für sich waren. Stifte wurden hinters Ohr gesteckt, ins Haar, zwischen die Zähne. Zenia beobachtete, machte sich Notizen.

Nach etwa zehn Minuten unterbrach Emiljana:

»Danke. Das war’s schon. Wir wollten nur sehen, ob sich jemand vor den anderen geniert. Keine Angst, niemand muss vorlesen. Es folgt nun die eigentliche Übung. Alle drehen dafür bitte ihr Blatt auf die leere Seite. Ich habe hier einen Würfelbecher mit fünf Würfeln.«

Sie schüttelte die Würfel im Becher, auch um die allgemeine Unruhe zu übertönen.

»Es geht reihum. Man würfelt auf einen Schlag. Ein Wurf zählt, wenn er 22 Augen oder mehr in der Summe ergibt.«

»Wem hier zuerst drei so hohe Würfe gelingen«, ergänzte Zenia, »bekommt von uns ein Getränk spendiert.«

»Aaah, wo gespielt wird, da lass dich ruhig nieder.«

Professor Zadek war aus dem Nichts aufgetaucht, lautlos, er hatte sein Jackett an den Garderobenständer gehängt und mit der anderen Hand bereits den freien Stuhl gegriffen, um nah an den Tisch heranzurücken. Er huscht, er bewegt sich wie eine Katze, dachte Zenia.

Zadek hob die Untertasse von einer Schale, die auf dem Tisch stand. »Sehr gut, Sie denken immer mit«, sagte er. »Eintopf und Schwarzbier gehen doch an mich?«

Zenia nickte, hoffentlich war die Suppe noch heiß genug.

»Wir beginnen. Bitte notiert jede Summe, die ihr erwürfelt«, sagte Emiljana, und schon wanderte der Würfelbecher.

Ärmel wurden hochgekrempelt. Hände gerieben. Mancher äffte die dramatische Mimik aus Filmen nach. Ohne Erfolg. In der ersten Runde gelang überhaupt nur Lisabet eine Wertung mit 23 Punkten. Emiljana und Zenia taten weiterhin so, als müssten sie sich wichtige Notizen machen.

Schon kamen weitere Bestellungen. Zenia sah zu, wie das Fräulein die Getränke zielsicher bei den Bestellgebern ablieferte und wieder verschwand. Zwei weitere Männer bestellten den duftenden Eintopf, es war ausdrücklich erwünscht, den Professor beim Essen zu unterstützen. Zenia hatte sich schon manchmal gefragt, ob es in Berlin noch ein zweites Kolloquium gab, bei dem Suppen gelöffelt wurden. Der Professor tupfte sich den Mund ab, würfelte 22 Punkte und riss beide Arme hoch, womit er seinen mangelnden sportlichen Ehrgeiz zu verspotten suchte, aber vor allem zwei Schweißflecke unter den Achseln zeigte. Gleich nach ihm gelangen auch Karl 22 Punkte, und das Spiel nahm sofort Fahrt auf, die Gruppe fühlte sich angestachelt. Benno setzte ein Bein auf den Stuhl, führte den Würfelbecher unter dem Hosenbein hindurch und übernahm ihn mit der anderen Hand. Dazu imitierte seine Stimme einen Trommelwirbel, damit der Ulk wie eine Zauberei wirkte. Herr Claus wollte ihm nicht nachstehen. Auch er sprang aus dem Stuhl, schüttelte den Becher über dem Kopf, schwang die Hüfte im Takt dazu und drehte sich einmal um die eigene Achse. Jemand rief dazu Oh lala, jemand rief Café Rio, es wurde in die Hände geklatscht – der Wurf nach der Showeinlage hatte keinen Erfolg. Das Spiel war so einfach, dachte Zenia, es handelte nur vom Glück, und doch wollte jede Person zeigen, dass sie es besser konnte, dass sich die Würfel becircen ließen, und wer jetzt noch immer ein Ergebnis von nur 13 oder 14 Punkten würfelte, war ehrlich von sich enttäuscht.

Zenia und Emiljana nickten einander zu.

Die Sache lief. Auch die Länge des Versuchs schien Zenia stimmig zu sein, sie waren schon in der siebten oder achten Runde.

Die Kellnerin brachte die zwei weiteren Schalen Eintopf, und wieder konnte Zenia nicht umhin, ihren flinken Handbewegungen zu folgen. Sein blondes Haar hatte das Fräulein zum Zopf zurückgebunden, doch eine einzelne Strähne löste sich. Die Dramatik des Würfelspiels kommentierte die Kellnerin nicht, aber sie nahm mit den Augen neue Bestellungen auf. Pils, Weiße, Weißwein.

Lisabet, Karl und Professor Zadek hatten bereits zwei erfolgreiche Würfe verzeichnet, als innerhalb einer Spielrunde Herr Claus und Vera zu ihnen aufschlossen. Mit der Spannung stieg noch einmal die Lautstärke der Gruppe. Und dann war es ausgerechnet dem Professor vorbehalten, mit dem höchsten Wurf des Abends das Spiel zu gewinnen. 27 Punkte auf einen Schlag.

»Ich entschuldige mich ausdrücklich für die Verspätung«, sagte er, »aber ich musste noch üben.«

Alle lachten, erleichtert auch, dass es vorbei war.

»Welches Siegergetränk dürfen wir bringen lassen?«, fragte Zenia.

»Ein Pokal? Darauf bestehe ich nicht.«

»Wir aber. Und mit Nachdruck.«

»So? Na, Sie wissen, Frau Naujas, was Ihnen wichtig ist, würde ich niemals ausschlagen.«

»Ach, Ihre Zoten immer«, winkte Zenia ab.

Sie fand selbst, dass sie damit kleinmütig reagierte. Aber noch lief der Versuch und es galt, jede Ablenkung klein zu halten.

»Ich feiere mit einer Tasse Kaffee«, sagte Zadek schließlich, als die Kellnerin an den Tisch gekommen war. Sie nahm weitere Bestellungen auf, fast alle Gläser waren nach dem Würfelspiel geleert. Die Schalen, Tassen und Gläser stellte sie so ineinander, dass sie alles mühelos ohne Tablett zum Tresen transportieren konnte.

Das Mädchen ließ Zenia abschweifen. Erstaunlich, warum jetzt, warum heute, diese Kellnerin arbeitete doch schon länger hier. Bestimmt hat sie im Hotelfach gelernt. Aber habe ich denn etwa angenommen, dachte Zenia, im kleinen Schwedischen Café am Schlossplatz würden die Bedienungen noch ohne Ausbildung eingestellt? So etwas kann nur denken, wer hinten in der letzten Nische sitzt. Und sie tadelte sich für ihre Arroganz.

Lisabet drehte dann als Erste das Papier um, und es war gut, dass sie es unbemerkt von den anderen tat. Sie las still ihren unvollständigen Brief, las ihn ein zweites Mal, strich eine Passage und korrigierte. Zadeks Kaffee war noch nicht gebracht, da griff Karl, der von Lisabet weit entfernt am anderen Tafelende saß, seinen Bleistift, er drehte das Blatt um und schrieb ohne zu zögern am Brieftext weiter. Ihm musste ein ganz neuer Gedanke gekommen sein. Auch Vera sah sich ihren Brief an, schrieb aber nichts.

Kurz darauf löste Emiljana das kleine Experiment auf. »Das Würfelspiel ist ohne Bedeutung gewesen. Nur darum ist es uns gegangen, ob ihr nach dem Würfelspiel zum Brief zurückkehrt.«

Emiljana klärte Zadek rasch über den ersten Teil der Übung auf, und dem Kolloquium erzählte sie davon, dass sie begonnen hätte, zu unterbrochenen Aufgaben zu forschen. Der Professor weitete die Augen.

Zadek hatte in seinen Vorlesungen einige Randnotizen zu Unterbrechung und Fortsetzung von Tätigkeiten gemacht, aber er hatte noch keine Versuchsmethoden angeboten. Vielleicht wirkte er deshalb in der Folge leicht zerknirscht, mindestens aber hin- und hergerissen – zwischen einer Begeisterung für die Initiative einerseits und aber der Ansicht, dass der Versuch noch unausgereift war, verfrüht kam. Zadeks Hauptkritik bestand darin, dass Zenia und Emiljana die gesamte Gruppe einbezogen hätten, denn die Motive für das Wiederaufnehmen einer Tätigkeit müssten am Einzelnen erforscht werden. »Die Ablenkung ist Ihnen gut gelungen«, sagte er, »aber wir müssen natürlich ausschließen, dass jemand den Brief nachher nur wieder aufdeckt, weil die Nachbarin es ihm gerade vorgemacht hat, nicht wahr?«

Emiljana ließ sich keine Enttäuschung anmerken. Vielmehr bestand sie darauf, dass nun Lisabet und Karl ihre Selbstbeobachtungen vortrugen. Lisabet sagte, sie sei beim Briefschreiben mitten im Satz unterbrochen worden und habe daher auch während des Würfelspiels an diesen Halbsatz gedacht. Karl hatte sich nicht eigentlich an den Brief erinnert, sondern daran, dass er seine Mutter um einen Gefallen bitten wollte. Damit standen die beiden allein. Alle anderen hatten sich vom Würfelspiel fortreißen lassen wie von einer Flussströmung.

Derweil brachte die Kellnerin Zadeks Kaffee und die weiteren Getränke. Sie stellte alles dort ab, wo es hingehörte, ließ danach den Blick schweifen, wobei Zenia nicht schnell genug wegsah. Da hob das Mädchen fröhlich das Kinn, fragend also, auffordernd, ohne zu stören, und Zenia tippte auf Veras Glas.

Das genügte, um Wasser mit Sprudel bestellt zu haben.

Keine Minute später stand das Sodawasser vor ihr.

Zenia ging ja auch manchmal ins Café Schiller zum Schachspiel, aber sie hätte nicht sagen können, ob die Kellner in den großen Kaffeehäusern auch so … so tadellos funktionierten. Diese Kellnerin warf Fragen auf. Wenn sie nur gewusst hätte, welche Fragen.

Zadek, der den Studierenden immer unruhiger zugehört hatte, stellte seine Scheinwerfer auf. So nannten sie es, wenn er eine Sache wie ›Brief‹ von verschiedenen Seiten ausleuchtete. Er dozierte nun zum Schreibprozess eines Briefes, der kaum vergleichbar sei mit dem Akt, einen fertigen Brief noch einmal diktiert zu bekommen. Oder den bereits diktierten Brief gar abschreiben zu müssen. Beim Verfassen eines Briefes stelle das Geschriebene nur einen geringen Teil aller gedanklichen Prozesse dar, die uns ausfüllten. Zadek schob sein Papier in Richtung Tischmitte, damit man seinen begleitenden Zeichnungen folgen konnte. Zeichnen, denken, sprechen, das war alles eins. Er fragte, welche Art von Brief welchen Bereich der Psyche in Spannung versetze, und er beantwortete es sogleich selbst. Er sprach auch über fertige Briefe, den Akt des Zuklebens, wenn wir das Geschriebene nicht mehr ändern könnten. Wie dann die Spannung gleichsam abwanderte in Richtung Einwurf. Wir hätten einen Briefkasten vor Augen. Aber nur so lange, wie der Brief nicht darin verschwunden sei. Er sprach über Briefe, die wir aus Zeitgründen dem Partner übergaben, auf dass er sie einwerfe. Auch in diesem Fall würde der öffentliche Briefkasten keinerlei Valenz auf uns ausüben.

Schnell entstand der Eindruck, Zadek hätte über nichts in seinem Leben so viel nachgedacht wie über Briefe und Briefkästen. Zenia folgte ihm, und sie folgte ihm nicht. Es war unmöglich, jeden von Zadeks Gedanken zu erfassen, die sich in einer schier endlosen Kette aneinanderreihten. Sie bewunderte ihn dafür, dass er all ihre wissenschaftlichen Arbeiten leitete, aber sie hätte ihn am liebsten dafür geschimpft, dass er nicht locker ließ und jetzt ihr geliebtes Kolloquium bestimmte. Zenia kämpfte mit den beiden Emotionen, es war ihr auch in Vorlesungen schon passiert, wenn sie sich nicht mehr austauschen konnte, wenn er an der Tafel seine Diagramme malte, verbesserte, auswischte, neu ansetzte. Sie wurde darunter dann ganz apathisch, verlor alle Motivation.

Zenia ließ den Blick schweifen. Einige ihrer Freunde versuchten sich an einer stenographischen Mitschrift. Andere bekamen nur noch mehr Durst. Emiljana zeichnete an einer Tabelle.

Wie streng und klar Emiljana den Versuch angeleitet hatte. Es verband sie, dass sie gemeinsam den Ehrgeiz hatten, einen solchen Versuch durchzuführen, selbst wenn er dreifach verfrüht kam. Sie wollten dieser Gruppe angehören, und sie taten etwas dafür. Emiljana war in Aserbaidschan aufgewachsen, Zenia zum Studieren mit ihrem Mann aus Dwinsk hergekommen. Auch das galt für sie beide: Es war beinahe unmöglich geworden, die Eltern zu besuchen.

Und jetzt dachte Zenia daran, dass ihre Mutter in jungen Jahren einmal als Tresenkraft gearbeitet hatte, in einem Kasino für russische Soldaten.

Zadek hatte noch einmal die Kellnerin herbeigewunken.

Schließlich setzten alle die Stifte ab, lächelten, strafften den Rücken, sie wirkten gelöst … auch der Professor … irgendetwas war ihm gelungen, er betrachtete den Abend als gelungen. Auf seine Gedankenschnelle konnte er sich eben verlassen, dachte Zenia, selbst wenn er seine eigenen Pläne für das Kolloquium zurückstellte. Es passte aber zu ihm, dass er sein Glück in einer Ersatzhandlung preisgab: Zadek malte mit dem Zeigefinger waagerecht einen Kreis in die Luft, um der Kellnerin zu bedeuten, dass er alles zahlen würde. Zenia fand es peinlich, schon wegen seiner Würfelprämie, und sie war kurz davor, Einspruch zu erheben, aber warum sollte sie des Professors Laune unnötig trüben.

Es war ja sogar untersagt, sich für solcherart Einladungen bei ihm zu bedanken.

Nun hatte auch die Kellnerin erstmals Zettel und Stift zur Hand genommen. Sie sah jeder Person ins Gesicht und sagte dann, was man gegessen und getrunken hatte. Zenia sah fasziniert zu, es waren ja immer mehrere Posten. Dabei strich sich das Fräulein wieder seine Haarsträhne hinters Ohr, ohne Verlegenheit. Ein einziges Mal hob sie am Wortende die Stimme, so als würde sie fragend raten, nicht sicher zuordnen, was sich aber als Koketterie entpuppte. Sie lag auch dieses Mal richtig.

Zenia selbst nickte ein Glas Mosel ab, ein Glas Soda, einen Kaffee, einen Kräutertee. Die Bestellungen einer unschlüssigen Person, dachte sie über sich selbst.

»Nichts für ungut, Frau Naujas, der Versuch … ich achte es hoch, dass Sie etwas ausprobieren und auch ins Risiko gehen.«

Der Professor warf sich gerade sein Jackett über.

»Wie? Ich war in Gedanken … pardon.«

Der Professor wiederholte den Satz.

Etwas ausprobieren, genau. Sie nickte. Aber eine gute Kopfrechnerin war die Kellnerin nicht, die Einzelsummen jeder Person notierte sie auf einem kleinen Handblock, zog dann die Zwischensummen, die sie in einem zweiten Schritt zur Gesamtsumme addierte. Sie benötigte einige Zeit, und Zenia zog den Blick nicht von ihr ab. Elf Gäste hatte sie bedient, und dabei den ganzen Abend und noch in der Schlussrechnung keinen einzigen Posten vergessen, so als seien Gesicht und Konsum zwei jeweils passgenaue Kärtchen in einem Legespiel. Wie um Himmels willen gelang ihr diese Zuordnung?

2

Helene saß am Caféfenster, vor sich ein kleines Glas Exotik, Cranberrysaft. Den durfte sie sich gönnen. Ihre Kollegin war beim Aussteigen aus dem Bus gestürzt und hatte sich glatt den Arm gebrochen, ausgerechnet jetzt, wo Schnee und Eis passé waren. Und Helene war also seit der Frühe auf den Beinen, hatte eine Doppelschicht in den Knochen. Sie sah hinaus in den Verkehrsstrom, der immer nur mäßig ausdünnte und nie verebbte, und sie spürte ihren Blick in den Lichtern der Laternen verschwimmen, so erschöpft war sie.

Aber dieser zauberhafte Geschmack auf der Zunge. Und vor sich das Ungetüm, »Dit große Jeg’nüba«, wie ein Stammgast es auf seine schnodderige Art benannt hatte. Irgendwie ist doch das Stadtschloss, fand sie, weil man es selbst nie betrat, mit den Jahren immer unwirklicher geworden. Nicht viel mehr als eine Kulissenwand, vor der die Busse und Straßenbahnen hinüberzogen. Wie Helene hinsah und die Augen auf das Hauptportal scharfstellte, wunderte sie sich plötzlich darüber, dass zwei oder drei Menschen darin verschwanden.

Herrje. Das war ja nun … als hätte sie es nicht mehr für möglich gehalten, dass man überhaupt hineinging.

Durch die Stimmen und das Gelächter fanden ihre Sinne zurück ins Café. Ausgerechnet die Nische hinten, mit der Eckbank. Dort saßen ja lauter Menschen, die das Schloss von innen kannten. Helene wusste nicht mehr, von wem sie es erfahren hatte, aber die Psychologen nutzten seit einiger Zeit Räume im Schloss für ihre Forschung.

Psychologie.

Das Wort war im Grunde auch bloß ein Blitzlicht, das die Schlossfassade kurz hell machte, und gleichzeitig hielt es alles Leben im Inneren des Schlosses dunkel und verborgen.

Dass die Studenten aber auch so ausdauernd waren. Immer ihre letzten Gäste am Dienstag. In der großen Gruppe waren sie lustig. Kamen sie tagsüber in Paaren oder allein, ging nicht gerade eine einladende Heiterkeit von ihnen aus, aber auch das war Helene recht, manchmal hatte es ihr sogar imponiert. Wenn sich fremde Männer näherten, um ein dämliches Aperçu loszuwerden, wussten sich die Studentinnen gut zu wehren. Sie hätten zu arbeiten. Ein ums andere Mal hörte Helene, wie sie das sagten. Stören Sie uns bitte nicht. Wir haben zu arbeiten. Dann die höhnischen und lästigen Widerworte von Verehrer eins und Verehrer zwo. Und die Studentinnen wieder nur kühl: Oh, ein schönes Bonmot. Danke dafür. Danke, wir arbeiten.

Wie oft war Helene heute bei ihnen am Tisch gewesen? Für dieses Jahr bestimmt Abendgesellschaftsrekord. Frau Lagerbäck hatte es ihr ja vorausgesagt. Sobald der erste Krokus ans Licht kommt, fangen die Menschen an zu trinken. Sagte sie jedes Jahr, die Chefin. Sie sagte allerdings auch: Sobald die ersten Linden blühen. Die Chefin hat halt immer recht.

Aber nun wollten auch die klügsten Geister endlich mal ins Bett. Helene kassierte. Allgemeines Stühlerücken, Küsschen hier, Schulterklopfen da, und rein in die teuren Strickjäckchen. Waren ja alles Bürgerliche, konnte ja gar nicht anders sein, als dass die Eltern fürs Studieren aufkamen. Trotzdem übernahm wieder der Professor die Rechnung. Der aufgedrehte Professor, der immer zu spät war und dafür der Freundlichste von allen. Er hatte schütteres Haar, aber eine merkwürdig junge Haut, war bestimmt nicht viel älter als seine Schülerinnen.

Eine blieb noch sitzen. Helene kannte das Fräulein, und sogar beim Namen. Zenia. Die kam manchmal zum Kaffee mit ihrer Freundin, die genauso dunkle Haare hatte. Jetzt schrieb sie, mit der linken Hand, energisch, fast verbissen schnell – und hob die rechte, ohne dabei den Blick von ihrem Papier zu nehmen, immer wieder zur Verabschiedung: »Bis morgen, bis morgen, schlaf gut, ja, bis morgen.«

Einen Brief an ihren Liebsten schrieb sie jedenfalls nicht. Es sah aus wie eine Strafe, jemand musste den Abend wohl protokollieren. Helene lächelte alle anderen hinaus und ließ auch den Tabakrauch ab, indem sie die Tür mit dem Holzkeil festklemmte. Beim Abtrocknen der letzten Gläser wünschte sie sich einen kühleren März im Gesicht und unter der Bluse.

»Darf ich noch ein wenig sitzen?«, fragte Zenia.

Ein wenig sitzen? Ein wenig unverschämt, dachte Helene. Sie überlegte, was sie sagen sollte, aber setzte sich bloß mit einem Glas Wasser nach draußen, aufs Fenstersims. Es war schade, dass sie draußen keine Stühle stellten, auch im Sommer nicht, aber das Trottoir war nicht mitgepachtet. Ein Mann bot ihr eine Zigarette an und sie lehnte harsch ab, weil sie wusste, er würde sich dazusetzen. Als sie wieder ins Café trat, schwenkte sie nach links aus, um von der Nische aus gesehen zu werden. Da legte die Studentin den Stift ab und winkte.

»Ich möchte Sie etwas fragen.«

»Was jibt’s denn noch, Madamchen?«

Helene füllte ihr Glas auf und ein weiteres dazu, ging hinüber. Sie wusste nicht genau, warum sie nachgab, warum sie jetzt noch auf Wünsche einging, aber als sie näher kam, war ihr, als betrete sie einen Energiekreis, dem sich alles an ihr widersetzte. Das kleine Fräulein Zenia musste noch gänzlich unter dem Eindruck ihres Clubtreffens stehen, die Gesichtsmuskeln, ihre Hände, alles an ihr war angespannt, sogar die Füße hatte sie aufgestellt, die Zehenspitzen auf dem Boden, die Fersen gegen die Stuhlbeine gepresst. Wie unter Leuchtstrom, dachte Helene, und es fiel ihr schon deshalb auf, weil ihr eigener Kopf in Gedanken gerade das große Loch im Nachthemd durchstieß. Sie war nicht bloß ungeduldig, sie musste jetzt alles, was ihr überhaupt noch an Kraft zur Verfügung stand, zusammenhalten, um damit das Café auszufegen.

»Wie heißen Sie noch?«

»Helene.«

»Helene, darf ich Sie etwas fragen, und Sie beantworten es so, wie Sie es beantworten können. Es ist ganz einfach.«

»Wenn es … warum nicht, aber rasch.«

»Wie können Sie sich die Bestellungen so gut merken, ohne Notizen zu machen?«

»Ja, das kann ich.«

»Und dann bei der Schlussrechnung auch. Wie machen Sie es, ist das nicht eine große Kraftanstrengung?«

»Ich empfinde es nicht so. Ich bin daran gewöhnt.«

»Gewöhnt, verstehe.«

Ihr letzter, ihr hartnäckiger Gast schrieb wieder etwas auf, einen ganzen Satz, es dauerte, und dann hob die Studentin den Kopf:

»Und was habe ich heute Abend getrunken?«

»Noch mal? Sie? Rotwein und Kaffee.«

»Wie viele Gläser?«

»Zwei?«

»Was hat Emiljana getrunken?«

»Pfff, Emiljana ist Ihre Freundin, die ihre Haare hier oben zusammengesteckt –«

»Genau.«

»Was sie – ich meine, auch Rotwein.«

»Wie viel Kaffee haben Sie dem Professor Zadek gebracht?«

»Kaffee, Professor. Ick bin janz ab, Frau Zenia, pardon, das ist mir jetzt zu viel, und ich muss auch ausfegen.«

»Nur noch dies.«

»Einmal Kaffee.«

»Er hatte zwei Tassen. Danke. Ich will Sie gar nicht quälen.«

Helene wusste nicht, was das Ganze sollte. Und sie sah der Studentin an, dass diese keine Auskunft darüber geben würde. Nur ein schiefes Lächeln. Und öffnete jetzt ihre Tasche, verstaute ihre Unterlagen und ihren Federhalter darin.

»Etwas anderes: Können wir nicht Du sagen zueinander?«

»Sicher«, nickte Helene ohne jegliches Zögern, »ich bin Helene, nenn mich Leni, aber jetzt schmeiß ich dich raus. Ich arbeite nämlich schon seit dem Mittag.«

»Gut. Leni. Weißt du, ich habe das Ergebnis vorhergesehen.«

»Wat für’n Erjebnis denn?«

»Als der Professor Zadek vorhin unsere Rechnung bezahlt hat, hast du jeden einzelnen Posten richtig zugeordnet – und dann musst du aber unseren ganzen Abend mitsamt den Rechnungsposten zu den Akten gelegt haben, die dich nicht mehr interessieren. Und eben konntest du sie nicht mehr aufrufen, als ich dich danach fragte.«

»Die Müdigkeit.«

»Vielleicht. Sie spielt mit hinein. Aber es sind nur zehn Minuten vergangen.«

Helene zog die Schultern hoch.

»Was fast noch schöner ist: Du hast gesagt, du willst jetzt lieber ausfegen. Da hast du mir gezeigt, dass du innerlich schon mit einer neuen Aufgabe beschäftigt bist.«

»Mag sein.«

»Ja, mag sein. Ich weiß, dass du das alles normal findest. Und du fragst dich: Das soll Psychologie sein?«

»Ick frag ma jrade jar nischt mehr.«

»Na, vielleicht sprechen wir lieber ein andermal weiter, was?«

Sie standen auf, wünschten sich eine gute Nacht. Das Fräulein knöpfte das Jäckchen zu, setzte eine Ballonmütze auf, deren kleiner Schirm sie in die Nähe der Arbeiterinnen rücken sollte. Dabei hatte sie ein güldenes Halskettchen getragen, so hauchdünn, dass es nur teuer sein konnte.

Helene schloss hinter Zenia die Cafétür ab und verfolgte doch, wie die Studentin über den Schlossplatz in Richtung Linden ging. Ein schöner Gang, wenn auch keine Tänzerin, die Schultern hingen leicht nach vorne. Schon setzte sie sich aber, als sie die Schlossfreiheit erreichte, auf die Treppenstufen, kramte in ihrer Tasche. Und fing wieder an zu schreiben. Ach, die Arme, dachte Helene zuerst, dann: Welche Ausdauer sie hat.

Sie holte den großen Besen hinter dem Vorhang zwischen Gaststube und Küche hervor, und als sie ausgefegt hatte, wischte Helene den Boden, wie Frau Lagerbäck es wollte, mit lauwarmem Seifenwasser, was das Holz schützte. Sie wollte nur noch hoch auf ihr Zimmer, hatte nicht einmal genug Kraft, sich richtig zu ärgern, spürte aber doch einen nachträglichen Stich – die Worte der Studentin hatten eine kleine Verletzung in ihr ausgelöst. Sie nahm ihre Tätigkeit als Kellnerin ernst, und hier ging es um ein Unvermögen ihrerseits, einen Mangel, hier stand doch unter dem Strich: Fräulein Lassahn war es nicht gelungen, die abendliche Verzehrrechnung für den Tisch ein zweites Mal aufzumachen.

Ich weiß, dass du das alles normal findest, hatte die Studentin gesagt. Also war es nicht normal. Niemand war derart vergesslich und wusste von einem Moment auf den anderen nicht mehr, was sie getan hatte.

Die Kammer kühl. Helene legte sich im Nachthemd auf die Decke. Sie hörte die Stimme von Frau Lagerbäck, nach dem Mittagstisch. »Schlechte Nachricht, Leni, weißt du, die Karen ist gestürzt und gleich ins Krankenhaus.« »Nu ha ick jrade Kasse jemacht.« »Dann gib dir jetzt ein halbes Stündchen, und dann übernimmst du die Abendschicht, ja?«

Daran dachte sie wohl, weil genau das in ihrem Leben normal war. Frau Lagerbäck bestimmte, was getan wird. Und Helene Lassahn bekam zu verstehen, dass sie auch nach drei Jahren noch nicht über ihre eigene Zeit verfügte. Und sie verstand es auch immer. Aber eben nicht mit dem Herzen. Das Herz brauchte mal Pause. Sie war noch keinen einzigen Tag krank gewesen, seit sie für Frau Lagerbäck arbeitete. Weil das Leben einen immer vorwärtstrieb. Und auch weil sie so viel auf ihre Chefin hielt.

Unfall ist eben Schicksal.

Und dicke Füße sind dicke Füße. Träum dir lieber ein Gedicht, Leni, mit Reimen und allem. Träum was Dummes von den Männern. Waren heute wieder zwei oder drei hinzugekommen. Wie war das mit dem Herzen eben und der Pause? Aber wurde ja Frühling und jeden Tag sagte ihr irgendwer was janz dolle Zerreißendes, wollte sie irgendwohin einladen, schlimm war das, eine Inflation von Wimmern und Himmeln und Stammeln. Wie mit dem Geld vor ein paar Jahren, als sich alle fragten, was das Ei wert war, wenn es zwei Milliarden Mark kostete. Aber wer wollte die Männer belehren. Etwas normal finden. Gott, war sie müde. Und wie ihre Beine pochten. Nach einem solchen Tag sofort einzuschlafen, sofort einschlafen zu können, das wäre normal gewesen. Helene konnte es nicht.

3

Zenia fluchte leiser, als ihr Ehemann eben geflucht hatte, aber jetzt fluchte sie tatsächlich auch. Nie wurde sie ein Wort über ihre Arbeit los und drehte doch gerade schier durch vor Impulsen. Auf dem Weg zur Hochbahn zog es ihre Schultern in die Höhe, ballten sich beide Fäuste am Körper, so sehr hatte sie sich gewünscht, Dima teilhaben zu lassen, ihm vom gestrigen Gespräch mit Zadek zu erzählen, vom Kolloquium.

Seit sie die Kellnerin im Schwedischen Café bei der Arbeit beobachtet und darauf zur Rede gestellt hatte, dachte Zenia nach und ordnete, den lieben langen Tag rollte sie ihre neuen Fragen wie Käselaibe durch die Straßen Berlins: Wie reagiert unsere Psyche auf erledigte Bestellungen, wie auf unerledigte Wünsche? Was passiert in uns, wenn wir etwas erledigen und zu den Akten legen? Welche Dinge halten wir für erinnerungswürdig, und für wie lange? Wodurch verlieren wir die Lust, uns etwas zu merken?

Sie wehrte sich einfach dagegen, dass Dimas Wut sich auf sie übertrug, daher ging ihr Puls so schnell. Спокойно. Konnte er seine Probleme bei der Zeitung nicht in Ruhe mit ihr besprechen? Dimitri Alexandr Naujas, der seit achtzehn Monaten die Britva in den Berliner Straßen verteilte, der ihnen die Druckmaschine durchs Treppenhaus gewuchtet hatte, der jede freie Minute dafür gab, dass die Exilanten Gehör fanden – ausgerechnet er wurde von den Genossen zum Gespräch einbestellt! Auf welche Weise sollte er seine Solidarität denn noch unter Beweis stellen!

Beruhige dich, спокойно, du hast ja recht, aber du weißt doch, die Vermieterin.

Die Bahn fuhr jetzt über der Straße gen Osten, zu beiden Ufern ausgegossen: das große Weltstadtlicht. Zenia schloss die Augen gegen die Reize. Nur gut, dass ihr Mann sich gar nicht erst umgezogen hatte. Ihn mitzuschleppen, ihn auf der Geburtstagsfeier ihres Professors im Auge zu behalten, unmöglich. Wie er sich schlecht benehmen würde, dann schämen, schließlich betrinken. Sie hätte Qualen gelitten, allein der Gedanke daran schüttelte sie durch.

Endlich Schlesisches Tor. Hinaus und die Treppe hinunter. Zenia war noch nie hier gewesen, hatte weniger Trubel erhofft, mehr Randlage. Stattdessen Reklame und hundert Schilder an den Hofeingängen, alles schien doppelt und dreifach belegt mit Industrie und Kleingewerbe. Erst an der Schlesischen Straße standen die Lichter etwas weiter auseinander. Hinter einer Fabrik wurden die Häuser niedriger, auch breiter. Sie erinnerte sich daran, dass Zadek einmal von einer Försterei gesprochen hatte, die nicht weit von seiner Wohnung entfernt lag. Irgendwo musste Berlin ja enden. In halbdunkler Ferne die hohen Umrisse von Pappeln. Ein langer Kerl, ein dünner Mann, hat hunderttausend Schellen an. Der Mutter Rätselreim zur Silberpappel an der Dwina. Die Eltern hatten den Deutschen vieles abgelauscht. Und als hätte Zenia nun doch eine Grenze überschritten, sah sie plötzlich Sterne am Abendhimmel und für einen Moment war sie in Gedanken daheim in Dwinsk.

Drinnen brannten Kerzen. Der Professor kam zur Tür geeilt, ein Geschenk hatte er schon im vorhinein abgelehnt, jetzt drückte er Zenia die Hand, noch bevor sie ihre Glückwünsche loswerden konnte. Das war sehr typisch, sein Geburtstag – er wurde 35 – galt ihm nichts, die Gesellschaft alles, und tout de suite wurde jeder neue Gast in die Runde eingeführt.

Kein Wort auch darüber, dass sie allein gekommen war. Sie durfte ihn Leonard nennen, fiel ihr ein, aber heute lieber nicht. Natürlich siezten sie sich. Er stellte ihr einen Nachbarn vor, ein kleiner, kahlköpfiger Physiklehrer, der im zweiten Obergeschoss wohnte. Die beiden Männer scherzten darüber, dass sie sich regelmäßig im Treppenhaus trafen, ihre Stifte zückten und zeichneten, auf dass der eine teilhaben möge an der neuen Weltordnung des anderen. Über ihre geheimen Zusammenkünfte strahlten sie eine diebische Freude aus, der Psychologe nicht weniger als der Physiker.

Zenia sah sich um. Die Wohnung war modern eingerichtet, nüchtern, es fehlten Spitzendeckchen oder irgend Geklöppeltes, und Teppiche hingen weder an der Wand, noch lagen sie auf dem Parkettboden, nur ein sehr großformatiger – weinrote und beigefarbene Quadrate im Wechsel – im Speisezimmer unter dem Esstisch. Anders als bei vielen Bürgerlichen gab es auch keine exotische Kunst, was Zenia nicht weiter wunderte. Leonard Zadek war kein Weitgereister, und wäre er einer gewesen, so hätte er seine Reisen nicht jedermann durch Objekte belegt.

Sie lächelte an, wer auch immer ihren Weg kreuzte. Die Philosophie war da, die Angewandte Psychologie, das Schallarchiv, auch zwei Assistenten von Rauch, von denen Zenia nicht wusste, ob sie sich immer noch mit Telegrafen beschäftigten. Wenn man zurückhaltend blieb, gehörte man schon beinahe dazu, dachte sie, Männer verbeugten sich aus der Taille. Ein fescher Kerl stellte sich als »Dritter Stock links« vor. Er sei Rechtsanwalt. Aha. Sie sei Psychologin. »Ah so, Sie auch.« Zenia dachte gar nicht daran, ihm den Gefallen eines Gesprächseinstiegs zu tun. Da sagte der Mann, und er sagte es mit sehr ruhiger Stimme, dass sich seine Frau im tödlichen Stadium der Schwindsucht befinde. »Und da suchen Sie schon was Neues?« Er stand still, wusste wohl nicht, ob er gehen sollte oder widersprechen. »Na dann«, antwortete Zenia, »Champagner.« Sie hatte in Berlin rasch gelernt, die Geschmacklosen mit ihrer Geschmacklosigkeit zu konfrontieren.

Gerade kam Rauch zur Tür hinein, Frau Zadek nahm ihm den Mantel ab. Sie nannten ihn nur den Langen, auch auf dieser Feier überragte er alle anderen Gäste mindestens um einen halben Kopf. Weste unter dem Anzug, Uhr an der Kette, volles, weißes, im Goldenen Schnitt gescheiteltes Haar. Rauch galt als unantastbar, zu Rauch sah man notgedrungen auf, und gerade deshalb war es für die Psyche manchmal schwer, den Nackenwirbeln zu folgen. Nicht einmal der Krieg war ihm zu Leibe gerückt. Zenia hatte auch gehört, was man sich unter den Studenten erzählte: dass er die vollen vier Jahre auf der Insel Teneriffa verbracht und dort im Dienste der Preußischen Akademie die Lernprozesse von Schimpansen erforscht hatte. Auf Teneriffa hatte Rauch die Anthropoidenstation geleitet, in Berlin leitete er das Institut. Folgerichtig sagten manche, das sollte ein Witz sein.

Ein Toast im privaten Kreise, zum Geburtstag des Kollegen, das war für Rauch nicht mehr als eine Fingerübung, dachte Zenia. Dafür brauchte es weder Vorbereitung noch Podest. Nervöse Gemüter hätten vielleicht die Kindertrommel genutzt, die in der Spielecke lag, Rauch fand den Kerzenschein der Menora hell genug, um daneben das Glas zu erheben, er stellte die Fußspitzen in den tadellos glänzenden Schuhen leicht nach außen, räusperte sich einmal – und hatte die Gäste schon im Halbkreis um sich geschart. Eben noch in die schwierige Aufgabe versenkt, die Abendgesellschaft auf Papier zu bannen, ließ nun selbst Leonards Tochter den Kohlestift sinken, schob sich zwischen den erwachsenen Hüften vorwärts, schmiegte ihren Hinterkopf in die Handfläche der Mutter. Sie war vielleicht sechs Jahre alt, Zenia sah im Profil das hübsche Gesicht. Man lauschte.

Treptow war das Stichwort, Zadeks Wohnung befand sich am westlichen Rand von Treptow, und den Stadtteil nahm nun Rauch als Aufhänger für seine Rede. »Ich gebe zu, ich bin zum ersten Mal hier draußen«, gestand er, »und dachte fast, es wäre noch ländlicher bei Ihnen, Herr Kollege. Ich hatte von der großen Cöllnischen Heide gehört, aber sie ist ja ganz verschwunden, so dass die letzten imposanten Eichen unter Ihrem Balkon schon beinahe wirken wie ein Mahnmal der Natur.«

Zenia musste schmunzeln, auch der Jubilar stimmte nickend zu. »Aber so ist es wohl«, setzte Rauch fort, »Groß-Berlin kriegt den Hals nicht voll, bis es sich Größer-Berlin nennen darf. Nur warum das Imperium aus Stahl und Stein und Glas ausweiten bis nach Treptow? Herr Professor Zadek, war das etwa keine schöne Zeit, als hier nur noch heißes Wasser ausgeschenkt wurde und das Volk stopfte sich die Taschen selbst mit dem braunen Zauberpulver, um sonntags die Spree entlang ins Jrüne zu ziehen? Der alte Brauch wird nicht gebrochen, hier können Familien Kaffee kochen. Ich hänge dem nach, deshalb – nehmen Sie es mir nicht übel, ich hatte natürlich unbedingt vermutet, bei Ihnen bewirtet zu werden – habe ich mir doch als Kaffeeliebhaber meinen Stoff vorsorglich selbst mitgebracht.«

Rauch zog ein Tütchen Zuntz-Kaffee aus dem Jackett, wie man ihn am Spittelmarkt bekommt, und zeigte es, an spitzen Fingern ergriffen, in die Runde.

»An Sie gerichtet, liebe Frau Zadek« – und Frau Zadek legte gleich den Kopf schief und lächelte kokett, ein wenig unterwürfig, fand Zenia –, »den Berliner Volksmund zitiere ich heute nicht für die Pointe, sondern vor allem, weil ich Ihnen sagen will, wie viel Ihren werten Ehemann mit dem Milieu verbindet, dem der Spruch abgelauscht ist. Ihr kluger Mann ist selbst ein Arbeiter und hört nicht auf, ein Arbeiter zu sein. Er widmet seinen Kopf ausdauernd den psychischen Folgen der Handarbeit, ich erinnere an seine langen Untersuchungen zu den Arbeitsprozessen des Textilhandwerks. Ja, wir unterstützen es ausdrücklich, dass unser Psychologisches Institut über den Kollegen Zadek heute eine Verbindung unterhält mit den Textilfabriken des Landes, einmal vielleicht auch mit den Kaffeeplantagen in Übersee.«

Rauch führte die Hände zusammen, spitzte keck den Mund: »Mit ebenso großer Freude aber sehen wir, dass sich der Jubilar in den letzten Monaten stärker noch den innermenschlichen Problemen zugewandt hat. Mit einer ständig wachsenden und überaus motivierten Gruppe von Studenten erforscht er, wie unser Wille entsteht, warum sich unsere Spezies mitunter so sonderlich verhält, warum sie Kriege führt, Geburtstagsreden schwingt, warum sie den Rohling oder Raffke gibt, um im nächsten Moment wieder Sterne zu vermessen oder die Nachtigall im Hof zu vergöttern.«

So ging es noch eine ganze Zeit lang weiter. Zenia dachte noch immer an den Einstieg. Den hätten sich andere gar nicht getraut – sie war doch schließlich selbst »zum ersten Mal hier draußen«, aber Rauch tat ja gerade so, als lebte er in einer anderen Stadt, als gäbe es keine Ringbahn, die seinen Hohenzollerndamm mit dem Treptower Park verband in kürzester Zeit. Zenia meinte, es verbot sich, den Westen so hervorzukehren. Und was war das nun mit seinem Kaffeepulver, kam er darauf zurück, oder wollte Rauch die jüdischen Einwanderer nur über eine Berliner Tradition in Kenntnis setzen?

Er sprach jetzt über das Institut, über die gute Zusammenarbeit zwischen den Fachgebieten. Zenia hätte die Zeit gern genutzt, um endlich ausgiebig das Interieur der Wohnung zu betrachten oder wenigstens in fremden Gesichtern zu lesen, was man von Rauchs ausgiebiger Rede dachte. Leider konnte sie ihren Blick nicht von den Hauptdarstellern abziehen. Sie sah die beiden ja kaum einmal zusammen, und es war ihr noch gar nicht (oder nicht mehr) klar gewesen, welch ungleiches Paar ihre beiden Professoren abgaben. Der Lange und der Kleine. Der Helle und der Dunkle. Man fing ja fast zwangsläufig an, in Gegensätzen zu denken, dachte Zenia, in eben jenen starren, aristotelischen Begriffen, die Zadek für die Psychologie unbedingt auflösen wollte.

»Das Institut hat herausgefunden«, dozierte Rauch mittlerweile, »dass die Welt eine gestaltete Welt ist, für die sich Gesetze schreiben lassen. Unsere Sinnesorgane ziehen die Dinge zusammen. Wir sehen Bewegungen zwischen unverbundenen Lichtschlitzen, wir sehen Reihen und Haufen, wir hören Intervalle und Melodien, wir müssen lernen, unsere Seele, die sich für die einzelnen Töne gar nicht öffnen könnte, aus der Melodie abzuleiten.«

Was Zadek anging, er wurde ob des Referats immer unruhiger, das sah sie. Einmal griff er sich vor Beklemmung an die Krawatte oder sogar an die Gurgel. Aber schließlich trat Rauch heraus aus seiner Ganzheitswelt und hängte in alter Und-Summenhaftigkeit die Verdienste Zadeks aneinander: »Ihre Aufsätze zu x, Ihre praxisnahe Forschung zu y, Ihr Einsatz, Fleiß und Ihre Vielseitigkeit …« Dankbar über das Lob, das schon zu lange hatte auf sich warten lassen, hörte Zenia sich innerlich die Reihe fortsetzen … Ihr Humor, Ihre Zuwendung, ja, Fürsorge um die Studentinnen und Studenten, Ihre Denkschärfe, Schnelligkeit, auch Ihre Ungeduld, ja sogar … aber bevor sie sich verlor, wurden vor ihr die Gläser erhoben, »herzliche Glückwünsche zur Vollendung Ihres 35. Lebensjahres«, rief der Institutsleiter Rauch, »auf Ihre Zukunft, werter Kollege, und auf die Zukunft der Psychologie!«

Hoch, riefen die geladenen Gäste. Hoch, hoch, das bezog Zenias Mentor anscheinend auf die Mundwinkel, denn die waren Zadek zu einem Lächeln gefroren und konnten keinesfalls noch weiter angehoben werden. Sein Händedruck mit Rauch geriet so statisch, dass Zenia an ihren Ehemann dachte, der zu Hause im Sessel saß und rauchte, und da spürte sie, dass sie für diesen Moment im Dreieck mit den Männern verbunden war, in einem Dreieck der Passivität. Zadek war vermutlich ratlos vor Respekt. Oder er versuchte, die Glieder der Rauch’schen Rede miteinander zu verbinden. Und wie deutsch der Institutsleiter jetzt wirkte! Deutscher konnte man doch gar nicht aussehen, diese blauen Augen, immerzu sah man in Rauchs Augen die Auszeit auf der fernen Insel. Nur dort, fern des europäischen Krieges, konnte die Autorität so tief in ihm geankert haben. Seine Augen waren selbst zwei Zimmer mit Meerblick.

Das war es. Die zwei standen nebeneinander, und doch war es unmöglich, dass der Jubilar in die Nähe des Redners geriet, dachte Zenia, oder sich auch nur aus dessen Blick zu befreien wusste. Längst hätte Zadek zu einer Antwort ansetzen müssen. Und jetzt schwitzte sie für ihn mit. Er war ja immer so genau in der Sprache, er konnte, wenn die Studenten nicht exakt formulierten, sehr unfreundlich werden, dann platzte er in den Satz und wies sie zurecht. Zenia hatte solche Szenen immer nur bezeugt, aber sie waren ihr ein Ansporn gewesen, die deutsche Sprache noch rascher und besser zu lernen. Manchmal fand sie Leonard Zadek überempfindlich. Dann wieder nahm sie ihn in Schutz und dachte, sein Geist sei zu einer Simultanität verdammt, für Zadek war es im Grunde eine Tätigkeit, jemandem zuzuhören, dessen Gedanken zu verwerten und die Leerstellen zu füllen.

Das musste sehr anstrengend sein. Und es war ja auffallend, wie kolossal erschöpft er manchmal nach dem Kolloquium am Schlossplatz wirkte. Er machte dann noch einen seiner Spaziergänge, konnte nicht gleich am Stadtverkehr teilnehmen, nicht gleich zur Familie nach Hause. Und wie Leonard jetzt dastand neben seinem Institutsleiter, dem selbstsichersten Menschen der Stadt, war sich Zenia plötzlich ganz sicher, dass Zadek unter etwas litt, das in der Rede steckte und das sie überhört haben musste.

»Ich danke Ihnen sehr, Herr Professor, für Ihre Worte.«

Und weiter? Wie Zadek sich mit der flachen Hand über die linke Schläfe fuhr, als sei dort noch Haar zurückzustreichen, wie er sich die Nickelbrille zurechtrückte, die die runde Form seines Gesichts nur noch betonte, wie er seine Stirnfalten zeigte, wirkte er auf Zenia plötzlich unendlich alt. Ich danke Ihnen, war das alles? Das konnte nicht alles sein. Seine Frau wartete, alle warteten, Zenia wurde kalt unter den Schulterblättern. Sie starrte Leonards kleine Tochter an, aber gebraucht hätte sie Dima, sich an ihm festzuhalten, oder Emiljana, die für die Feier abgesagt hatte, um ihre kranke Nachbarin betreuen zu können. Und auch die Kellnerin Helene hätte jetzt geholfen, sie hatten sich in den letzten Tagen zweimal ausgetauscht, aber Helene war ja nicht eingeladen.

»Wissen Sie, Herr Professor«, sagte Leonard, »mir scheinen Ihre Worte heute und immer wieder verwandt mit den Taten jener Zauberkünstler, die die Berliner Bühnen so zahlreich bevölkern«, er schloss die Augen, nur um sie gleich darauf weit zu öffnen, »und die kurz vor dem Ende des Programms dann in den Saal schauen und darum bitten, dass ein Freiwilliger näher komme und ihre Zauberei beäuge. Und immer findet sich ein Mann, der eben noch zum großen Publikum gehörte und nun freiwillig die Bühne besteigt. Neugier, Übermut, Aufschneiderei – die Motive müsste man untersuchen. Er weiß genau, dass er die Zauberei nicht aufdecken wird, doch er mag wohl hoffen, oben auf der Bühne von der Aura des Zauberers zu profitieren.«

Zenia stand der Mund offen, vor Erleichterung, aber auch weil sie kein Wort verstand. Zauberei? So verblüffend gut war Rauchs Rede gerade nicht gewesen. Doch es fühlte sich richtig an, Zadek nicht zu verstehen. Es war, als steige er tatsächlich aus einem Zauberhut oder krieche aus einer Höhle hervor ans Licht. Und als er jetzt eine Pause machte, schien er diese Sekunden schon fast zu genießen, Zadek lächelte, er spielte die Pause aus, als machte er sich damit selbst ein kleines Geschenk.

»Und so bin ich selbst an meinem Geburtstag«, sagte er, »nichts weiter als der freiwillige Assistent eines Zauberers, wir können ruhig sagen: die Versuchsperson, die sich dem Versuchsleiter zur Seite stellt. Was soll ich jetzt hier, aus dem Parkett vertrieben ins Scheinwerferlicht, das aus den Augen meiner Gäste strahlt? Ich sehe das zersägte Opfer und weiß, dass Sie, Kollege, es mit einer lässigen Geste wieder zum ganzen Mann zusammenfügen. Ich sehe die Taube in der Rakete, ich sehe die Raupe in der Takete, ein kleiner weißer Geist hinter der Scheibe, aber sobald ich sie herausholen will, wird sie hinter mir auf der Fensterbank sitzen. Sicher können Sie auch die Uhren rückwärts laufen lassen, und sie wandeln noch die braune Flüssigkeit zurück in Kaffeepulver. Nein, geehrter Professor und Zauberer Rauch, nach Ihrer Rede fühle ich mich wie einer, der keinerlei Punkte machen kann, daher ist mein Dank schon zu lang geraten und alle weiteren Worte wären bloß Dummheiten. Nochmals Dank für die Glückwünsche. Seien Sie alle herzlich willkommen, und folgen Sie mir zu Tisch.«

Die Gäste lachten, sie applaudierten, Zenia klatschte am lautesten und längsten in die Hände. Sie dachte an das Seminar, wo sie einmal verschiedene Wege geübt hatten, Spannung zu entladen. Sie dachte an das Kolloquium, in dem er über Briefe geredet hatte, bis sie nicht mehr zuhören konnte. Und dabei überkam sie das Gefühl, ihre ganze Aufregung, ihr Mitfiebern sei nicht bloß umsonst gewesen, sondern grundfalsch, sie hatte keiner Notsituation beigewohnt, sondern, ganz im Gegenteil, einem abgekarteten Rollenspiel. Lange Rede, lange Replik. Dazwischen hatten die Professoren eine Höflichkeitspause gemacht.

Vor ihr standen zwei Menschen, die genau wussten, wer sie waren und was sie taten.

Sie erinnerte sich jetzt an den Satz von Zadek, dass es für ihn keiner ordentlichen Professur bedürfe. Es ist besser so, glauben Sie mir, Frau Naujas, man hat dann die meiste Zeit seine Ruhe. Pffff, ganz bestimmt. Die meiste Zeit! Aber niemals in der Universität, und nicht im Café, und schon gar nicht auf dem eigenen Geburtstag, wie? Und warum auch? Zadek brauchte keine Ruhe, er brauchte die Unruhe, die Anstrengung, er wollte gefordert werden, stets und überall, und was ihr gerade bewusst wurde, bereits bewusst geworden war: Nur deshalb duldete ihn Rauch in seiner Nähe.

Dieses Stück hatten sie aufgeführt. Zu diesem Stück gehörte es, dass Zadek ein preußischer Jude war. Genauso gehörte dazu ihre jüdische Angst um ihn. Und der Ehrgeiz, den sie alle teilten. Auch dieser letzte Akt: wie Rauch die völlig überzogene Ehrerbietung seines Angestellten stoisch hinnahm. Ein kurzes Nicken, ein Schritt, ein zweiter fester Händedruck, in dem alle Zufriedenheit lag, alle Spannung.

Zenia griff sich ein Glas Champagner vom Tablett und eilte hinaus auf den Balkon. Sie drängte vor bis ans Geländer, ohne jemanden anzusehen. Ließ die kalte Luft in ihre Lungen ein. Man parliert ja bloß, dachte sie. Was war sie für ein unreifes Ding! Was würde noch alles auf sie zukommen, bis sie so sprechen konnte … sie trank gierig, genoss die Säure, aber schwindlig wurde ihr auch, sie hielt sich am Geländer fest. Ihr Mentor war jetzt fünfunddreißig, und da oben standen die Sterne über Treptow, Lichtjahre entfernt.

4

Toni ist da. Ganz sicher bildet sie sich immer noch ein, es sei nur ihr Verdienst, dass Helene hier arbeiten kann. Dagegen kann man nichts ausrichten. Mit was für einer hohen Nase ist sie hereingekommen und lässt sich bedienen und ihre Mutter sitzt daneben, zwei gebauschte Röcke übereinander. Vielleicht eine Volkstracht. Sie wollen Helene nur zu Gesicht bekommen, wollen dort sitzen, während sie hüpft und springt, denn so sind sie getöpfert und so sollen sie gebrannt sein, die Verhältnisse zwischen ihnen.

Einerseits hätte Helene große Lust, der Toni zu sagen, sie solle doch ins Café Bauer gehen oder ins Resi, wo sie hingehört, aber andererseits, sie muss schon selbst wissen, wo sie Platz nimmt, und dann muss sich das Schwedische Café, was die Qualität angeht, auch vor niemandem verstecken. Den Kaffee serviert Helene mit frischer Sahnehaube und Kakaopulver, dazu einen Unterteller mit Safrankeks und Punschrolle. Frau Lagerbäck, ihre Chefin, nimmt überhaupt das Leben recht ernst, also auch das Gebäck, oder das Raumgefühl, sie hat die Paneele von den Decken nehmen und im Herbst wieder die Wände weißeln lassen, man hat vorne am Fenster einige runde Tische dazubekommen. Frau Lagerbäck ist derart modern, dass es Helene abwechselnd freut und schmerzt, es gibt Kugellampen, aber kein schönes Abendlicht, sehr schade, dass Alt-Berlin die Kerzen verbietet, und dann sind die neuen Tische aus einem viel zu hellen und fast unbehandelten Birkenholz, was beim Wischen große Mühe macht. Helene wünscht sich oft, alle Tische würden Politur bekommen. Auch der Boden, der allerdings aus Eichendielen ist. Die Schweden mögen keine Öle, sie fürchten den Glanz, ja, sie halten kühle Hölzer und den matten Widerschein des Tageslichts darauf sogar – jetzt folgt ein Ausdruck, den Helene ihrem Hausherrn in den Mund legt, weil der ihn andernorts oft hernimmt – für Gottes Willen.

Staub darf es allerdings auch nicht geben, Frau Lagerbäck hat bestimmt schon das dritte Modell vom Electrolux. Das weiß niemand außer Helene, aber es herrscht ein regelrechter Streit innerhalb der Familie, ob die Punschrollen, die sie zum Kaffee servieren, schon seit Urzeiten existieren und Garnrollen nachempfunden sind (trådrullar), oder ob sie erst den neuen skandinavischen Staubsaugern gleichen und daher dammsugare genannt werden müssen. Ganz Berlin wünscht sich, über eine solche Lappalie zu streiten und nicht über Stundenlohn und fette Ratten im Hinterhof. Na, Frau Lagerbäck, die selbst so gerne Staub saugt, hat sich vorerst durchgesetzt. Dammsugare. Helene hält sich aus den Diskussionen der Familie heraus, solange sie nicht gefragt wird. Wobei ihre Meinung, findet sie, doch eigentlich geschätzt wird. So hat sie einiges zur Speisekarte beigetragen, man bietet hier mittlerweile sogar zwei Gerichte zum Mittag an, zumeist einen Eintopf und etwas Leichtes, Süßes. Frau Lagerbäcks Sauerteigbrot sucht seinesgleichen, und dann ist Gudrun – wie sie eigentlich genannt werden will, aber es ist Helene nicht recht – auch eine Königin des Eierkuchens, ob der Teig nun mit Blaubeeren, Mohn oder Safran bereichert wird. Helene selbst wären die Speisen zu teuer, aber erstklassig sind sie, und nie wird sie vergessen, wie sie nach einem ihrer ersten Einkäufe mit einem Safranverschnitt zurückkam und Frau Lagerbäck das Restgeld in die Hand zählte, und die gab es sofort wieder retour. Sie wünsche echten Azafran aus dem Iran, der koste genau, was sie gegeben hätte, den gibt es nicht in der Markthalle am Alex, sondern oben in der Schönhauser, und nun geh los, Mädchen.