Verbrechen und Strafe - Fjodor Dostojewskij - E-Book
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Fjodor Dostojewskij

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Beschreibung

Mit dem Werkbeitrag aus Kindlers Literatur Lexikon. Mit dem Autorenporträt aus dem Metzler Lexikon Weltliteratur. Mit Daten zu Leben und Werk, exklusiv verfasst von der Redaktion der Zeitschrift für Literatur TEXT + KRITIK. Nicht »besser als eine Laus« erscheint dem Studenten Raskolnikow eine alte Wucherin, weshalb er glaubt, sie töten und ausrauben zu können. Nach dem Mord jedoch erkennt er, dass kalter Verstand und Nützlichkeitsdenken nicht alles im Leben sind. – Mit seiner psychologisch beeindruckenden Darstellung eines Mörders hat Dostojewskij einen Charakter beschrieben, der in seiner Orientierungslosigkeit symptomatisch für die moderne Gesellschaft ist. Bei aller Zeitkritik aber überwiegt am Ende die Hoffnung, dass es noch andere Kräfte in der Welt gibt als das Böse.

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Fjodor Dostojewskij

Verbrechen und Strafe

Roman

Aus dem Russischen von Swetlana Geier

FISCHER E-Books

Mit dem Werkbeitrag aus Kindlers Literatur Lexikon.

Mit dem Autorenporträt aus dem Metzler Lexikon Weltliteratur.

Mit Daten zu Leben und Werk, exklusiv verfasst von der Redaktion der Zeitschrift für Literatur TEXT + KRITIK.

Inhalt

Erster TeilIIIIIIIVVVIVIIZweiter TeilIIIIIIIVVVIVIIDritter TeilIIIIIIIVVVIVierter TeilIIIIIIIVVVIFünfter TeilIIIIIIIVVSechster TeilIIIIIIIVVVIVIIVIIIEpilogIIIAnhangEditorische NotizAnmerkungenChronographieNamenverzeichnis der wichtigsten PersonenDaten zu Leben und WerkFjodor M. Dostojewskij, ›Verbrechen und Strafe‹Fjodor DostojewskijDie Übersetzerin

Erster Teil

I

ANFANG Juli, es war außerordentlich heiß, trat gegen Abend ein junger Mann aus seiner Kammer, die er in der S.-Gasse zur Untermiete bewohnte, auf die Straße hinaus und ging langsam, als wäre er unentschlossen, auf die K.-Brücke zu.

Glücklicherweise war ihm eine Begegnung mit seiner Wirtin auf der Treppe erspart geblieben. Seine Kammer lag unmittelbar unter dem Dach eines hohen, fünfstöckigen Hauses und glich eher einem Schrank als einem Wohnraum. Seine Wirtin, bei der er diese Kammer samt Mittagessen und Aufwartung gemietet hatte, wohnte ein Stockwerk tiefer in einer separaten Wohnung, und jedesmal, wenn er das Haus verließ, kam er zwangsläufig an ihrer Küche vorbei, deren Tür zum Treppenhaus fast immer sperrangelweit offenstand. Und jedesmal, wenn er vorüberkam, hatte der junge Mann eine peinigende und feige Empfindung, er schämte sich ihrer und runzelte die Stirn. Er war bei seiner Wirtin tief verschuldet und fürchtete sich, ihr zu begegnen.

Nicht, daß er besonders feige und eingeschüchtert gewesen wäre, ganz im Gegenteil; aber seit einiger Zeit befand er sich in einem reizbaren und angespannten Zustand, einer Art Hypochondrie. Er war so sehr mit sich selbst beschäftigt und hatte sich so sehr von allen zurückgezogen, daß er sich überhaupt vor einer Begegnung fürchtete, nicht nur vor der mit seiner Wirtin. Die Armut hatte ihn erdrückt; aber sogar seine bedrängte Lage kümmerte ihn in der letzten Zeit nicht mehr. Mit seinem Alltag beschäftigte er sich nicht länger und wollte es auch nicht tun. Vor seiner Wirtin fürchtete er sich eigentlich nicht im mindesten, was sie auch immer gegen ihn vorhaben mochte. Aber im Treppenhaus stehenbleiben, jeden Unsinn über all diesen gewöhnlichen Kleinkram, mit dem er nichts zu schaffen hatte, diese ewigen Mahnungen, Drohungen, Klagen anhören und sich dabei winden, entschuldigen, lügen müssen – nein, es war schon besser, wie eine Katze die Treppe hinunterzuschleichen und zu entwischen, ohne von jemandem gesehen zu werden.

Dieses Mal übrigens war er, als er auf die Straße hinaustrat, sogar selbst verblüfft über die Furcht vor einer Begegnung mit seiner Gläubigerin.

“Auf welches Wagnis will ich mich einlassen und vor welchen Lappalien fürchte ich mich!” dachte er mit einem eigentümlichen Lächeln. “Hm … ja … Alles hat der Mensch in der Hand, und alles läßt er sich vor der Nase wegschnappen, aus purer Feigheit … Das ist ein Axiom … Interessant: Wovor fürchten sich die Menschen am meisten? Vor einem neuen Schritt, vor einem neuen eigenen Wort, davor fürchten sie sich am meisten … Übrigens rede ich viel zu viel. Deshalb handle ich auch nicht, weil ich rede. Allerdings kann es auch sein: Ich rede, weil ich nicht handle. Das Reden habe ich mir in diesem letzten Monat angewöhnt, als ich Tag und Nacht in der Ecke lag und über … über den Zaren Goroch nachdachte. Also wozu gehe ich jetzt dorthin? Kann ich das etwa tun? Ist es mir damit etwa ernst? Es ist mir damit keineswegs ernst. Einfach so, Phantasie, ich mache mir selbst etwas vor; Spielerei! Ja, es wird wohl Spielerei sein!”

Draußen war eine furchtbare Hitze, drückende Schwüle, Gedränge, überall Kalk, Gerüste, Ziegel, Staub und dieser besondere Sommergestank, der jedem Petersburger, falls er nicht in der Lage ist, eine Datscha zu mieten, sattsam bekannt ist – all dies erschütterte die ohnehin überreizten Nerven des jungen Mannes aufs empfindlichste. Der unerträgliche Gestank aus den Schenken, die in diesem Stadtteil besonders zahlreich sind, und die Betrunkenen, denen man trotz des Werktags auf Schritt und Tritt begegnete, vollendeten das widerwärtige und trostlose Bild. Tiefster Ekel zeigte sich für einen Augenblick auf den feinen Gesichtszügen des jungen Mannes. Übrigens war er auffallend schön, dunkelblond, mit wunderbaren dunklen Augen, über mittelgroß, schlank und gut gewachsen. Aber gleich darauf schien er wieder in tiefe Nachdenklichkeit zu versinken, besser gesagt, sogar in eine Art Geistesabwesenheit, und setzte seinen Weg fort, ohne die Umgebung weiter zu beachten und ohne es auch nur zu wollen. Ab und zu murmelte er irgend etwas vor sich hin, nach seiner Gewohnheit, die er sich selbst eben erst eingestanden hatte, monologisierend. In diesem Augenblick wußte er, daß seine Gedanken sich zuweilen verwirrten und er sehr geschwächt war: Schon den zweiten Tag hatte er fast nichts gegessen.

Er war so schlecht gekleidet, daß mancher, der sich in seine Armut schickte, sich geniert hätte, am hellichten Tage in solchen Lumpen über die Straße zu gehen. Übrigens konnte man in diesem Stadtteil durch seine Kleidung schwerlich Aufsehen erregen. Durch die Nähe des Heumarkts, die Vielzahl gewisser Etablissements und eine Bevölkerung, die vorwiegend aus Handwerkern und Arbeitern bestand und in diesen innersten Straßen und Gassen Petersburgs eng zusammengepfercht lebte, war das gesamte Panorama gelegentlich von solchen Subjekten belebt, daß es sonderbar gewesen wäre, sich über den einen oder anderen zu wundern. In der Seele des jungen Mannes jedoch hatten sich bereits so viel Grimm und Verachtung angesammelt, daß er, ungeachtet einer mitunter ganz jugendlichen Empfindlichkeit, sich seiner Lumpen auf der Straße am wenigsten schämte. Anders war es nur, wenn er Bekannten oder früheren Kommilitonen begegnete, denen er überhaupt am liebsten aus dem Wege ging … Als indessen ein Betrunkener, der aus irgendeinem Grund auf einem riesigen Bauernwagen mit einem gewaltigen Gaul davor irgendwohin befördert wurde, ihm plötzlich im Vorbeifahren zurief: »Hast ja ’n deutschen Hut auf!« und aus vollem Halse grölte, wobei er mit dem Finger auf ihn zeigte – da blieb der junge Mann stehen und griff krampfhaft nach seiner Kopfbedeckung. Es war ein hoher, runder Hut von Zimmermann, aber völlig abgetragen, verfärbt, löcherig und fleckig, mit abgerissener Krempe, seitlich aufs häßlichste eingebeult. Aber es war nicht Scham, sondern ein ganz anderes Gefühl, am ehesten ein Erschrecken, das sich seiner bemächtigte.

»Ich wußte es ja«, murmelte er verwirrt, »ich habe es mir ja gedacht! Das ist das allerschlimmste! Eine solche Dummheit, eine ganz banale Kleinigkeit kann den ganzen Plan zunichte machen. Ja, der Hut ist zu auffällig … Er ist komisch, und darum fällt er auf. Zu meinen Lumpen gehört unbedingt eine Mütze, und wenn sie platt wie ein Pfannkuchen ist, nur nicht dieses Ungetüm. Kein Mensch trägt einen solchen Hut, man erkennt ihn auf eine Werst, und man erinnert sich an ihn … das ist die Hauptsache, man erinnert sich später an ihn, und schon hat man ein Indiz. Man soll dabei so wenig auffallen wie möglich. Kleinigkeiten, Kleinigkeiten, das ist das wichtigste. Gerade Kleinigkeiten verderben immer alles.«

Er hatte nicht weit zu gehen; er wußte sogar, wie viele Schritte es von seinem Hause aus waren: genau siebenhundertdreißig. Einmal hatte er sie gezählt, als er allzu lebhaft geträumt hatte. Damals hatte er diesen seinen Träumen selbst noch nicht geglaubt und bloß durch ihre grauenhafte, aber verführerische Kühnheit sich selbst gereizt. Jetzt, einen Monat später, begann er bereits, sie anders zu betrachten, und gewöhnte sich schon daran, ungeachtet aller herausfordernden Monologe über die eigene Ohnmacht und Unentschlossenheit, diesen »grauenhaften« Traum sogar fast unwillkürlich für ein realisierbares Unternehmen zu halten. Er hatte sich sogar auf den Weg gemacht, um sein Vorhaben auszuprobieren, obwohl er sich selbst immer noch nicht traute, und mit jedem Schritt wurde seine Erregung stärker und stärker.

Mit stockendem Herzen und nervösem Zittern ging er auf das riesige Gebäude zu, das mit der einen Seite an den Kanal und mit der anderen an die … – Straße grenzte. Das Haus hatte unzählige kleine Wohnungen und war von allen möglichen Handwerkern bevölkert – Schneidern, Schlossern, Köchinnen, verschiedenen Deutschen, alleinstehenden jungen Mädchen, kleinen Beamten und dergleichen mehr. Unter den beiden Torbögen und auf den beiden Höfen herrschte ein ständiges Kommen und Gehen. Hier waren drei oder vier Hausknechte beschäftigt. Der junge Mann war äußerst zufrieden, keinem von ihnen begegnet zu sein, und huschte in der Toreinfahrt unbemerkt sogleich rechts in das Treppenhaus. Es war dunkel und eng, eine richtige Hintertreppe, aber er kannte das alles bereits, hatte alles genau studiert und an dieser ganzen Umgebung Gefallen gefunden: In solchem Dunkel war sogar ein neugieriger Blick ungefährlich. “Wenn ich mich schon jetzt so fürchte, wie wird es erst sein, wenn es tatsächlich einmal zu der Tat kommen sollte? …”, dachte er unwillkürlich, während er zum vierten Stock hinaufstieg. Da versperrten ihm Lastenträger den Weg, ausgediente Soldaten, die Möbel aus einer Wohnung hinausschafften. Er wußte schon, daß in dieser Wohnung ein Deutscher mit Familie lebte, ein Beamter: “Also zieht dieser Deutsche jetzt aus, also wird im vierten Stock, in diesem Treppenhaus und auf diesem Treppenabsatz eine gewisse Zeit nur die Wohnung der Alten bewohnt sein. Das ist gut … für alle Fälle”, dachte er abermals und klingelte an der Tür der Alten. Die Glocke schepperte schwach, als wäre sie aus Blech und nicht aus Messing. In Häusern mit solch engen Wohnungen findet man diese Glocken fast immer. Er hatte diesen Ton bereits vergessen, aber nun schien ihn dieser besondere Klang plötzlich an etwas zu erinnern und es ihm vor Augen zu führen. Er fuhr regelrecht zusammen, dieses Mal waren seine Nerven allzu sehr geschwächt. Nach einer Weile öffnete sich die Tür einen winzigen Spalt: Die Bewohnerin musterte den Besucher durch diesen Schlitz mit sichtlichem Argwohn, man sah nur ihre kleinen, im Dunkel blitzenden Augen. Als sie aber auf dem Treppenabsatz mehrere Menschen erblickte, faßte sie Mut und öffnete ganz. Der junge Mann trat über die Schwelle in ein dunkles Vorzimmer mit einer eingezogenen Zwischenwand, hinter der eine winzige Küche lag. Die Alte stand schweigend vor ihm und sah ihn fragend an. Es war ein winziges, dürres Weiblein, etwa sechzig Jahre alt, mit stechenden und bösen Augen und einer kleinen spitzen Nase. Ihr unbedecktes, weißblondes, kaum ergrautes Haar war reichlich eingeölt. Um den dünnen langen Hals, der an ein Hühnerbein erinnerte, war ein Flanellfetzen gewickelt, und um die Schultern schlotterte, ungeachtet der Hitze, eine völlig abgetragene und vergilbte Pelzweste. Das alte Weiblein hustete und krächzte. Der junge Mann mußte sie wohl mit einem irgendwie seltsamen Blick angesehen haben, denn in ihren Augen zeigte sich plötzlich wieder der frühere Argwohn.

»Raskolnikow, Student. Vor einem Monat war ich schon einmal bei Ihnen«, murmelte der junge Mann hastig und verneigte sich leicht, da ihm einfiel, daß er liebenswürdig sein müsse.

»Ich weiß, mein Guter, ich weiß sehr wohl, daß Sie bei mir waren«, sprach das alte Weiblein überdeutlich, ohne den fragenden Blick von seinem Gesicht abzuwenden.

»Also … Und jetzt wieder, mit dem gleichen Anliegen …«, fuhr Raskolnikow fort, ein wenig verlegen und verwundert über das Mißtrauen der Alten.

“Vielleicht ist sie immer so, und mir ist es damals nur nicht aufgefallen”, dachte er mit einem unangenehmen Gefühl.

Die Alte schwieg, als überlegte sie, trat dann zur Seite, wies auf die Tür, die in die Stube führte, und sagte, indem sie den Besucher vorangehen ließ: »Treten Sie ein, mein Guter.«

Das mittelgroße Zimmer, das der junge Mann nun betrat, mit gelben Tapeten, Geranientöpfen und Musselin-Gardinen, war in diesem Augenblick von dem grellen Licht der untergehenden Sonne erfüllt. “Auch dann wird also die Sonne so leuchten”, fuhr es Raskolnikow unversehens durch den Kopf, und er sah sich alles im Zimmer rasch an, um die Lokalität so gut wie möglich kennenzulernen und sich einzuprägen. Aber das Zimmer enthielt nichts Besonderes. Die Einrichtung, ausnahmslos sehr alt und aus gelbem Holz, bestand aus einem Sofa mit massiver, gewölbter Rückenlehne und einem ovalen Tisch, einem Spiegeltisch zwischen den Fenstern, einigen Stühlen an den Wänden und zwei oder drei billigen, gelb gerahmten Bildern, deren jedes eine junge deutsche Dame mit einem Vogel in der Hand darstellte – das war alles. In der Ecke brannte vor einer nicht allzugroßen Ikone das Ewige Licht. Alles war sehr sauber: Möbel und Fußboden blank poliert, alles glänzte. “Lisawetas Werk”, dachte der junge Mann. Kein Stäubchen in der ganzen Wohnung. »Diese Art Sauberkeit findet man bei bösen und alten Witwen«, überlegte Raskolnikow weiter und schielte dabei neugierig nach dem Kattunvorhang vor der Tür zu dem zweiten winzigen Zimmer, wo das Bett und die Kommode der Alten standen, denn er hatte noch nie Gelegenheit gefunden, einen Blick hineinzuwerfen. Die ganze Wohnung bestand aus diesen zwei Zimmern.

»Sie wünschen?« fragte die Alte streng, nachdem sie ihm in das Zimmer gefolgt und wieder dicht vor ihm stehengeblieben war, um ihm direkt ins Gesicht sehen zu können.

»Hier, ich möchte etwas versetzen!« Und er zog aus der Tasche eine alte silberne Uhr. Die Rückseite schmückte ein Globus. Die Kette war aus Stahl.

»Aber auch das alte Pfand ist bereits fällig, seit vorgestern ist der Monat um.«

»Ich werde die Zinsen für einen weiteren Monat zahlen: gedulden Sie sich.«

»Das liegt ganz bei mir, mein Guter, ob ich mich gedulde oder Ihr Pfand sogleich verkaufe.«

»Wieviel geben Sie für die Uhr, Aljona Iwanowna?«

»Sie kommen immer mit solchem Kleinkram, mein Guter. Sie ist nichts wert. Den Ring habe ich mir das letzte Mal zwei Scheinchen kosten lassen, dabei kann man beim Juwelier einen neuen für anderthalb kaufen.«

»Geben Sie vier Rubel, ich werde sie wieder auslösen, die Uhr ist von meinem Vater. Ich werde bald zu Geld kommen.«

»Anderthalb Rubel und die Zinsen im voraus, wenn Sie wünschen.«

»Anderthalb Rubel!« rief der junge Mann aus.

»Nach Belieben.« Die Alte reichte ihm die Uhr. Der junge Mann nahm sie und war so empört, daß er schon wieder gehen wollte, besann sich aber sogleich, weil ihm einfiel, daß er sich sonst nirgendwohin wenden konnte und daß er auch noch eine andere Absicht hatte.

»Geben Sie her!« sagte er barsch.

Die Alte griff in die Tasche nach den Schlüsseln und ging in das andere Zimmer hinter dem Vorhang. Der junge Mann, nun allein mitten im Zimmer, horchte neugierig und kombinierte. Man konnte hören, wie sie die Kommode aufschloß. “Wahrscheinlich die obere Schublade”, überlegte er, “die Schlüssel trägt sie also in der rechten Tasche … Alle in einem Bund, an einem Stahlring … Und ein Schlüssel ist größer als die anderen, dreimal so groß, mit Zackenbart, natürlich nicht der für die Kommode … Also muß dort noch eine Schatulle sein oder eine Truhe … Interessant. Truhen haben immer solche Schlüssel … Übrigens, wie gemein ist das alles …”

Die Alte kam zurück.

»Also, mein Guter: Zehn Kopeken pro Rubel und Monat macht für anderthalb Rubel fünfzehn Kopeken – für einen Monat im voraus. Für die zwei ersten Rubel stehen nach derselben Berechnung weitere zwanzig Kopeken aus. Insgesamt also fünfunddreißig. Sie haben für Ihre Uhr demnach einen Rubel, fünfzehn Kopeken zu erhalten. Hier, bitte sehr.«

»Wie? Jetzt nur noch einen Rubel fünfzehn!«

»Jawohl.«

Der junge Mann widersprach nicht und nahm das Geld. Er sah die Alte an und machte keine Anstalten zu gehen, als wolle er noch etwas sagen oder tun, wisse aber nicht, was …

»Ich werde Ihnen vielleicht in den nächsten Tagen noch etwas bringen, Aljona Iwanowna … Etwas Schönes … Silber … ein Zigarettenetui … Sobald ich es von einem Freund zurückbekomme …« Er wurde verlegen und verstummte.

»Darüber werden wir dann sprechen, mein Guter.«

»Leben Sie wohl … Und Sie sind immer allein zu Hause, Ihre Schwester ist wohl nie da?« fragte er möglichst zwanglos, schon im Vorzimmer.

»Und was wünschen Sie von ihr, mein Guter?«

»Nichts Besonderes. Ich frage nur so. Aber Sie denken gleich … Leben Sie wohl, Aljona Iwanowna!«

Raskolnikow war völlig verstört, als er die Wohnung verlassen hatte. Diese Verstörung wuchs zusehends. Während er die Stufen hinabstieg, hielt er sogar einige Male an, wie verblüfft. Und schließlich, bereits auf der Straße, rief er aus:

»O mein Gott! Wie widerlich ist das alles! Ist es möglich, ist es möglich, daß ich … Nein, Unsinn, das ist absurd!« fügte er entschieden hinzu. »Ist es möglich, auf so etwas Entsetzliches zu verfallen? Wessen ist mein Herz nicht alles fähig! Vor allem: schmutzig, ekelhaft, widerwärtig, widerwärtig! … Und ich, ich habe einen ganzen Monat lang …«

Aber weder Worte noch Ausrufe genügten, um seine Erregung auszudrücken. Das Gefühl eines grenzenlosen Überdrusses, das sein Herz schon auf dem Weg zur Alten bis zur Übelkeit bedrückt hatte, nahm jetzt solche Ausmaße an und äußerte sich so, daß er nicht wußte, wohin er vor seiner Pein fliehen sollte. Er ging wie ein Betrunkener, ohne die Passanten auf dem Trottoir zu bemerken, stieß mit ihnen zusammen und entdeckte, daß er vor einer Schenke stand, die über eine vom Trottoir ins Kellergeschoß hinabführende Treppe zu erreichen war. Gerade in diesem Augenblick traten unten zwei Betrunkene aus der Tür und schickten sich an, einander stützend und beschimpfend, zur Straße hinaufzusteigen. Ohne lange zu überlegen, ging Raskolnikow sogleich die Treppe hinunter. Er hatte noch nie eine Schenke betreten, aber jetzt war ihm schwindlig, und ein brennender Durst quälte ihn. Er lechzte nach kaltem Bier, um so mehr, als er seine plötzliche Schwäche auch dem Umstand zuschrieb, daß er hungrig war. Er ließ sich in einer dunklen und schmutzigen Ecke an einem klebrigen Tischchen nieder, bestellte Bier und trank das erste Glas. Sofort wich der Druck, und seine Gedanken wurden klar.

“Alles Unsinn”, sagte er voller Hoffnung, “es gab ja gar keinen Grund, aus der Fassung zu geraten! Alles physische Schwäche! Ein Glas Bier, ein Stück trockenes Brot – und schon im selben Augenblick erstarkt der Verstand, die Gedanken werden klar, die Absichten fest! Pfui Teufel, was für eine Erbärmlichkeit!” Er spuckte verächtlich aus, aber seine Miene heiterte sich auf, als fühlte er sich plötzlich von einer schrecklichen Last befreit, und er ließ seine Blicke wohlwollend über die Anwesenden schweifen. Aber sogar in dieser Minute hatte er die unbestimmte Ahnung, daß diese ganze Bereitschaft zum Besseren ebenfalls krankhaft war.

In der Schenke saßen zu dieser Zeit nur noch wenige Menschen. Unmittelbar nach jenen Betrunkenen, denen er auf der Treppe begegnet war, brach eine ganze Gesellschaft auf, fünf Männer mit einer Ziehharmonika und ein Weibsbild. Dann wurde es still und leer. Es blieben: ein leicht angetrunkener Kleinbürger hinter seinem Bier; sein Saufkumpan, ein graubärtiger dicker Riese in einer Sibirka, völlig betrunken, der auf der Bank vor sich hin döste und nur ab und zu, plötzlich, wie im Schlaf, mit den Fingern schnalzte, die Arme ausbreitete und, ohne sich von der Bank zu erheben, mit dem Oberkörper wippte, dazu lallte er irgendeinen Unsinn, als versuche er, sich auf ein Lied zu besinnen:

Hab’ mein Weib ein Jahr gehätschelt,

Ha-a-ab’ mein W-w-w-eib ein Ja-a-ahr …

Oder plötzlich von neuem auffahrend:

Wollt’ die Schreibergasse gehen,

Sah mein altes Schätzchen stehen …

Aber niemand wollte seine Seligkeit teilen; sein schweigsamer Genosse beobachtete diese Ausbrüche sogar feindselig und mißtrauisch. Außer ihnen war noch ein Mann da, dem Aussehen nach vielleicht ein verabschiedeter Beamter. Er saß abseits vor seiner Flasche, nahm ab und zu einen Schluck, während sein Blick umherwanderte. Auch er schien irgendwie erregt zu sein.

II

RASKOLNIKOW war es nicht gewohnt, unter Menschen zu sein, und floh, wie schon gesagt, jede Gesellschaft, besonders in letzter Zeit. Nun aber zog es ihn plötzlich zu den Menschen. Etwas Neues erwachte in ihm, und gleichzeitig dürstete es ihn nach Menschen. Er war so erschöpft von seiner schon einen ganzen Monat währenden, auf einen Punkt gerichteten Qual und düsteren Erregung, daß er wenigstens für einen Augenblick in einer anderen Welt, wie sie auch beschaffen sein mochte, Atem schöpfen wollte, und so blieb er, ungeachtet aller ihn umgebenden Verkommenheit, mit Behagen in der Schenke sitzen.

Der Wirt hielt sich im Nebenzimmer auf, kam aber öfters in die Gaststube, und da er dazu ein paar Stufen herabsteigen mußte, sah man als erstes seine stutzerhaften Stiefel mit großen roten Stulpen. Er trug einen Poddjowka und eine gräßlich speckige, schwarze Atlasweste ohne Halstuch, sein Gesicht schien eingefettet zu sein wie ein Vorhängeschloß. Hinter dem Schanktisch hielt sich ein Junge von etwa vierzehn Jahren auf, während ein anderer, jüngerer, die Gäste bediente: Es gab kleingeschnittene Salzgurken, getrocknetes Schwarzbrot und Fischhappen: All das roch sehr schlecht. Die Luft war so stikkig, daß man eigentlich hier kaum sitzen konnte, und alles war so vom Branntweindunst durchtränkt, daß man wohl allein schon von dieser Luft in fünf Minuten betrunken sein mußte.

Es gibt Begegnungen, auch mit Menschen, von denen wir überhaupt nichts wissen, die auf den ersten Blick unser ganzes Interesse erwecken, unvermittelt, plötzlich, ehe ein Wort gewechselt wurde. Einen solchen Eindruck machte auf Raskolnikow jener Gast, der abseits saß und an einen verabschiedeten Beamten erinnerte. Der junge Mann dachte später mehrmals über diesen ersten Eindruck nach und deutete ihn sogar als Vorahnung. Immer wieder sah er zu dem Beamten hinüber, freilich auch deshalb, weil dieser ihn ebenso beharrlich ansah und offensichtlich sehr gern eine Unterhaltung angeknüpft hätte. Die übrigen Anwesenden, den Wirt nicht ausgenommen, streifte der Blick des Beamten irgendwie gleichgültig, gelangweilt und sogar mit einer Nuance hochmütiger Geringschätzung, eben wie Menschen von geringerem Stand und geringerer Bildung, mit denen eine Unterhaltung sich nicht lohnt. Er war ein Mann in den Fünfzigern, mittelgroß, korpulent, ergraut, mit großer Glatze, einem vom Trinken gedunsenen, gelben, fast grünlichen Gesicht und geschwollenen Lidern, unter denen wie aus Spalten winzige, aber lebendige, gerötete Äuglein blitzten. Aber er war etwas sonderbar: In seinem Blick funkelte sogar etwas wie Begeisterung – vielleicht Witz und Verstand –, aber gleichzeitig glomm darin etwas wie Irrsinn. Sein Anzug bestand aus einem alten, zerlumpten schwarzen Frack, ohne Knöpfe. Ein einziger saß noch halbwegs fest, und diesen hatte er auch geschlossen, da er offenbar den Regeln des Anstands Genüge tun wollte. Unter der Nankingweste kam eine Hemdbrust zum Vorschein, völlig zerknittert, verschmutzt und verschmiert. Wie bei Beamten üblich, wurde das Gesicht einst glatt rasiert, doch das war schon lange her, und jetzt zeigten sich dichte, schwarzbläuliche Stoppeln. Auch sein Gehabe war irgendwie würdevoll und beamtenhaft. Aber er war sichtlich unruhig, er fuhr sich mit beiden Händen durchs Haar, legte immer wieder, wie in großem Kummer, den Kopf in die Hände, wobei er die Ellbogen in den durchgescheuerten Ärmeln auf den nassen, klebrigen Tisch stützte. Schließlich sah er Raskolnikow offen ins Gesicht und sagte laut und bestimmt:

»Ist es erlaubt, mein Herr, Sie mit allem gebührenden Anstand anzusprechen? Denn obwohl Ihr Aufzug nichts von Ihrer Bedeutung verrät, so erkennt mein erfahrener Blick in Ihnen einen Menschen von Bildung, im Gebrauch des Alkohols ungeübt. Habe selbst immer höchste Verehrung für Bildung empfunden, die mit Herzensgefühlen verbunden ist, und stehe überdies im Range eines Titularrats. Marmeladow – das ist mein Name; Titularrat. Ist die Frage erlaubt: Waren der Herr Beamter?«

»Nein, ich studiere«, antwortete der junge Mann einigermaßen verblüfft, sowohl über die eigentümlich verschnörkelte Ausdrucksweise als auch darüber, daß er so direkt, ohne Umschweife angesprochen wurde. Ungeachtet des soeben empfundenen flüchtigen Wunsches nach menschlicher Gesellschaft, überfiel ihn beim ersten wirklich an ihn gerichteten Wort plötzlich jener gewohnte unangenehme und gereizte Widerwillen vor jeder fremden Person, die sich ihm näherte oder auch nur zu nähern anschickte.

»Student also oder ehemaliger Student!« rief der Beamte aus. »Das dachte ich mir gleich! Erfahrung, mein Herr, vielfältige Erfahrung!« Selbstbewußt deutete er mit dem Finger auf seine Stirn. »Sie waren Student, Sie hatten sich also den Wissenschaften gewidmet! Doch erlauben Sie mir …« Er erhob sich, schwankte, nahm seine Flasche und das Glas und setzte sich dem jungen Mann schräg gegenüber. Er war betrunken, aber er sprach gewandt und fließend, nur selten verlor er den Faden und zog die Sätze in die Länge. Geradezu gierig stürzte er sich auf Raskolnikow, als hätte auch er einen ganzen Monat mit keiner Seele gesprochen.

»Mein Herr«, begann er beinahe feierlich, »Armut ist keine Sünde, das ist eine unumstößliche Wahrheit. Aber ich weiß auch, daß Trinken keine Tugend ist, und das ist noch wahrer. Aber bettelarm, mein Herr, bettelarm sein, das ist eine Sünde. Sind Sie arm – gehen Sie der Würde der Ihnen angeborenen Gefühle nicht verlustig. Sind Sie aber bettelarm – immer und in jedem Fall. Sind Sie bettelarm, so werden Sie nicht mit dem Stock hinausgejagt, sondern mit dem Besen aus der menschlichen Gesellschaft hinausgefegt, damit es noch beleidigender ist; und das ist recht so, denn: Bin ich erst bettelarm, bin ich als erster bereit, mich selbst zu beleidigen. Und daher das Trinken! Mein Herr, es ist einen Monat her, daß meine Gattin von Herrn Lebesjatnikow tätlich angegriffen wurde, dabei ist meine Gattin jemand ganz anderes als ich! Verstehen Sie, mein Herr? Erlauben Sie mir noch die eine Frage, einfach so, aus purer Neugier: Befanden Sie sich schon in der Lage, auf der Newa, auf den Heukähnen zu nächtigen?«

»Nein, das ist mir noch nicht passiert«, antwortete Raskolnikow. »Wieso?«

»Nun, und ich komme von dort, mein Herr, schon die fünfte Nacht.«

Er schenkte sich ein, trank aus und versank in Gedanken. In der Tat, an seinen Kleidern und sogar in seinem Haar hingen trockene Halme. Es war gut möglich, daß er sich seit fünf Tagen nicht ausgekleidet und nicht gewaschen hatte. Besonders schmutzig waren seine Hände, fettig, rot, mit schwarzen Fingernägeln.

Seine Rede schien allgemeine, wenn auch träge Aufmerksamkeit erweckt zu haben. Die Jungen hinter dem Schanktisch kicherten. Der Wirt stieg wohl absichtlich aus dem oberen Raum herunter, um dem »Komiker« zuzuhören, und setzte sich etwas abseits, wobei er träge, jedoch achtunggebietend gähnte. Offensichtlich war Marmeladow hier schon lange bekannt. Und auch sein Hang zu der gewählten Ausdrucksweise rührte wahrscheinlich von den häufigen Wirtshausgesprächen mit den verschiedensten Unbekannten her. Diese Gewohnheit wird manchem Trinker zum Bedürfnis, vor allem denjenigen unter ihnen, die zu Hause streng behandelt werden und unter dem Pantoffel stehen. Gerade deshalb versuchen sie, sich in der Gesellschaft von ihresgleichen eine Art Rechtfertigung und, wenn möglich, sogar Respekt zu verschaffen.

»Du Komiker!« sagte der Wirt laut. »Und warum arbeitest du nicht? Warum gehst du nicht zum Dienst, wenn du schon Beamter bist? …«

»Warum ich nicht zum Dienst gehe, mein Herr?« Marmeladow ging sofort darauf ein, wandte sich aber ausschließlich an Raskolnikow, als hätte dieser ihn gefragt. »Warum ich nicht zum Dienst gehe? Schmerzt es mich denn nicht in tiefster Seele, daß ich untätig im Staub darniederliege; als Herr Lebesjatnikow meine Gemahlin eigenhändig prügelte und ich betrunken dalag, habe ich da etwa nicht gelitten? Erlauben Sie, junger Mann, ist es Ihnen schon passiert, daß Sie … hm … jemanden, sagen wir, ohne jede Hoffnung um Geld gebeten haben?«

»Das ist mir schon passiert … aber was heißt ›ohne jede Hoffnung‹?«

»Ohne jede, ohne die leiseste Hoffnung heißt, daß man schon im voraus weiß: Daraus wird nichts. Sie wissen zum Beispiel im voraus und ganz unbezweifelbar, daß dieser Mann, der bestgesinnte und nützlichste Bürger, Ihnen unter keinen Umständen Geld leihen wird, denn warum, frage ich Sie, soll er mir etwas leihen? Weiß er doch genau, daß ich es nicht zurückzahlen werde. Aus Mitleid etwa? Aber Herr Lebesjatnikow, der stets neuen Gedanken auf der Spur ist, setzte uns vor kurzem auseinander, daß in unserer Zeit das Mitleid sogar von der Wissenschaft untersagt wird und daß man in England, wo es politische Ökonomie gibt, bereits danach handelt. Warum also, frage ich Sie, soll er mir etwas leihen? Und nun, obwohl Sie im voraus wissen, daß er Ihnen nichts leihen wird, machen Sie sich dennoch auf den Weg und …«

»Warum geht man denn hin?« warf Raskolnikow ein.

»Wenn es aber sonst niemanden gibt, wenn man sonst nirgendwohin gehen kann! Denn das muß sein, jeder Mensch muß irgendwohin gehen können. Weil es Zeiten gibt, da muß man unbedingt irgendwohin gehen können, ganz gleich, wohin! Als meine leibliche Tochter das erste Mal mit dem Gelben Billet auf die Straße ging, da bin ich auch gegangen … Meine Tochter geht nämlich mit dem Gelben Billet«, fügte er, gleichsam en parenthèse, hinzu, wobei er den jungen Mann mit einer gewissen Unruhe anblickte. »Das macht nichts, mein Herr, das macht gar nichts!« beeilte er sich, anscheinend gelassen, zu versichern, als die beiden Jungen hinter dem Schanktisch prusteten und sogar der Wirt sich zu einem Lächeln herabließ. »Das macht nichts! Das Schütteln der Häupter beirrt mich nicht, denn alles ist schon allen bekannt, und jegliches Geheime wird offenbar werden; und nicht mit Hochmut, sondern in Demut trage ich es. Komme, was da will! ›Sehet, welch’ ein Mensch!‹ Erlauben Sie, junger Mann: Können Sie … doch nein, um es stärker und bildlicher zu sagen, nicht – können Sie, sondern getrauen Sie sich, indem Sie mich ansehen, ausdrücklich zu behaupten, daß ich kein Schwein bin?«

Der junge Mann erwiderte kein Wort.

»Nun wohl«, fuhr der Redner fort, gesetzt und sogar noch würdevoller, nachdem das Kichern im Zimmer sich wieder gelegt hatte, »nun wohl, ich mag ein Schwein sein, sie aber ist eine Dame! Ich habe das Bild des Tieres angenommen, Katerina Iwanowna dagegen, meine Gemahlin, ist eine gebildete Person und wurde als Tochter eines Stabsoffiziers geboren. Mag, mag ich ein Schuft sein – sie aber ist hochherzig und auf Grund ihrer Erziehung von den edelsten Gefühlen erfüllt. Indessen … O, wenn sie doch mit mir Erbarmen hätte!

Mein Herr, o mein Herr, denn das muß sein, jeder Mensch muß wenigstens eine Stätte haben, wo man auch mit ihm Erbarmen hat! Und Katerina Iwanowna ist eine zwar hochherzige, aber ungerechte Dame … Und obwohl ich ja selbst einsehe, daß sie, wenn sie mich an den Haaren reißt, es nicht anders als mit leiderfülltem Herzen tut (denn, ich wiederhole es nachdrücklich: Sie reißt mich an den Haaren, junger Mann«, bekräftigte er mit betonter Würde, als er wiederum Kichern hörte), »aber, mein Gott, wenn sie doch wenigstens ein einziges Mal … Aber nein! Nein! Das sind alles müßige Reden, dazu gibt es nichts mehr zu sagen! Nichts zu sagen …! Denn mehr als einmal ist das Ersehnte eingetreten, und mehr als einmal hat man Erbarmen mit mir gehabt, aber … so ist es mir eben beschieden, und ich bin und bleibe ein Vieh!«

»Stimmt«, bemerkte der Wirt gähnend.

Marmeladow schlug entschlossen mit der Faust auf den Tisch. »So ist es mir beschieden! Wissen Sie, Verehrtester, daß ich sogar ihre Strümpfe versoffen habe? Nicht ihre Schuhe, denn das wäre wenigstens irgendwie zu erklären, aber die Strümpfe, ausgerechnet ihre Strümpfe habe ich versoffen! Ihr Tuch, das Umlegetuch aus Ziegenhaar, habe ich versoffen, ein Geschenk aus früheren Zeiten, ihr Eigentum, nicht meines; dabei hausen wir in einem kalten Winkel, sie aber hat sich diesen Winter erkältet und hustet inzwischen Blut. Wir haben auch drei unmündige Kinder, und Katerina Iwanowna ist bis in die Nacht hinein bei der Arbeit, scheuert und wäscht, und die Kinder wäscht sie auch, denn sie ist von klein auf an Reinlichkeit gewöhnt, dabei ist sie schwach auf der Brust und zur Schwindsucht veranlagt, und ich fühle das alles mit. Fühle ich etwa nicht mit? Und je mehr ich trinke, desto tiefer fühle ich mit. Deshalb trinke ich ja, weil ich im Trinken Mitleid und Gefühl suche … Weil ich noch einmal so tief leiden will!« – Und er ließ wie in Verzweiflung den Kopf bis auf den Tisch sinken.

»Junger Mann«, fuhr er fort, indem er sich wieder aufrichtete, »in Ihrem Gesicht lese ich etwas wie Gram. Sie traten ein, und schon las ich ihn, und darum habe ich mich sogleich an Sie gewandt. Sintemal ich, indem ich Sie mit meiner Lebensgeschichte vertraut mache, einen empfindsamen und gebildeten Menschen suche, keineswegs jedoch gewillt bin, mich an den Pranger zu stellen vor diesen Tagedieben, denen überdies alles bekannt ist. Sie sollen wissen, daß meine Gemahlin in einem Pensionat für junge Damen aus Adelsfamilien erzogen wurde und bei dem Abschlußball mit einer Stola getanzt hat, vor dem Gouverneur und anderen Honoratioren, wofür sie eine Goldmedaille und eine Ehrenurkunde in Empfang nehmen durfte. Die Goldmedaille … Nun, die Medaille ist verkauft … Schon vor einer Weile … Hm … Die Ehrenurkunde liegt heute noch in ihrer Truhe, und Katerina Iwanowna hat sie erst unlängst unserer Wirtin gezeigt. Und obgleich sie mit der Wirtin in allerunentwegtestem Zwist lebt, kam sie doch der Wunsch an, sich, vor wem es auch sei, ins rechte Licht zu setzen und von vergangenen glücklichen Tagen zu reden. Ich verarge es ihr nicht, überhaupt nicht, denn nur letztere haben sich in ihren Erinnerungen erhalten, alles andere ist wie Staub verweht! Ja, ja; eine heftige Dame, stolz und unbeugsam. Sie scheuert eigenhändig die Dielen und lebt nur von trocken Brot, aber Mißachtung duldet sie nicht. Darum wollte sie auch gegen die Grobheiten des Herrn Lebesjatnikow keine Nachsicht üben, und als Herr Lebesjatnikow darauf handgreiflich wurde, waren es weniger die empfangenen Schläge als vielmehr die Gefühle, die sie aufs Krankenlager warfen. Sie war schon Witwe, als ich sie heiratete, mit drei Kindern, eins kleiner als das andere. Ihren ersten Mann, einen Infanterie-Offizier, hatte sie aus Liebe geheiratet und war seinetwegen aus dem Elternhaus davongelaufen. Sie liebte ihn über alle Maßen, er aber begann zu spielen, kam vor Gericht und starb darauf. Zuletzt war er mehr als einmal gegen sie tätlich geworden; und obwohl sie ihm nichts schuldig blieb, was ich mit Bestimmtheit und verbrieft weiß, gedenkt sie seiner heute noch unter Tränen und hält ihn mir als Beispiel vor, und ich bin froh, sehr froh, weil sie sich, wenigstens in ihren Phantasien, glücklich wähnt. Nach seinem Tode blieb sie mit den drei kleinen Kindern in der fernen und verrohten Provinz zurück, wo auch ich mich zu jener Zeit aufhielt, und zwar in einer so hoffnungslosen Armut, daß ich, der doch schon manche Abenteuer erlebt hatte, sie überhaupt nicht zu beschreiben vermag. Alle Verwandten hatten sich von ihr losgesagt. Aber sie war auch sehr stolz, viel zu stolz. Und da, mein Herr, habe ich, ebenfalls verwitwet und mit einer vierzehnjährigen Tochter aus erster Ehe, ihr meine Hand angeboten, denn ich konnte dieses Elend nicht mit ansehen. Daß sie, gebildet, mit bester Erziehung und aus guter Familie, bereit war, mich zu heiraten, läßt erkennen, wie groß ihre Not gewesen sein muß! Und sie heiratete mich! Weinend und schluchzend und händeringend, aber sie heiratete mich! Alldieweil sie sonst nirgendwohin gehen konnte. Verstehen Sie, mein Herr, verstehen Sie, was es bedeutet, wenn man nirgendwohin mehr gehen kann? Nein! Das verstehen Sie noch nicht … Ein ganzes Jahr lang erfüllte ich treu und heilig meine Pflicht und rührte dies hier (er zeigte mit dem Finger auf die Flasche) nicht an, denn ich habe Gefühl. Aber auch damit konnte ich vor ihren Augen keine Gnade finden; da verlor ich auch noch meine Stelle, ebenfalls nicht durch eigene Schuld, sondern durch eine Änderung des Etats, und da habe ich wieder dies hier angerührt. Es sind nun anderthalb Jahre her, daß wir uns endlich, nach langem Wandern und vielerlei Drangsal, in dieser herrlichen und von zahlreichen Denkmälern geschmückten Metropole eingefunden haben. Und hier bekam ich eine Stelle … Ich bekam sie, um sie sofort wieder zu verlieren. Verstehen Sie das? Diesmal verlor ich sie durch eigenes Verschulden, denn meine Stunde hatte geschlagen … Wir logieren jetzt in einer Zimmerecke, bei Amalija Fjodorowna Lippewechsel, unserer Wirtin. Aber wovon wir leben und wovon wir die Miete bezahlen, das weiß ich nicht. Dort wohnen viele andere, außer … Sodom und Gomorrha … Hm … Ja … Unterdessen war mein Töchterchen aus erster Ehe herangewachsen, und was sie, mein Töchterchen, von ihrer Stiefmutter auszustehen hatte, das will ich unerwähnt lassen. Denn obwohl Katerina Iwanowna von hochherzigen Gefühlen erfüllt ist, ist sie eine heftige und reizbare Dame, und sie kann … Jaja! Aber was hat es für einen Sinn, daran zu denken! Eine Erziehung ist Sonja, wie Sie sich vorstellen können, nicht zuteil geworden. Ich hatte angefangen, es sind etwa vier Jahre her, ihr Geographie und Weltgeschichte beizubringen. Da ich aber selbst darin nicht sonderlich bewandert bin und uns alle schicklichen Mittel fehlten, sintemal alle vorhandenen Bücher … Hm … Nun, sie sind nun auch nicht mehr da, diese Bücher … hat der Unterricht ein Ende genommen. Bei Cyrus von Persien sind wir stehengeblieben. Später, als sie in die reiferen Jahre kam, las sie einige Bücher romanhaften Inhalts und erst vor kurzem, durch Vermittlung des Herrn Lebesjatnikow, auch eines von Lewes, ›Physiologie‹ – ist es Ihnen bekannt? –, sie las es mit großem Interesse und erzählte uns sogar einiges davon: Und das ist ihre ganze Bildung. Jetzt möchte ich, mein Herr, mich mit einer sehr privaten Frage an Sie wenden: Wieviel kann, nach Ihrem Dafürhalten, ein armes, aber anständiges Mädchen durch ehrliche Arbeit verdienen? … Keine fünfzehn Kopeken am Tag kann es verdienen, mein Herr, wenn es auf seine Ehre hält und keine besonderen Talente hat, und auch die nur, wenn sie sich keinen Augenblick Ruhe gönnt! Und auch da hat der Herr Staatsrat Klopstock, Iwan Iwanowitsch – ist er Ihnen bekannt? –, nicht nur das Nähen von einem halben Dutzend Hemden aus holländischem Leinen bis heute nicht bezahlt, sondern er hat sie sogar mit Schimpf und Schande aus dem Haus geworfen, wobei er mit den Füßen stampfte und sie ehrenrührig beschimpfte, unter dem Vorwand, die Kragen seien nicht maßgerecht und schief genäht worden. Und hier die hungrigen Kinder … Und hier ringt Katerina Iwanowna die Hände, läuft im Zimmer auf und ab, und auf ihren Wangen glühen rote Flecken (bei dieser Krankheit ist das so): ›Du wohnst bei uns, du Schmarotzerin, du ißt und trinkst und hast es schön warm!‹, was heißt das schon, essen und trinken, wenn selbst die Kinder manchmal drei Tage lang kaum eine trockene Brotrinde zu sehen bekommen! Ich lag damals … Nun, warum nicht! Ich lag damals betrunken da und hörte, wie meine Sonja sagt (sie ist so still und hat auch so ein sanftes Stimmchen … hellblond, das Gesichtchen immer bleich und mager), wie sie sagt: ›Wie, Katerina Iwanowna, soll ich das denn wirklich tun?‹ Denn Darja Franzowna, ein übeltätiges und der Polizei sattsam bekanntes Frauenzimmer, hatte schon dreimal durch unsere Wirtin fragen lassen. ›Warum denn nicht?‹ antwortet Katerina Iwanowna höhnisch. ›Was gibt es denn da zu hüten? Etwa einen Schatz?‹ Aber richten Sie nicht, richten Sie nicht, mein Herr, richten Sie nicht! Sie war nicht bei klarem Verstand, sondern im Aufruhr der Gefühle, krank und im Angesicht der vor Hunger jammernden Kinder, und es war ja auch eher als Kränkung gemeint als im wörtlichen Sinne … Denn Katerina Iwanowna hat nun einmal ihren Charakter, und wenn die Kinder jammern, und sei es vor Hunger, schlägt sie sofort auf sie ein. Und ich sah, es war etwas nach fünf, wie Sonetschka aufstand, das Tüchlein umlegte, ihr Mäntelchen anzog, aus dem Haus ging und nach acht wieder zurückkam. Sie kam herein, ging sogleich auf Katerina Iwanowna zu und legte schweigend dreißig Rubel vor sie auf den Tisch. Sie sprach kein Wort, sie hob nicht einmal die Augen, sie nahm nur unser großes grünes Tuch aus Drap-de-dames (wir haben nämlich so ein Tuch aus Drap-de-dames), verhüllte damit Gesicht und Kopf und legte sich auf das Bett, nur die schmalen Schultern, ja, der ganze Körper zitterte … Und ich lag immer noch da, wie vorher, im selben Zustand … Und dann sah ich, junger Mann, dann sah ich, wie Katerina Iwanowna, ebenfalls ohne ein Wort zu sprechen, an Sonetschkas Bettchen trat und den ganzen Abend am Fußende auf den Knien lag und ihr die Füße küßte, sich nicht erheben wollte, und dann sind sie beide auch so eingeschlafen, engumschlungen … Beide … Beide … Jawohl … Und ich … ich lag da und war betrunken.«

Marmeladow verstummte, wie wenn ihm die Stimme versagte. Dann schenkte er sich hastig ein, trank und räusperte sich.

»Darauf, mein Herr«, fuhr er nach einigem Schweigen fort, »darauf war infolge eines mißlichen Vorkommnisses und einer Anzeige übelwollender Personen, wobei Darja Franzowna sich besonders geschäftig erwies, weil man ihr angeblich die gebührende Achtung versagt hätte, darauf, mein Herr, darauf war meine Tochter Sofja Semjonowna gezwungen, das Gelbe Billet zu nehmen, und konnte infolgedessen nicht länger bei uns bleiben. Denn auch Amalija Fjodorowna wollte es nicht zulassen (vorher aber hatte sie selbst Darja Franzowna begünstigt), und ebensowenig Herr Lebesjatnikow … Hm … Denn diese Geschichte zwischen ihm und Katerina Iwanowna passierte ja Sonjas wegen. Zuerst hatte er Sonetschka nachgestellt, aber plötzlich wurde er heikel: ›Wie soll ich, ein so aufgeklärter Mensch, mit so einem Geschöpf in derselben Wohnung leben?‹ Katerina Iwanowna aber ließ sich das nicht gefallen, trat für Sonja ein … Und so geschah es … Und nun besucht uns Sonetschka eher in der Dämmerung, hilft Katerina Iwanowna und versorgt sie nach Kräften mit Geld … Sie wohnt bei dem Schneider Kapernaumow, sie hat dort ein Zimmer gemietet, Kapernaumow selbst hinkt und hat eine ungelenke Zunge, und seine ganze zahlreiche Nachkommenschaft hat eine ungelenke Zunge, auch seine Frau hat eine ungelenke Zunge … Sie hausen alle in einem Zimmer, aber Sonja hat ein separates, mit einer Zwischenwand … Hm, ja … Es sind die Allerärmsten, und alle mit ungelenker Zunge … Ja … Als ich damals am nächsten Morgen aufstand, zog ich meine Lumpen an, hob die Arme gen Himmel und machte mich auf den Weg zu Seiner Exzellenz Iwan Afanassjewitsch. Kennen Sie Seine Exzellenz Iwan Afanassjewitsch …? Nein? Dann kennen Sie einen Mann Gottes nicht; er ist – Wachs … Wachs vor dem Herrn; Berge zerschmelzen wie Wachs! … Exzellenz weinten sogar, nachdem sie geruht hatten, sich alles anzuhören. ›Also‹, sagten Exzellenz, ›schon einmal, Marmeladow, hast du meine Erwartungen enttäuscht … Noch einmal stelle ich dich auf meine eigene Verantwortung ein‹, sagten Exzellenz, ›vergiß es nicht und gehe jetzt!‹ Ich küßte den Staub seiner Füße, aber nur in Gedanken, denn in Wirklichkeit hätte er so etwas nicht geduldet, als Würdenträger und als ein Mann neuer Staatsideen und gebildeter Denkart; ich ging nach Hause, und als ich sagte, daß ich wieder in den Dienst aufgenommen wäre und ein Gehalt bekäme, mein Gott, wie ging es da zu …«

Wieder verstummte Marmeladow in starker Erregung. In diesem Augenblick drängte von der Straße eine ganze Schar Saufbrüder herein, die bereits betrunken waren, und am Eingang ertönten ein gemieteter Leierkasten und die klägliche Stimme eines etwa siebenjährigen Kindes, das das Lied vom »Weiler« sang. Es wurde sehr laut. Der Wirt und die Jungen wandten sich den neuen Gästen zu. Marmeladow setzte seinen Bericht fort, ohne die Neuangekommenen zu beachten. Er war wohl schon sehr geschwächt, aber je stärker sein Rausch wurde, desto redseliger wurde er. Die Erinnerungen an seinen kürzlichen Erfolg schienen ihn zu beleben und ließen sein Gesicht sogar irgendwie aufleuchten. Raskolnikow hörte aufmerksam zu.

»Das ist, mein Herr, just fünf Wochen her. Ja … Kaum hatten sie beide, Katerina und Sonetschka, davon erfahren, o Gott, da kam ich mir wie im Himmel vor. Früher durfte ich wie ein Hund in der Ecke liegen, und es gab nichts wie Schimpfen! Und jetzt: man ging auf Zehenspitzen und ermahnte die Kinder: ›Semjon Sacharytsch ist müde vom Dienst, er ruht, pst!‹ Vor dem Dienst bekam ich Kaffee mit aufgekochter Sahne! Richtige Sahne haben sie für mich geholt! Hören Sie? Und wie sie zu den elf Rubeln fünfzig Kopeken gekommen sind, um mich für den Dienst anständig einzukleiden, das weiß ich heute noch nicht. Stiefel, Vorhemden aus Kaliko, alles von der feinsten Sorte, einen Rock – und das alles haben sie für elf Rubel fünfzig aufgetrieben. Ich komme am ersten Tag mittags vom Dienst nach Hause und sehe: Katerina Iwanowna trägt zwei Gänge auf, Suppe und Pökelfleisch mit Meerrettich, wovon wir früher nicht einmal geträumt hatten. Sie hat eigentlich nichts anzuziehen … Wirklich gar nichts, aber nun sah sie aus, als wollte sie einen Besuch machen, sie hatte sich fein gemacht, es war nichts Besonderes, einfach so, die Frauen verstehn’s, aus nichts alles zu machen: das Haar frisiert, ein frisches Krägelchen, Manschettchen, und schon ist es eine ganz andere Frau, jünger und hübscher. Sonetschka, mein Täubchen, hatte nur mit Geld ausgeholfen, es geht jetzt vorläufig nicht an, sagte sie, daß ich euch besuche, höchstens in der Dämmerung, damit es keiner sieht. Hören Sie, hören Sie das? Nachmittags, als ich vom Dienst nach Hause kam, wollte ich ein Schläfchen halten, und was glauben Sie? Katerina Iwanowna hatte es nicht aushalten können: Es war erst eine Woche her, daß sie sich mit unserer Vermieterin, mit Amalija Fjodorowna, aufs ärgste gezankt hatte, aber da hatte sie nun diese Amalija Fjodorowna zu einer Tasse Kaffee eingeladen. Zwei Stunden lang saßen sie beisammen und flüsterten: ›Semjon Sacharytsch ist wieder im Dienst und bezieht Gehalt, er sprach bei Seiner Exzellenz persönlich vor, und Seine Exzellenz kamen persönlich heraus, geboten allen zu warten, nahmen Semjon Sacharytsch bei der Hand und führten ihn an allen anderen vorbei in ihr Kabinett! Hören Sie, hören Sie das? ›Ich weiß natürlich‹, sprachen Exzellenz, ›um Ihre Verdienste, obwohl Sie dieser leichtsinnigen Schwäche huldigten, und da Sie nunmehr von ihr ablassen und wir obendrein ohne Sie Mühe haben, uns ohne Sie zurechtzufinden‹ (hören Sie, hören Sie das!), ›so verlasse ich mich jetzt auf Ihr Ehrenwort.‹ – Also sage ich Ihnen, sie hat sich das alles einfach ausgedacht, und zwar nicht leichtfertig oder aus purer Prahlerei! Nein, sie glaubt selbst daran, mit ihren eigenen Phantasien gaukelt sie sich selbst etwas vor, bei Gott! Und ich richte nicht; nein, ich richte nicht! … Und als ich ihr, es sind sechs Tage her, mein erstes Gehalt brachte – dreiundzwanzig Rubel vierzig Kopeken –, da nannte sie mich ›Goldkäferchen‹: ›Was bist du für ein Goldkäferchen‹, und unter vier Augen hat sie mir das gesagt, verstehen Sie!? Und dabei – was ist schon an mir dran, und überhaupt was bin ich für ein Gatte? Aber nein, sie kniff mich in die Wange: ›Was bist du für ein Goldkäferchen!‹ sagte sie.«

Marmeladow hielt inne, wollte lächeln, aber plötzlich zitterte sein Kinn. Es gelang ihm gerade noch, sich zu beherrschen. Diese Schenke, das verkommene Aussehen, die fünf Nächte auf den Heukähnen und diese Branntweinflasche, zugleich aber die quälende Liebe zu Frau und Familie verwirrten seinen Zuhörer. Raskolnikow hörte ihm gespannt zu, aber mit einem quälenden Gefühl. Er ärgerte sich, daß er hierhergekommen war.

»Mein Herr, mein Herr!« rief Marmeladow aus, als er sich wieder gefaßt hatte, »o mein Herr! Vielleicht gereicht das alles Ihnen zur Belustigung, wie den anderen auch, und ich belästige Sie bloß mit all diesen albernen, jämmerlichen Kleinigkeiten meines häuslichen Lebens, nun, mir aber gereicht dies keineswegs zur Belustigung. Ich nämlich fühle das alles … Und im Verlauf jenes paradiesischen Tages meines Lebens und jenes ganzen Abends gab ich mich ebenfalls flüchtigen Träumen hin: und wie ich alles ordnen und die Kinderchen kleiden und ihr den Frieden geben und meine einzige Tochter aus der Schande in den Schoß der Familie zurückführen würde … Und vieles, vieles andere … Das ist erlaubt, mein Herr. Und nun, mein Herr« (Marmeladow schauerte, hob den Kopf und blickte seinem Zuhörer starr ins Gesicht), »und nun, schon am folgenden Tag nach diesen Träumen (das heißt, ganz genau vor fünf Tagen und fünf Nächten) entwendete ich listig, wie ein Dieb in der Nacht, den Schlüssel zu ihrer Truhe, nahm alles, was von dem heimgebrachten Gehalt übrig war (ich weiß nicht mehr, wieviel), und nun, sehen Sie mich an, das ist alles! Seit fünf Tagen war ich nicht mehr zu Hause, und sie suchen mich, und mit dem Dienst ist es aus, und der Rock liegt in einer Schenke an der Ägyptischen Brücke, und statt seiner trage ich nun dieses Gewand … Und alles ist aus!«

Marmeladow schlug sich mit der Faust gegen die Stirn, biß die Zähne zusammen, schloß die Augen und stützte sich schwer mit dem Ellbogen auf den Tisch. Aber schon im nächsten Augenblick veränderte sich sein Gesicht, es nahm einen gespielt pfiffigen und gewollt dreisten Ausdruck an, er sah Raskolnikow an, lachte und sprach:

»Und heute war ich bei Sonja und habe sie angebettelt, um mir den Kater zu vertreiben. He-he-he!«

»Und die hat dir wirklich was gegeben?« rief einer der Neuangekommenen herüber, rief es und lachte aus vollem Halse.

»Diese Flasche hier ist just von ihrem Geld gekauft«, sagte Marmeladow, sich ausdrücklich an Raskolnikow wendend. »Dreißig Kopeken brachte sie mir an die Tür, eigenhändig, die letzten, alles, was sie noch hatte, ich habe es selbst gesehen … Sie sagte nichts. Sie sah mich nur schweigend an … Nicht auf Erden, sondern dort … dort werden die Menschen so betrauert, beweint und nicht gerichtet, nicht gerichtet! Aber es ist noch ärger, noch ärger, wenn man nicht gerichtet wird! … Dreißig Kopeken, jawohl. Dabei braucht sie das Geld jetzt doch selbst, wie? Meinen Sie nicht, mein lieber Herr? Denn jetzt muß sie auf Sauberkeit halten, und diese Sauberkeit, die spezielle, kostet doch Geld, nicht wahr? Nicht wahr? Zum Beispiel, sie muß auch Pomade kaufen, anders geht’s nicht; gestärkte Röcke oder Stiefeletten nach der neuen Mode, um das Füßchen zu zeigen, wenn man über eine Pfütze steigt. Verstehen Sie, verstehen Sie, mein Herr, was diese Sauberkeit bedeutet? Ich aber, ihr leiblicher Vater, habe ihr diese dreißig Kopeken aus der Tasche gezogen, um mir den Kater zu vertreiben! Und ich trinke! Und habe sie bereits vertrunken! Nun, wer soll schon mit einem Menschen wie mir Erbarmen haben? Wie? Haben Sie nun Erbarmen mit mir, mein Herr, oder nicht? Sag, mein Guter, hast du nun Erbarmen mit mir oder nicht? He-he-he-he!«

Er wollte sich einschenken, aber es war nichts mehr da. Die Flasche war leer. »Weshalb soll man Erbarmen mit dir haben?« rief der Wirt, der wieder in ihrer Nähe aufgetaucht war. Man hörte Lachen und sogar Schimpfen.

Es schimpften und lachten die Zuhörer und anderen Gäste, einfach so, beim bloßen Anblick des einstigen Beamten.

»Erbarmen! Weshalb man Erbarmen mit mir haben soll?« brüllte Marmeladow plötzlich, indem er sich mit ausgestrecktem Arm erhob, in regelrechter Begeisterung, als hätte er nur auf diese Worte gewartet. »Weshalb man mit mir Erbarmen haben soll, fragst du? Stimmt! Ich habe kein Erbarmen verdient! Kreuzigen sollte man mich, kreuzigen, statt sich meiner zu erbarmen! Kreuzige mich, so kreuzige mich doch, mein Richter, kreuzige mich, aber wenn du mich gekreuzigt hast, erbarme dich meiner! Dann will ich mich selbst dir überantworten, denn ich dürste nicht nach Freude, sondern nach Leid und Tränen! … Glaubst du etwa, du Krämerseele, daß diese deine Flasche mir Lust bedeutet? Leid, Leid suchte ich auf ihrem Boden, Leid und Tränen. Und ich habe sie gefunden und ausgekostet; unser erbarmen aber wird sich Jener, der sich aller erbarmt und der alle und alles versteht, Er ist der Einzige, und Er ist auch der gerechte Richter. An jenem Tag wird Er kommen und fragen: ›Wo ist die Tochter, die sich für die Stiefmutter, die böse und schwindsüchtige, und für die unmündigen Kindlein, die fremden, geopfert hat? Wo ist die Tochter, die sich ihres Vaters auf Erden, des unflätigen Trunkenbolds, ungeachtet des Tiers in ihm, erbarmt hat?‹ Und Er wird sagen: ›Komme! Ich habe dir schon einmal vergeben … Schon einmal … So werden dir auch jetzt deine Sünden vergeben, denn du hast viel geliebt!‹ Und Er wird meiner Sonja vergeben. Er wird ihr vergeben, das weiß ich, Er wird ihr vergeben … Ich habe es vorhin, als ich bei ihr war, in meinem Herzen gespürt! … Und Er wird alle richten und wird allen vergeben, den Guten wie den Bösen, den Weisen wie den Einfältigen … Und dann, wenn Er alle gerichtet hat, dann wird Er auch zu uns sprechen: ›Kommet hervor!‹ wird Er sagen, ›kommet auch Ihr! Kommet, Ihr Trinker, kommet, Ihr Schwachen, kommet, Ihr Schändlichen!‹ Und wir werden hervorkommen, alle, ohne uns zu schämen, und werden vor ihm dastehen. Und Er wird sagen: ›Schweine seid Ihr! Das Bild des Viehs habet Ihr angenommen und traget sein Malzeichen; dennoch, kommet auch Ihr!‹ Und aufbegehren werden die Weisen, und aufbegehren werden die Gescheiten: ›Herr, warum nimmst Du diese auf?‹ Und Er wird sagen: ›Darum nehme ich sie auf, ihr Weisen, darum nehme ich sie auf, ihr Gescheiten, weil kein einziger unter ihnen sich dessen für würdig hielt …‹ Und Er wird Seine Arme ausbreiten, und wir werden Ihm zu Füßen fallen … Und weinen … Und alles erkennen! Dann werden wir alles erkennen … Und alle werden es erkennen, auch Katerina Iwanowna … auch sie wird es erkennen … Herr, Dein Reich komme!«

Er sank auf die Bank zurück, erschöpft und entkräftet, ohne jemand anzusehen, in sich versunken, als hätte er seine Umgebung vergessen. Seine Worte hatten einen gewissen Eindruck gemacht; einen Augenblick lang herrschte Schweigen, gleich darauf aber hörte man wieder Lachen und Schimpfen:

»Der muß es ja wissen!«

»Reden kann er ja!«

»Ein schöner Beamter!«

Und so fort, und so fort.

»Gehen wir, mein Herr«, sagte Marmeladow plötzlich, indem er den Kopf hob und Raskolnikow ansah. »Bringen Sie mich nach Hause … Haus Kosel, im Hinterhof. Es wird Zeit … Zu Katerina Iwanowna …«

Raskolnikow hatte schon längst aufbrechen wollen; er hatte auch schon daran gedacht, ihm behilflich zu sein. Das Gehen machte, wie sich nun erwies, Marmeladow viel mehr Mühe als das Reden, und er stützte sich schwer auf den jungen Mann. Sie mußten etwa zwei- bis dreihundert Schritt zurücklegen. Je näher sie seinem Haus kamen, desto ängstlicher und verlegener wurde der Betrunkene.

»Ich fürchte mich jetzt nicht vor Katerina Iwanowna«, murmelte er aufgeregt, »und auch nicht davor, daß sie mich an den Haaren reißen wird. Haare, was sind schon Haare? Haare – das hat nichts zu bedeuten! … Und das sage ich! Es ist sogar besser, wenn sie mich an den Haaren reißt, das ist es nicht, wovor ich Angst habe … Vor ihren Augen fürchte ich mich … Ja, vor den Augen fürchte ich mich … Ich fürchte mich auch vor den roten Flecken auf ihren Wangen, und dann vor ihrem Atmen … Hast du schon mal gesehen, wie man bei dieser Krankheit atmet? … Bei Gemütserregung? Und vor den Tränen der Kinder fürchte ich mich … Wenn Sonja sie nicht versorgt hat, dann … dann … es ist nicht auszudenken! Nicht auszudenken! Prügel fürchte ich nicht … Denn wisse, daß mir diese Prügel kein Schmerz sind, sondern ebensosehr Lust … Alldieweil ich selbst darauf nicht verzichten möchte … es ist besser so. Mag sie mich doch prügeln, ihrem Herzen Luft machen … Es ist besser so … Da ist das Haus, Haus Kosel. Der Schlosser Kosel, ein reicher Deutscher … Führe mich!«

Sie betraten das Haus vom Hof her und stiegen in den vierten Stock hinauf. Je höher man kam, desto finsterer wurde das Treppenhaus. Es war schon fast elf, und obwohl es in Petersburg um diese Jahreszeit keine eigentlichen Nächte gibt, war es oben ziemlich dunkel.

Die kleine, rauchgeschwärzte Tür am Ende der Treppe, ganz oben, stand offen. Ein Kerzenstummel beleuchtete ein armseliges Zimmer von etwa zehn Schritt Länge; vom Flur aus konnte man es leicht überblicken. Es herrschte wirres Durcheinander, überall lagen zerlumpte Kinderkleider herum. Vor den hintersten Winkel war ein zerlöchertes Laken gespannt. Dahinter stand wahrscheinlich das Bett. Im Zimmer befanden sich nur zwei Stühle und ein ramponiertes Wachstuchsofa, davor ein alter Küchentisch aus Tannenholz, roh und ohne Decke. Auf dem Tisch, ganz am Rande, flackerte das heruntergebrannte Talglicht in einem Kerzenhalter aus Blech. Es zeigte sich, daß Marmeladow in einem eigenen Zimmer und nicht in einem Winkel logierte, aber es war ein Durchgangszimmer. Die Tür zu den anderen Räumen oder vielmehr Verschlägen, in die die Wohnung der Amalija Lippewechsel aufgeteilt war, stand halb offen. Dahinter ging es laut und lärmend zu. Es wurde gelacht. Offenbar wurde dort Karten gespielt und Tee getrunken. Hin und wieder hörte man einen ganz und gar ungenierten Ausdruck.

Raskolnikow erkannte Katerina Iwanowna auf den ersten Blick. Sie war eine entsetzlich magere Frau, schmal, ziemlich groß, schlank, mit noch immer wunderschönem dunkelblondem Haar und fleckig geröteten Wangen. Sie lief in ihrem kleinen Zimmer auf und ab, die verschränkten Arme gegen die Brust gepreßt, und atmete unregelmäßig, stoßweise. Ihre Lippen waren verkrustet, die Augen glänzten wie im Fieber, aber der Blick war scharf und starr, und dieses schwindsüchtige und erregte Gesicht, auf dem der letzte Schein des verlöschenden Kerzenstummels flackerte, machte einen ergreifenden Eindruck. Raskolnikow schätzte sie auf etwa dreißig Jahre, und in der Tat, sie paßte nicht zu Marmeladow … Die Eintretenden hatte sie nicht wahrgenommen und nicht beachtet; sie schien geistesabwesend, sie sah und hörte nichts. Im Zimmer war schlechte Luft, aber sie hatte das Fenster nicht geöffnet; aus dem Treppenhaus drang Gestank herein, aber die Tür stand offen. Aus den inneren Räumen, durch die halboffene Tür, zogen Schwaden von Tabakqualm ins Zimmer, sie hustete, machte aber die Tür nicht zu. Die Jüngste, etwa sechs Jahre alt, war eingeschlafen. Sie kauerte auf dem Fußboden, den Kopf gegen das Sofa gelehnt. Der Junge, ein Jahr älter, stand in der Ecke, zitterte am ganzen Leib und weinte. Er hatte offenbar soeben Schläge bekommen. Die Älteste, ein Mädchen von etwa neun Jahren, hochaufgeschossen und dünn wie ein Streichholz, bloß in einem fadenscheinigen, zerrissenen Hemdchen, hatte sich ein abgetragenes Drap-dedames-Mäntelchen, das sicher schon vor zwei Jahren für sie genäht worden war und jetzt kaum noch bis zu den Knien reichte, um die nackten Schultern gehängt und stand in der Ecke neben dem kleinen Bruder. Sie hatte einen langen, spindeldürren Arm um seinen Hals gelegt und schien ihn zu trösten, flüsterte und beschwichtigte ihn, damit er ja nicht von neuem weine, gleichzeitig beobachtete sie ängstlich ihre Mutter aus großen dunklen Augen, die in dem ausgemergelten, erschrockenen Gesichtchen noch größer wirkten. Ohne das Zimmer zu betreten, kniete Marmeladow in der Tür nieder, Raskolnikow aber stieß er hinein. Die Frau sah den Unbekannten, blieb zerstreut vor ihm stehen, kam für einen Augenblick zu sich und schien zu überlegen: Was will er wohl hier? Aber wahrscheinlich sagte sie sich sogleich, daß er in die anderen Zimmer wolle, da das ihrige ein Durchgangszimmer war. Darauf ging sie, ohne ihn weiter zu beachten, auf die Eingangstür zu, um diese nun zu schließen, und schrie plötzlich auf, als sie auf der Schwelle ihren knienden Mann erblickte.

»Ha!« schrie sie völlig außer sich, »du bist wieder da! Zuchthäusler! Unmensch … Wo ist das Geld? Was hast du in der Tasche, zeig her! Das sind andere Kleider! Wo ist dein Rock? Wo ist das Geld? Sprich! …«

Und sie fiel über ihn her, um ihn zu durchsuchen. Sofort hob Marmeladow gehorsam und ergeben die Arme, um die Durchsuchung seiner Taschen zu erleichtern. Es fand sich keine Kopeke. »Wo ist das Geld?« schrie sie, »o Gott, hat er denn alles vertrunken! Es waren noch zwölf Silberrubel in der Truhe! …« Und plötzlich, rasend, packte sie ihn an den Haaren und zerrte ihn ins Zimmer. Marmeladow rutschte, um ihr die Mühe zu erleichtern, demütig auf den Knien nach.

»Und das ist mir eine Lust, das ist mir kein Schmerz, sondern Lu-u-st, m-mein He-e-rr«, stotterte er, während er an den Haaren gerissen und sogar einmal mit der Stirn gegen die Dielen gestoßen wurde. Das Kind, das auf dem Boden geschlafen hatte, wachte auf und begann zu weinen. Der kleine Junge in der Ecke hielt es nicht länger aus, fuhr zusammen, schrie auf und klammerte sich entsetzt, fast wie in einem Anfall, an seine Schwester. Das älteste Mädchen zitterte wie Espenlaub.

»Versoffen! Alles, alles versoffen!« schrie die arme Frau verzweifelt. »Und auch andere Kleider! … Und die sind hungrig, hungrig!« (Sie wies händeringend auf die Kinder.) »Oh, dieses dreimal verfluchte Leben! Und Sie, schämen Sie sich denn nicht?« fuhr sie plötzlich Raskolnikow an, »Ihr wart zusammen in der Kneipe! Hast du mit ihm gesoffen? Du hast es getan! Raus!«

Der junge Mann erwiderte kein Wort und beeilte sich hinauszugehen. Überdies wurde die Verbindungstür aufgestoßen, und einige Neugierige spähten herein. Man sah dreiste, grinsende Gesichter mit Zigaretten oder Pfeifen im Mund und Käppchen auf dem Kopf. Man sah Gestalten in Schlafröcken oder sommerlicher, bis zum Anstößigen nachlässiger Kleidung, manche mit Karten in der Hand. Sie lachten besonders amüsiert, wenn Marmeladow, während er an den Haaren gezerrt wurde, rief, das sei ihm eine Lust. Einige traten sogar ins Zimmer; schließlich hörte man ein unheilverkündendes Kreischen: Es war Amalija Lippewechsel, die sich höchstselbst durch die Menge drängte, um auf ihre Weise Ordnung zu schaffen und die arme Frau zum hundertsten Male durch den schimpflichen Befehl zu erschrecken, schon morgen die Wohnung zu räumen. Beim Hinausgehen fand Raskolnikow gerade noch Zeit, mit der Hand in die Tasche zu fahren, einige Kupfermünzen, die man ihm in der Schenke auf den Rubel herausgegeben hatte, zusammenzusuchen und sie unbemerkt auf das Fensterbrett zu legen. Später, schon auf der Treppe, besann er sich eines anderen und wollte schon umkehren.