Der Großinquisitor. Eine Phantasie - Fjodor Dostojewskij - E-Book

Der Großinquisitor. Eine Phantasie E-Book

Fjodor Dostojewskij

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Beschreibung

Der unter seinem Unglauben leidende Atheist Iwan erzählt in Dostojewskijs Roman "Die Brüder Karamasow" diese bestürzende Parabel: Christus, der den Menschen die Freiheit bringen wollte, kehrt ins Spanien der Inquisition zurück. – Der Großinquisitor wirft ihm vor, er habe die Menschen überfordert und ihnen nur Unglück gebracht. Die Kirche verheiße dagegen Glückseligkeit – unter Preisgabe der Freiheit. Die verführerische Argumentation des Kardinals, die stumme Antwort Christi, die Entgegnung von Iwans Bruder: all das berührt bis heute Fragen des Glaubens, der Ethik, der Politik. Einer der tiefsten und einflussreichsten Texte der Weltliteratur. E-Book mit Seitenzählung der gedruckten Ausgabe: Buch und E-Book können parallel benutzt werden.

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Seitenzahl: 77

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Fjodor Dostojewskij

Der Großinquisitor

Eine Phantasie

Übersetzt von Hermann Röhl

Nachwort und Anmerkungen von Ulrich Schmid

Reclam

2021 Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen

Covergestaltung: Cornelia Feyll, Friedrich Forssman

Gesamtherstellung: Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen

Made in Germany 2021

RECLAM ist eine eingetragene Marke der Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, Stuttgart

ISBN978-3-15-961910-1

ISBN der Buchausgabe 978-3-15-014181-6

www.reclam.de

Inhalt

Der Großinquisitor

Zu dieser Ausgabe

Anmerkungen

Literaturhinweise

Nachwort

Der Großinquisitor

Ein Kapitel aus dem Roman Die Brüder Karamasow. Situation: Iwan Karamasow sitzt mit seinem Bruder Aljoscha in einem Gasthaus und eröffnet ihm, er habe im Kopf eine »Dichtung« verfasst, die er ihm mitteilen wolle.

[7]»Na ja, es geht auch hier nicht ohne Vorrede ab, das heißt ohne eine literarhistorische Vorrede, hol’s der Teufel!«, begann Iwan lachend. »Und dabei bin ich doch nur ein jämmerlicher Autor! Siehst du, die Handlung geht bei mir im sechzehnten Jahrhundert vor sich; damals aber (das muss dir übrigens noch von der Schule her bekannt sein), damals war es gerade üblich, in poetischen Erzeugnissen die himmlischen Mächte auf die Erde herabzuholen. Von Dante will ich schon gar nicht reden. In Frankreich gaben die Gerichtsschreiber und ebenso in den Klöstern die Mönche ganze Vorstellungen, in denen sie die Madonna, die Engel, die Heiligen, Christus und Gott selbst auf die Bühne brachten. Damals geschah das alles in vollster Einfalt. In Victor Hugos ›Notre Dame de Paris‹ wird zu Ehren der Geburt des französischen Dauphins in Paris in Gegenwart Ludwigs XI. im Rathaussaal dem Volk gratis eine erbauliche Vorstellung gegeben unter dem Titel: ›Le bon jugement de la très sainte et gracieuse Vierge Marie‹, worin auch sie selbst persönlich erscheint und ihr bon jugement verkündet. Bei uns wurden in Moskau in der Zeit vor Peter dem Großen mitunter ebensolche beinah dramatischen Vorstellungen veranstaltet, besonders aus dem Alten Testament. Und damals, in der Zeit der dramatischen Aufführungen, waren in der ganzen Welt auch viele Erzählungen und Gedichte im Umlauf, in denen nach Bedarf Heilige, Engel und alle himmlischen Heerscharen handelnd auftraten. Bei uns in den Klöstern beschäftigten sich die Mönche ebenfalls mit dem Übersetzen, mit dem Abschreiben und sogar mit der Abfassung solcher Gedichte – und noch dazu in was für [8]einer Zeit? Unter dem Tatarenjoch. Es gibt zum Beispiel ein kleines klösterliches Gedicht (natürlich aus dem Griechischen): ›Die Wanderung der Mutter Gottes durch die Stätten der Qual‹, mit Schilderungen von einer Kühnheit, die Dante in nichts nachsteht. Die Mutter Gottes besucht die Hölle, und der Erzengel Michael führt sie durch die ›Stätten der Qual‹. Sie sieht die Sünder und ihre Martern. Da ist unter andern eine sehr interessante Gattung von Sündern in einem brennenden See: Manche von ihnen versinken in diesen See so tief, dass sie nicht mehr an die Oberfläche heraufkommen können; sie ›geraten bei Gott schon in Vergessenheit‹ – ein Ausdruck von außerordentlicher Tiefe und Kraft. Und da fällt denn die Mutter Gottes erschüttert und weinend vor dem Thron Gottes nieder und bittet für alle in der Hölle um Begnadigung, für alle, die sie dort gesehen hat, ohne Ausnahme. Ihr Gespräch mit Gott ist höchst interessant. Sie fleht, sie lässt nicht ab, und als Gott sie auf die von Nägeln durchbohrten Hände und Füße ihres Sohnes hinweist und sie fragt: Wie kann ich denn seinen Peinigern verzeihen? Da befiehlt sie allen Heiligen, allen Märtyrern, allen Engeln und Erzengeln, mit ihr zusammen vor Gott niederzufallen und um die Begnadigung aller ohne Unterschied zu bitten. Es endet damit, dass sie von Gott durch ihre Bitten ein Aussetzen der Qualen alljährlich vom Karfreitag bis Pfingsten erreicht, und die Sünder aus der Hölle danken dem Herrn sogleich dafür und rufen: ›Gerecht bist Du, o Herr, dass Du so gerichtet hast.‹ Siehst du, von derselben Art würde auch meine kleine Dichtung gewesen sein, wenn sie zu jener Zeit erschienen wäre. Bei mir erscheint auf der Szene Er; allerdings redet Er in der Dichtung nichts, sondern erscheint nur und geht vorüber. [9]Fünfzehn Jahrhunderte sind schon vergangen, seit Er die Verheißung gegeben hat, Er werde wiederkommen und sein Reich aufrichten, fünfzehn Jahrhunderte, seit sein Prophet schrieb: ›Ich komme bald; von dem Tag aber und von der Stunde weiß nicht einmal der Sohn, sondern allein mein himmlischer Vater‹, wie auch Er selbst es noch auf Erden ausgesprochen hat. Aber die Menschheit erwartet Ihn immer noch mit dem früheren Glauben und mit der früheren Sehnsucht. Oh, sogar mit noch größerem Glauben; denn die fünfzehn Jahrhunderte sind schon dahingegangen seit der Zeit, da die Unterpfänder, die der Himmel den Menschen gab, aufgehört haben:

Du musst glauben, du musst wagen,

 Denn die Götter leihn kein Pfand.

So war denn nur der Glaube an das, was das Herz sagte, geblieben! Allerdings geschahen damals auch viele Wunder. Es gab Heilige, welche wunderbare Heilungen ausführten; zu manchen Gerechten stieg, nach den Angaben in ihren Lebensbeschreibungen, die Himmelskönigin selbst herab. Aber der Teufel schläft nicht, und es regten sich in der Menschheit schon Zweifel an der Wahrheit dieser Wunder. Damals war gerade im Norden, in Deutschland, eine schreckliche neue Ketzerei aufgetreten. Ein großer Stern, ›ähnlich einer Fackel (das heißt der Kirche) fiel auf die Wasserbrunnen, und sie wurden bitter‹. Die Anhänger dieser Ketzerei begannen gotteslästerlich die Wunder zu leugnen. Aber umso feuriger glaubten die treu Gebliebenen. Die Tränen der Menschheit stiegen zu Ihm hinauf wie ehemals; die Menschen erwarteten Ihn, liebten Ihn, hofften auf Ihn [10]wie ehemals. Und so viele Jahrhunderte lang betete die Menschheit in feurigem Glauben: ›Herr Gott, erscheine uns!‹ So viele Jahrhunderte rief sie zu Ihm, dass es Ihn in seinem unermesslichen Erbarmen verlangte, zu den Betenden hinabzusteigen. War Er doch auch vorher schon manchmal hinabgestiegen und hatte einzelne Gerechte, Märtyrer und fromme Eremiten noch auf Erden besucht, wie in ihren Lebensbeschreibungen zu lesen steht. Bei uns hat Tjutschew, der von der Wahrheit seiner Worte tief überzeugt war, gesungen:

In Knechtsgestalt, vom Kreuze schwer gedrückt,

Durchzog er segnend jede Erdenzone,

Er, den als König aller Welten schmückt

Auf höchstem Himmelsthron die Herrscherkrone.

Und so ist es auch tatsächlich geschehen, kann ich dir sagen. Also es verlangte Ihn, sich, wenn auch nur für ganz kurze Zeit, dem Volk zu zeigen, dem sich quälenden, leidenden, garstig sündigenden, aber Ihn doch kindlich liebenden Volk. Die Handlung spielt bei mir in Spanien, in Sevilla, in der furchtbarsten Zeit der Inquisition, als täglich zum Ruhme Gottes im Lande die Scheiterhaufen loderten und

Die Flammen der prächtigen Autodafés

Verbrannten die schändlichen Ketzer.

Oh, das war freilich nicht jenes Herniedersteigen, in welchem Er seiner Verheißung gemäß am Ende der Zeiten in all seiner himmlischen Herrlichkeit erscheinen wird, ›wie der Blitz scheinet vom Aufgang bis zum Niedergang‹. Nein, [11]es verlangte Ihn, wenn auch nur für ganz kurze Zeit, seine Kinder zu besuchen, und namentlich dort, wo gerade die Scheiterhaufen der Ketzer prasselten. In seiner unermesslichen Barmherzigkeit wandelt Er noch einmal unter den Menschen in eben jener Menschengestalt, in der Er fünfzehn Jahrhunderte vorher dreiunddreißig Jahre lang unter ihnen geweilt hat. Er steigt hinab auf die heißen Straßen und Plätze der südländischen Stadt, in welcher erst tags zuvor in einem ›prächtigen Autodafé‹ in Gegenwart des Königs, des Hofes, der Ritter, der Kardinäle und der reizendsten Damen des Hofes und in Gegenwart der zahlreichen Einwohnerschaft von ganz Sevilla durch den Kardinal-Großinquisitor auf einmal fast ein ganzes Hundert von Ketzern ad maiorem gloriam Dei verbrannt worden ist. Er erscheint still und unauffällig, und siehe da, es begibt sich etwas Seltsames: Alle erkennen Ihn. Das könnte eine der besten Stellen meiner Dichtung sein, nämlich die Darlegung, woran sie Ihn denn erkennen. Die Volksmenge strebt mit unwiderstehlicher Kraft zu Ihm hin, umringt Ihn, wächst um Ihn herum an und folgt Ihm nach. Schweigend wandelt Er unter ihnen dahin mit einem stillen Lächeln unendlichen Mitleides. Die Sonne der Liebe brennt in seinem Herzen, Strahlen von Licht und Kraft gehen von seinen Augen aus, ergießen sich auf die Menschen und erschüttern ihre Herzen in Gegenliebe. Er streckt die Hände nach ihnen hin und segnet sie, und von seiner Berührung, ja sogar von der Berührung seines Gewandes geht eine heilende Kraft aus. Da ruft aus der Menge ein Greis, der von seiner Kindheit an blind ist: ›Herr, heile mich, damit ich Dich schaue!‹, und siehe da, es fällt ihm wie Schuppen von den Augen, und der Blinde sieht Ihn. Das Volk weint und küsst die [12]Erde, über die Er dahinschreitet