Der hölzerne Pharao - Lutz Büge - E-Book

Der hölzerne Pharao E-Book

Lutz Büge

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Beschreibung

Als die Barke mitten auf dem Nil in Höhe der Tribüne an Luxor vorbeifuhr, geschah etwas Seltsames, für Theo Unerwartetes: Tiefes Schweigen erfasste die Menge. In absoluter Stille verfolgten die Menschen, wie einer der Könige ihrer Vorfahren – auch wenn es nur sein hölzerner Stellvertreter war – vorüberfuhr, und Theo kam es vor, als würden die 3300 Jahre, die zwischen Sethos' Tod und diesem Tag lagen, zu einem einzigen Moment verschmelzen."Eine 3300 Jahre alte hölzerne Statue gibt Rätsel auf, die nur mit abenteuerlichen Methoden gelöst werden können. Ein Botschafter a.D. ist in geheimer Mission in Kairo unterwegs, und eine bretonische Detektivin ermittelt gegen den Schurken Bernard Tedritov, der Theo Magenheim und seinen Leuten das Leben schwerzumachen versucht. Derweil geht Theo wieder auf Grabungstour, wieder auf eigene Faust – doch diesmal in Saqqara, dem größten bronzezeitlichen Friedhof der Welt. Eine Schnitzeljagd durch die Ewigkeit beginnt …"Der hölzerne Pharao" ist die Fortsetzung von "Der Osiris-Punkt". Diese Komplettversion enthält die Teile "Einschnitte", "Einblicke" und "Engpässe", in denen "Der hölzerne Pharao" ursprünglich zuerst veröffentlicht wurde.Mehr Information über den Roman finden Sie auf der Homepage von "Ybersinn-Verlag"

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Seitenzahl: 752

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Der hölzerne Pharao

Roman

Inhaltsverzeichnis
Prolog
1. Kapitel
2. Kapitel
3. Kapitel
4. Kapitel
5. Kapitel
6. Kapitel
7. Kapitel
8. Kapitel
9. Kapitel
10. Kapitel
11. Kapitel
12. Kapitel
13. Kapitel
14. Kapitel
15. Kapitel
16. Kapitel
17. Kapitel
18. Kapitel
19.Kapitel
20. Kapitel
21.Kapitel
22. Kapitel
23. Kapitel
24. Kapitel
25. Kapitel
26. Kapitel
27. Kapitel
28. Kapitel
29. Kapitel
30. Kapitel
31. Kapitel
32. Kapitel
33. Kapitel

Prolog

Gizeh

3. April 2014, 17 Uhr

Der Himmel im Westen über der Wüste konnte sich nicht entscheiden, ob er in feurigem Rot glühen oder in fahlem Ocker ersticken wollte. Die Sonne war vor wenigen Minuten untergegangen und hatte ihn mit dieser Frage alleingelassen – das typische Wetter vor einem Sandsturm. Schon lag ein trockener, stickiger Druck über Kairo, und das Herz klopfte dumpf in der Brust.

Nasser el-Kebir hasste dieses Gefühl und freute sich zugleich darüber, weil es bedeutete, dass er lebte. Noch vor kurzem hatte es so ausgesehen, als würde er in den Westen gehen; so hätten es die alten Ägypter ausgedrückt. Doch nun schien er den Krebs überwunden zu haben. Zu diesem Wunder hatte der großartige Fund im Tal der Könige wohl seinen Teil beigetragen. Die Ärzte rieten ihm nun, sich Zeit zu lassen und sich in Ruhe zu erholen. Dann würde er wieder ganz der Alte werden.

Dies war sein erster Abend zu Hause nach langem Krankenhausaufenthalt. Die vergangene Nacht hatte man ihn nach seiner Rückkehr aus Abydos noch dabehalten, doch nun galt er offiziell als wiederhergestellt. Er genoss den Abend, wie er früher seine Abende genossen hatte: auf dem Balkon im ersten Stock seines Hauses in Gizeh, wo er freien Blick auf die großen Pyramiden hatte. Der überwältigende Anblick der uralten Grabmäler, die unzähligen Sandstürmen getrotzt hatten, ermutigte ihn auszuhalten. Er war kein religiöser Mensch, doch er dankte Gott dafür, dass er ihm seine Frau zugeführt hatte, die mit ihm gelitten und um sein Leben gekämpft hatte, und dafür, dass er nun sein Lebenswerk weiter verfolgen durfte: die Katalogisierung aller archäologischen Stätten des alten Ägypten. Morgen würde er wie früher in die Zentrale der Altertümerverwaltung fahren und den Betrieb wieder in Schwung bringen.

Er ließ seinen Blick die Straße entlang gleiten. Die kleine Nasrin von den Selijins, die gegenüber wohnten, beschallte die Gegend mal wieder mit westlichem Technosound. Früher hätte El-Kebir sich über diese Störung der Abendruhe geärgert, aber jetzt lächelte er über die Lebensfreude des Mädchens und über die Provokation, welche die Musik für alle islamistischen Fanatiker bedeutete. Ein Stück weiter die Straße hinab konnte er auf die Terrasse der Attas blicken, wo sich wieder einmal die halbe Familie versammelt hatte. Der alte Atta bestritt noch immer, dass sein ältester Sohn die Attentäter vom 11. September 2001 angeführt hatte.

„Es wohnen noch mehr Verbrecher in dieser Straße“, sagte eine Stimme hinter El-Kebir, die ihm bekannt vorkam. Dieses typische Zischen …

El-Kebir erschrak. Im ersten Moment meinte er, sein Herz bleibe auf der Stelle stehen. Doch es machte nur einen Hüpfer und klopfte dann hektisch weiter.

Langsam drehte er sich um.

Im Korbstuhl bei der Palme, in einer Ecke des Balkons, saß ein Mann in der zunehmenden Dämmerung und musterte El-Kebir höhnisch grinsend. Die scharf vorspringende Nase, der sorgfältig gestutzte Schnurrbart, der akkurate Scheitel, der wache, kühl taxierende Blick aus klaren, mandelförmigen Augen…

“Bernard!”, rief Nasser. “Wie kommst du hierher?”

Bernard Tedritov wies die Straße hinab, als sei damit alles erklärt.

„Noch mehr Verbrecher“, wiederholte er. „Damit meinte ich dich.“

„Was soll das heißen?“

„Natürlich keiner wie Atta“, erwiderte Tedritov. „Kein sogenannter Terrorist, kein Märtyrer – nur ein hundsgemeiner Verräter an Ägypten. Du magst die Carnavaughns, was?“

„Sie sind gute Leute!“

Tedritov schnaubte durch die Nase.

„Belzoni und dieser Magenheim sind Verbrecher – moderne Schatzsucher, die nur an ihre Geldbeutel denken. Sie gehören hinter Gitter. Stattdessen sind sie jetzt weltberühmt. Und wer hat ihnen das ermöglicht?“

„Diese Leute sind Wissenschaftler, keine Grabräuber.“

„Haben sie dich gekauft? Ja, William Carnavaughn ist ein umgänglicher Mensch mit zahllosen Tugenden.“

„Bernard, ich möchte nicht mit dir streiten, ich würde lieber...“

„ ... die Polizei rufen, ich weiß.“ Tedritov lachte verächtlich, erhob sich und trat neben El-Kebir ans Geländer. „Was hast du dir gedacht, den Einbruch dieser Leute in Korridor K nachträglich zu genehmigen? Du hast diese Grabräuber damit vor ihrer gerechten Strafe geschützt.“

„Aus meiner Sicht stellt sich der Fall ein wenig anders dar“, widersprach El-Kebir und rang um Worte.

Er wollte Tedritov nicht provozieren, aber es war offensichtlich, wer den Einbruch eigentlich hatte begehen wollen. Die illegale Aktion der Carnavaughn-Leute hatte El-Kebir nicht geschmeckt, aber sie hatte vor allem dazu gedient, eine andere illegale Aktion zu verhindern. So hatte William Carnavaughn die Sache dargestellt, und El-Kebir glaubte ihm – vor allem nachdem er ein kurzes, harsches Gespräch mit einem ziemlich verstockten Ahmed Nur ed-Din geführt hatte. Die Ermittlungen liefen. Doch mit all dem konnte er Bernard Tedritov jetzt nicht konfrontieren, ohne ihn zu provozieren. Tedritov wirkte auch so schon gereizt, obwohl er die ganze Zeit lächelte.

„Lass uns reden wie vernünftige Leute, Bernard“, sagte El-Kebir daher. „Wir finden sicher eine Lösung. Darf ich dir etwas zu trinken ... Autsch! Was war das?“

„Vermutlich nur ein Insekt“, antwortete Tedritov grinsend.

Doch El-Kebir sah, dass Tedritov einen winzigen metallischen Dorn in seiner Hosentasche verschwinden ließ, wobei er es nicht eilig hatte; er wollte, dass El-Kebir den Dorn sah. Der rieb sich die Stelle am Oberschenkel, wo er gestochen worden war, und starrte Tedritov erschrocken an.

„Was hast du getan?“

„Ich bereinige diese Situation so, wie auch unsere Vorfahren solche Situationen bereinigt haben“, antwortete Tedritov. „Du wirst jetzt in den Westen gehen, und ich werde Direktor der Altertümerverwaltung.“

„Damit wirst du nicht durchkommen.“

„Doch, denn ich wurde niemals als dein Stellvertreter abgesetzt. Dafür haben meine Freunde gesorgt. So kann ich nun absolut selbstverständlich an deine Stelle treten.“

El-Kebir hielt sich mit einer Hand am Geländer fest und griff sich mit der anderen an die Brust.

„Ist dir schwindlig?“, fragte Tedritov grinsend. „Ein Stechen in der Brust? Kraftlose Arme? Ja, sterben ist nicht immer schmerzlos.“

„Ich dachte, wir wären Freunde“, wiederholte El-Kebir mit zitternder Stimme und kämpfte gegen aufsteigende Panik – vergeblich.

„Irren ist menschlich. Ich habe das Gift übrigens nach einem Rezept aus einem alten Papyrus hergestellt. Geringste Mengen genügen. Das geht ans Herz, nicht wahr? Sticht es? Sehr gut.“ Tedritov sah auf die Uhr. „Gleich sollten deine Herzkranzgefäße explodieren. Was soll’s, Nasser – du bist ein alter Mann, du hattest vom Leben ohnehin nicht mehr viel zu erwarten. Dein Atlas der ägyptischen Altertümer wird mir wertvolle Dienste leisten.“ Er legte den Arm um El-Kebir, klopfte ihm auf die Schulter und höhnte: „Wenigstens kannst du auf ein erfülltes Leben zurückblicken. Und dann zuletzt der Höhepunkt dort unten im Grab des Sethos, als der Sarkophag geöffnet wurde. Welcher Glanz, welche Schönheit!“

„Du bist ... wahnsinnig“, stammelte El-Kebir und knickte in den Knien ein. Tedritov fing ihn auf und trug ihn zu dem Korbstuhl. El-Kebirs Stimme versagte. Ein Stoß ging durch seine Brust, brennender Schmerz durchzuckte ihn, sein Herz pochte rasend. Er riss die Augen auf und schnappte nach Luft, wollte nach seiner Frau rufen, um Hilfe schreien, doch er war völlig hilflos.

„Oh, entschuldige, ich stehe im Weg“, sagte Tedritov mit ruhiger Stimme und trat beiseite. „Sieh nur, wie schön. Das letzte Licht des Tages!“

El-Kebirs Blick brach, als er zum letzten Mal auf die Pyramiden fiel. Der Himmel hatte sich nun doch für ein sattes, rotes Nachglühen entschieden. Vielleicht würde der Sandsturm an Kairo vorbeiziehen.

1. Kapitel

3. April 2014, 3 Uhr

Carnavaughn House

Luxor, Oberägypten

Theo wusste, dass er träumte. Er wollte aufwachen, er wollte nicht in diesem Korridor sein. Dort war es eng und heiß, er schwitzte fürchterlich, und seine Kehle brannte vor Durst, doch er konnte nicht fort, er konnte nicht aufwachen. Was aber das Schlimmste war: Der Korridor war in bröseligen Schiefer geschlagen und drohte einzustürzen, und seine Wände wollten Theo zerquetschen. Immer näher rückten sie. Theo hatte die Arme zu beiden Seiten ausgestreckt und die Hände gegen die Wände gestemmt, doch was war sein bisschen Muskelkraft gegen die dumpfe Wucht eines ganzen Gebirges? Es war ein aussichtsloser Kampf. Er hörte, wie der Fels schon knirschte. Und wie sollte er außerdem auch noch die Decke des Korridors abstützen? Er hatte nur zwei Arme und zwei Hände.

Serafina und Mohammed waren bei ihm, hinter ihm, er konnte nicht sehen, was sie machten. Er hätte die Arme senken müssen, um sich zu ihnen umdrehen zu können, denn einfach seinen Kopf zu drehen, das funktionierte nicht. Seine Blicke waren wie an den Boden vor seinen Stiefelspitzen genagelt, so wie seine Hände wie an den Fels geklebt schienen. Er konnte sie nicht losreißen. Dabei hatte er das beängstigende Gefühl, dass es nötig wäre, jetzt, gerade jetzt den Kopf zu heben und einen Blick in den Korridor jenseits der Stiefelspitzen zu werfen, denn irgendetwas war dort. Dort war es finster, sehr finster.

Wahrscheinlich räumten Serafina und Mohammed Gestein beiseite, um noch tiefer in den Korridor vorzudringen. Sie waren wie besessen von dieser Idee, sie wollten immer tiefer hinein, als wüssten sie nicht, dass es dort noch enger und gefährlicher sein würde als hier. Das war nicht der richtige Weg. Einen anderen Weg allerdings gab es nicht, es gab nur den Ort, an dem sie jetzt waren, und den, woher sie gekommen waren, aber weder konnten sie hier weg, noch konnten sie dorthin zurück. Dort war die Gefahr noch größer, dort lauerte der Schatten. Finster war es dort, und in der Dunkelheit bewegte sich etwas, was noch finsterer war als die Finsternis. Etwas, vor dem man weglaufen musste. Es kam geradewegs den Korridor entlang, es war Theo gefolgt und kam auf ihn zu. Ein Eishauch ging von ihm aus, der die Hitze im Korridor unterwanderte und langsam an Theo heraufkroch.

Serafina und Mohammed redeten hinter ihm miteinander, er konnte sie raunen hören. So hatten sie schon immer geredet, als wollten sie nicht, dass er verstand, was sie sagten, aber er war nicht taub.

„Weg hier, fort von hier, weg von hier, fort hier“, so redeten sie die ganze Zeit, während sie sich in den Korridor vorzuarbeiten versuchten; dabei kamen sie keinen Millimeter vorwärts. Das wusste Theo, ohne es sehen zu müssen.

Seine Arme zitterten, und eine unsägliche Angst nahm ihm den Atem, als schlösse sich eine eisige Riesenfaust um seinen Hals. Was war das, was da durch den Korridor auf ihn zukam?

Aufwachen! Ich muss aufwachen!

Es kam näher, immer näher, und Serafina und Mohammed raunten immer hastiger, aber sie hatten keine Chance.

„Fort, nur fort von hier, weg, fort mit uns, weg von hier.“

Theo keuchte und rang um Atem. Er fühlte die Nähe von etwas Entsetzlichem. Er musste weg von hier. Aber wenn er jetzt den Kampf aufgab, würde der Korridor zusammenbrechen und sie verschütten. Hatte er denn eine Wahl?

Man hat immer eine Wahl!

Nein, in diesem Fall nicht. Es war aussichtslos. Es war ein Traum, aber es war echt.

„Fort von hier, weg mit uns …“

Inzwischen konnte er Serafina und Mohammed klar und deutlich hören. Sie raunten nicht mehr, sie riefen, nein, sie schrien. Ihnen blieb keine Zeit mehr. Das Grauenhafte war gleich da. Namenlose Furcht packte Theo. Wenn er jetzt den Kopf heben würde, könnte er es vielleicht sehen, aber er konnte seine Blicke immer noch nicht vom Boden lösen. Er fühlte es jetzt so stark, dass seine Brust weh tat.

„Weg von hier!“, brüllten Serafina und Mohammed, und von Panik übermannt löste Theo seine Hände von den Wänden des Korridors und wollte sich zu seinen Freunden umdrehen …

… und saß im nächsten Moment in der Dunkelheit. Sein Herz klopfte bis zum Hals, er schnappte nach Luft, sein Körper war schweißüberströmt.

Wo bin ich?

In seiner Panik suchte er mit den Händen nach Halt. Irgendwo mussten doch die staubigen, bröselnden Wände sein, mit denen er eben noch gerungen hatte. Stattdessen war da etwas Weiches, in das sich seine Finger krallten. Sonderbarerweise wusste er sofort, dass es sich um ein Bettlaken handelte. Es war still, abgesehen von einem leisen Schnarchen in seiner Nähe, und dort hinten war ein großes Rechteck, von dem eine gewisse Helligkeit ausging.

Er war nicht mehr in dem Korridor.

Dann ertastete er etwas Warmes, Weiches.

Eine nackte menschliche Schulter.

Sonja!

Ich habe nur geträumt!

Er erinnerte sich, dass er dies sogar während des Traums gewusst hatte. Langsam, ganz langsam nur stellte sich das Bewusstsein für die Wirklichkeit wieder ein, und das namenlose Grauen, das durch den Korridor auf ihn zugekommen war, kroch widerstrebend von ihm fort. Doch Theos Haare sträubten sich noch immer.

„Was ist denn los?“, nuschelte Sonja, von der Berührung ihrer Schulter geweckt.

„Nur ein Traum“, antwortete er sanft und leise, so gelassen er konnte, und zog die Hand von ihr weg, um sie nicht vollends aufzuwecken. „Ein schlechter Traum.“

„Ach so“, nuschelte Sonja und schnarchte im nächsten Moment schon wieder dieses leise Schnarchen, das er inzwischen vermisste, wenn sie nicht bei ihm schlafen konnte.

Theo hauchte in der Dunkelheit einen Kuss auf ihre Schulter und stand dann vorsichtig auf. Nach einigem Tasten fand er seine Shorts, streifte sie über und wankte durch das dunkle Zimmer auf das helle Rechteck zu. Inzwischen wusste er wieder, wo er sich befand. Das Rechteck war ein Fenster mit geschlossenen Vorhängen – und zugleich die Tür zum Balkon auf der Rückseite von Carnavaughn House im Obergeschoss über der Veranda.

Theo zog leise den Vorhang beiseite, öffnete vorsichtig die Tür und trat hinaus in die Nacht. Erleichtert atmete er die kühle, wüstenhafte Nachtluft ein. Er lief Gefahr, sich zu erkälten, denn er war verschwitzt, und die Temperatur der Luft lag sicher nicht über zehn Grad, doch das war ihm im Moment gleichgültig. Ihm war immer noch heiß von der Hitze und der klaustrophobischen Enge im Korridor. Immerhin ließ der Eindruck von Atemnot rasch nach, als nun die kühle, wohlriechende Nachtluft in seine Lunge strömte. Die Weite des Nachthimmels, die Kälte und das kühle, distanzierte Glitzern der Sterne taten ihm gut.

Ägypten …

Der rotbraune Mond stand tief im Westen über den Hügeln des Jenseits und über den Gräbern der alten Ägypterkönige in ihrem Friedhofstal, und Luxor lag schlafend da. Selbst der paradiesische Garten von Carnavaughn House, der sich vor Theo ausbreitete, war jetzt still, ja, sogar die Grillen schliefen.

Theodor Magenheim, was hast du da für einen Scheiß geträumt? Komm runter! Korridor K liegt komplett hinter dir.

Er beruhigte sich dennoch nur langsam.

Wie aus einem anderen Leben …

Der Gedanke gefiel ihm. Ja, Korridor K und alles, was dort geschehen war, lag weit, weit hinter ihm. So weit, dass er kaum noch daran gedacht hatte. Es hatte für ihn wahrlich genug zu tun gegeben seit der Entdeckung der Felsenhalle mit dem unberührten Sarkophag, so dass es ihm leichtgefallen war zu verdrängen, unter welchen Gefahren er in die Felsenhalle gelangt war.

Das hätte auch schiefgehen können. Wenn Tedritov die Handgranate geworfen hätte …

Wieder sträubten sich ihm die Haare, und er blickte rasch über die Schulter in das dunkle Zimmer, doch dort war nur Sonjas leises Schnarchen, nichts Bedrohliches.

Denk an etwas Schönes, Theo!

Das hatte ihm seine Mutter immer geraten, wenn er als Kind Albträume gehabt hatte, und es hatte meistens funktioniert. Auch jetzt, denn die Eindrücke von den gestrigen Ereignissen waren noch frisch. Wenige Stunden erst war es her, dass er den Sarkophag dort unten in der Felsenhalle tief unter dem Tal der Könige geöffnet und darin die lebensgroße, hölzerne Statue des Sethos gefunden hatte, geschmückt mit einer überirdisch schönen goldenen Totenmaske. Es war der bedeutendste Fund eines altägyptischen Grabschatzes, seit Howard Carter vor mehr als neunzig Jahren das Grab des Tut-ench-Amun geöffnet hatte, und er, Theo, war der Entdecker.

Zweieinhalb Milliarden Menschen waren live dabei. Fast ein Drittel der Weltbevölkerung!

Die Entdeckung der Felsenhalle bedeutete einen Einschnitt für ihn. Sein Leben hatte sich seitdem völlig verändert. Er war über Nacht berühmt geworden, ein Entdecker in einer Reihe mit historischen Persönlichkeiten wie Carter und Giovanni Belzoni, aber anders als damals gab es heute global vernetzte Medien, die ihm gewissermaßen über die Schulter geschaut hatten, als er den ersten Blick in den soeben geöffneten Sarkophag geworfen hatte, und seine Worte um die Welt getragen hatten:

„Dieses Grab ist zugleich echt und ein Scheingrab. Der große Sethos lässt sich hier durch einen Ersatzmann vertreten.“

Die Erinnerung an Korridor K hingegen gehörte zum Leben davor, auf das er zurückblicken konnte wie auf ein anderes Leben, das nichts mehr mit ihm zu tun hatte. Sein abgebrochenes Studium, Ilona, die Bar Katarakt in Berlin, wo er als Barkeeper gearbeitet hatte – wenn er wollte, konnte er dieses Leben zusammenknüllen wie ein beschriebenes, vergilbtes Blatt Papier und es wegwerfen. Es interessierte niemanden mehr. Er war jetzt ein anderer, ein berühmter Entdecker, der Bücher schreiben, Interviews geben und im Fernsehen auftreten würde. Vielleicht würde er sogar selbst Filme drehen, spannende Filme über das alte Ägypten. Er hatte schon damit angefangen, an einem Buch zu arbeiten. Das Skript war bisher elf Seiten lang und trug den Arbeitstitel „Das zweite Osireion“. So nannte er die Felsenhalle des Sethos. Es gab bereits Anfragen von Literaturagenten, die einen Millionenseller erhofften. Wenn Theo sich jetzt nur halbwegs geschickt anstellte, würden die Zeiten, da er praktisch von der Hand in den Mund gelebt hatte, für immer vorbei sein. Das war ein gutes Gefühl, ein richtig gutes.

Früher hatte er kaum jemals über den nächsten Tag hinausgedacht. Warum auch? Ein Tag war wie der andere gewesen, und er hatte mit Gewissheit davon ausgehen können, dass es immer so weitergehen konnte und auch weitergehen würde. Es war ein freies Leben gewesen, freier als das Leben vieler Menschen, weil Theo sich stets offengehalten hatte, etwas anderes zu tun, wenn er Lust darauf hatte und wenn sich die Gelegenheit bot. Doch zugleich war es ein Leben der begrenzten Möglichkeiten gewesen, denn viele Dinge, die er gern getan hätte, waren allein schon aus finanziellen Gründen ausgeschlossen gewesen. Zudem hatte er sich damals an Ilona gebunden.

Nein, es hätte nicht immer so weitergehen können.

Auch deswegen nicht, weil er inzwischen Mitte dreißig war. Natürlich war dies ein Gedanke, den er früher, in den unbeschwerten Zeiten, lachend von sich geschoben hätte, doch an der biologischen Tatsache, dass er älter wurde, kam er nicht vorbei. Sein Leben war ernster geworden.

Jetzt war er mit Sonja zusammen, seiner Sonja. Früher, in seinem ersten Leben, hätte er kaum mehr als eine leckere Abwechslung in ihr gesehen. Doch jener ersten Nacht im Hotel Osiris waren weitere Nächte und auch Tage gefolgt, und zu seiner Überraschung hatte Theo festgestellt, dass Sonja ihn immer mehr interessierte, je besser sie sich kennenlernten. Sie hatte eine wunderbar unbeschwerte Art, ihn auf den Arm zu nehmen, und man konnte herrlich mit ihr lachen in den zärtlichen Pausen. Inzwischen hielt er sie nicht mehr für zu jung, obwohl mehr als ein Jahrzehnt an Lebensjahren zwischen ihnen lag.

Vielleicht würden sie tatsächlich noch ein echtes Paar werden. Theo bedauerte, dass sie es bisher nicht geschafft hatten, ausreichend viel Zeit allein miteinander zu verbringen. Dem stand Theos neues Leben im Weg. Und auch Sonjas Leben unterlag äußeren Zwängen. Nachdem ihr Praktikum mit dem Ende der Grabungssaison abgelaufen war, hatte sie zum Studium nach Berlin zurückkehren müssen. Dass sie jetzt in seinem Bett lag und leise vor sich hin schnarchte, lag daran, dass sie vorgestern zusammen mit ihrem besten Freund Fred nach Luxor zurückgekehrt war, um bei der Öffnung des Sarkophags dabei zu sein. Zwei Wochen lang hatten Theo und Sonja sich nicht gesehen. Er wäre gern zu ihr nach Berlin geflogen, aber der Wirbel um das Sethos-Grab und all die Vorbereitungen, die getroffen werden mussten, hatten ihm keine Luft gelassen. Umso leidenschaftlicher war das Wiedersehen mit Sonja verlaufen. Zum Glück war der Schulterdurchschuss, den sie im Kampf um das Sethos-Grab in Abydos erlitten hatte, inzwischen sauber verheilt.

Und jetzt, nach der Öffnung des Sarkophags – was liegt jetzt vor mir?

Eines stand jedenfalls fest: Korridor K lag hinter ihm. Er hatte ihn überwinden müssen, um in dieses neue Leben starten zu können, und es war ihm gelungen. War das nicht eine gute Nachricht? Warum suchten ihn diese düsteren Erinnerungen ausgerechnet jetzt heim? Weil der Sarkophag jetzt geöffnet war und die Anspannung von Theo abfiel?

Theo seufzte und sah hinauf zu den Sternen – denselben Sternen, die auch schon vor dreieinhalb Jahrtausenden über diesem Land gestrahlt hatten, zu jener Zeit, als Sethos hier gelebt und geherrscht hatte. Ob auch dieser Mensch, dieser Gottkönig, von solchen Albträumen heimgesucht worden war? Wenn ja, waren sie vermutlich als göttliche Botschaften gedeutet worden.

In den vergangenen Wochen war Theo wieder und wieder in das Grab hinabgestiegen, um alles zu untersuchen und die Vorbereitungen für die Öffnung des Sarkophags zu treffen. Er hatte sich der Enge dort unten gestellt, ohne dass es auch nur Anwandlungen von Beengung und Angstattacken gegeben hätte. Eine gewisse Beklemmung vielleicht, ja – aber war das nicht völlig normal angesichts der Tatsache, dass er die ewige Ruhe eines toten Königs störte, der seit einer halben Ewigkeit einen Viertelkilometer tief im Fels des thebanischen Gebirges in jener Felsenhalle bestattet gewesen war?

Diese Beklemmung war ein gesunder Reflex, der ihn jedoch nicht daran hinderte, sich auf den nächsten Besuch dort unten zu freuen. Denn natürlich musste die Statue untersucht werden, die sie in dem Sarkophag gefunden hatten. Die Öffnung des Sarkophags war das eine, die Statue das andere. Sie warf Fragen auf, viele Fragen, und Theo wollte natürlich herausfinden, was es mit ihr auf sich hatte. Es gab jetzt keinerlei Gefahr mehr dort unten. Niemand würde erneut damit drohen, eine Handgranate zu zünden. Bernard Tedritov war seit jener Nacht wie vom Erdboden verschluckt.

Aber er wird irgendwann wieder auftauchen.

Die meisten Mitglieder des Teams schienen das nicht zu glauben, und in der Tat war das Sündenregister des stellvertretenden Direktors lang genug, dass Theo an Tedritovs Stelle dauerhaft das Weite gesucht hätte. Charles etwa hatte das Problem abgehakt, ebenso Serafina Belzoni, die Nachfahrin des großen Belzoni. Aber William Carnavaughn, Charles’ Vater, dachte anders darüber. Er hielt es für möglich, dass ihnen von Tedritov weiteres Ungemach drohen könnte. Theo hatte großen Respekt vor dem klugen, bedächtigen William, dem Botschafter a.D. Ihrer Majestät.

Auch Theo hatte das Gefühl, dass die Sache mit Tedritov noch nicht ausgestanden war. Er konnte es nicht begründen, doch irgendetwas stimmte nicht. Tedritov war ein Täuscher, wenn Theos Eindrücke von diesem Mann stimmten, ein Schwindler, ein Spieler. Es war dort unten im Korridor K gewesen, in einem Moment höchster Atemnot, als eine schalkhafte Windung in Theos Hirns sich erlaubt hatte, ihn ausgerechnet im diesem Moment mit einer Art Buchstabensuppe zu überraschen. In der Tat: Wenn man die Buchstaben des Namens Tedritov anders anordnete, kam „Drovetti“ heraus, ein Name wie aus einer anderen Zeit, der Name eines französischen Diplomaten, der sich vor zweihundert Jahren mit Serafina Belzonis berühmtem Vorfahren einen Wettlauf um ägyptische Altertümer geliefert und dabei selbst vor dem Einsatz härtester Bandagen nicht zurückgeschreckt hatte. Ein Anagramm! Nimm die Buchstaben und stelle sie in eine andere Reihenfolge, und schon … Das mochte reiner Zufall sein, doch William Carnavaughn hatte Theos sonderbare Idee sehr ernst aufgenommen, und Charles hatte sogar eine Detektivin damit beauftragt, Tedritovs Herkunft zu erforschen.

Serafina hingegen hatte gesagt:

„Tedritov ist weg. Was interessiert mich Drovetti?“

Knapp, präzise, abschließend. So war Serafina, und dem war nichts hinzuzufügen. Ob der Name Tedritov nur Tarnung war oder ob sich dahinter wirklich ein Drovetti verbarg, also ein Nachfahre jenes französischen Diplomaten – welche Rolle spielte das?

Diese Geschichte wäre dann größer, als sie auf den ersten Blick zu sein scheint.

Theo wusste nicht, was er glauben sollte, doch er hielt es für klug, auf alle Eventualitäten vorbereitet zu sein. Es konnte nicht schaden, Informationen über Tedritov zu sammeln. Er gehörte zweifellos zu Theos neuem Leben.

Diese Geschichte wäre dann größer …

Der Gedanke beschäftigte ihn, denn für seinen Geschmack war diese Geschichte schon groß genug. Sie war eine Abfolge unwahrscheinlicher Ereignisse, der jedoch eine gewisse Stimmigkeit innewohnte. Dass er die Felsenhalle am Ende von Korridor K gefunden hatte, war das mehr oder weniger direkte Resultat der Entdeckung des Sethos-Grabes in Abydos, dessen Lage Theo in Gestalt des Osiris-Punkts bestimmt hatte. Er wäre jedoch nie in die Lage gekommen, nach dem Osiris-Punkt zu suchen, wenn die Carnavaughns ihn nicht dafür engagiert hätten, und das wiederum war das Ergebnis langer Jahre, in denen er sich voller Vergnügen autodidaktisch zum Sethos-Experten ausgebildet hatte. Wenn er genau und gerecht war, hatte er diese Ausbildung bereits im Alter von fünf Jahren begonnen, denn von Kindesbeinen an hatte er alles verschlungen, was auch nur entfernt mit dem alten Ägypten zu tun hatte. Das konnte man nicht als Berufsausbildung bezeichnen, und es hatte tatsächlich genug Menschen gegeben, die darin lediglich einen Spleen gesehen hatten. Ilona etwa, seine Ex, die Theos Interesse am alten Ägypten einmal als Inselbegabung bezeichnet hatte, in der Spätphase ihrer Beziehung, als an die Stelle von Liebesbekundungen die Lust auf Zynismus und Verletzungen getreten war. Auch die Missachtung und das mitleidige Lächeln seiner früheren Mitschüler hatten in dieser Kette von Ereignissen ihren stimmigen Platz. Sie hatten sich alle geirrt.

Doch das alles wäre nicht passiert, wenn Theo sich damals, vor gut einem Jahr, nicht auf das Abenteuer eingelassen hatte, als freiberuflicher Fremdenführer nach Ägypten zu gehen. Nur so hatte er zur Stelle sein können, als im Tempel von Abydos der Papyrus gefunden worden war, der alle weitere Entwicklung angestoßen hatte. Theo grauste vor dem Gedanken, er wäre damals weniger abenteuerlustig gewesen. Im Nachhinein wunderte er sich dennoch über die Leichtigkeit, mit der er sich auf das Wagnis eingelassen hatte!

So kam alles zusammen: Talent, Intuition, Wissen und Zufall ergaben eine Mischung, aus der etwas Besonderes entstanden war. Theo hatte ohne langes Nachdenken etwas getan, wovon Millionen Menschen auf diesem Planeten träumten: Er war zum Entdecker geworden.

Das nennt man wohl Pioniergeist.

Und jetzt war er hier, und das war gut so – Tedritov hin, Albtraum her. Er atmete die kühle, trockene Nachtluft Luxors. Im Moment war keine Gefahr, keine Bedrohung zu erkennen, im Gegenteil: Er konnte sich auf ein Leben freuen, wie er es sich immer gewünscht hatte, ein Leben, in dem er seinen wahren Neigungen und Interessen nachgehen konnte. Zudem war er von tatkräftigen, mächtigen Leuten umgeben, die ihn schützen und unterstützen würden.

Er ging ins Zimmer zurück, schloss die Balkontür hinter sich, zog den Vorhang zu und streifte seine Shorts ab. Dann tastete er sich durch das dunkle Zimmer zum Bett vor und schmiegte sich an Sonjas nackte Rückseite, doch sie zuckte vor ihm zurück.

„Du bist kalt“, nuschelte sie schlaftrunken.

„Dann wärm mich“, flüsterte er in ihr Ohr.

„Bin ich deine Wärmflasche?“

Da zog er sie einfach zu sich heran. Erst quietschte sie entsetzt.

***

Seit dem Aufwachen hatte Theo Kopfschmerzen. Ein dumpfer Druck lag über Luxor. Für den Abend war ein Sandsturm angekündigt, der über Mittel- und Nordägypten ziehen würde, dessen Auswirkungen aber auch in Luxor zu spüren waren. Die Sonne hatte größte Probleme, die Staubwolken zu durchdringen, die der nahende Orkan in hohen Schichten der Atmosphäre vor sich hertrieb. Die Stadt wirkte wie in braune Farbe getunkt, jegliches Grün und Blau war ausradiert. Felder, Palmen und Haine sahen aus wie uralten, vergilbten Fotografien entsprungen, und der Nil floss bleiern dahin, ohne dass seine Wasserfläche auch nur vom leisesten Windhauch aufgeraut wurde. Die Luft war staubtrocken und stickig, und es wurde schnell unangenehm heiß.

Normalerweise kamen Sandstürme dieser Kategorie erst später im Jahr auf, doch solche Gesetze schienen in Zeiten des Klimawandels nicht mehr zu gelten. Es war nicht das erste Mal, dass Theo einen Sandsturm erleben musste, aber dieser hier war ihm – vor allem nach dieser unruhigen Nacht – besonders unangenehm. So war er geradezu erleichtert, als er zusammen mit den anderen wieder in die kühle Tiefe unter dem Tal der Könige hinabsteigen konnte, auch wenn ihm die steile Rampe, die inzwischen durch Halteseile gesichert wurde, heute noch anstrengender als sonst vorkam.

Raste sein Puls wirklich nur vor Anstrengung, als er über die Strickleiter durch den schmalen Spalt hinabkletterte in die Felsenhalle? Das war der unangenehmste Abschnitt der ganzen Kletterei. Theo atmete auf, als er mit beiden Beinen auf dem Gerüst stand, das seitlich am Sarkophag aufgestellt worden war, unter anderem, um die Motorwinden zu platzieren, die sie gestern gebraucht hatten, um den schweren Deckel des Sarkophags und die inneren Särge anzuheben.

Serafina Belzoni, die vor ihm hinabgestiegen war, musterte ihn kritisch. Ihr war keinerlei Anstrengung anzumerken, sie wirkte kraftvoll und athletisch wie immer. Sie hatte ihre langen, braunen Haare zu einem Pferdeschwanz gebunden.

„Alles in Ordnung, du Meister der Grabschändung?“, fragte sie.

Theo seufzte. Serafina war berüchtigt für ihre nadelspitzen Provokationen, doch fühlte sich Theo, der normalerweise ebenfalls nicht auf den Mund gefallen war, momentan zu ausgepumpt, um angemessen zu parieren. Alles, was von ihm zurückkam, war ein lahmes:

„Klar doch!“, das nicht halb so beiläufig klang, wie er es wünschte.

Serafina runzelte die Stirn.

„Mit dem falschen Fuß zuerst aufgestanden?“

„Er hat schlecht geträumt“, sagte Sonja, die nach Theo herabgestiegen war. „Geht doch mal bitte weiter. Ich will runter von diesem wackligen Gerüst.“

Tatsächlich war das Gerüst stabil und sicher zwischen Decke und Boden der Halle eingeklemmt und schwankte nicht einmal um Millimeter, doch Sonja litt unter Höhenangst, und der Blick durch das Stahlgitter der Gerüstböden machte sie nervös.

Höhenangst in dieser Tiefe!

„Du hättest in Carnavaughn House bleiben können, wenn es dir nicht gutgeht“, sagte Bill Sheridan zu Theo, ohne ihn anzusehen. Seine Blicke glitten über die in der Halle ausgebreiteten Fundstücke aus dem Sarkophag, und seine Augen blitzten vor Unternehmungslust.

Auch Charles Carnavaughn und sein Vater William kletterten herab, letzterer flink wie eine Katze. Er bewältigte die Strickleiter mit einer Leichtigkeit, als wäre er 25 und nicht beinahe 70 Jahre alt.

Ihm folgten Sonjas Kommilitone Fred und Samuel Feuchtwanger, der Restaurator von Luxor Archaelogical Research, dem Forschungsinstitut der Carnavaughns. Eigentlich arbeitete Sam zusammen mit seiner Frau Pam in London unter Hochdruck an der Rettung und Restaurierung des Papyrus’, den Theo auf dem Areal des Sethos-Tempels in Abydos gefunden hatte. Die beiden Wissenschaftler hatten angekündigt, bald erste Ergebnisse zu präsentieren; der Papyrus sei so gut wie reif, um weiter ausgerollt zu werden. Dennoch war Sam natürlich gern hergeflogen, um bei der Öffnung des Sarkophags zu assistieren.

Dieses Grab war eine Großleistung der alten Baumeister – und der Sklaven, die unmenschlich harte körperliche Arbeit geleistet haben mussten. Die Architekten hatten die Felsenhalle so exakt geplant und angelegt, dass zu Zeiten der Nilschwemme Grundwasser eindrang und einen künstlichen See erzeugte, in dessen Mitte der Sarkophag auf seinem Sockel ruhte wie auf einer Insel. So wurde die mystische Situation aus einer Phase der Erschaffung der Welt simuliert, als es noch nichts gegeben hatte außer dem Urozean Nun, aus dem der Urhügel aufstieg, in völliger Finsternis, vor der Erschaffung des Lichts. Als Theo, Serafina und Mohammed die Halle entdeckt hatten, war ihr Boden jedoch zehn Zentimeter tief mit Wasser bedeckt gewesen – eine Folge des Assuan-Staudammes, der dafür sorgte, dass der Grundwasserspiegel entlang des Niltals konstant höher war als zu pharaonischen Zeiten. Seit rund 40 Jahren musste sich permanent Wasser in der Halle befunden haben. Wie schwer insbesondere die Pfeiler davon in Mitleidenschaft gezogen waren und ob sie den Zweck, zu dem sie einmal erschaffen worden waren, noch länger erfüllen konnten, darüber herrschte bisher keine Einigkeit. Das war ein weiterer Grund dafür, warum das Gerüst aufgebaut worden war: Es sollte unter anderem die Decke der Felsenhalle zusätzlich abstützen und die Pfeiler damit ein wenig entlasten.

„Ich finde dieses Gerüst zum Kotzen“, schimpfte Serafina dennoch. „Diese Decke hat fast dreieinhalb Jahrtausende gehalten. Sie wird jetzt nicht von einem Tag auf den anderen einbrechen.“

„Wir müssen vorsichtig sein, Serafina“, widersprach Charles Carnavaughn mit sanfter Stimme. Der junge Adlige sprach leiser als sonst und argumentierte wie gewohnt bedächtig.

„Wir hatten dieses Thema ausdiskutiert“, merkte Bill Sheridan leicht genervt an, streifte Serafina mit einem tadelnden Blick, den sie mit einem Schulterzucken kommentierte, und wandte sich dann an Charles. „Ich frage mich eher, was wir wegen Mohammed machen sollen.“

Sie waren um zehn Uhr am Eingang des Grabes verabredet gewesen, beim Wachposten oben im Tal der Könige. Nachdem Mohammed, der Sohn des Scheichs der Rassul, eine Viertelstunde später immer noch nicht erschienen war und auch nicht auf Anrufe reagierte, hatten sie beschlossen, nicht länger zu warten, zumal derjenige der Wachleute, der den Rassul angehörte, keine Auskunft darüber geben konnte oder wollte, wo Mohammed blieb.

Die Wachmannschaft bestand aus insgesamt 18 Männern – je sechs vom Wachdienst der Altertümerverwaltung, der Carnavaughns und der Rassul. So war es seinerzeit ausgehandelt worden, damit alle beteiligten Parteien nicht nur das Grab, sondern auch die anderen Parteien ausreichend im Blick hatten. Sie teilten sich den Dienst in drei Schichten. Drei Mann, je einer von einer der Parteien, wachten oben am Eingang des Grabes, und noch einmal drei Mann behielten den Sarkophag in der Felsenkammer im Auge.

Mit finsteren Blicken hatte der Wachmann der Rassul ihren Einstieg in das Grab verfolgt, und mit ebenso finsteren Blicken begrüßte der zweite Rassul sie hier unten am Sarkophag. Er war muskulös und breitschultrig und sah nicht so aus, als würde er im Zweifelsfall lang fackeln. Theo versuchte, so zu tun, als beachte er den Mann nicht. Zum Glück waren noch zwei andere Wachmänner hier unten. Der von der Altertümerverwaltung würde ihnen keine große Hilfe sein, sollte es zu einer Auseinandersetzung kommen. Anders der Mitarbeiter von Carnavaughn Security. Sein Name war Brian Collins, ein früherer Elitesoldat des britischen Special Air Service. Brian hatte in den Kämpfen um das Sethos-Grab in Abydos eine große Rolle gespielt.

Charles sah noch einmal auf die Uhr und zuckte dann ratlos die Schultern.

„Ich habe Mohammed zweimal auf die Sprachbox gesprochen“, sagte er.

„Aber wieso lässt er uns hängen?“, fragte Bill. „Das gefällt mir nicht. Er sollte hier sein. Er gehört dazu.“

„Mohammed ist ein erwachsener Mann“, sagte Serafina ungeduldig. „Er weiß, wie man ein Telefon benutzt oder eine SMS schreibt. Oder weißt du, Abdul, was mit ihm los ist?“

Mit dieser Frage wandte sie sich direkt an den Rassul-Wachmann, der sie misstrauisch beobachtete. Abdul runzelte die Stirn. Ansonsten bestand seine einzige Reaktion darin, dass er die muskulösen Arme vor seiner breiten Brust verschränkte und die Lippen zusammenkniff. Es war offensichtlich, dass sie von ihm nichts erfahren würden.

„Fangen wir also ohne Mohammed an“, sagte Serafina daraufhin unbekümmert.

„Ich hoffe, die Rassul werden das nicht als Bruch unseres Paktes deuten“, merkte Bill an.

„Wir können ja nachher zu ihm fahren und uns entschuldigen, wenn du diesem Grabräuber-Söhnchen unbedingt in den Arsch kriechen willst“, knurrte Serafina.

Bei aller Sympathie für den jungen Ägypter – Serafina konnte es nicht ausstehen, wenn Verabredungen nicht eingehalten wurden. Sie selbst war die Zuverlässigkeit in Person. Ihren letzten Fehler hatte sie vor rund einem Monat gemacht, als sie die Beaufsichtigung der Sondierungsarbeiten am Tempel in Abydos ihrem Vorarbeiter überlassen hatte, um selbst nach Luxor zu fahren und mit Charles zusammenzusein. Dafür hatte Ahmed Nur ed-Din, damals noch Inspektor der Altertümerverwaltung, ihr die Grabungslizenz entzogen. Der Fehler verfolgte sie bis auf den heutigen Tag, wie sie Theo neulich in einem ihrer weichen Momente erzählt hatte.

Charles wirkte unentschlossen. Er suchte Blickkontakt zu seinem Vater, der sich daraufhin einschaltete und sagte:

„Die Botschaft ist deutlich genug. Mohammeds Fernbleiben bedeutet, dass unser Bündnis mit den Rassul nicht mehr existiert. So wie ich es einschätze, hat der Scheich der Rassul dem Pakt ohnehin nur zähneknirschend zugestimmt.“

„Und dann hat er gestern im Fernsehen verfolgt, welche Schätze wir hier gefunden haben“, fügte Charles hinzu. „Allein die goldene Totenmaske ist viele Millionen Pfund wert.“

„Er war doch eingeladen, dabei zu sein“, sagte Serafina.

„Er ist aber nicht gekommen“, konterte Charles trocken.

„Vielleicht weil er zu stolz dafür ist“, überlegte Bill.

„Die Totenmaske ist auf dem Antiquitätenmarkt unverkäuflich“, behauptete Serafina. „Jeder halbwegs vernünftige Hehler wird die Finger von diesem absolut einmaligen Stück lassen. Der Scheich könnte sie sich höchstens in seinem Wohnzimmer an die Wand hängen. Zu mehr ist sie für ihn nicht zu gebrauchen.“

„Ich glaube, wir brauchen das nicht länger zu diskutieren“, sagte Theo. „Wir sollten jetzt mit der Arbeit anfangen, und wenn wir fertig sind, fahren wir nach El-Qurna und fragen Mohammed einfach persönlich.“

„Du warst von Anfang an kein Freund dieses Bündnisses“, sagte Charles zu seinem Vater.

„Es war ein Zweckbündnis gegen Tedritov“, entgegnete William, „und darum hatte es seine Berechtigung. Aber zurzeit stellt Tedritov keine Bedrohung dar. Jedenfalls scheinen die Rassul das zu glauben. Also brauchen sie auch das Bündnis nicht mehr.“

„Dann müssen wir die Schätze aus dem Sarkophag und die Statue von hier fortschaffen“, folgerte Charles. „Sie sind hier nicht mehr sicher.“

„Eins nach dem anderen, schlage ich vor“, schaltete Bill sich wieder ein. „Ich denke darüber wie Theo: Wir sollten uns nun die Statue genauer anzusehen. Kriegsrat können wir später noch halten. Einverstanden?“

Er blickte fragend in die Runde, ehe er fortfuhr.

„Was wissen wir über diese Felsenhalle? Sie war als letzte und absolut sichere Ruhestätte für Pharao Sethos gedacht, und wir haben hier tatsächlich eine Originalbestattung gefunden – die einer hölzernen Statue. Dasselbe Grab, King Valley 17, besitzt eine weitere Grabkammer, in der Sethos für eine gewisse Zeit bestattet gewesen sein muss. Außerdem aber hat er sich in Abydos ein Grab anlegen lassen, das zwar nie fertig wurde, in dem er aber vermutlich trotzdem für einige Jahre bestattet gewesen ist, bevor seine Mumie hierher umgebettet wurde. Hinzu kommt sein Scheingrab in Abydos, das Osireion hinter dem Tempel. Damit hatte Sethos vier Begräbnisstätten. Üblich waren zu jener Zeit aber nur zwei Begräbnisstätten: eine für die Mumie und eine als Scheingrab in Abydos, wo die Herrscher dem Ur-Mysterium des Osiris nahe sein wollten. Unser Freund Sethos hatte also zwei Grabstätten mehr als andere Pharaonen. Seine Mumie wurde in keinem dieser Gräber gefunden, sondern in einem Mumiendepot, zusammen mit gut vierzig weiteren königlichen Mumien. Das war 1881, Entdecker: der Deutsche Brugsch. Die Identität der Mumie gilt inzwischen als bestätigt. Besorgte Amun-Priester haben die Königsmumien dorthin vor Grabräubern in Sicherheit gebracht. Das bedeutet vermutlich, dass die Mumie des Sethos bis dahin in der regulären Grabkammer von KV 17 gelegen hat, während zugleich der hölzerne Stellvertreter schon seit längerem hier unten ruhte, wo wir uns jetzt befinden. Korrekt zusammengefasst?“

Alle nickten, nur Fred hatte einen Einwand.

„Die Identität der Mumie kann nicht als bestätigt gelten“, widersprach er. „Vielleicht haltet ihr mich für pingelig, aber gesichert ist nur, dass sie die Mumie des Vaters einer anderen Mumie ist, die ebenfalls in dem Mumiendepot war und die für die von Ramses II. gehalten wird.“

Serafina stöhnte auf.

„Du kleiner Nörgler!“

„Moment, bevor du wieder ausrastest, freundliche Amazone – mit gentechnischen Mitteln kannst du Verwandtschaftsverhältnisse nachweisen, aber nicht die Identität als Sethos. Es gibt keine Gene, die ‚Ich war Sethos!‘ schreien. Wenn du in den Binden einer Mumie ein Amulett findest, das die Mumie als Sethos I. bezeichnet, ja, dann kannst du sagen: Das ist Sethos I., und die Mumie seines Sohnes ist zwangsläufig die von Ramses II., aber nur mit Hilfe der Gene kannst du das nicht wissen. So läuft das nämlich. Hab mich da mal ein bisschen eingelesen. Faszinierendes Thema, diese genetischen Analysen, aber gar nicht so einfach, wenn man ins Detail geht!“

„War es das also mit den Spitzfindigkeiten?“, fragte Bill in Freds Richtung. „Dann mache ich weiter mit meiner Zusammenfassung. Hypothese: Zu Sethos’ Zeiten setzte ein Machtkampf ein zwischen dem Hof des Pharaos und dem Amun-Tempel von Karnak, dem Haupttempel des Reichsgottes. Die Hohepriester des Amun waren ein bedeutender Machtfaktor im alten Ägypten. Ihr Ehrgeiz zielte auf Gold, das Fleisch der Götter! Sethos erkannte in ihrer Gier eine Gefahr für den Staat und versuchte gegenzusteuern. Unter anderem förderte er den alten Reichsgott Osiris, wo er nur konnte, und darum wollte er auch in Abydos bestattet werden, ohne dass die Amun-Priester davon gleich Kenntnis hatten. Er war kein hinfälliger Mann, als er starb, seine Mumie zeigt ihn uns in gutem Zustand. Wie er starb, ist unbekannt. Charles hatte die Vermutung, dass Sethos mit Gift ermordet worden sein könnte, aber um das herauszufinden, müsste man die Mumie untersuchen. Es gibt nur zwei oder drei Wissenschaftler auf der Welt, die diese These überprüfen könnten.“

„Vater, du wolltest mit Direktor El-Kebir darüber sprechen“, sagte Charles.

„Ich bin noch nicht dazu gekommen“, antwortete William ein wenig steif. „Ich wollte warten, bis ich Nasser in einem ruhigen Moment erwische.“

Bill runzelte die faltige Stirn über den blitzenden Augen, ehe er fortfuhr. Er schätzte solche Unterbrechungen nicht.

„Sethos ließ sich also ursprünglich in Abydos bestatten, in einem Grab, das vorher dem Pharao Ahmose gehörte und das er für sich übernahm. Er ließ es ausbauen und eine Grabkammer für sich selbst hinzufügen. Die Amun-Priester duldeten das nicht, nachdem sie davon erfuhren, und holten die Mumie heim ins Tal der Könige, wo sie ihrer Meinung nach hingehörte, in das große, standesgemäße Grab KV 17. Der Papyrus, den Theo im Sethos-Tempel von Abydos gefunden hat, deutet darauf hin, dass es dort mehrere Jahre lang Totenkult für Sethos gab. Während dieser Zeit dürfte sich die Mumie in Abydos befunden haben. Nun bleibt die Frage zu klären, was Sethos mit den zusätzlichen Gräbern beabsichtigt hat. Selbst wenn man unterstellt, dass er das offizielle Grab im Tal der Könige nur notgedrungen anlegen ließ, weil es zu seiner Zeit eben Sitte war, dass Pharaonen sich im Tal der Könige bestatten ließen, bleibt eine Grabstätte übrig, die in das Denken jener Zeit nicht hineinpasst.“

„Und in der stehen wir gerade“, sagte Sonja, die dicht neben Theo stand.

„Ja“, antwortete Bill schlicht. „Was bezweckte er mit dieser Grabhalle? Es ist zweifellos die sicherste und aufwändigste, die jemals in Ägypten erbaut wurde, und trotzdem ließ er sich hier nicht persönlich bestatten. Den Schlüssel zum Verständnis dieses Rätsels haben wir vielleicht hier vor uns.“

Er deutete auf die lebensgroße, geschwärzte Statue des Pharaos, die aus Zedernholz geschnitzt war. Sie lag einige Meter von dem monumentalen Sarkophag entfernt, in dem sie 3300 Jahre lang geruht hatte, auf einem Tisch.

„Mr. Feuchtwanger, nun wäre es an Ihnen“, sagte Bill, indem er mit einladender Geste auf die Statue deutete. „Wir würden gern Ihre Meinung zu diesem Fund hören.“

„Ich bin Restaurator“, begann Samuel Feuchtwanger, ein zierlicher, extrem schlanker Mittdreißiger. Ihm war anzumerken, dass er sich in der zentralen Rolle, die er plötzlich einnahm, nicht sonderlich wohlfühlte ohne seine Frau Pam an seiner Seite. „Ich muss Artefakte einschätzen können, um die richtige Methode zu ihrer Konservierung oder Restaurierung zu wählen. Etwas wie diese hölzerne Statue ist mir noch nie begegnet. Ich habe im Archiv nach ähnlichen Fällen gesucht, aber es gibt in der gesamten Forschungsliteratur nichts Vergleichbares. Es fällt mir daher schwer, eine Expertise abzugeben.“

„Wir haben alle mal klein angefangen“, kommentierte Serafina schulterzuckend. „Also, lass hören.“

„Serafina meint damit vor allem sich selbst“, sagte Bill schnell und sandte Serafina einen rüffelnden Blick. Charles legte Serafina besänftigend eine Hand auf die Schulter und sagte:

„Manche hier sind vielleicht ein wenig ungeduldig, Mr. Feuchtwanger. Niemand erwartet eine Expertise. Nur eine Einschätzung, wie besprochen.“

Mit einem Ruck zog Serafina ihre Schulter unter Charles’ Hand weg.

Der Restaurator nickte und sagte etwas ungelenk:

„Dass mir so etwas wie diese hölzerne Statue noch nie begegnet ist, heißt nicht, dass ich nichts dazu sagen kann. Ich wollte nur darauf hinweisen, dass wir hier wissenschaftliches Neuland betreten.“

„Tu endlich den ersten Schritt“, knurrte Serafina ungeduldig.

„Ich habe eine Vermutung“, sagte Sam, indem er Serafina ignorierte. „Die alten Ägypter glaubten, dass der Ka des Toten in dessen Statuen einziehen konnte. Ka, das entspricht ungefähr unserem Begriff ‚Seele‘, bedeutet aber nicht genau dasselbe. Es gibt keine genauere Übersetzung dafür, und das bedeutet, dass wir nicht genau verstehen, was die alten Ägypter eigentlich gemeint haben. Wir müssen also vorsichtig sein bei allem, was wir uns darüber zusammenreimen. Außer Frage steht, dass die Ägypter Statuen liebten, weil sie glaubten, dass sie diesem körperlosen Teil des Toten, den sie Ka nannten, eine Art Wohnsitz boten. Wo eine Statue des Pharaos stand, war der Ka des Pharaos persönlich anwesend. Er konnte also auch in diese hölzerne Statue einziehen, die hier unten in Sicherheit ruhte.“

„Ein hölzerner Stellvertreter“, sagte Bill nickend.

„Nein, mehr als das“, widersprach Sam zur Überraschung aller. „Nicht nur ein Stellvertreter, sondern Sethos selbst. Überall, wo der Ka war, war Sethos, auch wenn dies nicht sein angestammter Leib war.“

„Ein hölzerner Pharao“, sagte Theo, und Sam nickte.

„Aber warum aus Holz?“, fragte Serafina.

„Das ist eine interessante Frage“, antwortete Sam und beugte sich über die Statue. „Auf den ersten Blick fällt der außerordentlich gute Zustand auf. Die Statue sieht aus, als wäre sie erst gestern geschnitzt worden. Sie dürfte die besterhaltene Holzplastik sein, die jemals aus dieser Epoche entdeckt wurde. Dann fällt auf, dass sie sich stilistisch in nichts von steinernen Pharaonen-Skulpturen unterscheidet. Dieselbe rituelle Starre, derselbe Blick aus großen, weit geöffneten Augen, dieselbe perfekt geformte Nase … Holz ist jedoch ein völlig anderer Werkstoff als Stein. Wir kennen fast nur steinerne Pharaonen-Statuen, die sich gut miteinander vergleichen lassen, aber denselben majestätischen Ausdruck mit Holz zu erzielen, ist nicht so einfach. Hier war ein Meister der Schnitzkunst am Werk. Holz war im alten Ägypten ein seltenes und teures Material, viel teurer als Stein. Holz wie dieses wurde von weither importiert, aus dem heutigen Libanon. Der leicht harzige Geruch, den es immer noch verströmt, ist typisch für libanesische Zedern.“

„Das hatten wir ja schon vermutet“, warf Serafina ein. Ihr ging es anscheinend immer noch nicht schnell genug.

„Die Schwärze der Oberfläche dürfte einer Behandlung mit bestimmten Laugen und Harzen zu verdanken sein“, fuhr Sam fort. „Es handelt sich jedenfalls nicht um eine einfache Bemalung. Die Statue wurde nach Abschluss der Schnitzarbeit gebeizt, und zwar möglicherweise sogar mehrmals, bis sie absolut schwarz war. Anschließend wurden die Einlegearbeiten hinzugefügt – blaues Glas für Augenbrauen und Augenlider und Bergkristall für die Augäpfel. Insgesamt dürfte die Herstellung dieser Statue mehrere Wochen, vielleicht zwei oder drei Monate gedauert haben, je nachdem, wie oft sie gebeizt wurde. Das ist alles sehr sorgsam und mit Kenntnis geschehen, denn das Holz zeigt an der Oberfläche keinerlei Risse, wie man sie wohl erwarten müsste, wenn die Trocknung zu schnell erfolgt wäre. Es muss dafür spezielle Trocknungsräume gegeben haben, in denen es möglich war, eine höhere Luftfeuchtigkeit als in der Außenwelt herzustellen, so dass die Statue nach jedem Beizvorgang ganz behutsam über mehrere Tage hinweg sehr langsam trocknen konnte.“

„Was für ein Aufwand für ein Stück Holz“, kommentierte Charles und fragte in die Runde. „Wissen wir irgendetwas darüber, woher die Ägypter solche Kenntnisse über den Umgang mit Holz gehabt haben könnten?“

Theo und die anderen schüttelten die Köpfe.

Ägypten ist das Land der steinernen Pharaonen, nicht der hölzernen.

„Diese Statue ist also wirklich etwas ganz besonderes“, sagte Charles.

„Sie ist einzigartig!“, bekräftigte Sam. „Ich könnte mir vorstellen, dass die Spezialisten, die der Pharao dafür benötigte, zusammen mit dem Holz aus dem Libanon importiert worden sind, vielleicht bei einem seiner Feldzüge.“

„Und die Statue ist natürlich deswegen so gut erhalten, weil sie die ganze Zeit im Sarkophag gelegen hat, nicht wahr?“, fragte Serafina.

„Natürlich.“

„Wie sähe sie heute aus, wenn die Bedingungen nicht so günstig gewesen wären?“

„Definiere ‚nicht so günstig‘“, forderte Sam.

„Keine Ahnung. Wenn sie zum Beispiel im Wasser gelegen hätte.“

„Dann wäre sie vermutlich nur noch mit großer Mühe als erstrangiges Kunstwerk zu erkennen“, antwortete Sam.

„Aber es wäre noch was von ihr da?“

„Zedernholz ist eine der widerstandsfähigsten Holzsorten, die es gibt“, antwortete Sam. „Ich weiß nicht, wie die spezielle Beizung den Fäulnisprozess beeinflusst, aber es könnte durchaus sein, dass selbst dann noch etwas von ihr vorhanden wäre, wenn sie dreitausend Jahre lang komplett im Wasser gelegen hätte.“

„Warum fragst du?“, wollte Charles von Serafina wissen.

„Ging mir nur so durch den Kopf. Wenn irgendwelche Grabräuber diese Felsenhalle vor uns gefunden hätten, dann hätten sie den hölzernen Pharao vermutlich einfach weggeworfen. Solche Leute interessieren sich bekanntlich eher für Gold. Er hätte dann jahrelang im Wasser gelegen.“

Charles und Sam nickten.

„Sehen Sie, Sam, nun haben wir ja doch eine ganze Menge erfahren“, meinte Bill und lächelte. „Diese Ägypter sind immer wieder für Überraschungen gut.“

„Dürfte ich jetzt um absolute Ruhe bitten!“, sagte Sam. Er hatte plötzlich einen kleinen Gummihammer in der Hand. „Ich glaube, ich habe da etwas gehört.“

Augenblicklich herrschte gespannte Stille. Theo lauschte unbehaglich auf Geräusche des Felsens, die angezeigt hätten, dass hier gleich alles zusammenbrach, aber das war es nicht, was Sam meinte.

Der Restaurator lächelte entschuldigend und begann nun, die Statue mit dem Miniaturhammer abzuklopfen. Er fing in Schulterhöhe an und überzog sie Richtung Hüfte mit einer Serie sanfter Schläge.

Sie hörten es alle.

„Haben Sie das gehört?“, fragte Sam dennoch und wiederholte den vorigen Schlag, einen Zentimeter höher Richtung Schulter der Statue. Das Geräusch des aufs Holz prallenden Gummikopfes hallte satt durch das Gewölbe. So hörte sich Holz an, wenn man dagegen schlug, kein Zweifel. Doch der Ton, den der nächste Schlag hervorrief, einen Zentimeter tiefer, hörte sich völlig anders an. Hohl, dumpf, ähnlich dem Geräusch, das entstand, wenn man an eine Tür klopfte.

„Die Statue ist hohl?“, fragte Serafina überrascht.

Auch Theo stockte der Atem.

„Es scheint so“, fuhr Sam fort, „aber nicht komplett. Es hört sich so an, als ob der Bauchraum ausgehöhlt ist, aber Brust und Becken sind aus Massivholz, daran besteht kein Zweifel. Und die Statue ist aus einem Stück, aus einem einzigen Baumstamm gefertigt.“

„Kann man sie öffnen?“

Serafina sah aus, als hätte sie dieses Geschäft am liebsten auf der Stelle selbst erledigt. Allerdings war zum Glück gerade keine Axt zur Hand.

Im nächsten Moment hatte Sam eine Lupe in der Hand und suchte die Oberfläche der Statue oberhalb der Stelle ab, an der er vorhin den Hohlraum festgestellt hatte. Dann wiederholte er die Suche an beiden Flanken der Statue, nachdem er die Lage des Hohlraums erneut per Klopftest bestimmt hatte. Schließlich schüttelte er den Kopf.

„Tut mir leid, Ms. Belzoni, ich kann keine Möglichkeit entdecken, die Statue zu öffnen. Vielleicht auf der Rückseite. Dazu müssten wir die Statue umdrehen.“

„Moment!“, rief Theo. Wir sollten sie nicht zu öffnen versuchen. Nicht hier. Niemand kann sagen, was sich in dem Hohlraum befindet und in welchem Zustand es ist. Verlegen wir die Statue lieber in ein Labor, wo wir alle Möglichkeiten haben, sofort mit Konservierungsmitteln einzuschreiten.“

„Das reicht nicht“, entgegnete Bill. „Ich würde vorschlagen, zuerst eine Computertomographie machen zu lassen, um herauszufinden, was in dem Hohlraum ist. Was meinen Sie, Mr. Feuchtwanger?“

„Alles, was zu einem behutsamen Umgang mit der Statue beiträgt, findet meine Zustimmung“, sagte Sam und fügte hinzu: „Professor Edward Seiler wäre genau der Richtige für eine Computertomographie. Im selben Gebäude der Royal Academy of Science, in dem sich sein radiologisches Institut befindet, ist auch unser Labor untergebracht, so dass wir kurze Wege hätten.“

„Das klingt gut – aber in London?“ Charles hustete nervös. „Ich glaube, das ist jenseits unserer Genehmigungen. Direktor El-Kebir wird niemals zustimmen, die Statue außer Landes zu bringen.“

„Genau, das ist Kokolores“, sagte Serafina und grinste in einer Weise, als wolle sie eigentlich sagen: Und trotzdem machen wir es so.

Theo musste lachen.

Belzoni-Methoden!

„Sind wir dann also hier fertig?“, fragte Serafina. „Ich habe Hunger. Lasst uns zu Mohammed fahren. Die Rassul mit ihrem Gastfreundschaftsfimmel werden sich verpflichtet fühlen, uns was zu futtern aufzutischen, und dann müssen sie uns auch erklären, warum sie heute nicht hergekommen sind.“

„Serafina, du bist unmöglich!“, rügte Charles. „Die Gastfreundschaft dieser Leute ist eine wunderbare Sitte.“

„Sag ich doch“, gab sie breit grinsend zurück.

„Lassen wir die Statue einfach so hier liegen?“, fragte William Carnavaughn besorgt.

Charles reagierte unschlüssig, indem er von Theo zu Bill und Serafina blickte und schließlich Abdul fixierte, den Wachmann von den Rassul.

Da trat Brian Collins zu ihnen. Der Rassul ließ daraufhin langsam die Arme sinken, als mache er sich innerlich kampfbereit. Brian sagte lächelnd in seinem breiten nordirischen Dialekt, den Theo nur mit Mühe verstand – und der Rassul vermutlich überhaupt nicht:

„Machen Sie sich keine Sorgen, Sir. Wir haben hier alles im Griff.“

Er schien die Situation durchschaut zu haben.

„Brauchen Sie mehr Männer?“, fragte Charles.

„Nein, Sir, wir kommen ausgezeichnet zurecht.“

Was für eine verfahrene Situation! Die Rassul einfach rauszuwerfen kommt nicht infrage, aber wir können sie auch nicht länger in der Nähe des Schatzes lassen …

Sie stiegen wieder hinauf.

„Ich habe mächtiges Bauchgrimmen bei dieser Regelung“, sagte Serafina, als sie schwitzend über dem Schacht am Fußende der langen Rampe standen. „Nicht dass ich Brian nichts zutrauen würde. Er wird sicher mit diesem Mucki-Rassul fertig, wenn es nötig sein sollte, aber …“

„Keine Frage, wir müssen eine andere Regelung finden.“ Charles nickte. „Lasst uns zu den Rassul fahren.“

2. Kapitel

London

Drei Wochen zuvor

12. März 2014, 9 Uhr

„Ägyptologisches Archiv der William Edward Francis Carnavaughn Stiftung“, stand in schnörkellosen Lettern auf dem blankgeputzten Messingschild neben der Tür.

Gisèle Cochevelou blickte zweifelnd an der schmalen, unscheinbaren Fassade des Gebäudes empor, das zwischen wuchtigeren Häusern mit neugotischen Fassaden eingezwängt war. Sie wäre nie auf den Gedanken gekommen, hinter dieser Fassade ein Archiv zu vermuten. Archive brauchten Platz. Entweder herrschte drinnen drangvolle Enge, oder sie hatte es mal wieder mit einem dieser Fälle von englischem Understatement zu tun, die sie so sehr hasste – außen pfui, innen hui.

Gisèle seufzte, und wie immer, wenn sie sich nicht ganz schlüssig darüber war, ob ihr nächster Schritt tatsächlich in die richtige Richtung führte, glitt ihr rechter Zeigefinger hinter ihrem rechten Ohr unter die schlecht sitzende und wie immer juckende Perücke und streichelte das große, knorpelige Muttermal, das sich dort verbarg.

Gisèle hasste es, am Anfang eines Falles zu stehen. Als nächsten Schritt würde sie den Klingelknopf betätigen und damit zulassen, dass der Fall Macht über sie bekam. Das bedeutete einen Einschnitt in ihr Leben, denn anstatt in Les Sables d’Olonne am Meer spazieren zu gehen und die frische, nach Salz, Tang und der Weite des Ozeans riechende Luft zu genießen, würde sie mit dem Klingeln signalisieren, dass sie bereit für den Fall war und bereit dazu, wieder einmal Geheimnisse zu lüften, die bestimmte Leute nicht gelüftet sehen wollten. Es würde völlig harmlos damit beginnen, dass sich die Tür vor ihr öffnen und man sie in das Archiv einlassen würde. Man würde ihr ausgesprochen hilfsbereit begegnen und ihr alles Material bringen, nach dem sie verlangte, und schon würde sie sich in diesen neuen Fall vertieft haben, und er würde kein neuer Fall mehr sein, sondern ein Fall in Bearbeitung. Es war alles so durchschaubar, so logisch, so überraschungsfrei. Gisèle hasste solche Kausalketten – vor allem jene, die wie selbstverständlich in einen Fall hineinführten, weniger allerdings jene, die am anderen Ende wieder aus ihm hinausführten. Sie wurde wohl alt. Früher war es genau anders herum gewesen, früher hatte sie die Kausalketten gehasst, die aus einem Fall herausführten und so den Spaß beendeten. Gisèle hasste auch das Alter.

Doch sie hatte den Auftrag bereits angenommen, und man hatte ihr einiges an Material übermittelt, genug jedenfalls, um vorhersagen zu können, dass es sich um eine aufwändige Recherche handelte, die sie wochenlang beschäftigen würde. Sie sollte mehr über Bernard Tedritov herausfinden, den stellvertretenden Direktor der ägyptischen Altertümerverwaltung; und insbesondere sollte sie herausfinden, ob er etwas mit einem französischen Diplomaten namens Bernardino Drovetti zu tun hatte, der vor zweihundert Jahren gelebt hatte. Gisèle verstand nicht ganz, warum das für die Carnavaughns wichtig war, aber es hatte zweifellos mit Ägypten zu tun und mit der Entdeckung, die der deutsche Archäologe Theodor Magenheim im Tal der Könige gemacht hatte und an der die Carnavaughns im Hintergrund mitgewirkt hatten. Das Material, das Gisèle im Vorfeld erhalten hatte, beschrieb Bernard Tedritov als korrupten Apparatschik, mit dem die Carnavaughns aneinandergeraten waren. Sie ging davon aus, dass sie im Lauf der Ermittlungen mehr über die Motive ihrer Auftraggeber erfahren würde. So war es immer: Letztlich verrieten die Ermittlungen immer auch etwas über den Auftraggeber. Im Kern ging es einfach darum, möglichst viel von dem Dreck auszukundschaften, den dieser Tedritov vermutlich am Stecken hatte.

Im Übrigen hatte Gisèle nicht nach den Motiven der Carnavaughns zu fragen. Sie hatte einen fest umrissenen Auftrag erhalten, und die Carnavaughns hatten ihre Honorarvorstellungen akzeptiert; damit war man handelseinig. Es war doch auch einmal schön, einen Fall zu bearbeiten, bei dem es etwas ruhiger zuging, ohne Schießerei und Geschrei am Ende. Gisèle hasste die Theatralik, mit der manche Täter untergingen, wenn sie mit ihnen fertig war. Generell hasste Gisèle Menschen, die sich selbst überschätzten und von diesem Wahn auch dann nicht abzurücken bereit waren, wenn sie mit dem Rücken zur Wand standen – was ebenfalls eine Kausalkette war. Das endete häufig in einem würdelosen Schmierentheater.

Mit einem resignierten Schulterzucken ergab sich Gisèle der Kausalkette, der sie bereits zu folgen begonnen hatte, und drückte die Klingel des Carnavaughn-Archivs.

Es dauerte eine Weile, bis sich drinnen etwas tat. Gisèle hasste es, wenn man sie warten ließ, und sie wollte bereits ungeduldig werden und zum zweiten Mal klingeln, als die Tür endlich geöffnet wurde. Da bot sich ihr ein Anblick, der sie im ersten Moment vor Schreck nach Luft schnappen ließ, denn alles an dem langen Etwas, das vor ihr erschien, war dünn bis nahezu dürr – nur der Kopf nicht, der die Form einer auf der Fassung stehenden Glühbirne hatte. Diese Fassung schraubte sich in den Kragen eines tadellos gebügelten, lindgrünen Hemdes. Weiter abwärts folgten eine Fliege mit violetten Pünktchen auf ebenfalls lindgrünem Grund, schwarze Ärmelschoner und eine dunkelblaue, ebenfalls tadellos gebügelte Hose. Das dünne, blonde Haar oben auf der Glühbirne war akkurat gescheitelt, und der Schnurrbart dieses seltenen, von Ferne an einen Mann erinnernden Lebewesens war auf den Nanometer genau getrimmt, ein schmaler Strich in seiner Oberlippenlandschaft. Mund und Nase waren klein und schmal, und das Kinn griff spitz nach unten aus, wobei es die Mundwinkel hinabzuziehen schien. Dieses Gesicht schien perfekt dazu geschaffen, seiner Umgebung unentwegt den Ernst des Daseins vor Augen zu führen. Zu leichtfertigen menschlichen Regungen wie etwa einem Lächeln war es vermutlich vollkommen unfähig.

„Was kann ich für Sie tun?“, fragte der Mann.

Gisèle war spontan angenehm überrascht. Sie hatte das berühmte arrogante Näseln erwartet, welches sie an den Engländern über alle Maßen hasste. Doch die Bassstimme ihres Gegenübers klang voll und freundlich und rundherum angenehm. Außerdem fiel Gisèle auf, dass der Blick dieses Wesens nicht an ihrer kleinen, fülligen Gestalt hinab- und hinaufglitt, um schließlich an ihrer schlecht sitzenden Perücke hängenzubleiben, und dass er ihre ausladende Brust völlig ignorierte. Stattdessen sah er ihr direkt in die Augen. So reagierten die wenigsten Menschen auf Gisèle. Normalerweise wurde sie zunächst mit abfälligen Blicken taxiert, verwundert darüber, dass es sich bei dieser sonderbaren Erscheinung um die berühmte Detektivin Gisèle Cochevelou handeln sollte. Dieser abschätzige Ausdruck verschwand normalerweise erst dann aus den Gesichtern der Menschen, wenn sie sich bewusst wurden, wie unhöflich sie sich benahmen. Gisèle nahm es meistens nicht übel. Sie schätzte Ehrlichkeit, sie mochte es, wenn die Leute ihr klar zu erkennen gaben, was sie auf den ersten Blick von ihr hielten. Andererseits aber mochte sie Menschen, die ihr Rätsel aufgaben. Bernard Tedritov etwa mochte sie schon jetzt, obwohl sie bisher nur ein paar Fotos von ihm gesehen hatte. Und dieses lange, dürre Etwas, das vor ihr in der Eingangstür des Archivs stand, mochte sie ebenfalls auf Anhieb. Es blickte ihr einfach direkt ins Gesicht, dieses Etwas, und gab durch nichts zu erkennen, was es dabei dachte. Es überragte sie um rund zwei Köpfe – und das, obwohl Gisèle heute mit Absätzen immerhin hundertachtundfünfzig Zentimeter hoch aufragte.

„Cochevelou“, sagte Gisèle, wobei sie sich keine Mühe gab, ihren französischen Akzent zu verbergen. „Charles Carnavaughn schickt mich.“

Der Mann deutete eine Verneigung an.

„Sie wurden mir angekündigt“, sagte er so sachlich und nüchtern, dass ein Aktenordner mit Steuerbelegen daneben wie das pralle Leben gewirkt hätte. „Ich stelle fest, dass Mr. Carnavaughn Sie zutreffend beschrieben hat, so dass ich in der Lage bin, Sie zweifelsfrei zu identifizieren. Treten sie ein.“

Er gab die Tür frei.

„Wie hat er mich denn beschrieben?“, fragte Gisèle, während sie eintrat.