Schuld und Sühne. Roman - Fjodor Dostojewskij - E-Book

Schuld und Sühne. Roman E-Book

Fjodor Dostojewskij

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Beschreibung

Dostojewskijs in formaler Hinsicht vermutlich vollkommenstes Werk ist der künstlerische Ausdruck jener tiefen, moralische Abgründe auslotenden philosophischen Frage: Gibt es »einzigartige« Menschen, denen alles erlaubt ist? So wie Rodion Raskolnikow, der eine »nutzlose« alte Wucherin tötet, um seinen Auserwähltheitsanspruch zu beweisen: ein Übermensch zu sein, für den die Gesetze der Moral und die Stimme des Gewissens keine Gültigkeit haben.Thomas Mann nannte es den »größten Kriminalroman aller Zeiten«: Dostojewskijs atemberaubendes Psychogramm eines Studenten, der in seiner moralischen Verblendung zum kaltblütigen Mörder wird. – Mit einer kompakten Biographie des Autors.

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Seitenzahl: 1223

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Fjodor Dostojewskij

Schuld und Sühne

Übersetzt von Hermann Röhl und mit einem Nachwort von Birgit Harreß

Reclam

Russischer Originaltitel:

Prestuplenie i nakazanie

 

2022 Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen

Covergestaltung: Philipp Reclam jun. Verlag GmbH

Coverabbildung: shutterstock.com / Channarong Pherngjanda

Gesamtherstellung: Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen

Made in Germany 2022

RECLAM ist eine eingetragene Marke der Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, Stuttgart

ISBN978-3-15-962005-3

ISBN der Buchausgabe 978-3-15-020661-4

www.reclam.de

Inhalt

Erster Teil

I

II

III

IV

V

VI

VII

Zweiter Teil

I

II

III

IV

V

VI

VII

Dritter Teil

I

II

III

IV

V

VI

Vierter Teil

I

II

III

IV

V

VI

Fünfter Teil

I

II

III

IV

V

Sechster Teil

I

II

III

IV

V

VI

VII

VIII

Epilog

I

II

Anhang

Zu dieser Ausgabe

Anmerkungen

Nachwort

Zeittafel

Erster Teil

I

An einem der ersten Tage des Juli – es herrschte eine gewaltige Hitze – verließ gegen Abend ein junger Mann seine Wohnung, ein möbliertes Kämmerchen in der S…gasse, und trat auf die Straße hinaus; langsam, wie unentschlossen, schlug er die Richtung nach der K…brücke ein.

Einer Begegnung mit seiner Wirtin auf der Treppe war er glücklich entgangen. Seine Kammer lag unmittelbar unter dem Dach des hohen, fünfstöckigen Hauses und hatte in der Größe mehr Ähnlichkeit mit einem Schrank als mit einer Wohnung. Seine Wirtin, die ihm diese Kammer vermietet hatte und ihm auch das Mittagessen lieferte und die Bedienung besorgte, wohnte selbst eine Treppe tiefer, und jedes Mal, wenn er das Haus verlassen wollte, musste er notwendig auf der Treppe an ihrer Küche vorbeigehen, deren Tür fast immer weit offen stand. Und jedes Mal, wenn der junge Mann vorbeikam, hatte er ein peinliches Gefühl von Feigheit durchzumachen, dessen er sich stirnrunzelnd schämte. Er steckte bei der Wirtin tief in Schulden und fürchtete sich deshalb davor, mit ihr zusammenzutreffen.

Nicht als ob Schüchternheit und Feigheit in seinem Charakter gelegen hätten; ganz im Gegenteil; aber er befand sich seit einiger Zeit in einem aufgeregten und gereizten Gemütszustand, der große Ähnlichkeit mit Hypochondrie hatte. Er hatte sich derartig in sein eigenes Ich vergraben und sich von allen Menschen abgesondert, dass er sich schlechthin vor jeder Begegnung scheute, nicht nur vor einer Begegnung mit seiner Wirtin. Die Armut hatte ihn völlig überwältigt; aber selbst diese bedrängte Lage empfand er in der letzten Zeit nicht mehr als lastenden Druck. Auf Brotarbeit hatte er ganz verzichtet; er hatte keine Lust mehr zu irgendwelcher Tätigkeit. In Wahrheit fürchtete er sich vor keiner Wirtin in der Welt, mochte sie gegen ihn im Schilde führen, was sie wollte. Aber auf der Treppe stehen zu bleiben, allerlei Gewäsch über allen möglichen ihm ganz gleichgültigen Alltagskram, all diese Mahnungen zum Bezahlen, die Drohungen und Klagen anzuhören und dabei selbst sich herauszuwinden, sich zu entschuldigen, zu lügen – nein, da war es schon besser wie eine Katze auf der Treppe vorbeizuschlüpfen und sich, ohne von jemand gesehen zu werden, flink davonzumachen.

Übrigens war er diesmal, als er auf die Straße hinaustrat, selbst erstaunt darüber, dass er sich so vor einer Begegnung mit seiner Gläubigerin fürchtete.

»Eine so große Sache plane ich, und dabei fürchte ich mich vor solchen Kleinigkeiten!«, dachte er mit einem eigentümlichen Lächeln. »Hm … ja … alles liegt einem im Bereich der Hände, und doch lässt man sich alles an der Nase vorbeigehen, einzig und allein aus Feigheit … das ist schon so die allgemeine Regel … Merkwürdig: Wovor fürchten die Menschen sich am meisten? Am meisten fürchten sie sich vor einem neuen Schritt, vor einem eignen neuen Wort … Übrigens schwatze ich viel zu viel. Darum handle ich auch nicht, weil ich so viel schwatze. Vielleicht aber liegt die Sache auch so: Weil ich nicht handle, darum schwatze ich. Da habe ich nun in diesem letzten Monat das Schwatzen gelernt, wenn ich so ganze Tage lang im Winkel lag und mir die alten Zeiten durch den Kopf gehen ließ. Nun also: Wozu gehe ich jetzt aus? Bin ich etwa imstande, ›das Bewusste‹ auszuführen? Ist es mir etwa Ernst damit? Ganz und gar nicht. Ich amüsiere mich nur mit einem müßigen Spiel der Gedanken; Tändelei! Ja, weiter nichts als Tändelei!«

Auf der Straße war eine furchtbare Hitze; dazu noch die drückende Schwüle und das Gedränge; überall Kalkgruben, Baugerüste, Ziegelsteine, Staub und jener besondere Sommergestank, den jeder Petersburger, soweit er nicht in der Lage ist, in die Sommerfrische zu gehen, so gut kennt – all dies zerrte plötzlich auf das Unangenehmste an den ohnehin schon reizbaren Nerven des jungen Mannes. Der unerträgliche Dunst aus den gerade in diesem Stadtteil besonders zahlreichen Kneipen und die Betrunkenen, auf die man trotz Werktag und Arbeitszeit fortwährend stieß, vollendeten das widerwärtige, traurige Kolorit dieses Bildes. Ein Ausdruck des tiefsten Ekels spielte einen Augenblick auf den feinen Zügen des jungen Mannes. (Um dies beiläufig zu erwähnen: Er hatte ein ungewöhnlich hübsches Äußeres, schöne, dunkle Augen, dunkelblondes Haar, war über Mittelgröße, schlank und wohlgebaut.) Aber bald versank er in tiefes Nachdenken oder, richtiger gesagt, in eine Art von Geistesabwesenheit und schritt nun einher, ohne seine Umgebung wahrzunehmen; ja, er wollte sie gar nicht wahrnehmen. Nur ab und zu murmelte er etwas vor sich hin, zufolge jener Neigung, mit sich selbst zu reden, die er sich soeben selbst eingestanden hatte. Gleichzeitig kam ihm auch zum Bewusstsein, dass seine Gedanken sich zeitweilig verwirrten und dass er sehr schwach war: Dies war schon der zweite Tag, dass er so gut wie nichts gegessen hatte.

Er war so schlecht gekleidet, dass ein anderer, selbst jemand, dem die Armut schon geläufig war, sich geschämt hätte, bei Tag in solchen Lumpen auf die Straße zu gehen. (Übrigens war dieser Stadtteil von der Art, dass es schwer war, durch ein schlechtes Kostüm hier jemand in Verwunderung zu versetzen. Die Nähe des Heumarktes, die übergroße Zahl gewisser Häuser und ganz besonders die Arbeiter- und Handwerkerbevölkerung, die sich in diesen inneren Straßen und Gassen von Petersburg zusammendrängt, brachten mitunter in das Gesamtbild einen so starken Prozentsatz derartiger Gestalten hinein, dass es sonderbar gewesen wäre, wenn man sich bei der Begegnung mit einer einzelnen solcher Figur hätte wundern wollen.) Aber in der Seele des jungen Mannes hatte sich bereits so viel ingrimmige Verachtung angesammelt, dass er trotz all seiner mitunter stark jünglingshaften Empfindlichkeit sich seiner Lumpen auf der Straße nicht mehr schämte. Anders beim Zusammentreffen mit irgendwelchen Bekannten oder mit früheren Kommilitonen, denen er überhaupt nicht gern begegnete … Als indes ein Betrunkener, der gerade in einem großen Bauernwagen mit einem mächtigen Lastpferd davor auf der Straße irgendwohin transportiert wurde, ihm plötzlich im Vorbeifahren zurief: »He, du da! Du hast ja einen deutschen Deckel auf dem Kopf!«, und aus vollem Hals zu brüllen anfing, indem er mit der Hand auf ihn zeigte: Da blieb der junge Mann stehen und griff mit einer krampfhaften Bewegung nach seinem Hut. Es war ein hoher, runder Hut, aus dem Hutgeschäft von Zimmermann, aber schon ganz abgenutzt, völlig fuchsig, ganz voller Löcher und Flecke, ohne Krempen und in gräulichster Weise seitlich eingeknickt. Aber es war nicht Scham, sondern ein ganz anderes, vielmehr schreckartiges Gefühl, das sich seiner bemächtigte.

»Hab ich’s doch gewusst!«, murmelte er bestürzt. »Hab ich’s mir doch gedacht! Das ist das Allerwiderwärtigste! Irgendeine Dummheit, irgendeine ganz gewöhnliche Kleinigkeit kann den ganzen Plan verderben! Ja, der Hut ist zu auffällig … Er ist lächerlich, und dadurch wird er auffällig. Zu meinen Lumpen ist eine Mütze absolut notwendig, und wäre es auch irgend so ein alter Topfdeckel, aber nicht dieses Ungetüm. So etwas trägt kein Mensch. Eine Werst weit fällt den Leuten so ein Hut auf, und sie erinnern sich seiner … und was das Wichtigste ist: Sie erinnern sich seiner nachher, und ehe man sich dessen versieht, ist der Indizienbeweis da. Bei solchen Geschichten muss man möglichst unauffällig sein … die Kleinigkeiten, die Kleinigkeiten, die sind die Hauptsache! Gerade diese Kleinigkeiten verderben immer alles …«

Er hatte nicht weit zu gehen; er wusste sogar, wie viel Schritte es von seiner Haustür waren: genau siebenhundertunddreißig. Er hatte sie einmal gezählt, als er sich sein Vorhaben schon lebhaft ausmalte. Damals freilich glaubte er selbst noch nicht an diese seine Phantasiegemälde und kitzelte nur sich selbst mit ihrer grauenhaften, aber verführerischen Verwegenheit. Jetzt, einen Monat später, hatte er bereits angefangen, die Sache von einem andern Gesichtspunkt aus zu betrachten, und trotz aller höhnischen Monologe über seine eigene Schwächlichkeit und Unschlüssigkeit hatte er sich unwillkürlich daran gewöhnt, das »grauenhafte« Phantasiegemälde bereits als ein beabsichtigtes Unternehmen zu betrachten, wiewohl er an seinen Entschluss noch immer selbst nicht recht glaubte. Sein jetziger Ausgang hatte sogar den Zweck, eine Probe für sein Vorhaben zu unternehmen, und mit jedem Schritt wuchs seine Aufregung mehr und mehr.

Das Herz stand ihm fast still, und ein nervöses Zittern überkam ihn, als er sich einem kolossalen Gebäude näherte, das mit der einen Seite nach dem Kanal, mit der andern nach der …straße zu lag. Dieses Haus enthielt lauter kleine Wohnungen, in denen allerlei geringes Volk hauste: Schneider, Schlosser, Köchinnen, Deutsche verschiedenen Berufes, Mädchen, die von ihrem Körper lebten, kleine Beamte usw. Durch die beiden Haustore und auf den beiden Höfen des Hauses war ein fortwährendes Kommen und Gehen. Hier waren drei oder vier Hausknechte zur Aufsicht vorhanden. Der junge Mann war sehr damit zufrieden, dass er keinem von ihnen begegnete, und schlüpfte gleich vom Tor aus unbemerkt rechts eine Treppe hinauf. Die Treppe war dunkel und eng, eine Hintertreppe; aber er hatte dies alles schon ausstudiert und kannte es, und diese ganze Örtlichkeit gefiel ihm; in solcher Dunkelheit war selbst ein neugierig forschender Blick nicht weiter gefährlich. »Wenn ich mich jetzt schon so fürchte, wie würde es dann erst sein, wenn es wirklich zur Ausführung der Tat selbst käme?«, dachte er unwillkürlich, während er zum vierten Stock hinaufstieg. Hier versperrten ihm Ziehleute, entlassene Soldaten, den Weg, die aus einer Wohnung Möbel heraustrugen. Er hatte schon früher in Erfahrung gebracht, dass in dieser Wohnung eine deutsche Beamtenfamilie wohnte. »Also dieser Deutsche zieht jetzt aus; folglich ist für einige Zeit im vierten Stock an dieser Treppe und an diesem Vorplatz die Wohnung der Alten die einzige bewohnte. Das ist günstig … für jeden Fall«, überlegte er wieder und klingelte an der Tür der Alten. Die Glocke rasselte schwach, wie wenn sie aus Blech wäre statt aus ordentlichem Metall. In solchen großen Mietshäusern findet man bei derartigen kleinen Wohnungen fast immer solche Türklingeln. Er hatte den Ton dieser Glocke schon vergessen gehabt, und nun war es, als ob dieser besondere Ton ihn auf einmal an etwas erinnerte und es ihm wieder klar vor die Seele brächte. Er fuhr ordentlich zusammen; seine Nerven waren doch schon recht schwach geworden. Es dauerte nicht lange, da wurde die Tür einen Spalt weit geöffnet; durch diese Spalte hindurch betrachtete die Bewohnerin den Ankömmling mit offenkundigem Misstrauen; von ihr waren nur die aus der Dunkelheit hervorfunkelnden Augen zu sehen. Aber da sie auf dem Vorplatz eine Menge Menschen sah, so fasste sie Mut und öffnete die Tür ganz. Der junge Mann trat über die Schwelle in ein dunkles Vorzimmer, das durch eine Bretterwand in zwei Teile geteilt war; hinter dieser Wand befand sich eine winzige Küche. Die Alte stand schweigend vor ihm und blickte ihn fragend an. Es war ein kleines, verhutzeltes Weib von etwa sechzig Jahren, mit scharfen, tückischen, kleinen Augen und kleiner, spitzer Nase; eine Kopfbedeckung trug sie nicht. Das hellblonde, nur wenig ergraute Haar war stark mit Öl gefettet. Um den dünnen, langen Hals, der mit einem Hühnerbein Ähnlichkeit hatte, hatte sie einen Flanelllappen gewickelt, und auf den Schultern hing trotz der Hitze eine ganz abgetragene, vergilbte Pelzjacke. Die Alte hustete und räusperte sich alle Augenblicke. Der junge Mann musste sie wohl mit einem eigentümlichen Blick angesehen haben; denn in ihren Augen funkelte auf einmal wieder das frühere Misstrauen auf.

»Mein Name ist Raskolnikow, Student; ich war schon einmal vor einem Monat bei Ihnen«, beeilte sich der junge Mann mit einer leichten Verbeugung zu sagen; denn es fiel ihm ein, dass er sehr liebenswürdig sein müsse. »Ich erinnere mich, Väterchen; ich erinnere mich recht gut, dass Sie hier waren«, erwiderte die Alte bedächtig, hielt jedoch dabei wie bisher ihre fragenden Augen unverwandt auf sein Gesicht geheftet.

»Nun also … ich bin noch einmal gekommen, um ein ebensolches Geschäft mit Ihnen zu machen«, fuhr Raskolnikow fort, etwas befangen und verwundert über das Misstrauen der Alten.

»Aber vielleicht ist sie immer so, und ich habe es das erste Mal nur nicht beachtet«, dachte er mit einer peinlichen Empfindung.

Die Alte schwieg ein Weilchen, wie wenn sie etwas überlegte, dann trat sie zur Seite, und indem sie auf die ins Zimmer führende Tür zeigte und dem Besucher den Vortritt ließ, sagte sie:

»Treten Sie ein, Väterchen.«

Das kleine Zimmer, in welches der junge Mann eintrat, war gelb tapeziert; an den Fenstern hingen Musselingardinen; auf den Fensterbrettern standen Geraniumtöpfe; in diesem Augenblick war das Zimmer von der untergehenden Sonne hell erleuchtet. »Die Sonne wird also auch dann ebenso scheinen!«, musste Raskolnikow unwillkürlich denken und ließ einen schnellen Blick über das ganze Zimmer gleiten, um die Lage und Einrichtung kennen zu lernen und sich einzuprägen. Etwas Besonderes war im Zimmer nicht zu sehen. Das Mobiliar, durchweg sehr alt und aus gelbem Holz, bestand aus einem Sofa mit gewaltiger, geschweifter, hölzerner Rückenlehne, einem ovalen Tisch vor dem Sofa, einer Toilette mit einem Spiegelchen am Fensterpfeiler, einigen Stühlen an den Wänden und zwei oder drei billigen, gelb eingerahmten Bildern, welche deutsche Fräulein mit Vögeln in den Händen darstellten – das war die ganze Einrichtung. In einer Ecke brannte vor einem kleinen Heiligenbild ein Lämpchen.

Alles war sehr sauber: Die Möbel und die Dielen waren blank gerieben; alles glänzte nur so. »Das ist Lisawetas Werk«, dachte der junge Mann. In der ganzen Wohnung war kein Stäubchen zu finden. »Bei nichtswürdigen alten Witwen ist solche Reinlichkeit etwas Häufiges«, fuhr Raskolnikow in seinen Überlegungen fort und schielte forschend nach dem Kattunvorhang vor der Tür nach dem zweiten kleinen Zimmerchen, wo das Bett und die Kommode der Alten standen; in dieses Zimmer hatte er bisher noch nicht hineinschauen können. Die ganze Wohnung bestand nur aus diesen beiden Zimmern.

»Was wünschen Sie?«, fragte die Alte in scharfem Ton, nachdem sie ins Zimmer getreten war und, wie vorher, sich gerade vor ihn hingestellt hatte, um ihm genau ins Gesicht blicken zu können.

»Ich bringe ein Stück zum Verpfänden. Da ist es!«

Er zog eine alte, flache silberne Uhr aus der Tasche. Auf dem hinteren Deckel war ein Globus dargestellt. Die Kette war von Stahl.

»Das frühere Pfand ist auch schon verfallen. Vorgestern war der Monat abgelaufen.«

»Ich will Ihnen für noch einen Monat Zinsen zahlen. Haben Sie noch Geduld.«

»Es steht bei mir, Väterchen, ob ich mich noch gedulden oder Ihr Pfand jetzt verkaufen will.«

»Was geben Sie mir auf die Uhr, Aljona Iwanowna?«

»Sie kommen immer nur mit solchen Trödelsachen, Väterchen. Die hat ja so gut wie gar keinen Wert. Auf den Ring habe ich Ihnen das vorige Mal zwei Scheinchen gegeben; aber man kann ihn beim Juwelier für anderthalb Rubel neu kaufen.«

»Geben Sie mir auf die Uhr vier Rubel; ich löse sie wieder aus; es ist ein Erbstück von meinem Vater. Ich bekomme nächstens Geld.«

»Anderthalb Rubel, und die Zinsen vorweg, wenn es Ihnen so recht ist.«

»Anderthalb Rubel!«, rief der junge Mann.

»Ganz nach Ihrem Belieben!«

Mit diesen Worten hielt ihm die Alte die Uhr wieder hin. Der junge Mann nahm sie und war so ergrimmt, dass er schon im Begriff stand wegzugehen; aber er besann sich noch schnell eines andern, da ihm einfiel, dass er an keine andre Stelle gehen konnte und dass er auch noch zu einem andern Zweck gekommen war.

»Nun, dann geben Sie her!«, sagte er in grobem Ton.

Die Alte griff in die Tasche nach den Schlüsseln und ging in das andre Zimmer hinter dem Vorhang. Der junge Mann, der allein mitten im Zimmer stehengeblieben war, horchte mit lebhaftem Interesse und kombinierte. Es war zu hören, wie sie die Kommode aufschloss. »Wahrscheinlich die obere Schublade«, mutmaßte er. »Die Schlüssel trägt sie also in der rechten Tasche … alle als ein Bund, an einem stählernen Ring … Und es ist ein Schlüssel dabei, der ist größer als alle andern, dreimal so groß, mit gezacktem Bart; natürlich nicht von der Kommode … Also ist da noch so eine Truhe oder ein Kasten … Das ist interessant. Truhen haben immer derartige Schlüssel … Aber wie gemein ist das alles!«

Die Alte kam zurück.

»Nun also, Väterchen: Wenn wir zehn Kopeken vom Rubel monatlich rechnen, dann bekomme ich für anderthalb Rubel von Ihnen für einen Monat fünfzehn Kopeken im Voraus. Und für die beiden früheren Rubel bekomme ich von Ihnen nach derselben Berechnung noch zwanzig Kopeken im Voraus. Das macht zusammen fünfunddreißig Kopeken. Sie haben also jetzt für Ihre Uhr einen Rubel und fünfzehn Kopeken zu erhalten. Hier, nehmen Sie, bitte.«

»Wie? Also jetzt nur einen Rubel und fünfzehn Kopeken?«

»Ganz richtig.«

Der junge Mann ließ sich nicht auf einen Streit ein und nahm das Geld. Er sah die Alte an und zauderte mit dem Fortgehen, als wolle er noch etwas sagen oder tun; aber er schien selbst nicht zu wissen, was denn eigentlich.

»Vielleicht bringe ich Ihnen nächstens noch ein Pfandstück, Aljona Iwanowna … ein schönes … silbernes … Zigarettenetui … sobald ich es von einem Freund zurückbekomme …«

Er wurde verlegen und schwieg.

»Nun, darüber können wir ja dann später reden, Väterchen.«

»Adieu … Aber sitzen Sie denn immer so allein zu Hause? Ist Ihre Schwester nicht da?«, fragte er möglichst harmlos, während er in das Vorzimmer hinaustrat.

»Was wollen Sie denn von der, Väterchen?«

»Nun, nichts Besondres. Ich fragte nur so. Aber Sie müssen auch gleich … Adieu, Aljona Iwanowna!«

Raskolnikow ging in hochgradiger Erregung hinaus. Und seine Erregung wuchs noch immer mehr. Als er die Treppe hinunterstieg, blieb er sogar einige Mal stehen, wie wenn ihn ein Gedanke plötzlich ganz übernommen hätte. Und endlich – er war schon auf der Straße – rief er aus: »Oh Gott, wie scheußlich das alles ist! Werde ich denn … werde ich denn wirklich … nein, das ist ja ein Unsinn, eine Absurdität!«, fügte er in festem Ton hinzu. »Wie konnte mir so etwas Grässliches überhaupt nur in den Sinn kommen? Welcher schmutzigen Gedanken ist mein Herz doch fähig! Denn das ist Faktum: Es ist eine schmutzige, abscheuliche, ekelhafte, ekelhafte Sache, und doch habe ich einen ganzen Monat lang …«

Aber keine Worte und keine Ausrufe waren imstande, seiner Erregung einen entsprechenden Ausdruck zu geben. Das Gefühl eines gewaltigen Ekels, das schon damals sein Herz bedrückt und beklemmt hatte, als er noch auf dem Weg zu der Alten begriffen gewesen war, nahm jetzt solche Dimensionen an und trat in solcher Schärfe hervor, dass er nicht wusste, wo er sich vor Unruhe lassen sollte. Er ging auf dem Trottoir wie ein Betrunkener, bemerkte die Begegnenden gar nicht und stieß mit ihnen zusammen; erst in der nächsten Straße kam er zur Besinnung. Um sich blickend, gewahrte er, dass er vor einer Kneipe stand, zu der man vom Trottoir eine Treppe hinabstieg, ins Souterrain. Aus der Tür kamen gerade in diesem Augenblick zwei Betrunkene heraus und kletterten, indem sie sich wechselseitig stützten, unter Schimpfworten zur Straße hinauf. Ohne sich lange zu besinnen, stieg Raskolnikow hinunter. Er war noch nie in einem solchen Lokal gewesen; aber jetzt war ihm der Kopf ganz schwindlig, dazu quälte ihn ein brennender Durst. Es verlangte ihn, ein Glas kaltes Bier zu trinken, umso mehr, da er seine plötzliche Schwäche auch auf Rechnung seines leeren Magens setzte. Er nahm in einem dunklen, schmutzigen Winkel an einem klebrigen Tischchen Platz, forderte Bier und trank gierig das erste Glas aus. Sofort wurde ihm leichter ums Herz, und seine Gedanken klärten sich. »Das ist ja lauter dummes Zeug«, sagte er wieder hoffnungsvoll zu sich selbst, »und es war gar kein Grund zur Aufregung. Eine rein physische Störung! Ein einziges Glas Bier, ein Bissen Brot – und im Augenblick wird der Verstand wieder kräftig, das Denken klar, der Wille fest! Pfui über diese ganze Jämmerlichkeit!«

Aber obwohl er bei den letzten Worten verächtlich ausspie, sah er schon heiter aus, als wäre er plötzlich von einer furchtbaren Last befreit, und betrachtete mit freundlichen Blicken die Anwesenden. Indes selbst in diesem Augenblick ahnte er ganz von fern, dass diese ganze Empfänglichkeit für bessere Regungen bei ihm gleichfalls etwas Krankhaftes an sich habe.

In der Schenke waren zurzeit nur wenige Leute anwesend. Außer jenen beiden Betrunkenen, denen er bei der Treppe begegnet war, hatte unmittelbar nach ihnen noch eine ganze Gesellschaft, etwa fünf Männer und eine Dirne, mit einer Ziehharmonika das Lokal verlassen. Nach ihrem Weggehen war es still geworden; auch war nun mehr Raum. Zurückgeblieben waren: ein Mann, der bei seinem Bier saß, betrunken, jedoch nicht übermäßig, dem Aussehen nach ein Kleinbürger; ferner sein Kumpan, ein dicker, sehr großgewachsener Kerl mit grauem Bart; er hatte einen kurzen Kaftan an, war sehr stark betrunken und lag schlafend auf einer Bank; mitunter aber breitete er auf einmal wie in halbwachem Zustand die Arme weit auseinander, schnipste mit den Fingern und schnellte mit dem Oberkörper in die Höhe, ohne jedoch von der Bank aufzustehen; dazu sang er irgendwelchen Unsinn, indem er sein Gedächtnis anstrengte, um sich auf Verse von dieser Art zu besinnen:

»Dass ich – zärtlich zu ihr – war,

»Währte – wohl ein ganzes Jahr.«

Oder er wachte auf einmal auf und grölte:

»Auf dem Promenadenplatz

Traf ich meinen einst’gen Schatz.«

Aber niemand nahm an seinem Glück Anteil; sein schweigsamer Genosse betrachtete diese Ausbrüche sogar mit Misstrauen und Feindseligkeit. Es war außerdem noch ein Mann da, anscheinend ein früherer Beamter. Er saß allein für sich bei seiner Flasche Branntwein und seinem Glas; ab und zu nahm er einen Schluck und sah umher. Er befand sich, wie es schien, gleichfalls in einiger Aufregung.

II

Raskolnikow war an das Zusammensein mit einer größeren Anzahl von Menschen nicht gewöhnt und mied, wie schon gesagt, jede Gesellschaft, namentlich in der letzten Zeit. Aber jetzt fühlte er sich auf einmal zu den Menschen hingezogen. Es ging eine Art Umwandlung in ihm vor, und zugleich machte sich bei ihm geradezu ein Durst nach menschlicher Gesellschaft spürbar. Er war von dieser seiner nun schon einen ganzen Monat dauernden heftigen Unruhe und düstern Aufregung so erschöpft, dass er sich danach sehnte, wenigstens für einen Augenblick in einer andern Welt – mochte sie sein, wie sie wollte – aufzuatmen, und so blieb er denn jetzt trotz aller Unsauberkeit der Umgebung mit Vergnügen in der Kneipe sitzen.

Der Wirt hielt sich in einem andern Zimmer auf, kam aber häufig in den Hauptraum, zu welchem er auf Stufen hinabstieg. Dabei wurden zuerst seine eleganten Schmierstiefel mit großen roten Stulpen sichtbar. Er trug ein Wams ohne Ärmel und eine furchtbar verfettete schwarzseidene Weste; ein Halstuch fehlte, und sein ganzes Gesicht schien wie ein eisernes Schloss mit Öl eingerieben zu sein. Hinter dem Schanktisch stand ein etwa vierzehnjähriger Junge; auch war noch ein andrer, jüngerer da, der den Gästen das Bestellte hintrug. An Speisen waren aufgestellt: in Scheiben geschnittene Gurken, Stücke Roggenbrots und in kleine Bissen zerlegter Fisch; alles roch sehr übel. Es herrschte eine solche Schwüle, dass es geradezu unerträglich war, hier zu sitzen, und die gesamte Atmosphäre war derart mit Branntweindunst geschwängert, dass man schon allein von dieser Luft in fünf Minuten betrunken werden konnte.

Man begegnet mitunter ganz unbekannten Leuten, für die man sich auf den ersten Blick, plötzlich, ehe man noch ein Wort mit ihnen gesprochen hat, lebhaft interessiert. Einen derartigen Eindruck machte auf Raskolnikow jener Gast, der abseits saß und wie ein ehemaliger Beamter aussah. Der junge Mann erinnerte sich in der Folgezeit öfters an diesen ersten Eindruck und führte ihn sogar auf eine Vorahnung zurück. Er sah den Beamten mit unverwandtem Blick an, allerdings schon deswegen, weil auch dieser ihn starr anschaute und offenbar große Lust hatte, ein Gespräch mit ihm anzuknüpfen. Die übrigen in der Kneipe anwesenden Personen, den Wirt eingeschlossen, waren dem Beamten jedenfalls ein gewohnter und sogar langweiliger Anblick; ja, er hatte für sie sogar einen leisen Ausdruck hochmütiger Geringschätzung, als seien sie Menschen von niedrigerer Stellung und tieferer Bildungsstufe, mit denen er nicht wohl reden könne. Er mochte schon über fünfzig Jahre alt sein, war von mittlerer Statur und stämmigem Körperbau, mit ergrautem Haar und großer Glatze; sein Gesicht war von beständiger Trunkenheit aufgedunsen und sah gelb, ja grünlich aus; unter den geschwollenen Augenlidern glänzten aus schmalen Spalten kleine, aber sehr lebendige, gerötete Augen hervor. Aber es war an ihm etwas Seltsames: In seinem Blick lag eine Art von schwärmerischem Leuchten, auch Verstand und Klugheit mochte man darin finden – aber gleichzeitig schimmerte es darin wie von Irrsinn. Bekleidet war er mit einem alten, vollständig zerrissenen schwarzen Frack, an dem die Knöpfe fehlten. Nur ein einziger Knopf saß noch notdürftig fest, und mit diesem hatte er das Kleidungsstück zugeknöpft, sichtlich bemüht, den Anstand zu wahren. Aus einer Nankingweste schaute ein ganz zerknittertes, beschmutztes und begossenes Vorhemd heraus. Er war, gemäß seiner Stellung als Beamter, rasiert; jedoch musste dies schon vor geraumer Zeit zum letzten Male geschehen sein, da die bläulichen Stoppeln bereits wieder in dichter Menge herausgekommen waren. Auch in seinen Manieren lag tatsächlich etwas, was an einen gesetzten Beamten erinnerte. Aber er befand sich in starker Unruhe, wühlte sich im Haar, stemmte manchmal die zerrissenen Ellbogen auf den begossenen, schmierigen Tisch und stützte kummervoll den Kopf in beide Hände. Endlich blickte er Raskolnikow gerade ins Gesicht und sagte laut und mit fester Stimme:

»Darf ich mir die Freiheit nehmen, mein Herr, mich mit einem anständigen Gespräch an Sie zu wenden? Denn obgleich Sie nach Ihrem Äußeren nicht den Eindruck eines hochgestellten Mannes machen, so erkenne ich bei meiner Erfahrung doch in Ihnen einen gebildeten und des Trinkens ungewohnten Menschen. Ich habe eine mit edlen Charaktereigenschaften verbundene Bildung stets hochgeschätzt, und außerdem bin ich Titularrat. Mein Name ist Marmeladow, Titularrat. Darf ich mir die Frage erlauben, ob Sie ein Amt bekleiden?«

»Nein, ich studiere«, antwortete der junge Mann, einigermaßen verwundert sowohl über diese sonderbare, hochtrabende Redeweise, als auch darüber, dass er so geradezu, so ohne weiteres angeredet worden war. Obgleich er noch soeben ein Verlangen nach irgendwelchem Verkehr mit andern Menschen verspürt hatte, empfand er plötzlich bei dem ersten Wort, das nun wirklich an ihn gerichtet wurde, sein gewöhnliches unangenehmes und gereiztes Gefühl des Widerwillens gegen jeden Fremden, der mit ihm anknüpfte oder dies auch nur zu beabsichtigen schien.

»Also ein Student oder ein ehemaliger Student!«, rief der Beamte. »Hatte ich es mir doch gedacht! Ja, ja, die Erfahrung, mein Herr, die langjährige Erfahrung!«, und prahlerisch legte er einen Finger an die Stirn. »Sie waren Student, widmeten sich den Wissenschaften! Aber gestatten Sie …«

Er erhob sich schwankend, nahm seine Flasche und sein Glas und setzte sich zu dem jungen Mann, ihm schräg gegenüber. Er war betrunken, redete aber deutlich und fließend; nur ab und zu verwirrte er sich einmal und zog dann die Worte in die Länge. Mit einer gewissen Gier fiel er über Raskolnikow her, als hätte auch er einen ganzen Monat lang mit keinem Menschen gesprochen.

»Mein Herr«, begann er pathetisch, »Armut ist kein Laster; dieses Sprichwort ist eine Wahrheit. Ich weiß, dass andrerseits die Trunksucht keine Tugend ist, und das ist noch richtiger. Aber Bettelhaftigkeit, mein Herr, Bettelhaftigkeit – die ist allerdings ein Laster. In der Armut bewahren Sie noch den Adel der angeborenen und anerzogenen Empfindungen; aber der Bettler tut das niemals. Für Bettelhaftigkeit wird man nicht einmal mit einem Stock hinausgejagt, sondern, um die Beleidigung noch ärger zu machen, mit einem Besen aus der menschlichen Gesellschaft hinausgefegt. Und das mit Recht; denn bei der Bettelhaftigkeit bin ich selbst der Erste, der bereit ist, mich zu beleidigen. Daher kommt dann das Trinken! Mein Herr, vor einem Monat hat Herr Lebesjatnikow meine Gattin krumm und lahm geprügelt, und meine Gattin steht hoch über mir! Verstehen Sie wohl …? Gestatten Sie mir noch die Frage, nur so aus bloßer Neugier: haben Sie schon auf der Newa, auf den Heukähnen, übernachtet?«

»Nein, das ist mir noch nicht vorgekommen«, antwortete Raskolnikow. »Wieso?«

»Nun, ich komme von dort; ich habe schon fünf Nächte …«

Er füllte sein Glas, trank es aus und versank in Gedanken. Tatsächlich hingen an seinem Anzug und sogar in seinen Haaren hier und da Heuhälmchen. Sehr wahrscheinlich, dass er sich fünf Tage lang weder ausgekleidet noch gewaschen hatte. Ganz besonders schmutzig waren die fetten, roten Hände mit den schwarzen Fingernägeln.

Was er sagte, schien in dem Lokal eine allgemeine, wiewohl nicht eigentlich besonders lebhafte Aufmerksamkeit zu erregen. Die Knaben hinter dem Schanktisch kicherten. Der Wirt war, wohl absichtlich, aus dem oberen Zimmer herabgekommen, um den »komischen Kerl« zu hören, hatte sich abseits hingesetzt und gähnte lässig, aber würdevoll. Offenbar war Marmeladow hier schon lange bekannt. Ja, auch seine Neigung zu hochtrabender Ausdrucksweise hatte sich wohl dadurch entwickelt, dass er gewohnt war, mit allen möglichen unbekannten Leuten in der Kneipe Gespräche zu führen. Diese Gewohnheit geht bei manchen Trinkern geradezu in ein Bedürfnis über, und namentlich bei solchen, mit denen zu Hause streng verfahren und kurzer Prozess gemacht wird. Daher suchen sie, wenn sie mit andern Trinkern zusammen sind, sich wegen ihres Trinkens zu rechtfertigen oder sich sogar womöglich die Achtung der andern zu erwerben.

»Du komischer Kerl!«, sagte der Wirt laut. »Warum arbeitest du denn nicht, warum bist du denn nicht im Dienst, wenn du doch Beamter bist?«

»Warum ich nicht im Dienst bin, mein Herr«, entgegnete Marmeladow, indem er sich ausschließlich an Raskolnikow wendete, als ob dieser es wäre, der die Frage an ihn gerichtet hatte, »warum ich nicht im Dienst bin? Ist es mir denn nicht der größte Schmerz, dass ich mich so nutzlos umhertreibe? Als Herr Lebesjatnikow vor einem Monat eigenhändig meine Gattin prügelte und ich betrunken dalag, habe ich da etwa nicht gelitten? Erlauben Sie eine Frage, junger Mann, ist es Ihnen schon einmal begegnet, dass Sie … hm … dass Sie ohne Hoffnung jemand baten, Ihnen Geld zu leihen?«

»Oh ja … das heißt, was meinen Sie damit: ohne Hoffnung?«

»Nun, ich meine eben: völlig ohne Hoffnung, so dass man schon im Voraus weiß, dass nichts dabei herauskommt. Ein Beispiel: Sie wissen bestimmt im Voraus, dass dieser sehr gutgesinnte und überaus nützliche Bürger Ihnen unter keinen Umständen Geld geben wird; denn warum sollte er es tun? frage ich. Er weiß ja, dass ich es ihm doch niemals wiedergebe. Etwa aus Mitleid? Aber Herr Lebesjatnikow, der alle neu auftauchenden Ideen mit Interesse verfolgt, hat neulich erst erklärt, dass das Mitleid in der Neuzeit sogar von der Wissenschaft verboten worden sei und dass man in England, dem Land der Nationalökonomie, bereits danach verfahre. Warum also, frage ich, sollte er Ihnen Geld geben? Und wohlgemerkt: Obwohl Sie im Voraus wissen, dass er Ihnen nichts geben wird, machen Sie sich dennoch auf den Weg und …«

»Wozu soll man denn dann noch hingehen?«, bemerkte Raskolnikow.

»Wenn aber niemand sonst da ist? Wenn Sie sonst nirgendwohin gehen können? Es müsste doch in der Welt so eingerichtet sein, dass jeder Mensch wenigstens irgendwohin gehen könnte. Denn es kommen Zeiten vor, wo man unbedingt irgendwohin gehen muss! Als meine einzige Tochter zum ersten Mal mit dem gelben Schein ging, da ging auch ich … Meine Tochter lebt nämlich auf den gelben Schein«, fügte er als erklärende Einschaltung hinzu und blickte dabei den jungen Mann mit einiger Unruhe an. »Das macht nichts, mein Herr, das macht nichts!«, beeilte er sich schleunigst und anscheinend mit Seelenruhe zu erklären, als die beiden Knaben hinter dem Schanktisch losprusteten, und selbst der Wirt lächelte. »Das macht nichts! Durch dieses ›Schütteln der Häupter‹ lasse ich mich nicht verlegen machen; denn alles ist schon längst allen bekannt, und ›es ist nichts verborgen, das nicht offenbar werde‹; und nicht mit Verachtung, sondern in Demut tue ich dessen Erwähnung. Mögen sie, mögen sie! ›Sehet, welch ein Mensch!‹ Erlauben Sie eine Frage, junger Mann: sind Sie imstande … Aber nein, ich will mich stärker und bezeichnender ausdrücken: nicht sind Sie imstande, sondern wagen Sie, wenn Sie mich in diesem Augenblick ansehen, die bestimmte Versicherung abzugeben, dass ich kein Lump bin?«

Der junge Mann erwiderte kein Wort.

Der Redner wartete zunächst, bis das Kichern, das wieder im Zimmer auf seine Worte gefolgt war, aufhörte, und fuhr dann erst und diesmal sogar noch mit erhöhter Würde fort: »Nun, mag ich immerhin ein Lump sein; sie aber ist eine Dame. Ich sehe aus wie ein Stück Vieh; aber meine Gattin, Katerina Iwanowna, ist eine gebildete Person und als Tochter eines Stabsoffiziers geboren. Mag ich auch ein Schuft sein; aber sie ist ein hochherziges Weib und durch ihre Erziehung von veredelten Gefühlen erfüllt. Und trotzdem … ach, wenn sie Mitleid mit mir hätte! Mein Herr, mein Herr, es müsste doch in der Welt so eingerichtet sein, dass jeder Mensch wenigstens eine Stelle hätte, wo man ihn bemitleidete! Indessen, Katerina Iwanowna ist zwar eine hochgesinnte Dame, aber ungerecht … Ich weiß freilich selbst sehr wohl, dass, wenn sie mich an den Haaren reißt, sie das lediglich aus mitleidigem Herzen tut – denn ich wiederhole es ohne Verlegenheit: Sie reißt mich an den Haaren, junger Mann!« So versicherte er in noch würdevollerem Ton, als er ein neues Gekicher hörte. »Aber, mein Gott, wenn sie doch nur ein einziges Mal … Aber nein, nein! Das ist alles vergebens, und es hat keinen Zweck, davon zu reden! Gar keinen Zweck! Denn das, was ich soeben als Wunsch aussprach, ist schon mehrmals dagewesen, und ich bin mehrmals bemitleidet worden; aber … das ist nun einmal meine Natur so; ich bin ein geborenes Vieh!«

»Sehr richtig!«, bemerkte der Wirt gähnend.

Marmeladow schlug entschlossen mit der Faust auf den Tisch.

»Das ist nun einmal meine Natur so! Wissen Sie, wissen Sie, mein Herr, dass ich sogar ihre Strümpfe vertrunken habe? Nicht die Stiefel, denn das wäre ja noch so einigermaßen in der Ordnung, sondern die Strümpfe, ihre Strümpfe habe ich vertrunken! Ihr feines Kaschmirhalstuch habe ich auch vertrunken (sie hat es einmal geschenkt bekommen, schon früher, es war ihr persönliches Eigentum und gehörte mir nicht), und dabei wohnen wir in einem kalten, kleinen Loch, und sie hatte sich in diesem Winter erkältet und angefangen zu husten, schon Blut zu husten. Wir haben drei kleine Kinder, und Katerina Iwanowna ist vom Morgen bis in die Nacht hinein bei der Arbeit, sie scheuert, sie wäscht, auch die Kinder wäscht sie, denn sie ist von klein auf an Reinlichkeit gewöhnt; aber sie hat eine schwache Brust und Anlage zur Schwindsucht, und darüber gräme ich mich! Gräme ich mich etwa nicht darüber? Und je mehr ich trinke, umso mehr gräme ich mich. Darum eben trinke ich, weil ich aus diesem Getränk die Empfindungen des Mitleids und des Grames schöpfe … Ich trinke, weil ich doppelt leiden will!«

Wie in Verzweiflung neigte er den Kopf auf den Tisch.

»Junger Mann«, fuhr er, sich wieder aufrichtend, fort, »auf Ihrem Gesicht lese ich so etwas wie Kummer. Schon als Sie eintraten, machte ich diese Beobachtung, und darum habe ich mich auch sogleich an Sie gewandt. Denn wenn ich Ihnen meine Lebensgeschichte mitteile, so verfolge ich dabei nicht den Zweck, mich vor diesen Tagedieben, denen übrigens alles schon ohnehin bekannt ist, an den Pranger zu stellen, sondern ich suche einen Menschen von Gefühl und Bildung. Hören Sie also, dass meine Gattin in einem vornehmen, für den Adel des Gouvernements bestimmten Pensionat erzogen wurde und bei der Entlassungsfeier in Gegenwart des Gouverneurs und anderer hoher Persönlichkeiten den Schaltanz getanzt hat, wofür sie eine goldene Medaille und ein Belobigungszeugnis erhielt. Die Medaille … nun, die Medaille haben wir verkauft … schon lange … hm …! Das Belobigungszeugnis aber liegt noch bis auf den heutigen Tag in ihrem Kasten, und noch neulich hat sie es unsrer Wirtin gezeigt. Und obgleich sie mit der Wirtin unaufhörlich Zank und Streit hat, so wollte sie sich doch wenigstens vor einem Menschen rühmen und von vergangenen glücklichen Tagen reden. Und ich richte nicht, ich richte nicht; denn dies ist das Letzte, was ihr noch als Erinnerung geblieben ist, alles Übrige ist fort und dahin! Ja, ja; sie ist eine temperamentvolle Dame, stolz und unbeugsam. Den Fußboden wäscht sie selbst auf und lebt von Schwarzbrot; aber eine Verletzung der ihr gebührenden Achtung duldet sie nicht. Deshalb wollte sie sich auch Herrn Lebesjatnikows Grobheit nicht gefallen lassen, und als Herr Lebesjatnikow sie nun dafür prügelte, da legte sie sich ins Bett, nicht sowohl wegen der Schläge als wegen des Gefühls der Kränkung. Ich habe sie geheiratet, als sie Witwe war, mit drei Kinderchen, eines immer noch kleiner als das andre. Ihren ersten Mann, einen Infanterieoffizier, hatte sie aus Liebe geheiratet und war mit ihm aus dem Elternhaus davongelaufen. Sie liebte ihren Mann grenzenlos; aber er ergab sich dem Kartenspiel, kam vor Gericht und starb während der Untersuchung. In der letzten Zeit schlug er sie häufig, und obwohl sie ihm auch nichts hingehen ließ, was mir zuverlässig und aus sicheren Bezeugungen bekannt ist, so erinnert sie sich seiner doch bis auf den heutigen Tag mit Tränen und macht mich im Gegensatz zu ihm schlecht, und ich freue mich darüber, ja, ich freue mich darüber, weil sie sich wenigstens einbildet, einmal glücklich gewesen zu sein … Als er gestorben war, blieb sie mit den drei kleinen Kindern in einer abgelegenen, unzivilisierten Kreisstadt zurück, wo auch ich mich damals befand, und sie lebte in so trostloser Armut, dass ich gar nicht imstande bin, es zu beschreiben, wiewohl ich viel und mancherlei Unglück in meinem Leben mitangesehen habe. Die Verwandten hatten sich alle von ihr losgesagt. Und sie war auch stolz, über alle Maßen stolz. Und da, mein Herr, bot ich, der ich gleichfalls Witwer war und von meiner ersten Frau eine vierzehnjährige Tochter hatte, ihr meine Hand an, weil ich einen solchen Jammer nicht ansehen konnte. Welchen Grad ihr Elend erreicht hatte, das können Sie daraus beurteilen, dass sie, eine gebildete, wohlerzogene Frau aus angesehener Familie, sich bereitfinden ließ, mich zu nehmen. Sie heiratete mich! Sie weinte und schluchzte und rang die Hände; aber sie heiratete mich! Denn sie wusste nicht, wo sie bleiben sollte. Verstehen Sie, verstehen Sie, mein Herr, was das besagen will, wenn man nicht weiß, wo man bleiben soll? Nein! das verstehen Sie noch nicht … Ein ganzes Jahr lang erfüllte ich im Dienst meine Pflicht treu und gewissenhaft und rührte das da« (er tippte mit dem Finger an die Branntweinflasche) »nicht an; denn ich habe ein fühlendes Herz. Aber trotzdem hatte sie immer an mir etwas auszusetzen; und nun verlor ich gar meine Stelle, gleichfalls ohne mein Verschulden, vielmehr infolge einer Veränderung in der Zusammensetzung der Behörden, und da fing ich an zu trinken …! Es wird jetzt anderthalb Jahre her sein, dass wir endlich nach langen Irrfahrten und vielen Drangsalen in dieser prächtigen, mit zahlreichen Denkmälern geschmückten Residenz anlangten. Ich bekam hier eine Stelle; ich bekam sie und verlor sie wieder. Verstehen Sie wohl? Diesmal verlor ich sie nun schon durch meine eigene Schuld; denn meine Natur machte sich geltend … Wir wohnen jetzt in Schlafstelle bei der Zimmervermieterin Amalia Iwanowna Lippewechsel; wovon wir aber leben, und womit wir bezahlen, das weiß ich nicht. Es wohnen da noch viele Leute außer uns … ein ganz scheußliches Sodom und Gomorrha … hm …! ja … Unterdessen war auch mein Töchterchen aus erster Ehe herangewachsen; was sie, mein Töchterchen, während sie heranwuchs, von ihrer Stiefmutter alles zu erdulden hatte, davon will ich schweigen. Denn obgleich Katerina Iwanowna ganz von hochherzigen Gefühlen erfüllt ist, so ist sie doch eine temperamentvolle, reizbare Dame und kann einem die Hölle heiß machen … Ja! Na, es hat keinen Zweck, davon zu reden. Ordentlichen Unterricht hat Sofja, wie Sie sich leicht denken können, nicht erhalten. Vor vier Jahren machte ich den Versuch, Geographie und Weltgeschichte mit ihr durchzunehmen; aber da ich selbst in diesen Wissenschaften nicht fest war und wir keine geeigneten Leitfäden dazu besaßen (denn was waren das für elende Büchelchen, die wir hatten … hm! nun, die sind jetzt nicht mehr vorhanden, diese Büchelchen –), so war der ganze Unterricht auch bald zu Ende. Wir kamen nur bis zu dem persischen König Cyrus. Später, als sie zu reiferem Alter gelangt war, las sie einige Bücher, in denen Romane standen, und noch kürzlich las sie mit großem Interesse ein Buch, das sie durch Herrn Lebesjatnikows Vermittlung bekommen hatte, die Physiologie von Lewes (kennen Sie es?), und sie las uns sogar einige Partien daraus vor. Das ist ihre ganze Bildung. Jetzt wende ich mich an Sie, mein Herr, ganz privatim mit einer rein persönlichen Frage: Kann Ihrer Ansicht nach ein armes, aber anständiges junges Mädchen durch ehrliche Arbeit etwas Erkleckliches verdienen? Sie wird noch nicht fünfzehn Kopeken den Tag verdienen, mein Herr, wenn sie sich anständig hält und keine besonderen Talente besitzt; und auch das nur, wenn sie bei der Arbeit die Hände keinen Augenblick ruhen lässt. Und dabei ist noch der Staatsrat Iwan Iwanowitsch Klopstock (haben Sie vielleicht von ihm gehört?) ihr nicht nur das Nähgeld für ein halbes Dutzend leinener Hemden bis heute schuldig geblieben, sondern er hat sie sogar mit Schimpf und Schande hinausgejagt, hat mit den Füßen gestampft und sie mit unanständigen Schimpfnamen belegt, unter dem Vorwand, ein Kragen wäre verpasst und schief genäht. Und zu Hause die hungernden kleinen Kinder … Und Katerina Iwanowna ging händeringend im Zimmer auf und ab, und auf ihren Backen traten die roten Flecke hervor, wie das bei dieser Krankheit immer so zu gehen pflegt. ›Du Schmarotzerin‹, sagte sie zu Sofja, ›da wohnst du nun bei uns und isst und trinkst und genießt die Wärme‹ – freilich, von Essen und Trinken konnte eigentlich kaum die Rede sein, wo auch die Kleinen drei Tage lang keine Brotrinde bekommen hatten! Ich lag damals gerade da … ach was, warum soll ich es nicht sagen? ich lag gerade betrunken da und hörte, wie meine Sofja antwortete (sie ist immer so bescheiden und hat so ein sanftes Stimmchen … hellblondes Haar hat sie, und ihr Gesichtchen ist immer so blass und mager), also ich hörte, wie sie antwortete: ›Aber Katerina Iwanowna, wie kann ich mich denn auf so etwas einlassen?‹ Nämlich Darja Franzowna, ein nichtswürdiges und der Polizei sehr wohlbekanntes Frauenzimmer, hatte schon dreimal durch unsre Wirtin anfragen lassen. ›Ach was‹, antwortete Katerina Iwanowna spöttisch, ›wozu das erst noch lange bewahren! Als ob’s ein großes Kleinod wäre!‹ Aber verurteilen Sie sie deswegen nicht, mein Herr, verurteilen Sie sie deswegen nicht! Sie sagte das nicht bei gesunder Überlegung, sondern bei größter Aufregung ihrer Empfindungen und unter der Einwirkung ihrer Krankheit und angesichts der hungrigen Kinder, und sie sagte es auch mehr, um Sofja zu kränken, als in ernstlicher Absicht … Denn Katerina Iwanowna hat nun einmal einen solchen Charakter, und wenn die Kinder zu weinen anfangen, sei es auch vor Hunger, so schlägt sie sie sofort. Und da sah ich (es war so zwischen fünf und sechs), wie meine liebe Sofja aufstand, sich ein Tuch umband, ihre Pelerine anzog und aus der Wohnung wegging; und nach acht kam sie wieder zurück. Sie ging sofort geradeswegs auf Katerina Iwanowna los und legte stillschweigend dreißig Silberrubel vor ihr auf den Tisch. Kein einziges Wort sagte sie dabei, sie blickte nicht einmal auf; sie nahm nur unser großes, grünes Tuch von drap de dame (wir haben so ein Tuch zu gemeinsamer Benutzung, von drap de dame), verhüllte sich damit vollständig den Kopf und das Gesicht und legte sich auf das Bett, mit dem Gesicht nach der Wand zu; nur die kleinen Schultern und der ganze Körper zuckten immer … Ich aber lag wie vorher da, in demselben Zustand … Und da sah ich, junger Mann, da sah ich, wie darauf Katerina Iwanowna, gleichfalls ohne ein Wort zu sagen, an Sofjas Bettchen trat und den ganzen Abend über zu ihren Füßen auf den Knien lag, ihr die Füße küsste, nicht aufstehen wollte, und wie sie dann beide zusammen einschliefen, sich eng umschlungen haltend … beide … beide … ja … und ich … ich lag betrunken da.«

Marmeladow schwieg, wie wenn ihm die Stimme versagte. Dann goss er hastig sein Glas voll, trank es aus und räusperte sich.

»Seit der Zeit, mein Herr«, fuhr er nach kurzem Stillschweigen fort, »seit der Zeit ist infolge dieses einen bedauerlichen Falles und infolge einer Denunziation seitens böswilliger Personen (wobei Darja Franzowna besonders mitgewirkt hat, angeblich, weil man es ihr gegenüber an der gebührenden Achtung habe fehlen lassen), also seit der Zeit ist meine Tochter Sofja gezwungen, den gelben Schein zu nehmen, und konnte aus diesem Grunde nicht mehr bei uns wohnen bleiben. Denn unsre Wirtin, Amalia Iwanowna, wollte es nicht dulden (und doch hatte sie früher die Bemühungen Darja Franzownas unterstützt), und auch Herr Lebesjatnikow … hm …! Sofja war ja auch der Anlass, weswegen er die böse Geschichte mit Katerina Iwanowna hatte. Ursprünglich hatte er selbst sich an Sofja herangemacht, und nun auf einmal kehrte er sein Ehrgefühl heraus: ›Wie kann ich, ein gebildeter Mann‹, hieß es, ›mit so einer in derselben Wohnung leben?‹ Aber Katerina Iwanowna ließ sich solche Reden nicht gefallen, sondern nahm Sofja in Schutz … nun, und da fand denn der unangenehme Vorfall statt … Sofja besucht uns jetzt meistens in der Dämmerstunde, hilft Katerina Iwanowna bei der Arbeit und versieht uns nach ihren Kräften mit Geldmitteln … Wohnen tut sie bei dem Schneider Kapernaumow; dem hat sie eine Stube abgemietet. Dieser Kapernaumow ist lahm und stottert, und seine ganze, außerordentlich zahlreiche Nachkommenschaft stottert gleichfalls. Und seine Frau stottert auch … Sie hausen alle in einer einzigen Stube; aber Sofja hat ihre besondre Stube … hm …! ja … Es sind ganz arme Leute, und dabei stottern sie noch … ja … Sobald ich damals am Morgen aufgestanden war, zog ich meine Lumpen an, hob die Arme gen Himmel und begab mich zu Seiner Exzellenz Iwan Afanasjewitsch. Kennen Sie Seine Exzellenz Iwan Afanasjewitsch …? Nein? Nun, dann kennen Sie einen gottwohlgefälligen Menschen nicht! Er ist geradezu Wachs … Wachs in der Hand des Herrn; weich wie Wachs wird er …! Er weinte sogar, nachdem er geruht hatte, alles anzuhören. ›Nun‹, sagte er, ›Marmeladow, einmal hast du schon meine Erwartungen getäuscht … Ich will dich noch einmal nehmen, auf meine persönliche Verantwortung‹, so drückte er sich aus. ›Denke daran‹, sagte er, ›und nun geh!‹ Ich küsste ihm den Staub von den Füßen, in Gedanken; denn in Wirklichkeit hätte er es nicht zugelassen, als hoher Würdenträger und Vertreter der neuen Ideen über Staat und Bildung. Ich kehrte nach Hause zurück, und als ich da erzählte, dass ich mein Amt wiedererhalten hätte und wieder Gehalt bekommen würde – oh Gott, was gab das für eine Szene …!«

Marmeladow hielt abermals in großer Aufregung inne. In diesem Augenblick kam eine ganze Bande schon bezechter Trunkenbolde von der Straße herein, und am Eingang ertönten die Klänge eines Leierkastens, den sie sich angenommen hatten, und ein siebenjähriges Kind sang dazu mit seinem dünnen, kraftlosen Stimmchen »Das Dörfchen«. Es wurde geräuschvoll. Der Wirt und die Bedienung beschäftigten sich mit den neuen Ankömmlingen. Marmeladow fuhr, ohne sich um die Eingetretenen zu kümmern, in seiner Erzählung fort. Er schien schon sehr schwach geworden zu sein, aber zugleich mit seiner Trunkenheit wuchs auch seine Redseligkeit. Die Erinnerung an den Erfolg, den er kürzlich in Bezug auf seine dienstliche Stellung gehabt hatte, machte ihn ordentlich lebendig und spiegelte sich sogar auf seinem Gesicht wie eine Art von leuchtendem Schimmer wider. Raskolnikow hörte ihm aufmerksam zu.

»Dies begab sich vor fünf Wochen, mein Herr … ja … Sowie die beiden, Katerina Iwanowna und meine liebe Sofja, das nur erfahren hatten, da war’s auf einmal, als ob ich in das Himmelreich versetzt wäre. Früher, wenn ich wie ein Stück Vieh dalag, hatte ich immer nur Schimpfwörter zu hören bekommen. Aber jetzt! Jetzt gingen sie auf den Zehen und ermahnten die Kinder zur Ruhe: ›Semjon Sacharowitsch ist müde vom Dienst und muss sich ausruhen; pst!‹ Morgens, ehe ich zum Dienst ging, bekam ich Kaffee zu trinken; Sahne wurde aufgekocht! Wirkliche Sahne beschafften sie, hören Sie nur! Und woher sie das Geld zu einem anständigen Dienstanzug für mich aufbrachten, elf Rubel fünfzig Kopeken, das ist mir unbegreiflich. Stiefel, mehrere baumwollene Vorhemdchen, großartig, sage ich Ihnen, eine Uniform, alles brachten sie für elf und einen halben Rubel zustande, und es sah vorzüglich aus. Am ersten Tag kam ich zu Mittag aus dem Dienst, und was sah ich: Katerina Iwanowna hatte zwei Gerichte gekocht, eine Suppe und Pökelfleisch mit Meerrettich, woran früher nicht im Entferntesten zu denken gewesen war. Kleider besitzt sie keine, geradezu keine; aber nun hatte sie sich angezogen, wie wenn sie zu Besuch gehen wollte, ordentlich geputzt hatte sie sich; nicht dass sie wirklich etwas gehabt hätte, sondern mit ganz geringen Hilfsmitteln; die Weiber verstehen es ja, aus nichts alles mögliche zu machen; sie machen sich das Haar hübsch zurecht, dann ein sauberes Krägelchen und Manschetten, und ein ganz anderes Wesen ist fertig, jünger und schöner. Sofja, mein Herzenskind, hatte sich nur mit Geld hilfreich gezeigt; ›dass ich selbst jetzt häufig zu euch komme‹, sagte sie, ›passt sich nicht; nur etwa so in der Dämmerung, damit es niemand sieht‹. Hören Sie wohl? Hören Sie wohl? Nach dem Mittagessen machte ich ein Schläfchen, und was meinen Sie wohl, was da geschah? Obwohl es erst eine Woche her war, dass Katerina Iwanowna sich mit unserer Wirtin, Amalia Iwanowna, aufs Ärgste gezankt hatte, so konnte sie es sich doch nicht versagen, sie zu einem Tässchen Kaffee einzuladen. Zwei Stunden lang saßen sie zusammen und unterhielten sich flüsternd, und ich hörte, wie meine Frau sagte: ›Semjon Sacharowitsch bekleidet jetzt ein Amt und bezieht Gehalt, und er ist selbst zu Seiner Exzellenz gegangen, und Seine Exzellenz ist selbst herausgekommen und hat allen geheißen, sie sollten warten, aber meinen Semjon Sacharowitsch hat er an allen vorbei in sein Arbeitszimmer geführt.‹ Hören Sie wohl? Hören Sie wohl? ›Und da hat er gesagt: Ich erinnere mich selbstverständlich Ihrer Verdienste, Semjon Sacharowitsch. Nun freilich, es haftet Ihnen ja diese leichtsinnige Schwäche an; aber da Sie es mir jetzt versprechen, und da es außerdem ohne Sie bei uns nicht recht gehen wollte‹ (hören Sie nur, hören Sie nur!), ›so verlasse ich mich jetzt, hat er gesagt, auf Ihr Ehrenwort.‹ Das heißt, ich muss Ihnen sagen, das alles hatte sie sich einfach ausgedacht, aber nicht etwa aus Leichtfertigkeit oder lediglich um zu prahlen! Nein, sie glaubt an all dergleichen selbst, sie hat selbst ihre Freude an den eigenen Phantasiegebilden, wahrhaftiger Gott! Und ich verurteile das nicht; nein, das verurteile ich nicht …! Als ich vor sechs Tagen mein erstes Gehalt, dreiundzwanzig Rubel vierzig Kopeken, ihr vollzählig nach Hause brachte, da hat sie mich Schnuckchen genannt. ›Du mein nettes Schnuckchen!‹, hat sie gesagt. Und wir beide waren ganz allein, verstehen Sie wohl? Nun, hübsch bin ich doch wahrhaftig nicht und ein guter Gatte auch nicht. Aber in die Backe hat sie mich gekniffen, und ›Du mein nettes Schnuckchen!‹, hat sie zu mir gesagt.«

Marmeladow hielt inne und machte einen Versuch zu lächeln, aber auf einmal begann sein Kinn unwillkürlich auf und nieder zu gehen. Indessen behielt er sich in der Gewalt. Diese Kneipe, das verlotterte Aussehen des Mannes, die fünf Nächte auf den Heukähnen und die Branntweinflasche auf der einen Seite, und auf der anderen diese grenzenlose Liebe zu seiner Frau und zu seiner Familie – das vermochte der Zuhörer nicht miteinander in Einklang zu bringen. Raskolnikow hörte aufmerksam zu, aber mit einem peinlichen Gefühl. Er bedauerte, hier eingekehrt zu sein.

»Mein Herr, mein Herr!«, rief Marmeladow, als er sich wieder gefasst hatte. »Oh mein Herr, das alles kommt vielleicht Ihnen, gerade wie so vielen andern, einfach lächerlich vor, und Sie empfinden meine dumme Erzählung von all diesen kläglichen Einzelheiten meines häuslichen Lebens lediglich als Belästigung; aber mir ist es nicht lächerlich! Denn ich habe für all das eine tiefe Empfindung … Und jenen ganzen paradiesischen, schönsten Tag meines Lebens und jenen ganzen Abend schwelgte ich in hochfliegenden Plänen, wie ich nämlich das alles einrichten würde und den Kinderchen Kleider anschaffen und ihr ein ruhiges Dasein ermöglichen und meine einzige Tochter aus dem Leben der Schande wieder in den Schoß der Familie zurückführen würde … Und so noch vieles, vieles … Das durfte ich mir ja erlauben, mein Herr, solchen genussreichen Gedanken nachzuhängen. Nun, mein Herr«, hier fuhr Marmeladow auf einmal zusammen, hob den Kopf in die Höhe und blickte seinem Zuhörer gerade ins Gesicht, »nun, am andern Tag, nach all diesen wonnigen Träumereien (jetzt ist es gerade fünf Tage her), gegen Abend, entwendete ich durch eine listige Täuschung, wie ein Dieb in der Nacht, meiner Frau den Schlüssel zu ihrem Kasten, nahm heraus, was von dem heimgebrachten Gehalt noch übrig war (wie viel es war, darauf kann ich mich nicht mehr besinnen) – und nun sehen Sie mich an! Alle mögen sie mich ansehen! Seit fünf Tagen bin ich nicht zu Hause gewesen, und da suchen sie nun nach mir, und mit meiner amtlichen Tätigkeit ist’s zu Ende, und mein Dienstanzug liegt in einer Schenke an der Ägyptischen Brücke, und an seiner Statt habe ich diese Kleider bekommen … und alles ist aus!«

Marmeladow schlug sich mit der Faust gegen die Stirn, presste die Zähne aufeinander, machte die Augen zu und stützte sich heftig mit dem Ellbogen auf den Tisch. Aber einen Augenblick darauf veränderte sich sein Gesicht wieder; mit gekünstelter Schlauheit und gemachter Frechheit blickte er Raskolnikow an, lachte auf und sagte:

»Aber heute bin ich bei Sofja gewesen und habe sie um Geld zum Weitertrinken gebeten! He, he, he!«

»Hat sie dir wirklich was gegeben?«, schrie einer von den vorhin eingetretenen Gästen und lachte aus vollem Halse.

»Die Flasche, die Sie hier sehen, ist für ihr Geld gekauft«, erwiderte Marmeladow, sich ausschließlich an Raskolnikow wendend. »Dreißig Kopeken hat sie mir herausgebracht, mit ihren eigenen Händen, die letzten, alles, was sie hatte; ich habe es selbst gesehen … Kein Wort hat sie dabei gesagt, sondern mich nur schweigend angesehen … Das war schon nicht mehr, wie’s auf Erden zugeht, sondern wie im Jenseits … dass man sich über jemand grämt und über ihn weint, aber ihm keinen Vorwurf macht, keinen Vorwurf …! Dreißig Kopeken, ja. Und sie hat sie doch jetzt selbst nötig, nicht wahr? Was meinen Sie wohl, mein lieber Herr? Sie muss doch jetzt auf Sauberkeit bedacht sein. Und diese Sauberkeit kostet Geld, so eine besondere Sauberkeit, verstehen Sie wohl? Verstehen Sie wohl? Da muss sie sich Pomade kaufen, das ist nun einmal erforderlich; gestärkte Unterröcke, solche kleinen Stiefelchen, recht kokette, um das Füßchen zu zeigen, wenn sie einmal eine Pfütze zu überschreiten hat. Verstehen Sie wohl, verstehen Sie wohl, mein Herr, was es mit dieser Sauberkeit für eine Bewandtnis hat? Und nun sehen Sie: Ich, ihr leiblicher Vater, habe ihr diese dreißig Kopeken abgenommen, um weitertrinken zu können! Und ich trinke dafür, ich habe sie schon vertrunken! Na, wer kann mit einem solchen Menschen, wie ich bin, noch Mitleid haben? He? Bedauern Sie mich jetzt, mein Herr, oder nicht? Antworten Sie, mein Herr, ob Sie mich bedauern oder nicht! Hahahaha!«

Er wollte sich noch einmal einschenken; aber es war nichts mehr da; die Flasche war leer.

»Warum soll man dich auch noch bedauern?«, rief der Wirt, der sich gerade wieder in ihrer Nähe befand.

Gelächter erscholl, auch Schimpfwörter. Wer zugehört hatte, lachte und schimpfte, und auch diejenigen, die nicht zugehört hatten, schlossen sich mit an, schon beim bloßen Anblick der Gestalt des früheren Beamten.

»Bedauern! Warum man mich bedauern soll?«, heulte Marmeladow weinerlich auf. Er erhob sich plötzlich und streckte in stärkstem Affekt den Arm nach vorn aus, als ob er nur auf diese Worte gewartet hätte. »Warum man mich bedauern soll, sagst du? Ja, ich verdiene kein Mitleid. Kreuzigen sollte man mich, kreuzigen, aber nicht bedauern! Kreuzige, Richter, kreuzige, und nachher bemitleide den Gekreuzigten! Dann will ich selbst zur Kreuzigung zu dir kommen; denn ich lechze nicht nach Freuden, sondern nach Leid und Tränen …! Meinst du, Schankwirt, dass diese Flasche Schnaps mir ein Genuss war? Leid, Leid habe ich auf ihrem Grunde gesucht, Leid und Tränen, und die habe ich gefunden und gekostet; Mitleid aber wird mit uns der haben, der mit allen Mitleid hat und alle und alles versteht, er, der Einzige, er wird Richter sein. Er wird an jenem Tage kommen und fragen: ›Wo ist die Tochter, die sich um der bösen, schwindsüchtigen Stiefmutter und der fremden Kinderchen willen zum Opfer gebracht hat? Wo ist die Tochter, die mit ihrem irdischen Vater, einem verkommenen Trunkenbold, Mitleid hatte, ohne vor seiner Verrohung zu erschrecken?‹ Und er wird sagen: ›Komm her zu mir! Ich habe dir schon damals vergeben … dir schon damals vergeben. Vergeben wird dir auch jetzt deiner Sünden Menge, denn du hast viel geliebt …‹ Und er vergibt meiner Sofja, er vergibt ihr; ich weiß, dass er ihr vergibt … Das habe ich noch eben erst, als ich heute bei ihr war, in meinem Herzen gefühlt! … Und alle wird er richten und allen vergeben, den Guten und den Bösen, den Weisen und den Einfältigen … Und wenn er dann mit allen fertig sein wird, dann wird er auch zu uns sprechen: ›Kommet her‹, wird er sagen, ›auch ihr! Kommet her, ihr Säufer, kommet her, ihr Willensschwachen, kommet her, ihr Schamlosen.‹ Und wir werden alle kommen, ohne Scheu, und vor ihn hintreten. Und er wird sagen: ›Schweine seid ihr, Ebenbilder des Viehes; aber kommet auch ihr zu mir!‹ Da werden die Weisen und die Klugen sprechen: ›Herr, warum nimmst du diese auf?‹ Und er wird sagen: ›Darum nehme ich sie auf, ihr Weisen, darum nehme ich sie auf, ihr Klugen, weil auch nicht einer von ihnen sich dessen selbst für würdig gehalten hat …‹ Und er wird uns seine Hände entgegenstrecken, und wir werden vor ihm niederfallen … und werden weinen … und werden alles verstehen! Dann werden wir alles verstehen …! Und alle werden es verstehen … auch Katerina Iwanowna … auch die wird es verstehen …! Herr, dein Reich komme!«

Kraftlos und erschöpft sank er auf die Bank nieder; er blickte niemand an, als hätte er seine ganze Umgebung vergessen und wäre tief in Gedanken versunken. Seine Worte hatten einigermaßen Eindruck gemacht; ein kleines Weilchen herrschte Schweigen; aber bald erscholl wieder das frühere Lachen und Schimpfen.

»Das war mal fein geredet!«

»So’n Quatsch!«

»Das ist nun ein Beamter!«

Und so weiter und so weiter.

»Kommen Sie, wir wollen gehen, mein Herr«, sagte Marmeladow plötzlich, indem er den Kopf in die Höhe hob und sich an Raskolnikow wandte, »begleiten Sie mich … Ich wohne im Kosel’schen Hause, auf dem Hof. Es wird Zeit, dass ich … zu Katerina Iwanowna …«

Raskolnikow hatte schon lange beabsichtigt fortzugehen und auch selbst daran gedacht, ihm behilflich zu sein. Es stellte sich heraus, dass es mit Marmeladows Beinen erheblich schlechter bestellt war als mit seinem Mundwerk, und er lehnte sich mit seinem ganzen Gewicht auf den jungen Mann. Sie hatten nur zwei- bis dreihundert Schritte zu gehen. Je näher sie dem Haus kamen, um so unruhiger und ängstlicher wurde der Säufer.

»Ich fürchte mich jetzt nicht vor Katerina Iwanowna«, murmelte er in großer Aufregung, »auch nicht davor, dass sie mich an den Haaren reißen wird. Was kommt auf die Haare an …! Die Haare sind ganz gleichgültig …! Das ist meine aufrichtige Meinung! Es ist sogar besser, wenn sie mich an den Haaren reißt, und davor fürchte ich mich weiter nicht … Wovor ich mich fürchte, das sind ihre Augen … ja … ihre Augen … Die roten Flecke auf ihren Backen, vor denen fürchte ich mich auch … und dann noch … vor ihrem Atem fürchte ich mich. Haben Sie schon einmal gesehen, wie die Menschen bei dieser Krankheit atmen, wenn sie sich seelisch aufregen? Auch vor dem Weinen der Kinder fürchte ich mich. Denn wenn Sofja ihnen nichts zu essen gebracht hat, dann … weiß ich gar nicht, wie es geworden sein mag! Aber vor Schlägen fürchte ich mich nicht … Sie können mir glauben, mein Herr, dass mir solche Schläge nicht nur kein Schmerz, sondern eine wahre Wonne sind. Denn das ist mir selbst geradezu ein Bedürfnis. Es ist besser so. Mag sie mich schlagen, das macht ihr das Herz leichter … Es ist besser so … Aber da ist unser Haus, das Kosel’sche Haus. Herr Kosel ist Schlosser, ein reicher Deutscher … Kommen Sie mit!«

Sie gingen auf dem Hof in eine Tür und stiegen zum vierten Stockwerk hinauf. Je weiter sie kamen, um so dunkler wurde die Treppe. Es war schon beinahe elf Uhr, und obgleich es um diese Stunde in Petersburg zur Sommerzeit noch nicht wirklich Nacht ist, so war doch die Treppe oben sehr dunkel.