Weiße Nächte. Ein empfindsamer Roman. Aus den Erinnerungen eines Träumers - Fjodor Dostojewskij - E-Book

Weiße Nächte. Ein empfindsamer Roman. Aus den Erinnerungen eines Träumers E-Book

Fjodor Dostojewskij

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Beschreibung

Ein junger Mann flaniert voll innerer Unruhe durch die nächtlichen Straßen St. Petersburgs und begegnet einer schönen jungen Frau: Nastjenka. Beide sind einsam, sie treffen sich wieder, vier Nächte lang, um zu reden – er über sein selbstgewähltes Leben als sonderlingshafter Träumer, sie über eine unerfüllte Liebe. Die beiden kommen sich näher. E-Book mit Seitenzählung der gedruckten Ausgabe: Buch und E-Book können parallel benutzt werden.

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Fjodor Dostojewskij

Weiße Nächte

Ein empfindsamer RomanAus den Erinnerungen eines Träumers

Aus dem Russischen übertragen von Johannes von GuentherAnmerkungen und Nachwort von Angela Martini

Reclam

Originaltitel: Belye noči (1848)

 

1969, 2021 Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen

Covergestaltung: Cornelia Feyll, Friedrich Forssman

Gesamtherstellung: Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen

Made in Germany 2021

RECLAM ist eine eingetragene Marke der Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, Stuttgart

ISBN978-3-15-961928-6

ISBN der Buchausgabe 978-3-014237-0

www.reclam.de

Inhalt

Weiße Nächte

Die erste Nacht

Die andere Nacht

Nastjenkas Geschichte

Die dritte Nacht

Die vierte Nacht

Der Morgen

Anhang

Anmerkungen

Literaturhinweise

Nachwort

Weiße Nächte

[7]… Oder war er erschaffen,

Um, wenn auch nur einen Augenblick,

In der Nähe Deines Herzens zu sein? …

 Iwan Turgenjew

Die erste Nacht

Es war eine wundervolle Nacht, die es wohl nur geben kann, wenn wir noch jung sind, mein lieber Leser. Der Himmel war so sternklar, es war ein so heller Himmel, dass ein jeder, der ihn anblickte, sich unwillkürlich die Frage stellen musste: ob es denn wirklich möglich sei, dass unter solch einem Himmel gewisse böse und launische Menschen leben dürften? Allein auch diese Frage ist eine junge Frage, mein lieber Leser, eine sehr junge, doch lege der Herr diese Frage öfters in Ihre Seele! … Da ich von verschiedenen launischen und zornigen Personen sprach, musste ich mich unwillkürlich auch an meine tugendhafte Aufführung im Verlaufe dieses ganzen Tages erinnern. Schon vom frühen Morgen an quälte mich eine erstaunliche Schwermut. Es kam mir plötzlich so vor, als ob alle mich, den Einsamen, verließen und als wenn alle Menschen mir auswichen. Freilich hat jetzt ein jeder das Recht, zu fragen, wer denn all diese Menschen seien? Denn es sind ja schon acht Jahre, dass ich in diesem Petersburg lebe und noch so gut wie keine einzige Bekanntschaft geschlossen habe. Allein wozu auch Bekanntschaften? Mir ist ohnehin ganz [8]Petersburg bekannt; darum eben kam es mir auch so vor, als ob alle mich verließen, denn ganz Petersburg hatte sich aufgemacht und war plötzlich in die Sommerfrische fortgefahren. Es war mir schrecklich, so ganz allein zurückzubleiben, und drei Tage lang irrte ich durch die Stadt in tiefer Schwermut und begriff ganz und gar nicht, was mit mir vorging. Ob ich nun über den Newskij schritt oder in einen Garten einkehrte oder an den Uferkais spazieren ging – von all den Gesichtern, denen ich immer das ganze Jahr über am gleichen Fleck zur gleichen Stunde begegnete, war keines mehr da. Sie kennen mich freilich nicht, dafür kenne ich sie. Ich kenne sie sogar sehr genau, ich habe ihre Physiognomien studiert und freue mich mit ihnen, wenn sie lustig sind, und werde melancholisch, wenn sie sich verdüstert haben. Mit einem alten Manne, dem ich jeden Tag zur bestimmten Stunde auf der Fontanka begegne, bin ich sogar fast befreundet. Er hat ein würdevolles und nachdenkliches Gesicht; er brummt immer vor sich hin und schwenkt die linke Hand, in der rechten aber hält er einen langen Stock mit einem goldnen Knauf. Er hat mich ebenfalls schon lange bemerkt und nimmt an mir seelischen Anteil. Ich bin überzeugt, dass, wenn ich nicht um die bestimmte Stunde an der gleichen Stelle auf der Fontanka erscheine, der alte Herr melancholisch wird. Aus diesem Grunde geschieht es, dass wir einander manchmal fast grüßen, besonders wenn wir beide gleichzeitig guter Laune sind. Als wir uns unlängst zwei Tage lang nicht gesehen hatten und uns erst am dritten Tag begegneten, griffen wir schon nach den Hüten, allein da besannen wir uns noch zum guten Glück, ließen die Hände sinken und schritten lediglich teilnahmsvoll aneinander vorüber. Ich habe auch Häuser, mit denen ich gut [9]bekannt bin. Wenn ich so meines Weges gehe, ist es fast, als eilten sie aus ihrer Häuserreihe, um mich zu begrüßen, sie schauen mich mit all ihren Fenstern an, und es macht fast den Eindruck, als wollten sie sprechen: »Guten Tag, wie geht es Ihnen? Ich meinerseits bin Gott sei Dank gesund, aber im Mai wird mir ein neues Stockwerk aufgesetzt werden.« Oder: »Wie geht es Ihnen? Mich will man morgen in Reparatur geben.« Oder: »Ich bin fast abgebrannt und habe mich darüber sehr erschreckt«, und so weiter. Unter den Häusern gibt es manche, die ich besonders gern habe, und manche, mit denen ich nah befreundet bin; eines von diesen hat die Absicht, sich in diesem Sommer zu einem Architekten in Kur zu begeben. Ich werde jeden Tag an ihm vorübergehen, damit man es nicht absichtlich falsch behandle, bewahre es Gott davor! … Niemals aber werde ich die Geschichte mit dem niedlichen hellrosa Häuschen vergessen. Es war so ein liebes Steinhäuschen, so herzlich schaute es mich immer an und schaute gleichzeitig so hochmütig auf seine plumpen Nachbarn, dass mein Herz stets lustig wurde, wann immer ich auch daran vorüberging. In der vorigen Woche nun schritt ich durch jene Straße und hörte, kaum dass ich mich nach meinem Freunde umgesehen, einen jämmerlichen Schrei: »Man streicht mich mit gelber Farbe an!« Bösewichte! Barbaren! Sie verschonten nichts: die Säulen nicht, noch die Karniese, und so wurde denn mein Freund gelb, gelb wie ein Kanarienvogel. Mir trat fast die Galle über, und bis jetzt habe ich immer noch nicht die Kraft gefunden, den armen Entstellten wieder zu sehen, den man mit der Farbe des Reiches der Mitte angestrichen hat.

Und somit hoffe ich denn, mein lieber Leser, dass Sie [10]jetzt verstehen, auf welche Art ich mit ganz Petersburg bekannt bin.

Ich erzählte bereits, dass mich eine Unruhe drei Tage lang quälte, bevor ich endlich auf ihren Grund kam. Auf der Straße fühlte ich mich nicht wohl (der eine war nicht da, der andre nicht, und wo mochte wohl jener stecken?) – und auch zu Hause war ich ganz aus dem Häuschen. Zwei Abende lang beschäftigte mich die Frage, was es wohl sei, das mir in meinem Winkel fehle? Warum wohl war es mir so ungemütlich, darin zu verweilen? – Und mit Erstaunen blickte ich mich in meinen grünen, ziemlich rauchgeschwärzten Wänden um, ich sah die Decke an, die von Spinnweben übersät war, zu deren Vermehrung Matrjona erfolgreich sorgte, ich schaute alle Möbel an und musterte einen jeden Stuhl, ob er nicht vielleicht an allem schuld sei (denn wenn auch nur ein Stuhl in meiner Wohnung anders steht, bin ich immer ganz außer mir), ich sah durchs Fenster, allein es war umsonst … es wurde dadurch nicht leichter! Ich ging sogar so weit, dass ich Matrjona hereinrief und ihr wegen der Spinnweben wie auch wegen ihrer allgemeinen Unordentlichkeit einen väterlichen Vorwurf machte; aber sie sah mich nur erstaunt an und ging hinaus, ohne ein Wort zu entgegnen, so dass die Spinnweben bis zur heutigen Stunde immer noch wohlbehalten am gleichen Fleck kleben. Erst heute Morgen erriet ich endlich, um was es sich handelte. Aha! Ja, sie kneifen ja alle vor mir in die Sommerfrische aus! Verzeihen Sie das triviale Wort, allein mir war wirklich nicht nach erhabenem Stil zumute … da einfach alles, was in Petersburg lebte, entweder aufs Land gezogen war oder sich anschickte, dorthin zu ziehen; da ein jeder respektable Herr soliden Aussehens, der eine Droschke [11]nahm, sich in meinen Augen sogleich in einen respektablen Familienvater verwandelte, der nach der Ausübung seiner alltäglichen Pflichten sich, so wie er ist, aufs Land in den Schoß seiner Familie begibt; und da ferner ein jeder Vorübergehende einen so völlig besonderen Anblick bot, als wollte er denen, die ihm begegneten, sagen: »Wir, meine Herren, wir weilen hier nur so, nur vorübergehend, denn nach zwei Stunden gedenken wir aufs Land zu fahren.« Wenn sich irgendwo ein Fenster öffnete, an dessen Scheibe dünne, fast zuckerweiße Fingerchen kurz zuvor getrommelt hatten, und sich der Kopf eines hübschen Mädchens zeigte, das den Verkäufer mit den Blumentöpfen herbeirief, dann schwante mir im gleichen Augenblick, dass diese Blumen nur so gekauft werden, das heißt, keineswegs aus dem Grunde, damit jemand sich in einer stickigen Stadtwohnung am Frühling und seinen Blüten erfreuen könnte, sondern dass alle sich aus dieser Wohnung sehr bald aufs Land begeben und die Blumen dorthin mitnehmen werden. Doch nicht genug damit, ich machte schon bald in dieser meiner neuen und so besonderen Art von Entdeckungen solche Fortschritte, dass ich alsbald nach dem Aussehen eines jeden Menschen fehlerlos beurteilen konnte, in welcher Sommerfrische er lebte. Die Bewohner der Stein- und Apothekerinsel oder der Poststraße nach Peterhof zeichnen sich durch eine studierte Feinheit des Benehmens und durch stutzerhafte Sommergewänder aus, auch haben sie immer prächtige Wagen, mit denen sie zur Stadt gefahren kommen. Die Bewohner von Pargolowo und jene, die noch entfernter lebten, flößen mir schon beim ersten Anblick durch ihre Vernunft und Solidität Respekt ein; jene jedoch, die die Krestowskij-Insel besuchen, zeichnen sich durch [12]ein unerschütterlich heiteres Aussehen aus. Und wenn ich dann den langen Prozessionen von Lastkutschern begegnete, die faul, mit den Zügeln in der Hand, neben ihren Lastfuhrwerken schritten, auf denen ganze Berge aller nur erdenklichen Möbel, Tische, Stühle, türkischer und nicht türkischer Diwane und sonstiger Hausgeräte ragten, wobei sehr häufig über all diesem auf dem Gipfel des Fuhrwerks die besorgte Köchin, die das herrschaftliche Eigentum wie ihren Augapfel hütete, zu thronen pflegte; oder wenn ich die mit Hausrat schwer beladenen Barken betrachtete, die auf der Newa oder auf der Fontanka bis zum Schwarzen Flüsschen oder bis zu den Inseln schwammen – die Lastfuhrwerke und Barken verzehnfachten sich alsbald, ja, sie verhundertfachten sich in meinen Augen; und mir war, es hätte sich alles aufgemacht und sei auf der Fahrt, mir war, als zöge alles in ganzen Karawanen aufs Land; es schien mir, dass ganz Petersburg zur Wüste werden müsste, so dass mich schließlich ein beschämtes, beleidigtes und betrübtes Gefühl überkam; ich allein hatte absolut keine Möglichkeit, mich ebenfalls in die Sommerfrische zu begeben, und hätte auch ganz und gar nicht gewusst, wohin. Ich wäre bereit gewesen, mit einem jeden der Lastfuhrwerke fortzuziehen; mit einem jeden Herrn von respektablem Aussehen, der sich eine Droschke nahm, fortzufahren; allein nicht einer, kein einziger dachte daran, mich einzuladen; es war, als hätten alle mich vergessen, ganz so, als wäre ich in der Tat für alle ein Fremder gewesen!

Ich zog so lange und so viel durch die Straßen, dass ich endlich nach meiner Gewohnheit vergessen hatte, wo ich war, als ich mich plötzlich an der Stadtgrenze befand. Mit einem Male wurde ich heiter, ich ließ den Schlagbaum [13]hinter mir und schritt durch Saatfelder und Wiesen hin, ich fühlte keine Müdigkeit mehr, sondern spürte mit meinem ganzen Körper, dass irgendeine Last von meiner Seele fiel. Alle Vorüberfahrenden schauten mich so freundlich an, als wollten sie mich grüßen; alle waren so froh und alle bis auf einen rauchten Zigarren. Und auch ich war so froh, wie es mir noch niemals bis dahin geschehen war. Die Natur berührte mich, den halbkranken Bürger, der in den Stadtmauern fast erstickt war, so stark, als wäre ich mit einem Male nach Italien versetzt worden.

Es liegt etwas unbeschreiblich Rührendes in unserer Petersburger Natur, wenn sie beim Anbruch des Frühlings plötzlich all ihre Kraft zeigt, alle Gewalt, die ihr der Himmel geschenkt hat, und aufsprießt, sich schmückt und sich mit Blumen farbig putzt … Sie erinnert unwillkürlich an ein leidendes und kränkliches Mädchen, das man zuweilen voll Mitleid anschaut und zuweilen mit besorgter Liebe, und häufig gar nicht mehr bemerkt, das jedoch dann plötzlich auf einen Augenblick völlig unerwartet und unerklärlich so wunderschön wird, dass ein jeder erstaunt und hingerissen sich unwillkürlich fragt: welche Kraft es wohl sei, die jetzt wie ein Feuer aus diesen sonst so traurigen und versonnenen Augen blitze? Was es wohl gewesen sein möge, das jetzt das Blut in diese blassen und eingefallenen Wangen getrieben habe? Und warum wohl diese zarten Gesichtszüge jetzt so voll Leidenschaft wären? Warum die Brust so tief atme? Und was wohl der Grund gewesen, der so urplötzlich auf dem Antlitz des armen Mädchens Kraft, Leben und Schönheit hervorgezaubert habe und ihm dieses schimmernde Lächeln geschenkt und dieses funkelnde, glänzende Lachen? Man sieht sich um, man sucht mit den [14]Blicken, man versucht zu erraten … Allein der Augenblick geht vorüber, und morgen vielleicht werden wir aufs Neue dem gleichen nachdenklichen und zerstreuten Blick von gestern begegnen, dem früheren blassen Antlitz, der Unterwürfigkeit und Schüchternheit in allen Bewegungen und möglicherweise sogar der Reue und den Spuren ertötender Schwermut und des Grames über die flüchtige Verlockung … Und wir werden vielleicht traurig sein, dass die flüchtige Schönheit so schnell und so ohne Wiederkehr verwelkt ist, die so trügerisch und doch so vergeblich vor uns aufglänzte – traurig darüber sein, dass wir nicht einmal Zeit fanden, sie liebzugewinnen …

Und dennoch war meine Nacht noch schöner als dieser Tag! Und zwar kam das so:

Ich kehrte sehr spät zur Stadt zurück, es schlug bereits zehn Uhr, als ich mich meiner Wohnung näherte. Mein Weg führte am Ufer eines Kanals, um diese Stunde war es dort völlig menschenleer. Ich wohne allerdings in einem der abgelegensten Stadtteile. Ich schritt und sang, da ich immer, wenn ich glücklich bin, unbedingt etwas vor mich hin summen muss, was freilich in der Art eines jeden glücklichen Menschen liegt, der weder Freunde noch gute Bekannte hat und also niemand, mit dem er in freudigen Minuten seine Freude teilen könnte. Da plötzlich stieß mir das allerunverhoffteste Abenteuer zu.

Ich bemerkte eine Frauengestalt, die sich an das Geländer der Kanalböschung lehnte; sie beugte sich über die Brüstung und schaute offenbar sehr aufmerksam in das trübe Wasser des Kanals. Sie trug einen niedlichen gelben Hut und einen koketten schwarzen Umhang. »Es ist ein Mädchen und ganz bestimmt ist sie brünett«, dachte ich. Es [15]schien, dass sie meine Schritte nicht gehört hatte, denn als ich mit angehaltenem Atem und stark klopfendem Herzen an ihr vorüberging, bewegte sie sich nicht einmal. »Sonderbar!«, dachte ich: »Sie ist offenbar in tiefes Nachdenken versunken«, plötzlich jedoch blieb ich wie angewurzelt stehen. Ich hörte ein ersticktes Schluchzen. So war es! Ich täuschte mich nicht: Das Mädchen weinte, denn nach einem Augenblick hörte ich sie aufs Neue schluchzen. Mein Gott! Das Herz schnürte sich mir im Leibe zusammen. Und wie schüchtern auch im Allgemeinen mein Verhalten zu Frauen ist, dies war eine Minute …! Ich kehrte zurück, trat an sie heran und hätte unbedingt »Meine Gnädigste!« gesagt, wenn mir nicht allzu bewusst gewesen wäre, dass eben dieser Ausdruck schon mindestens tausendmal in allen russischen Romanen, die in der großen Welt spielen, gefallen ist. Einzig dieser Umstand hielt mich zurück. Allein noch bevor ich das richtige Wort gefunden, kam das Mädchen zu sich, schaute auf, senkte den Kopf und glitt an mir vorüber. Ich folgte ihr sogleich, jedoch sie erriet meine Absicht, verließ das Ufer, eilte über die Straße und ging jetzt auf dem Gehsteig weiter. Ich wagte nicht, ihr zu folgen. Mein Herz bebte wie das Herz eines gefangenen Vogels. Plötzlich kam mir der Zufall zu Hilfe.

Unweit von meiner Unbekannten tauchte auf der gleichen Seite des Gehsteiges ein Herr im Frack auf, er schien von solidem Alter zu sein, obwohl sein Gang nichts weniger als solide war. Er schwankte nämlich und stützte sich vorsichtshalber an die Hausmauern. Das Mädchen dagegen schritt wie ein Uhrzeiger, eilig und schüchtern, wie es überhaupt in der Art aller Mädchen liegt, die nicht wollen, dass ihnen jemand nachts den Vorschlag macht, sie nach [16]Hause zu begleiten, und zweifellos hätte mein schwankender Herr sie um nichts in der Welt jemals eingeholt, wenn nicht eben mein Schicksal ihn auf den Gedanken gebracht hätte, zu künstlichen Mitteln zu greifen. Denn plötzlich flog mein Herr, ohne auch nur ein Sterbenswörtchen zuvor zu verlautbaren, vorwärts und eilte, sosehr er konnte – ja lief fast –, um meine Unbekannte einzuholen. Sie ging wie der Wind, aber der taumelnde Herr erreichte sie dennoch, das Mädchen schrie auf und … ich segnete mein Schicksal für den kräftigen Stock, der sich gerade diesmal in meiner rechten Hand befand. Im gleichen Augenblick befand ich mich auf jener Seite des Gehsteiges, einen Augenblick später hatte der ungenannte Herr bereits begriffen, wie die Sache stand, und sich in die unabwendbare Lage geschickt, er verstummte, blieb zurück und begann erst, als wir schon weit von ihm waren, in ziemlich energischen Redensarten gegen mich zu protestieren. Allein seine Worte erreichten uns fast nicht mehr. »Geben Sie mir Ihren Arm«, sagte ich zu meiner Unbekannten, »und er wird es nicht wagen, Sie ferner zu belästigen.«

Schweigend bot sie mir ihren Arm, der noch immer vor Erregung und Schreck bebte. O du mein namenloser Herr! Wie segnete ich diesen Augenblick! Flüchtig blickte ich sie an, sie war sehr hübsch und in der Tat brünett – ich hatte es erraten; an ihren schwarzen Wimpern blitzten noch immer kleine Tränchen, doch ob sie von dem soeben widerfahrenen Schrecken herrührten oder von dem Kummer von vorhin – das weiß ich nicht. Auf ihren Lippen schimmerte bereits ein Lächeln. Sie blickte mich ebenfalls flüchtig an, errötete ein wenig und schlug die Augen nieder.

»Schauen Sie, warum haben Sie mich vorhin fortgejagt? [17]Wenn ich mit Ihnen gewesen wäre, wäre bestimmt nichts geschehen …«

»Ich kannte Sie doch nicht; ich dachte, dass Sie ebenfalls …«

»Kennen Sie mich denn etwa jetzt?«

»Ein wenig. Weshalb zum Beispiel beben Sie in diesem Augenblick?«

»Oh, Sie haben es gleich erraten!«, entgegnete ich entzückt, da ich sah, dass mein Mädchen gescheit war: Das kann nämlich trotz aller Schönheit niemals schaden.