Nachglühen - Jan Böttcher - E-Book

Nachglühen E-Book

Jan Böttcher

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Beschreibung

Im Sperrgebiet der Gefühle Zwei Männer kehren nach Jahren in ihre Heimatstadt zurück. Früher lag der Ort im Sperrgebiet der DDR, heute gehört er zu Niedersachsen. Siebzehn Jahre sind vergangen seit der Wende, doch was einst zwischen Jens und Jo vorgefallen ist, wirft dunkle Schatten. Die beiden verbindet ein Geheimnis, dem Jens ein paar Jahre im Gefängnis zu verdanken hat. Seine Frau Anne weiß von alldem nichts. Aber sie stellt Fragen. Fragen, die niemand im Ort beantworten möchte. Schon bahnt sich der nächste Verrat an ... «Ein fabelhaftes Buch ... Es vereint Mentalität, Topographie und Historie zu einem atmosphärisch dichten Gesamtbild. Ein stilles Meisterwerk.» Süddeutsche Zeitung «Ein atmosphärisch dichter Roman.» (NZZ) «Jan Böttcher ist ein eindringlicher Roman gelungen, stark in Sprache und Bild. … Er ist ein literarischer Menschenforscher, unterwegs in deutsch-deutscher Mission, und als solcher macht er seine Sache sehr gut.» (NDR Kultur) «Neben einem ausgeprägten Sinn für die unspektakulär schöne Landschaft, für die traurige Poesie des Nieselregens und der Formationen der Zugvögel beeindruckt ‹Nachglühen› durch eine subtil-realistische Psychologie, die es schafft, Mentalitätsgeschichte mit politischer Schuldverstrickung zu verbinden.» (Frankfurter Rundschau)

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Seitenzahl: 255

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Jan Böttcher

Nachglühen

Roman

In our days

we will live like our ghosts will live

pitching glass at the cornfield crows

and folding clothes

like stubborn boys

across the road

we’ll keep everything

(Sam Beam/​Iron and Wine: Resurrection fern)

Prolog

Sie selbst sind es, die das Ende zum Anfang machen. Sobald man im Morgengrauen die eigene Hand vor Augen sehen kann, kommen sie auf dem Deich zusammen und greifen sich die über Nacht liegengelassenen Bolzenschneider.

Da sind die Väter, bilden noch einmal ein Komitee, einen Stoßtrupp, der sich mit getaner Arbeit langsam von der rechten Ortshälfte nach links schiebt. Da ist die Elbe, mit jeder Streckmetallplatte, die sie zwischen den Betonsäulen herausreißen, wird die Sicht frei auf den Fluss. Und da knattert der Roller ins Bild, Jo fährt mit der Schwalbe scharf am Zaun entlang, das heißt, Arne Hinrichs fährt, während Jo Brüggemann auf dem hinteren Teil des Sitzes steht, sich an Arnes linker Schulter festhält und mit der anderen Hand die Fahne wehen lässt. Die Fahne mit dem großen Loch in der Mitte.

Arne bremst, Jo springt ab. Die Alten lassen die Jungs gewähren. Auch gegen Michael Jackson und Madonna, deren verzerrte Stimmen aus Arne Hinrichs’ Rekorder über den Deich rauschen, erhebt niemand Einspruch.

Wie die Erwachsenen trägt Jo Arbeitshandschuhe, und jetzt greift er damit in die Drähte, durch die der Strom geflossen ist. Überall sind sie vor den Zaun gespannt, er hat mehr Widerstand von ihnen erwartet, aber er kann sie runterziehen, mitsamt der Halterung nach unten reißen. Wo sie an den Betonsäulen befestigt ist, gibt es extra Stellen, die brechen sollten: Die Drähte sind auf irgendwas um die fünf Kilogramm geeicht. Bei mehr Gewicht hätte es sofort Alarm gegeben.

Jo Brüggemann trinkt Bier aus der Flasche, und als er sie absetzt, ist es, als verwandele sich das bekannte Getränk in einen Hormoncocktail– Aggression, Glückseligkeit steigen auf in seiner Gurgel, er ruft «Jaaaaaa» und wirft den Radiorekorder mitten in «Thriller» mehrere Meter hoch in den Himmel, aber nicht senkrecht, und er brüllt auch noch den Anfang eines «Neeeiiiiin» – da ist Michael Jackson schon auf der Deichkrone zerschellt. Arne Hinrichs ruft «Babett!», denn sein Rekorder heißt, als wäre er seine Freundin, «Babett». Seine Stimme klingt verzweifelter und schöner als jede Fernsehwerbung aus dem Westen, während Jo schon vor ihm wegrennt, wieder schreien will, doch gerade als er den Mund aufmacht, sieht er im Augenwinkel den Uhu, die olivgrüne Sprechsäule des Grenzmeldenetzes. Der Uhu glotzt ihn an, die Lunge schmerzt, eine Sekunde vergeht, mehr nicht… dann ist die Sprechsäule, die jetzt nicht helfen kann, noch nie jemandem geholfen hat, hinter Jo Brüggemann zurückgefallen.

Er läuft auf die Erwachsenen zu, wie ein Schisser, der Schutz sucht, aber er läuft auch an ihnen vorbei, biegt plötzlich links ab, dort, wo der Zaun bereits flach auf dem Deich liegt. Jo springt tatsächlich hinunter zur Elbe, obwohl es abgemacht ist, ebendas nicht zu tun – alle kennen die dumpfen Pufflaute der Minen, wenn sie im Winter unter der Last des Schnees hochgehen. Hans Brüggemann setzt seinem Sohn augenblicklich nach, Arne Hinrichs ihnen hinterher, sauwütend wegen der Sache mit Michael Jackson und seinem Rekorder, während Jo vorne zum Flugzeug wird, die Arme ausbreitet, was seine beiden Verfolger nur noch mehr provoziert. Alle anderen oben auf dem Deich halten den Atem an.

Er läuft am Fluss entlang und wird doch immer kleiner da unten auf der planen Fläche der Elbauen, auf diesem absurd leeren Streifen, einer schwarzen schlammigen Wüste, auf der keine knorrigen Weiden mit einem halben Meter Durchmesser wachsen, keine hohen Sträucher, keine Jungbirken, wo die Buhnen sich noch nicht zu kleinen Sandstränden zusammenfinden; alles, was Jahre später wirken wird, als sei es immer so gewesen, üppig grün, mit einer Basthütte für die Kinder zwischen den Weidenzweigen, liegt damals plan und leer, und Jo Brüggemann zieht die Lederjacke im Laufen aus, Arne Hinrichs, der Brüggemann senior längst überholt hat, tut es ihm mit der Jeansjacke gleich. Mancher auf dem Deich sieht hinauf zum Wachtturm. Brüggemann, der Sperrbrecher. Wenigstens ein Warnschuss. Aber die neue, die gerade angebrochene Zeit schweigt.

Jo läuft ins Wasser, brüllt mannhaft, spritzt sich nass, die linke Hand wedelt Wasser unter die rechte Achsel und andersherum. Er lässt sich fallen, nah am Ufer beginnt er einen Ringkampf mit sich selbst, man erkennt nicht mehr als Extremitäten, die sich schnell bewegen, aus dem Wasser und ins Wasser zurück. Für die meisten sieht Jo aus wie ein großer Fisch, der ums Überleben kämpft.

Arne Hinrichs ist stehen geblieben, hat die Hände auf dem Kopf gefaltet, wahrscheinlich Seitenstechen, oder er denkt jetzt endlich an die Minen. Auch Brüggemann senior ringt nach Luft, stapft aber dabei ins flache Wasser, zieht seinen Sohn an Land, wo Jo noch einmal zuckt. Er scheint seinen Vater gar nicht zu erkennen, aber als er schließlich aufrecht steht, fängt er links und rechts eine ein, steht tropfnass und zitternd und hört sich eine Strafpredigt an, deren Worte nicht hinaufreichen bis auf den Deich. Man sieht Hans Brüggemanns Statur, seine angewinkelten Arme, den vorgebeugten roten Kopf, das genügt.

Der Vater geht nun voran, geht in Zeitlupe jenen Weg, den sie eben in anderer Richtung gelaufen sind, zurück. Er hebt die Lederjacke seines Sohnes auf, klemmt sie sich unter den Arm, während Jo ihm frierend folgt, den Blick vor sich auf den Boden geheftet. Der Deich ist eine Tribüne, aber dass sie da oben warten, den Kopf schütteln, ihn einen Verrückten nennen, kommt Jo Brüggemann nicht in den Sinn. Er denkt an den Uhu, und plötzlich prickelt es schmerzhaft in seinem Unterarm, als würde ihm doch noch Strom unter die Haut fahren.

Jens könnte jederzeit auftauchen, denkt er, alles ist jetzt möglich. Selbst diese Steintreppe unter seinen Füßen, die den Deich hinaufführt, war bis eben nicht da. Fischen, Schwimmen, im Winter Schlittschuhlaufen – noch vor ein paar Tagen undenkbar. Die Fluchtgefahr sei hier eben höher gewesen als irgendwo sonst.

Als Jo schleichend, mit gesenktem Kopf die Deichkrone erreicht, ist seine Mutter schon verschwunden, sitzt zu Hause, schämt sich seiner Dummheit mehr als der Schläge des Ehemannes. Alle anderen sehen ihn an und schweigen.

Im Laufe der Tage verschwindet der Zaun, Stück für Stück. Abends, wenn das Licht auf dem Fluss liegt, nehmen alle ihre Flaschen und Tassen von den Höfen mit auf den Deich. Ein kleiner heller Streifen über dem Westufer reicht aus. Menschen weinen. Auch die Kirche ersetzt der Deich. In dem Fotoalbum, das später im Gasthaus bei Lewins ausliegt, heißt es neben einem Bild: Die Sonne bringt es an den Tag.

Jo Brüggemann sitzt mit Arne Hinrichs und ein paar anderen oben im Wachtturm und bedient das Schaltpult. Das Klacken muss reichen, denn die Stromkabel sind tot, das Leuchten der roten und grünen Kontrolllampen stellen sie sich nur vor. Arne ist im Grunde ein Vollidiot, der immer so lange jammert, bis Jo ihn mitzieht oder ihm das Kassettenradio wieder flottmacht. Nur aus Ehrgeiz hat er das Gehäuse geflickt und die Kabel wieder angelötet. Jo denkt vielmehr an Jens, immer wieder kommt das hoch, wie Sodbrennen. Wie kann man hier bloß fehlen!

Nicht einmal für die Lautstärke gibt es eine Regelung, und selbst Hans Brüggemann sagt in der Menge, «die Jungs müssen sich jetzt austoben». Er sagt das derart jovial, als wollte er sich vor den Gedanken der Dorfbewohner schützen und als wäre noch irgendeiner so verkorkst wie sein eigener Sohn und müsste sich da unten in der Elbe wälzen, bevor die Suchtrupps kommen. Zu den Jungs gehört Jo sowieso nicht mehr, der müsste längst wieder in der Kaserne sein. Fast alle sind bei der Armee oder in der Ausbildung, alle, die dort oben den Wachtturm zur Disko machen und die Nacht zum Tag. Sie haben ihre Taschenlampen aufgehängt und bunte Folien davorgeklebt, sie tanzen und singen und werfen ihre Bierflaschen nach dem letzten Schluck auf den Deich, damit es knallt.

Eins

22Uhr 35, die allerletzte Überfahrt. Als Jo Brüggemann auf die Fähre hinabrollte, krachte die eiserne Rampe, bog sich unter der Last des Wagens. Er reckte den Kopf nach der Fährfrau, und prompt trat sie an Deck, in ihrem gelben Öljackenponcho. Ein Kommando blieb aus – warum auch sollte sie ihm mit ehrgeizigen Bewegungen einen Stellplatz zuweisen. Er war der einzige Fahrgast an Bord. Niemand war vor ihm, niemand würde ihm folgen.

Jo wechselte Blicke mit seinen Außenspiegeln, links, rechts, kurbelte am Lenkrad, konzentriert auf eine ideale Parkposition, die es gar nicht gab. Schließlich rastete die Handbremse ein, und die Scheinwerfer zeigten hinaus auf die Elbe.

Er stieg aus dem Wagen. Für Oktober stand der Fluss recht hoch, Wind riffelte das Wasser auf, und die Strömung zog die Fähre anfangs so stark flussabwärts, dass sie in einer Kurve auf den östlichen Anleger zuarbeiten musste. Der satte Bass des Dieselmotors strömte ihm in die Füße, unruhig hob und senkte sich vor ihm der Bug.

Die gelbe Boje stand plötzlich da, verlangte ihre drei Euro fuffzig, und er kramte das Geld aus der Hosentasche, zählte es ihr in die Hand. Fünfzehn, sechzehn, dachte er dabei, siebzehn Jahre waren jetzt vorüber – und noch immer keine Brücke von West nach Ost.

Nur fünf Minuten später machte die Fähre fest, und es kam ihm wieder vor, als sei die Eisenrampe am Ostufer deutlich steiler als jene, über die er in Alt-Bracke auf die Fähre gerollt war. Ein leichter Anstieg bis zum Deich, dahinter war die Fahrbahn markiert, die Landstraße begann. Ein einziges Haus stand so nah an der Straße, dass Jos Scheinwerfer es erfassten, ansonsten hielt der Name «Neu-Bracke» nur notdürftig zusammen, was an Gehöften weitläufig über die Felder verteilt war.

Seine Heimat war platt, aber kurvig, immer wieder musste man mit der Motorbremse arbeiten, in den zweiten Gang zurückschalten. Jo sah im Scheinwerferlicht, dass andere schneller gefahren waren als er: Hundert Meter nach dem Ortsausgang steckten schon frische Kreuze am Straßenrand. Die Vornamen darauf klangen jung, sagten ihm nichts, aber den Nachnamen, den er jetzt im Vorbeifahren las, kannte er.

Bogen und Kurven und reflektierende Warnschilder. Jo saß aufrecht hinter dem Lenkrad. Von Richtung Neuhaus war die Straße eine schnurgerade Allee, beidseitig gesäumt von knorrigen Apfelbäumen – von Westen aber, wo er herkam, schlängelte sie sich durchs Gelände wie die Elbe selbst.

Er hatte das Radio lautgedreht, war ins Gitarrensolo von «Stairway to Heaven» geraten. Dann lieber das Klavierkonzert auf der nächsten Frequenz. In Moll, mehr hörte Jo Brüggemann da nicht heraus. Die Dunkelheit war eine einzige Demütigung. Als müsse er hier noch heimlich ankommen und unerkannt bleiben.

Endlich gab sich die kurvige Straße auf, gab sich der Apfelallee hin, wurde erstmals für viele hundert Meter zur Geraden. Jo Brüggemann hatte immer das Gefühl, dass die Straßen hier ineinanderflossen, sich versöhnten, hier, wo das Schild aufleuchtete, knallgelb: Stolpau 1km. Stichstraße nach rechts. Er hatte auf der Arbeit viel Kaffee getrunken, und all seine Wachheit legte er jetzt in die raumgreifenden Bewegungen, mit denen seine Arme das Lenkrad herumdrehten. Für einen Moment kam es Jo vor, als sei der Wagen ein mächtiger Stadtbus, der in eine enge Straße einschwenkte.

Alles Licht und Leben im Dorf schien erloschen, auch der Deichkrug hatte schon geschlossen. Jo fuhr an der Kirche vorbei, eine Anhöhe hinauf. Ab hier verlief die Straße auf dem Deich. Er parkte. Als er hinaustrat, fing es ganz leicht zu regnen an. Der Fluss war nicht mehr vom Himmel zu unterscheiden. Jo drehte sich herum, binnendeichs sah er nun doch hinter einigen Fenstern schwaches Licht.

Fritz lag im Obergeschoss und atmete flach. Er war jetzt wieder etwas mehr sein Großvater als im Sommer, da hatte sich der Alte zu einer dicken, wächsernen Puppe aufgebläht, in Armen und Beinen hatte sich Wasser abgelagert, das Herz war immer schwächer geworden.

Allzeit bereit, das wurde man auch niemals los. Jo saß am Bett. Was sollte er hier? Seit zwölf Jahren hielt er Händchen, machte Wickel, redete vor sich hin. Seit zwölf Jahren zeigte der alte Mann die Wirkung der Handgriffe und Worte beinahe ausschließlich dadurch, dass er überlebte. Und seit neun Jahren hatte er ein Gerät in der Brust, einen Rhythmusmesser, der das Herz bei Unterschreitung einer eingestellten Schlagfrequenz ruckartig zu höheren Leistungen antrieb. Defibrillator hieß das Ding, der zuverlässigen Hilfe wegen nannte Fritz es liebevoll Defi.

«Wisch doch die Schrift mal wieder aus», flüsterte der Alte ihm jetzt zu. Jo nickte lächelnd: «Dir geht’s wohl zu gut. Wo kommen denn hier plötzlich ganze Sätze her?»

Er ging hinunter ins Bad, kleine Handtücher einweichen. Wie er diese Treppe nur hinter seinem Großvater hinabgestiegen war, fiel ihm ein, immer morgens kurz vor sechs, über den Hof, in den Stall – um frisches Futter für die Kühe und Schweine in die Koben zu gabeln, zu schütten. Was heute auf dem Nachttisch lag, hing damals noch am Stall: das kleine, angerostete Blechschild einer Feuersozietät, ein weißes Pferd, das sich auf rotem Grund streckte. Dieses Wappen hatte Fritz täglich berührt, bevor er zu den volkseigenen Tieren ging. Das Pferd war Großvaters Schutzpatron.

Das Badezimmer roch wie üblich nach Mull, es stapelte sich frisches Verbandsmaterial, links die Rollen, rechts die Kompressen, dazwischen der Spiegel, in den Jo blickte. Wer gab den beiden eigentlich die ewige Erlaubnis, ihn wie einen Diener herbeizurufen?

Die Schrift auswischen, einen Dreck würde er.

Er schlug sich kaltes Wasser ins Gesicht. Rieb sich die Augen mit den Zeigefingern. Weichte die Handtücher ein. Und konnte das Bild schon nicht mehr loswerden. Wie sich Fritz sonntags nach der Tierfütterung ein Ledertuch genommen hatte und auf die Leiter gestiegen war, um die geschnitzte Hausschrift zu reinigen, jeden einzelnen gelbgestrichenen Buchstaben auf den drei dunklen Balken, die das Fachwerk seit 1886 über dem Parterre umrahmten und hielten: Wer nur den lieben Gott lässt walten/​und hoffet auf ihn alle Zeit,/​den wird er wunderbar erhalten/​in aller Not und Traurigkeit./​Wer Gott, dem Allerhöchsten traut,/​der hat auf keinen Sand gebaut. Wie Fritz Brüggemann sich weit nach beiden Seiten reckte. Erst wenn er beim nächsten zu säubernden Buchstaben zu fallen drohte, stieg er von der Leiter und stellte sie um. Jo stand unten, ein Junge, der zwei- oder dreimal pro Ritual geschickt wurde, den dreckigen Lappen auszuwaschen. Neben ihm wartete der Abschnittsbevollmächtigte auf die Leiter, die gab es im Sperrgebiet nur geliehen.

Die Hausschrift der Brüggemanns war die erste Strophe eines alten Kirchenliedes, das die Bewohner Stolpaus und der umliegenden Dörfer noch heute sangen. Kein Text sprach den Christen am Fluss mehr aus dem Herzen, denn natürlich ließ Gott die Sterblichen genau hinterm Deich seit Jahrhunderten auf nichts anderem als auf Sand bauen. Sand allerdings, aus dem er wunderbar fruchtbaren Boden geschaffen hatte. Die Elbauen waren ein Geschenk, und solange Fritz aufstehen konnte, war er nicht nur sonntags, sondern täglich hinübergegangen in die Kirche, um im Gebet zu bekennen, dass außer Gottes Herrschaft keine, auch die der dollsten Einheitspartei nicht, ihn vor Feuer, Blitz und Flut bewahren könne.

Es reichte, diese Treppe rauf- oder runterzugehen, um sich selbst zu verlieren. Auf der sechsten Stufe war wohl eine Art Lichtschranke. Wenn Jo die durchschritt, musste er sich fragen, ob im Stockwerk, das er gerade im Begriff war zu verlassen, wirklich alles in Ordnung war. Ob er dort nicht noch gebraucht wurde.

Auch jetzt drehte er auf dieser Stufe um, ging über den Flur und trat ins Wohnzimmer seines Vaters. Viertel nach elf war für Hans Brüggemann spät, aber er saß aufrecht in seinem Lehnsessel, als wollte er sich einem Gespräch stellen. Der Sohn küsste ihn auf die Stirn.

«Wie geht’s ihm denn?», fragte Hans leise.

«Wie immer», sagte Jo.

«Aber er hat nach dir gebimmelt.»

«Ich weiß.»

«Heut Morgen hat er noch normal mit mir geredet, heut Abend durfte ich ihn nicht mal mehr zudecken.»

Lange schwiegen sie sich an. Der Blick des Vaters ruhte auf dem Sohn, dessen Blick ging in die rechte Zimmerecke, dorthin, wo der Holzstab aus der Decke kam, an dem eine Glocke befestigt war. Fritz konnte sie vom Bett aus zum Klingen bringen. Oft genug empfing Hans Brüggemann am Abend hier unten das Signal und sendete ein anderes nach Hamburg, an seinen Sohn.

«Du denkst, ich kümmer mich nicht um ihn.»

«Unsinn.»

Der Vater stemmte sich aus dem Sessel, ging auf die Tür seines Schlafzimmers zu und sagte:

«Wir sehn uns zum Frühstück, nä?»

«Ja.»

Jo ging die Treppe hinauf, legte dem Großvater die Wickel an, saß eine halbe Stunde am Bett. Fritz erkannte ihn, aber er konnte die Augen nur selten schlitzweit öffnen. Vielleicht sollte Jo ihm zum Einschlafen aus der Bibel vorlesen, irgendeine dieser Parabeln, dieser Glaubensbebilderungen.

Wenn Jo einfach so losheulte (was er jetzt nicht tat), dann nur über die unbändige Kraft, die sein Großvater einmal besessen hatte. Meckerfritze, das hatte er nicht nur als Spitznamen, sondern immer auch als Aufforderung verstanden, Fritz meckerte ja gerade dann sehr gern, wenn man es ihm verbieten wollte. Landraub nannte er, was der Staat mit der Kollektivierung in den Fünfzigern an ihm verübt hatte. Wann immer er der DDR Versäumnisse vorwarf, musste man seinen persönlichen Verlust an Kühen und Ackerfläche mitdenken.

Jo sah ihn an, er vermisste die Tiraden des Großvaters, das waren so bewegende Momente in diesem Haus gewesen. Fritz hatte sie gern getarnt als Abriss der ostdeutschen Agrargeschichte, hatte bei den schwachsinnigen Überlegungen zur Bodenreform begonnen und jedes Mal mit wenigen, aber vernichtenden Worten über den LPG Typ III geendet, für den sein Sohn Hans als Brigadier damals immerhin die Mitverantwortung trug. Ji hept kien Künn van nix uneeit mol dorvan, hatte mit glühendem Gesicht derselbe Alte gerufen, der jetzt vor Jo lag und nur grunzte, wenn er zu wenig Luft bekam. Oder auf Hochdeutsch: Ihr habt nich mal ’n Plan für fünf Minuten.

Wieder griff ihn die Stille an. Jo hatte plötzlich Lust zu rauchen, aber Zigaretten gab es nur in Lewins Deichkrug. Also nahm er sich einen Kurzen aus dem Eckschrank, nippte dran, hielt das Glas seinem Großvater unter die Nase. Nicht einmal ein Lächeln. Mit dem zweiten Korn ging Jo hinüber, legte sich aufs Sofa, ohne Licht zu machen, starrte an die Decke seines Jugendzimmers, das ihm über die Jahre zum Gästezimmer geworden war. Das kleine Glas hielt er auf dem Bauch fest.

Das Zimmer war eng, die Holzverkleidung schien immer noch letzte Reste der Sommerwärme zu speichern, die aus dem Parterre längst verschwunden war. Einschlafen? Das konnte er grad mal vergessen. Das hatte hier noch nie geklappt, wenn er es sich vornahm. Er schloss die Augen und sah sich mit dem Auto durch die Dunkelheit fahren, Kurve um Kurve. Studieren wär’s gewesen, aber dafür war ja nach neunzig nie genug Geld da. Schwer unterfordert hatte er in einem Halbleiterwerk in Erfurt gearbeitet, bis ihm Hans zur Karriere bei der Polizei geraten hatte, mehr als das, der Vater hatte so lange auf Jo eingeredet – dein großes Unrechtsbewusstsein, dein gutes Auge, die nötige Strenge für den Beruf –, bis er den Schmeicheleien nichts mehr entgegensetzen konnte. Aber die Entscheidung selbst war doch kein Fehler gewesen! Jo hatte die Ausbildung bei der Hamburger Polizei mit Bravour absolviert. Ein guter Schütze, korrekt im täglichen Dienst. Sechs Jahre später war aus dem Polizeimeister ein Kommissar geworden.

Man entnahm seinen Akten, dass er einmal Zusatzkurse zum Funker belegt und auch die ungewöhnlich gut abgeschlossen hatte.

«Ja, eine Leidenschaft.»

«Interessant.»

Dieser kurze Dialog fand allerdings in einem Disziplinarverfahren statt, welches eröffnet wurde, weil zwei Beschwerden über Jo aus der Bevölkerung und eine von Kollegen vorlagen, die sein Auftreten als überhart einstuften. Jo Brüggemann war angeeckt. Na gut. Aber zynische, sogar menschenverachtende Kommentare gegenüber unschuldigen Passanten? Hätte er sicher nicht abgegeben, konnte ja wohl nicht wahr sein.

In der Nacht Westwind, sehr unstet. Die meiste Zeit ließ er den Regen zwischen die Höfe fallen, um ihn sich plötzlich zu greifen und Jo Brüggemann auf die Dachfensterscheibe zu drücken. Und der lag weiter wach unter dem Prasseln.

Er hörte außerdem das Schnarchen des Großvaters nebenan.

Während des Disziplinarverfahrens zitierte Jo einen Satz Friedrichs des Großen, den er sich früh eingeprägt hatte: Wie ein Land an der Grenze funktioniert, so funktioniert ein Land. Ein Lieblingssatz seines Großvaters.

Seine Vernehmer sahen sich ratlos an.

Jo fuhr fort, er würde niemals behaupten, größeres Unglück als andere durchlitten zu haben, aber er habe schon immer gefunden, dass in diesem Friedrich-Zitat alles über seine Jugend gesagt sei, und auf seine Jugend wolle er sich jetzt mal berufen, wenn das nicht auch schon wieder verboten sei. Die gewaltige Präsenz des Eisenzauns. Die Sirene. Die Schüsse. «Wenn Sie mich also hart nennen, kann ich nur sagen: Humorige Menschen wachsen woanders auf.»

Seine Vernehmer nickten nur, weil sie so staunten. Es hieß, er solle erst mal wieder zur Ruhe kommen, wofür er nach dem Verfahren in ein Gefilde versetzt wurde, das die Ruhe selbst war, auch wenn viel gesprochen wurde: der Polizeifunk. Funken kam Jo vor wie Angeln, die Kabine wie ein Platz am See. Härter konnte die Strafe nicht sein.

Härter war nur, dass die Strafe seit vier Jahren anhielt. Hob Jo die Hand und meldete Ansprüche an, musste das als sicheres Zeichen dafür gelten, dass er noch nicht zur Ruhe gekommen war. Unter den Kollegen kursierte die Frage, ob sich Brüggemann wirklich über die Sirene beschwert habe. Ein Missverständnis wurde zum Witz auf seine Kosten. Jo wurde nur bei Demos gegen die Castor-Transporte eingesetzt, um wie alle anderen auch seine Überstunden anzuhäufen. Ansonsten ließen ihn seine Vorgesetzten auf der Funkstation vergammeln.

Wann hatte es aufgehört zu regnen? Und jetzt das unverhoffte Licht! Er musste also doch geschlafen haben. Hier war er. Sein Vater hatte ihn auf der Arbeit angerufen, Jo hatte seine Nachtschicht einem anderen Funker übertragen und war losgefahren. Dass er in die Dienstpläne eingreifen konnte, war überhaupt der einzige Vorteil seiner Versetzung. Nutzte er ihn zu häufig aus? Dachten die Kollegen mittlerweile, Jo habe sich zum Funk abstellen lassen, damit er nachts aufs Land fahren und sich um seinen Großvater kümmern konnte?

Jo stieß sich in die Senkrechte, sah durchs Fenster, wusste, was zu tun war. Etwas Besseres als einen frühen Spaziergang konnte man hier nicht erleben. Er schlüpfte in die Gummistiefel seines Vaters. Sein Atem in der Hofluft. Stumpf stand die Sonne auf den Stolpauer Wiesen, versilberte die Nässe.

Jo Brüggemann ging nicht auf dem Deich entlang, er ging freundwärts, ins Binnenland. Seine Hände lagen auf dem Fernglas, das vor seiner Brust hing. Er atmete tief durch, wechselte in den Laufschritt, um seinen Körper zu spüren. Ließ ein Feld hinter sich, durchquerte Gestrüpp. Am Waldrand stand die Buche mit dem Seeadlerhorst, Jo empfand tiefen Respekt vor dem Gebilde. Kein Herbststurm hatte den Horst zerstören können, seit die Adler hier im letzten Sommer ihre Brut aufgezogen hatten. Wo sie in diesem Jahr nisteten, wusste er nicht, aber er sah die Altvögel recht häufig im Revier. Ihren Nachwuchs nie.

Wie machte das Seeadlermännchen? Kjü, kjö oder jou? Ein ansteigender Laut? Ein Jubeln, wenn ja, ein fragendes Jubeln?

Drei Jahre lang ging das jetzt schon so; seit sein Vater das muffige Zimmer verlassen und es sich in den Kopf gesetzt hatte, einen Vogelatlas zu erstellen. Drei Jahre sammeln, trennen, kombinieren. Hans mit Digitalkamera, vor allem aber mit dem Minidiscgerät, Vogelstimmen aufzeichnend und seine Imitation davon. Und Jo hatte ihn auch noch mit dem ganzen Zeug ausgestattet, ihn logistisch unterstützt! Papa, die Leute wollen heute keine Schwarte mehr, mach ’ne DVD, ’ne Website! Jo hatte seinem Vater von Usern erzählt, als seien sie die einzig mögliche Zielgruppe, er hatte in Hamburg einen Programmierer für das Projekt besorgt. Und Hans Brüggemann hatte seine Lethargie abgeworfen und Kontakt mit dem Naturschutzbund aufgenommen, der sich an dem Vogelatlas überaus interessiert zeigte. Hans begann wieder, fremde Menschen Idioten zu nennen und zu sagen: «Am Ende verkauf ich sowieso meistbietend.»

Seitdem also ging sein Vater nicht mehr spazieren, sondern auf Tour. Jo verstand das nur zu gut, auch er hasste Hobbys, solange sie bloß Beschäftigung blieben. Ein Ziel war nur ein Ziel, wenn man ihm einen Namen gab und ihm seine Zeit unterordnete.

Stopp! Wie viele Kraniche? Jos Lider zitterten, als er die Augen schloss und die Vögel herannahen hörte. Sie flogen direkt über ihn hinweg, ein Kreischen wie von Bremsen und Keilriemen. Acht, dachte er und öffnete die Augen. Es waren zehn. Die Vorhut. Jo Brüggemann hob das Fernglas. Er freute sich darüber, dass er zuerst auf Kraniche getroffen war und nicht auf eine Gänseschar. Wenn er tief einatmete und die Luft anhielt, konnte er die Geschwindigkeit mitgehen, den Vogelkeil Millimeter für Millimeter verfolgen. Diese ruhige Hand war durch viel Training mit Hans auf ihn übergegangen. Lange war es her, dass die beiden gemeinsam Vögel beobachtet hatten. Der Alte trug das Fernglas an der Lederschnur um den Hals. Jo hatte unter dem Band hindurchzutauchen und sich mit dem Rücken vor den Bauch des Vaters zu stellen. Der Junge war gar nicht dazu gekommen, sich der körperlichen Nähe zu schämen, denn wenn Hans Brüggemann von hinten das Glas vor Jos Augen hielt, hockte punktgenau im Fokus ein Vogel. Hans konnte die Vögel noch ins Glas bannen, wenn er gar nicht selbst hindurchsah! Als bestünde da ein Bündnis zwischen Mensch und Tier.

Im November würde am Himmel wieder die Hölle los sein, aber jetzt waren noch keine weiteren Zugvögel zu entdecken. Fast zwei Stunden war Jo gegangen, bis er schnellen Schrittes auf der Stichstraße zurück ins Dorf kam, auf den Sandweg vor den Deichgehöften einbog. Hans würde sicher schon mit dem Frühstück auf ihn warten. Frau Jessen, Elbdeich 3, versäumte es zu grüßen. Die alten Leute grüßte Brüggemann höchstens zurück. War das so verwunderlich, dass er nicht übers Wetter reden wollte? Darin, sagten sie, sei er seinem Vater doch sehr ähnlich.

Der alte Lewin winkte aus dem Garten vor dem Deichkrug. Es war aber kein grüßendes Winken, es war ein Heranwinken. Jo trat durch die Pforte und ging hinüber. Das weiße Ding sah aus wie ein Boot mit zu hohen Außenwänden, erst beim Näherkommen wurde es zum Schuttcontainer. Lewins bauten gerade die Kneipe um.

«Das muss jetzt mal ein Ende haben, Jo. Dein Vater…»

«Was ist denn?»

«Was ist denn, was ist denn. Immer taucht Hans irgendwo zwischen den Feldern auf, streicht ein paar Äste zur Seite und steht plötzlich an der Straße, steht im Weg. Das ist.»

«Ach was», wehrte Jo ab. «So ’n Quatsch.»

«Die Leute haben Angst, Jo. Dass der nie damit aufhört.»

«Wer fühlt sich denn belästigt?»

«Ich krieg auch ’ne Meise davon», sagte Lewin. «Du, dein Herr Vater ist hier zwanzig Jahre rumgelaufen mit seinem Bleistiftstummel im Hemd.»

Jo winkte ab, ohne ein weiteres Wort verließ er den Garten. Ihm war das Blut in den Kopf geschossen. Er wusste, dass einige seinem Vater seit Jahren auswichen. Deshalb hatte der ja so lange in der Stube gehockt und Löcher in den Deich geglotzt.

Er konnte nicht gleich ins Haus gehen, stieg selbst für einen Rundumblick auf diesen Deich. Hoch über dem Fluss hing ein Ballon mit roten, schwarzen und gelben Streifen. Jo nahm ihn ins Visier und erschrak über das heftige Rauschen. Den Brenner hörte man bis hier drüben. Es gab Zeiten, da wäre für dich schon lange Schluss gewesen, dachte er, da hätten sie dir Kugeln in den Wanst gejagt wie einem Wildschwein.

Jo Brüggemann hörte hinter sich ein Auto vorbeifahren und den Schlamm an den Wegrand spritzen. Bald würde der Schlamm aushärten, die Kälte an Trockenheit gewinnen. Er spürte den Frost schon auf den Lippen. So ein Herbsttag war das.

Er drehte sich einmal um die eigene Achse, das Fernglas vor den Augen. Dabei fiel sein Blick auf Hans, der die Gardine zur Seite gestrichen hatte und ihn aus der Wohnstube ansah. Jo erschrak nicht, nahm das Glas nicht runter, sondern fixierte den dunklen Balken über dem Fenster. Die gelbe Farbe war fast überall abgeplatzt, die Hausschrift völlig verwittert. Niemand stieg mehr auf die Leiter. Jetzt hielt Jo das Fernglas aufs Obergeschoss. Da war natürlich nur Gardine, regte sich nichts.

Er schritt durch die Gartenpforte auf das Hallenhaus zu, im Windfang zog er seine Gummistiefel aus und stellte das Fernglas daneben. Dann ging er hinein zu seinem Vater.

«Die ersten Kraniche», sagte Jo.

«Deine ersten.» Hans goss seinem Sohn Kaffee ein, dem man ansah, dass er nicht mehr heiß war. Jo köpfte sein Ei. Sie saßen an den Enden des Tisches, der Ältere hatte die Ellbogen aufgestützt.

Eine Weile verging.

«Gehst du eigentlich wieder in den Deichkrug?»

«Der hat doch dicht.»

«Wenn er jetzt wieder aufmacht, mein ich.»

Hans zog die Schultern hoch, nahm eine Scheibe Pumpernickel aus der Packung und bestrich sie dünn mit Margarine. Auf seiner Tischhälfte stand ansonsten nur noch ein Glas Honig. Auch er musste schlecht geschlafen haben, Jo meinte sogar, eine dünne, aufgeplatzte Ader auf der rechten Wange seines Vaters zu erkennen, die gestern Abend noch nicht dort zu sehen war.

«Was macht die Polizei?»

Jo biss in ein Leberwurstbrötchen.

«Sie funkt. Hat er heute Morgen noch gebimmelt?»

Hans schüttelte leicht den Kopf.

Jo nickte.

Eine Weile verging.

«Der bimmelt erst wieder, wenn du weg bist.»

Vor der Abreise ließ Jo Flüssigseife und Wasser in eine Schüssel. Er hob den Oberkörper des alten Mannes an, knöpfte ihm den Pyjama auf und wusch ihn unter den Achseln. Er kämmte ihm den weißen Haarkranz. Jo musste nicht ständig Fritzens Hand halten, das fand der unnötig. Anwesenheit sei ihm viel wichtiger, das hatte er Jo oft gesagt. Also trat der Enkel ans Fenster. Es fiel ihm nichts ein, was er sagen wollte.

«Weißt du noch, wie wir die Elbe sichtbar gemacht haben?»

«Mmmh», kam die schwache Stimme aus dem Hintergrund.

«Sie sieht schön aus. Was für’n Glast, würdest du sagen.»

Fritz drehte seinen Kopf auf dem dicken Kissen Richtung Fenster, mit einem Auge konnte er Jo wohl sehen.

Jo ging hinüber, küsste seinen Großvater auf die Stirn, strich ihm auch über die Wange. «Jetzt muss ich aber, Opa.»

Fritz schloss kurz die Augen. Ein Zuzwinkern, ein Ja.

Zwei

Die Gaststube war nicht länger vom Schankraum abgetrennt, die Zwischenwand verschwunden, zwei Toiletten in einen Anbau ausgelagert, die halbe Nordwestseite verglast und mit einem Schiebetürsystem versehen. Ein befreiter Blick führte dort in den kleinen Vorgarten und bis zum Deich hinauf.

Es war Sonntag, das Werk vollendet.

Martha Lewin ließ sich auf einem Stuhl nieder, strich mit beiden Händen über die Kirschbaumplatte. Schön, die rötliche Maserung. Sie sah zu ihrem Sohn auf, nickte, schob dabei die Unterlippe vor und rieb dann den Daumen gegen die Kuppen von Zeige- und Mittelfinger. Zusammengenommen sollte das bedeuten: Martha mochte den Tisch, sie wusste aber auch, dass achtzehnmal Kirschbaum seinen Preis hatte.