Der Osiris-Punkt - Lutz Büge - E-Book

Der Osiris-Punkt E-Book

Lutz Büge

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Beschreibung

"Die mächtigen, beleuchteten Kolonnaden des Sethos-Tempels schienen nur einen Steinwurf weit entfernt. Mitten aus dem Ort erhob sich das alte Bauwerk, doch es war früher hier gewesen als jedes Haus in Abydos, früher als Islam und Christentum, und entsprechend selbstbewusst und schweigend ragte es aus damaliger Zeit in die Gegenwart hinein …" Ägypten am Scheideweg: Die Fundamentalisten versuchen, das Land zur Islamischen Republik umzubauen, doch sie sind zerstritten, und es regt sich Widerstand. In der oberägyptischen Kleinstadt Abydos ist von der großen Politik allerdings nicht viel zu spüren, als Theo Magenheim dort seinen Job als Fremdenführer antritt. In Deutschland hangelte sich der junge Mann von Job zu Job. Nun sucht er in Ägypten sein Glück. Er ist dabei, als in einem unterirdischen Gelass beim Sethos-Tempel eine geheimnisvolle Papyrus-Rolle gefunden wird. Damit hält Theo den Schlüssel zu einer bedeutenden archäologischen Entdeckung in Händen. Von diesem Moment an rückt Abydos in den Fokus der Fundamentalisten, und es ist vorbei mit dem Frieden ... Packendes Wüstenabenteuer um einen sagenhaften Pharaonenschatz, 200 Jahre Ägyptologie und um Menschen, die auf der Suche nach sich selbst sind. Kenntnisreich und spannend erzählt. Leserstimmen: "Fast ein 'Schätzing' ... ... denn genau so fesselnd, aufregend und gut recherchiert ist 'Der Osiris-Punkt'. Zu einem 'richtigen' Schätzing fehlen nur ungefähr 800 Seiten Rumgelaber". (Uli) "Dabei war damals schon offensichtlich, dass hier mit Lutz Büge neben Andreas Eschbach, dem frühen Dan Brown und Michael Chrichton ein neues schreiberisches Talent heranwächst. Ja und nun 'Der Osiris Punkt'. Da ist alles stimmig, die Spannungsbögen, die flüssige Schreibweise und ein wahnsinnig guter Plot, der es schwierig macht, den Reader mal zur Seite zu legen.

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Inhaltsverzeichnis

Prolog

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

17. Kapitel

18. Kapitel

19. Kapitel

20. Kapitel

21. Kapitel

22. Kapitel

23. Kapitel

24. Kapitel

25. Kapitel

26. Kapitel

27. Kapitel

28. Kapitel

29. Kapitel

30. Kapitel

31. Kapitel

32. Kapitel

33. Kapitel

34. Kapitel

35. Kapitel

36. Kapitel

37. Kapitel

38. Kapitel

Epilog 1

Epilog 2

Prolog

Abydos, Oberägypten

6. März 2014, 5:30 Uhr

Die Stufen waren gleichmäßig in den Fels gehauen, beste Steinmetzarbeit, perfekt wie im Tal der Könige. Theo Magenheim stieg vorsichtig zum Fuß der Treppe hinab. Trotz der Kälte schwitzte er. Hinter ihm ging soeben die Sonne auf, die Sterne verblassten über der ausgekühlten Wüste. Seitlich des Eingangs, am Fuß der Halde, die sie heute Nacht geschaffen hatten, lagerten die erschöpften Arbeiter und folgten Theo mit müden Blicken.

Vor ihm befand sich ein uraltes Portal, das ebenso perfekt aus dem Fels gehauen war wie die Stufen, die zu ihm hinab führten. Den Türsturz zierte ein Relief, das eine geflügelte Sonne zeigte, ein Schutzsymbol. Dahinter ruhte die Finsternis der Jahrtausende in einem Grab, das es an diesem Ort eigentlich nicht geben durfte.

Was erwartet uns da unten?

Theo zögerte. Er hob die Taschenlampe und leuchtete durch das Portal. Ein Korridor, schnurgerade. Am Boden eine dünne Staubschicht, weiter hinten ansteigend Schutt, staubbedeckt. Die Wände waren verputzt und mit akkuraten Kolonnen von Hieroglyphen bemalt, die so frisch und sauber wirkten, als wären sie erst gestern aufgetragen worden.

„Beschwörungsformeln“, sagte Bill Sheridan hinter ihm mit dem Blick des erfahrenen Archäologen. „Um ungebetene Eindringlinge abzuhalten.“

„Oder ihnen den größtmöglichen Schaden an den Hals zu hexen“, gab Theo zurück. Er wusste über den Schutzzauber der alten Ägypter Bescheid. In dem Moment, in dem er seinen Fuß über die Schwelle setzte, begab er sich in eine andere Welt. Er glaubte nicht an Zauberei und den Fluch des Pharaos, aber bisher hatte ihm auch noch niemand beweisen können, dass es Zauberei nicht gab.

Was ist ein Menschenleben?

Mein Leben?

„Riecht muffig.“ Fred Büschersgrund brachte die Dinge auf den Punkt. „Wie im Keller meiner Großmutter.“

Tatsächlich erhob sich ein dumpfer, muffiger Geruch aus der Tiefe des Grabes und wehte ihnen entgegen. Theo spürte einen Kloß in seiner Kehle, und für einen Moment wünschte er, dieses Grab nie aufgespürt zu haben. Noch konnte er umkehren und versuchen, sein Leben als Fremdenführer weiterzuleben, doch er wusste, er wäre zum Scheitern verurteilt – jetzt, da die Touristen wegblieben.

Wie er es auch drehte – der Schritt über die Schwelle des Grabes würde sein Leben für immer verändern, und es war keineswegs ausgemacht, ob zum Besseren.

Narr! Du willst dieses Königsgrab nicht entdecken? Vorwärts!

Theo setzte seinen Fuß über die Schwelle. Ein Schritt nur. Staub wirbelte auf und flirrte im Licht der Taschenlampen.

Theo ging nervös voran. Er zuckte zusammen, als das Licht seiner Lampe das Ende des Korridors erhellte und durch ein weiteres Portal auf eine mannshohe Gestalt fiel. Sie hatte furchteinflößend breite Schultern und den Kopf eines Falken und wirkte im allerersten Moment mit ihren funkelnden Augen derart beklemmend lebendig, dass Theo allen Ernstes glaubte, einem leibhaftigen Ungeheuer gegenüberzustehen.

Unsinn! Das war doch zu erwarten.

„Horus“, sagte Bill. Seine Stimme zitterte. Er war nicht weniger angespannt als Theo. „Der Gott wacht über das Grab.“

Der Schutt knirschte unter ihren Stiefeln, als sie sich unter dem Türsturz hindurch bückten und in eine Kammer gelangten, deren Boden mit Schutt bedeckt war. Der Dreck war vermutlich von einer jener Sturzfluten in das Grab gespült worden, wie sie in den Wadis immer wieder vorkamen.

„Seht nur“, flüsterte Bill, „dort stehen Isis und Osiris und nehmen das Opfer des Pharaos entgegen. Ein wunderbares Fresko, hervorragend erhalten! Und hier, seht ihr diese Kartusche? Men-Maat-Re. Das ist unser Mann.“

„Ich habe nie etwas Schöneres gesehen“, sagte Theo ebenso leise, und das stimmte. Vielleicht gab es im Tal der Könige Schöneres, aber nicht hier in Abydos.

Die Wände der Kammer waren über und über bemalt mit Hieroglyphen und Darstellungen des Pharaos bei den verschiedensten rituellen Verrichtungen, wundervolle Malereien, die eines Königsgrabes würdig waren.

„Warum flüstert ihr?“, fragte Fred in normaler Lautstärke. „Ich verstehe euch nicht, wenn ihr so leise sprecht.“

Theo grinste, als er den bösen Blick registrierte, mit dem Bill den Studenten bedachte. Nein, sie flüsterten nicht etwa aus Ehrfurcht vor dem toten Herrn dieses Grabes, sondern weil sie beklommen waren. Sie waren Eindringlinge, sie störten die ewige Ruhe eines Mannes, der vor Jahrtausenden einer der mächtigsten Herrscher der Welt gewesen war. Sie dürften hier nicht sein.

„Das macht man so auf Friedhöfen, in Gruften und altägyptischen Gräbern“, flüsterte Theo. „Man flüstert. Man verhält sich respektvoll.“

„Okay“, flüsterte Fred, „dann lasst uns jetzt respektvoll nach dem Schatz suchen und dann schnell verschwinden. Wo geht’s zur Grabkammer?“

Durch ein weiteres Portal drangen sie in eine zweite Kammer vor, die nicht weniger prachtvoll mit Malereien ausgestattet, ansonsten aber – bis auf etwas Schutt – leer war. Gebeugt standen sie unter der niedrigen Decke und leuchteten die bemalten Wände entlang. Direkt vor ihnen gähnte dunkel das nächste Portal.

„Autsch“, entfuhr es Fred, „da geht es steil hinunter.“

Der Lichtfinger seiner Taschenlampe verlor sich im Dunkel jenseits des Portals.

Theo leuchtete ebenfalls hinab. Dies war kein Korridor, sondern eine steil abfallende Rampe mit einem Neigungswinkel von vielleicht 40 Grad. Von dort unten drang der modrige, schimmlige Geruch herauf, der ihnen schon am Eingang des Grabes aufgefallen war.

Über solche Rampen waren damals Sarkophage in die Tiefe hinabgelassen worden, aber normalerweise gab es Treppen links und rechts davon. Hier nicht. Theo hatte dennoch keinen Zweifel daran, dass sich die Grabkammer dort unten befand, am Ende dieser Rampe – oder am Ende dessen, was sich an die Rampe anschloss. In manchen Königsgräbern drüben im Tal der Könige folgten solchen Rampen weitere Korridore und weitere Rampen, und es ging immer tiefer hinab.

Wie groß und wie lang ist dieses Grab?

Da drang dumpf ein Knall an ihre Ohren. Sie zuckten zusammen, und Theo, der größte unter ihnen, stieß sich den Kopf an der niedrigen Decke, als er sich instinktiv aufzurichten versuchte.

„Was war das?“, rief Fred.

Ein weiterer Knall. Ein Schuss. Draußen, vor dem Grab, wurde geschossen!

Sie kommen, hat Serafina gesagt.

Bill zog seine Pistole und wirbelte herum.

„Bringt euch in Sicherheit“, befahl er Theo und Fred. Seine Stimme duldete keinen Widerspruch. Im Licht der Taschenlampen wies sein Finger auf das Portal und die Rampe. „Dorthin.“

Bill stürmte davon Richtung Ausgang. Theo tastete nach seiner Pistole, aber Fred griff nach seinem Arm.

„Lass das“, raunte der Student. „Du bist nicht der Typ für Schießereien.“

„Aber Bill, ja?“

„Eher als du.“

„Sollten wir nicht wenigstens nachschauen, was da draußen los ist?“

Sie schlichen Richtung Ausgang, aber kaum hatten sie den Eingangskorridor erreicht, der zur Treppe führte, als draußen eine Gewehrsalve knatterte. Sie zuckten in den Schutz der ersten Kammer zurück.

„Sichert das Grab!“, brüllte draußen jemand auf Arabisch – so laut, dass sie es bis hier unten hören konnten.

„Das war keiner von uns“, stellte Theo trocken fest.

„Sie kommen!“, hauchte Fred und machte Anstalten hinauszulaufen, direkt ins Gewehrfeuer. „Oh mein Gott, ich muss Sonja helfen.“

Theo packte ihn am Arm und zog ihn mit sich in die zweite Kammer, vor den Zugang zur Rampe.

„Aber da unten sitzen wir in der Falle“, protestierte Fred.

„Nicht mehr als hier oben“, erwiderte Theo, „aber wir gewinnen Zeit.“

Und wir können uns da unten verschanzen.

Er dachte daran, dass er sich vor wenigen Stunden noch geweigert hatte, eine Pistole anzunehmen. Serafina hatte sie ihm mit dem trockenen Kommentar aufgezwungen:

„Übrigens – das da vorn ist der Lauf.“

Sie standen vor der Rampe.

„Du zuerst.“ Freds Stimme zitterte. „Du bist hier der Archäologe.“

Theo leuchtete voraus und wunderte sich über den dunklen Belag auf der Rampe, der etwas weiter unten feucht und schlickig glänzte, doch er setzte seinen Fuß über die Kante. Fester Grund, aber extrem steil abfallend und glatt. Das dunkle Zeug da unten beunruhigte ihn, aber Fred drängelte:

„Mach schnell! Ich glaube, sie kommen!“

Jetzt einen kühlen Kopf bewahren!

Der erste Schritt. Die Rampe war so steil, dass er sich weit zurücklehnen und sich sogar mit den Händen hinter sich am Boden abstützen musste, um Halt zu bewahren. Bergsteigerhaken und Seile wären nützlich. Er nahm die Taschenlampe zwischen die Zähne und krabbelte abwärts.

„Autsch!“ entfuhr es Fred, als er ausrutschte und mit der Schulter gegen die Wand prallte. „Verflucht, ist das glatt hier.“

Auf der Suche nach Halt stieß Fred mit einem seiner Füße gegen Theos linken Arm. Ehe Theo begriff, wie ihm geschah, knickte der Arm ein, und schon kam Theo ins Rutschen. Weder Füße noch Hände fanden Halt auf dem glatten Boden. Er erreichte den Abschnitt, wo der Boden von der dunklen Masse bedeckt war. Sie entpuppte sich als glitschiger Überzug – die Quelle des Moder-Geruchs.

„Was ist das für ein Schleim?“, rief Fred in heller Panik. Theo sah sich hektisch nach dem Studenten um, während er mit Händen und Füßen angstvoll nach Halt suchte, um seine Rutschfahrt zu stoppen. Fred war dicht hinter ihm und rutschte ebenfalls. Theo wurde schneller und schneller. Trotz seiner Panik versuchte er, die Nerven zu bewahren und die Hacken seiner Stiefel gegen den Boden zu stemmen, doch es war einfach zu glitschig.

Fieberhaft suchte Theo nach einer Lösung. Nach allem, was er über die Baupläne altägyptischer Königsgräber wusste, konnte die Rampe einige Dutzend Meter lang sein. Das eigentliche Problem war aber ein anderes: Oft folgte auf eine solche Rampe unmittelbar ein Schacht. Ein tiefer, breiter Schacht.

„Wie weit geht das hier noch runter?“, keuchte Fred.

Theo musste herausbekommen, was vor ihnen lag. Dafür vernachlässigte er seine Bremsversuche. Er nahm die Taschenlampe aus dem Mund und leuchtete voraus.

„Du liebe Zeit!“, entfuhr es ihm.

„Was ist denn los?“, kreischte Fred.

„Ein Brunnenschacht!“, schrie Theo. „Eine Fallgrube. Bestimmt zehn Meter tief. Wir brechen uns alle Knochen, wenn wir … Halt sofort an! Stopp, auf der Stelle!“

„Nichts leichter als das“, knurrte Fred und rutschte weiter.

Der Osiris-Punkt

Roman

Amduat I.

von

Lutz Büge

1. Kapitel

Abydos, Oberägypten

2. März 2014, 10 Uhr

Im strahlenden Licht des Morgens lag bereits eine Andeutung von Sommerhitze. In wenigen Wochen würde der Tempelvorhof zu einem Glutofen werden.

Ein erster Frühsommertag, dachte Theodor Magenheim und sog die warme, trockene Wüstenluft tief in seine Lungen. Sanft wehte der Wind von den Klippen im Westen her, hinter denen die offene Wüste begann. Zwischen dem Tempel und jenen Klippen lag die Bucht von Abydos mit ihren Wellen aus Sand, die so langsam vom Wind vorangetrieben wurden, dass ihre Bewegung für das menschliche Auge nicht erkennbar war.

An Tagen wie diesem herrschte in Oberägypten das gesündeste Klima der Welt, jedenfalls für Allergiker wie Theo. Die Luft war völlig frei von Pollen. Theo war schon so lange beschwerdefrei, dass er seinen Heuschnupfen beinahe vergessen hatte. Doch das Klima würde nicht so bleiben. Vielleicht stieg die Temperatur heute auf angenehme 25 oder 26 Grad im Schatten. Morgen würden es dann schon 28 Grad sein, und wenn das Wetter und der warme Wind anhielten, konnten die Temperaturen im Schatten in drei, vier Tagen bei Mitte 30 Grad ankommen.

Ägypten eben. Wüste.

Theo machte das nichts aus, im Gegenteil. Das Klima war einer der Gründe, warum er sich hier so wohlfühlte. Im vergangenen Jahr waren ihm allerdings drei Reisende während der Führung zusammengeklappt. Die Diagnose war immer dieselbe: zu wenig getrunken. Vor allem europäische Reisende unterschätzten die Gefahren des Wüstenklimas. Jetzt ging es noch, aber im Sommer dehydrierte man schnell, und man merkte es erst, wenn es schon zu spät war, denn man hatte nicht das Gefühl zu schwitzen. Schweiß verdunstete in der trockenen Luft sofort, und zurück blieb lediglich eine dünne Kruste von ausgeschwitzten Salzen auf der Haut, die sich sandig anfühlte. Deswegen war Theo dazu übergegangen, seine Gruppen an den besonders heißen Tagen gleich unter die Kolonnaden des Tempelhaupthauses zu führen, statt den Prolog der Führung im ersten Vorhof beim Altar zu halten. Im Schatten der Kolonnaden war es im Sommer mit bis zu 46 Grad zwar immer noch alles andere als kühl, aber die Leute standen wenigstens nicht in der prallen Sonne. Zur Sicherheit hatte Theo immer einen Rucksack mit Wasservorräten bei sich. Manche der Tempelwärter nannten ihn daher leicht abfällig „Wasserträger“.

Es war jedoch erst Anfang März, und es würde noch dauern, bis es derart heiß wurde. Heute nahm Theo seine Gruppe am Bus in Empfang und führte sie wie gewohnt in den ersten Vorhof des Tempels, indem er über seinem Kopf eine Ausgabe der DuMont-Reiseberichte „Entdeckungsreisen in Ägypten 1815 bis 1819“ von Giovanni Belzoni schwenkte, einem der größten Raubeine unter den Pionieren der Ägyptologie, der das Grab jenes Pharaos entdeckt hatte, der auch diesen Tempel erbaut hatte. Theo war stolz auf dieses Buch, eine längst vergriffene Paperback-Ausgabe. Im äußersten Notfall war es seine Reserve gegen allwissende Touristen. Heute aber blickte er in freundliche, aufgeschlossene Gesichter, als sich seine Gruppe um ihn versammelte. Er zählte rasch durch. 16 Menschen, das war unter dem Durchschnitt.

Wie blass manche noch waren! Vermutlich übertrieben sie es mit dem Sunblocker. Natürlich wurde man in Museen, Tempeln, Gräbern, klimatisierten Hotels und Hotelschiffen oder Reisebussen nicht leicht braun, aber zwischendurch gab es genug Gelegenheit, Sonne zu tanken. Ganz so blass müssten die Leute nicht sein.

Kairo, Gizeh, Saqqara, Luxor – in kurzer Zeit hakten die Reisenden die wichtigsten kulturellen Höhepunkte ab. Gestern hatten sie den großen Amun-Tempel von Karnak besichtigt und dem Tal der Könige einen Besuch abgestattet. Das alte Ägypten im gehetzten Takt der modernen Welt. Manchmal wunderte sich Theo, dass überhaupt Zeit blieb für das eher unspektakuläre Abydos, wo es außer dem Tempel, in dessen Vorhof sie jetzt standen, keine monumentalen Prachtbauten gab. Doch Elite-Reisen, der Veranstalter, behauptete sich mit anspruchsvollen Bildungsreisen im Konkurrenzkampf. Ein realistisches Bild des alten Ägypten bestand eben nicht nur aus Kolossalstatuen des Ramses, so eindrucksvoll diese auch sein mochten, oder den grandiosen Gräbern im Tal der Könige. Niemand konnte das alte Ägypten begreifen, der nicht in Abydos gewesen war. Hier hatte sich eines der spirituellen Zentren dieser uralten Kultur befunden, denn hier war über viele Dynastien hinweg der Gott Osiris verehrt worden. Trotzdem ließen die meisten Veranstalter Abydos links liegen. Es gab einfach zu viel zu sehen am Nil.

Mit wenigen Blicken sondierte Theo seine Gruppe, und damit wusste er auch schon, wer ihm während der Führung die klugen Fragen stellen würde. Es gab immer jemanden, der meinte, zeigen zu müssen, dass er besser Bescheid wusste als der Fremdenführer, und es waren immer die Männer, von denen die klugen Fragen kamen. Der hochgewachsene ältere Mann mit dem grauen Bart etwa, der auf seinen Sunblocker vertraute und sich niemals eine Kappe auf den weitgehend kahlen Schädel setzen würde. An einem heißeren Tag als diesem müsste Theo auf ihn achten, der war ein Kandidat für einen Kollaps. Neben ihm stand ein weiterer älterer Mann, der zwar eine Kappe trug, aber bereits jetzt, im Vorhof des Tempels, wissende Blicke schweifen ließ. Kein Fremdenführer der Welt würde ihm etwas über diesen Tempel erzählen können, was er sich nicht schon angelesen hatte. Manchmal fragte sich Theo, ob Leute wie diese vielleicht nur deswegen Reisen in den Orient wagten, um nachzusehen, ob sich hier auch wirklich alles so verhielt, wie es den Büchern zufolge zu sein hatte.

Aber Theo wusste, wie er die Leute in den Griff bekam: indem er das Unkonventionelle bot. Andere Fremdenführer hätten ihren Rundgang vielleicht mit den Worten begonnen:

„Wir stehen hier im Vorhof eines der erstaunlichsten und besterhaltenen Tempel des alten Ägypten, dem Totentempel Sethos des Ersten, der einer der aktivsten Bauherren war, einer der mächtigsten aller Pharaonen, erfolgreicher Kriegsherr und Vater von Ramses dem Zweiten, auch bekannt als Ramses der Große …“

Ramses der Ficker!

Das wäre eine Provokation nach Theos Geschmack. Er hatte tatsächlich schon darüber nachgedacht, Elite-Reisen eine Führung auf den Spuren Ramses‘ des Fickers anzubieten. Der Pharao hatte im Lauf seines ewig langen Lebens rund hundert Söhne und Töchter gezeugt und den Beinamen „der Große“ daher zweifellos verdient, aber eine solche Führung wäre vermutlich dennoch einen Tick zu unkonventionell. Doch auch ohne deftige Zuspitzungen wusste Theo seine Reisenden zu überraschen.

„Mein Name ist Theodor Magenheim, ich bin 35 Jahre alt und seit 35 Jahren und neun Monaten Archäologe, und ich möchte Ihnen heute eines der menschheitsgeschichtlich frühesten Beispiele einer umfassenden Finanzkrise vorstellen: den Totentempel Sethos des Ersten.“

Die Frauen in der Gruppe hatte er normalerweise gewonnen, noch ehe er das erste Wort sagte, denn er hatte strahlend blaue Augen, die aus seinem braunen Gesicht blitzten, war fast einen Meter neunzig groß, breitschultrig und schlank, und er konnte ausgesprochen gewinnend lächeln. Natürlich wusste er um seine Wirkung auf die meisten Frauen und auch auf manche Männer. In welches weibliche Gesicht er lächelte, es lächelte zurück. Die Männer waren schwerer zu gewinnen, aber mit diesem Einstieg packte er sie. Finanzkrise? Damals schon?

„In der Mitte seiner Regierungszeit als Pharao, etwa um das Jahr 1283 vor Christus“, sagte Theo mit erhobener Stimme, „stand Sethos I. vor massiven finanziellen Problemen, und der Tempelbau stockte. Sethos hatte gerade einen teuren Feldzug nach Nubien geführt, um dort mal wieder einen Aufstand niederzuschlagen, und nun war das Geld alle. Denn auch einem Pharao, einem Gottkönig, konnte das Geld ausgehen, obwohl er mit der umfassendsten Machtfülle ausgestattet war, die man sich vorstellen kann. Im Gegensatz zu heute waren diese Probleme aber relativ leicht lösbar: Man schickte einfach eine Minenexpedition in die östliche Wüste und ließ sie nach Gold suchen. Sethos hat das allerdings nicht viel geholfen. Der Tempel, vor dem wir hier stehen, wurde zu seinen Lebzeiten nicht mehr fertig. Erst sein Sohn Ramses II. ließ die Arbeiten abschließen. Ramses war es auch, der dafür sorgte, dass sechs der ursprünglich sieben Eingänge zum Tempelhaupthaus wieder verschlossen wurden. Wenn Sie sich die Kolonnaden ansehen, können Sie noch erahnen, wo diese sechs Zugänge gewesen sein müssen.“

Damit war er mittendrin in der Tempelführung. Theo fiel es nicht schwer, Informationen in lebendige Geschichten zu verpacken. Andere hätten vielleicht die trockenen Daten abgespult – Bauzeit von dann bis dann, Größe des Tempels so und so, Höhe der Säulen der Haupthalle und so weiter. Theo brachte diese Daten ebenfalls, aber zuerst erzählte er die Geschichte des Tempels als eines Abbilds seiner Zeit und als Schöpfung eines ungewöhnlichen Bauherrn. In Theben hatte Pharao Sethos I. sich einen Totentempel bauen lassen, der genau den Konventionen jener Zeit entsprach. Der Tempel von Abydos war anders. Das begann mit seinen sieben Kapellen und Altären, die sieben Gottheiten unter einem Dach vereinten, und den ehemals sieben Zugängen, doch es gab noch weitere Besonderheiten. Der Tempel hatte einen asymmetrischen Grundriss, was völlig gegen die Konventionen verstieß, und beherbergte in einem Seitengang die berühmte Königsliste von Abydos, in der Sethos sich in eine Ahnenreihe mit 76 Pharaonen stellte. Doch das Erstaunlichste an ihm war das Osireion, ein hinter dem Tempel liegendes, ursprünglich unterirdisches Scheingrab, wohl das ungewöhnlichste Bauwerk des ganzen alten Ägypten.

„Der ägyptischen Kunst wird manchmal vorgeworfen, starr und rituell zu sein“, sagte Theo. „Sehen Sie sich eine Pharaonenstatue aus dem Jahr 2400 vor Christus an und vergleichen Sie sie mit einer von Ramses II. 1200 Jahre später. Sie müssen schon sehr genau hinsehen, um Unterschiede oder gar individuelle Gesichtszüge zu erkennen. Dieser Tempel aber trägt eine ganz individuelle Handschrift, die sonst im alten Ägypten kaum zu finden ist. Denn Pharaonen waren zwar Menschen, also Individuen, aber sie waren als Gottkönige auch die Verkörperung der damals herrschenden Ordnung, und allzu individuell durften sie daher nicht auftreten. Das war Staatsräson. Ihre Aufgabe war die Wahrung und Mehrung des Bestehenden, nicht seine Abwandlung. Auch Tempelbauten folgten daher in der Regel starren Konventionen. Doch dieser Tempel nicht. Er ist in jeder Hinsicht eigenwillig und eigenartig, wenn man genau hinsieht.“

Zufällig blickte er ausgerechnet zu diesen Worten in die Augen der schönsten Frau in seiner Gruppe, und da stand er plötzlich neben sich.

Was mache ich eigentlich? Erzähle ich diesen Leuten gerade wirklich etwas über einen altägyptischen Tempel? Ich sollte lieber mit dieser Frau …

***

Theo vor einem Jahr. So lange war es her, dass Ilona ihn mit gewaltigem Bohei aus der Wohnung geworfen hatte, wegen eines Seitensprungs. Damals hatte er als Barkeeper im Katarakt gearbeitet, einer angesagten Bar in Berlin-Mitte. Ilona war von Anfang an nicht mit dem Job einverstanden gewesen. Plötzlich war ihr die Niedriglohn-Kellnerei, die sie vorher heftig kritisiert hatte, besser erschienen: Immerhin war er zu Hause gewesen, wenn geschlafen werden sollte.

Der neue Arbeitsrhythmus wurde zur Belastung für ihre Beziehung. Ilona arbeitete tagsüber, Theo nachts. Sie sahen sich zum Abendessen und dann wieder zum Frühstück. Beim Abendessen stritten sie, weil Theo tagsüber weder aufgeräumt noch geputzt, aber dafür lange geschlafen hatte, und beim Frühstück gab es schlechte Laune, weil Theo oft angetrunken und nach Alkohol riechend von der Arbeit kam.

Er konnte sich trotzdem nicht dazu entschließen, eine andere Arbeit zu suchen. Die Bezahlung war zwar mau, aber besser als in der Kellnerei. Außerdem ging es lebhaft zu, sie waren ein lustiges Team dort im Katarakt, und zusammen mit dem Trinkgeld stimmte auch die Knete. Jedenfalls war es besser als so ziemlich alles, was er nach seinem abgebrochenen Studium angefangen hatte. Auch wegen der Frauen. Zuerst waren es nur Flirts gewesen, wie sie sich nun einmal ergaben, wenn man als gut aussehender Barkeeper unternehmungslustige Frauen bediente. Theo hatte sich eigentlich geschworen, sich nicht auf Abenteuer einzulassen, auch wenn es zu Hause wegen notorisch schlechter Laune keinen Sex mehr gab. Doch dann war er auf Evelyn gestoßen – oder Evelyn auf ihn –, und die hatte einfach nicht locker gelassen, bis sie im Bett gelandet waren. Theo hatte festgestellt, dass Ilonas Laune gleichbleibend schlecht war, egal ob er um fünf, sechs oder erst sieben Uhr morgens nach Hause kam, und hatte zügig an der Reduzierung seines schlechten Gewissens gearbeitet. Dabei hatten Isabell, Maria, Aiyana und ein paar andere tatkräftig mitgewirkt. Zweimal war Theo sogar mit Kerlen mitgegangen.

Aber dann war da die Sache mit Rebekkas Anruf, den Ilona belauschte. Diesen einen Seitensprung musste er notgedrungen gestehen. Er beteuerte, dass er ihr im Kopf niemals untreu gewesen sei, nur eben mit dem Schwanz, aber das besänftigte sie nicht, ebenso wenig wie sein letzter Rechtfertigungsversuch:

„Wir schlafen schon lange nicht mehr miteinander.“

„Aha, jetzt bin ich natürlich schuld!“

Ilona hatte wohl schon länger genug von dieser Lebensweise und hatte es nur nicht gesagt. Umso plötzlicher fand sich Theo vor der Tür ihrer bis dahin gemeinsamen Wohnung wieder. Nicht zu Unrecht, wie er sich selbst gestand. Vielleicht war es besser so. Er war eben kein Mann für eine feste Bindung. Wahrscheinlich hatte er Ilona und sich lediglich zwei Jahre lang etwas vorgespielt. Jetzt war er frei und konnte machen, was er wollte.

Theo, der Ficker.

Er wäre ein guter Pharao gewesen.

Doch Ilona fehlte ihm. Der Job machte ihm plötzlich keinen Spaß mehr, ebenso wenig die Frauen. Außerdem musste er sich eine eigene Wohnung besorgen. Das hatte er noch nie getan, er war immer in irgendwelchen Wohngemeinschaften untergekommen. Doch mit Mitte dreißig war das nicht mehr ganz so einfach. Zunächst schlüpfte er bei Kollegen unter, die ihm allerdings bald klarmachten, dass sie keinen Dauer-Untermieter wünschten.

Eine Wohnung mieten!

Das vermeintlich freie Leben wurde anstrengend.

Heidrun war eine dieser Frauen, die nichts Verbindliches suchten, nur eine schöne Nacht, doch sie brachte ihn auf eine Idee. Sie leitete Reisegruppen. Weil sie oft wochenlang irgendwo auf der Welt unterwegs war, unterhielt sie in Berlin nur ein kleines, billiges, leicht verwahrlostes Apartment, ihren Anker in all der Herumflitzerei. Sie war gebildet, umgänglich und abenteuerlustig, und sie konnte organisieren und improvisieren – ein Talent, über das jeder Reiseleiter verfügen musste, da auf solchen Reisen offenbar ständig unvorhergesehene Probleme auftraten konnten.

Das gefiel Theo, das traute er sich ebenfalls zu. Also schrieb er Mails und verschickte Bewerbungen, die er signierte mit „Theodor Magenheim, Archäologe“. Wenige Tage später bekam er tatsächlich einen Anruf: Ob er sich mit dem alten Ägypten auskenne? Aber sicher!

Das war keineswegs gelogen. Er war zwar nur einmal persönlich in Ägypten gewesen, hatte aber alles über die alte Hochkultur am Nil gelesen, dessen er hatte habhaft werden können. Das alte Ägypten faszinierte ihn seit seiner Kindheit. Diese Leidenschaft hatte ihn auch dazu bewegt, sich für Archäologie an der Uni einzuschreiben, doch schon bald wurde ihm das Studium zu systematisch, zu verschult und zu eng – wie dazu geschaffen, ihm alle Begeisterung auszutreiben. Enge konnte er auf den Tod nicht ausstehen. Damals hatte er noch versucht, einen Platz als Praktikant bei einer Grabung im Nildelta zu bekommen. Vielleicht hätte die direkte Begegnung mit dem alten Ägypten sein Studium gerettet. Doch die Praktikumsplätze waren rar, es klappte nicht. Stattdessen ein Angebot für eine Kelten-Grabung im Kreis Sigmaringen. Da brach Theo das Studium ab.

Dennoch las er weiterhin alles über Ägypten und häufte Wissen an – sinnloses Wissen, hätte sein Vater gesagt, wenn er noch leben würde. Denn wozu brauchte Theo dieses Wissen?

Lern etwas Vernünftiges, Junge!, hörte Theo den Alten sagen. Doch Theo konnte und wollte nicht anders. Das alte Ägypten faszinierte ihn weiterhin.

„Es ist wohl eine Art von Inselbegabung.“

Mit diesen Worten hatte ihm Ilona etwa zur Halbzeit ihrer Beziehung zu verstehen gegeben, dass sie Theos Leidenschaft nun resigniert zu akzeptieren gedachte – was natürlich, typisch Ilona, als Provokation verpackt wurde. Inselbegabte waren häufig Autisten. Theo jedoch hatte Freunde, einen Job und führte ein weitgehend normales Leben, auch wenn er sich in schwachen Stunden eingestand, dass er vielleicht das eine oder andere Defizit haben mochte. Aber Inselbegabung? Er hielt es für sinnlos, nach Gründen dafür zu suchen, warum er sich ausgerechnet für Ägypten begeisterte. Es war eben einfach so. Er hatte offensichtlich ein Talent dafür – und zugleich hatte er das Problem, dass sich niemand in seinem näheren Umkreis dafür interessierte. Hätte er mit fünf Jahren sein erstes Menuett komponiert und wäre im zarten Alter von sechs Jahren auf Klavier-Konzertreise gegangen, wäre er für diese Begabung bewundert und gefeiert worden wie einst Mozart. Doch sein Talent war stillerer Natur. Theo war davon überzeugt, dass es Millionen von Menschen mit solchen Talenten und Interessen gab, die nur deswegen früh vertrockneten, weil sie damit keine Anerkennung erlangten.

Verschwendete Zeit? Oh nein, im Gegenteil! Es war für ihn die beste Zeit des Tages, wenn er Neuigkeiten über das alte Ägypten fand. So wie just an dem Tag, an dem er bei Ilona rausflog. Er war bei einem Freund untergekommen und surfte im Netz, und eine der Websites, die er regelmäßig besuchte, brachte die faszinierende Meldung, dass tief im Felsen am Fuß der Pyramiden von Gizeh ein Grab gefunden worden war. Viereinhalb Jahrtausende schien es alt zu sein. „Tomb of Osiris discovered“, war die Meldung betitelt – Osiris-Grab entdeckt. Eine Meldung, die Theo elektrisierte. Ilona war vergessen, zumindest für den Moment.

Unbekannte Baumeister hatten Korridore und Schächte über Dutzende von Metern in die Tiefe des Gizeh-Plateaus getrieben, um den Grundwasserspiegel zu erreichen, und dort unten hatten sie eine Kammer in den Fels geschlagen, in der auf einem künstlichen Hügel, der aus einem unterirdischen Teich ragte, ein Sarkophag stand. Es gab keinerlei Informationen darüber, wer dort unten bestattet worden war, die Grabkammer war völlig nackt, der uralte Sarkophag undekoriert und unbeschriftet, doch es musste jemand von Bedeutung gewesen sein, da sonst nicht dieser Aufwand getrieben worden wäre. Natürlich nicht der Gott Osiris, insofern war die Überschrift des Artikels falsch. Aber ein Pharao als Osiris, das war denkbar. Vielleicht Cheops, der Pharao, dessen Grabmal die berühmteste Pyramide der Welt war?

Es waren Rätsel dieser Art, die Theo fesselten. Wie gern hätte er dieses Grab entdeckt! Entdecker – das wäre ein Job, der zu ihm passte, fand Theo. Stattdessen wurde er – nein, nicht Reiseleiter. Aber etwas Ähnliches. Und zum ersten Mal konnte er sein Spezialwissen nutzen

„Sie kennen sich also in Ägypten aus?“, fragte Jonas Marquardt, der sich bei Elite-Reisen um Akquise kümmerte. „Wo waren sie denn schon überall?“

Theo zählte die Orte auf, die er damals besucht hatte: Kairo natürlich, Luxor und Karnak, das Tal der Könige und die nahen archäologischen Stätten Deir el-Bahari und Deir el-Medina, natürlich auch Philae, Edfu, Dendera, Alexandria, Abydos …

Bei Abydos horchte Marquardt auf.

„Erzählen Sie mir etwas über Abydos“, forderte er Theo auf, und das tat Theo, indem er ihn in diesem reizlosen Büro eine halbe Stunde durch den faszinierenden Totentempel des Sethos und durch das Osireion führte, das er ihm als das erstaunlichste Bauwerk ganz Ägyptens verkaufte.

„Tragen Sie nicht ganz so dick auf“, rüffelte Marquardt, „und bleiben Sie bei den Fakten. Der Tempel ist nicht so groß wie zwei Fußballfelder hintereinander, sondern nur wie eineinhalb. Aber ansonsten war das eine saubere Vorstellung.“

Eine Festanstellung war nicht drin, aber Marquardt bot ihm an, Theo regelmäßig zu buchen, wenn er sich entschließen würde, in Abydos freiberuflich Führungen anzubieten. Zwei Führungen pro Woche, 100 Euro pauschal pro Führung, das alles auf Probe für ein halbes Jahr, und wenn Theo sich bewährte, werde er mehr zu tun bekommen. Als freier Fremdenführer sei er natürlich völlig ungebunden und könne seine Dienste auch anderen Veranstaltern anbieten.

„Warum haben Sie mich zu einem Vorstellungsgespräch eingeladen, wenn Sie mir keine Anstellung anbieten können?“, fragte Theo leicht enttäuscht.

„Weil wir zurzeit Probleme haben, unser ägyptisches Programm zu gewährleisten. Die Fremdenführer werden allmählich rar.“

„Gerade dann müssten Sie den Leuten, die für Sie arbeiten sollen, gute Angebote machen.“

„Es ist ein bisschen komplizierter. Ägypten hat sich zu einem schwierigen Pflaster entwickelt, wegen der Islamisten“, gab Marquardt offen zu. „Wir können uns nicht auf Festanstellungen einlassen, weil niemand sicher sagen kann, ob wir Ägypten im nächsten Jahr überhaupt noch im Angebot haben werden. Wenn der Einfluss der Radikalen weiter zunimmt, machen die das Land vielleicht dicht.“

„Die wären schön doof“, wandte Theo ein. „Ägypten ist wirtschaftlich vom Tourismus abhängig.“

„Das interessiert die Radikalen nicht. Die haben nur ein Leben für ihre Religion im Kopf, und wenn das Land verarmt – umso besser für sie. Armut bedeutet Mangel an Bildung, und wo es keine Bildung gibt, haben die religiösen Fanatiker mit ihren einfachen Ideen umso leichteres Spiel.“

Das leuchtete Theo ein. Elite-Reisen suchte also Leute, die sich auf eigenes Risiko in ein Land begaben, in dem religiöse Hetzer immer mächtiger wurden – und das auch noch für ein mickriges Honorar von rund 800 Euro im Monat.

„Das ist ein Einkommen, von dem man in Ägypten gut leben kann“, gab Marquardt zu bedenken.

Theo bat sich Zeit aus, denn auch wenn dieses Geld für ein Leben in Ägypten reichte – und auch wenn er mit der Zeit vielleicht häufiger gebucht wurde und mehr verdiente –, dann ginge er ja schließlich nicht nach Ägypten, um auf Dauer dort zu bleiben. Er hatte keine Lust, in einem Land zu leben, in dem Islamisten den Ton angaben, selbst wenn dieses Land Ägypten hieß. Viel eher hatte er sich vorgestellt, als Reiseleiter satt zu verdienen und vielleicht endlich mal etwas zurückzulegen. Und auch an hübsche Touristinnen hatte er durchaus gedacht. Ein Leben, wie Heidrun es führte, konnte er sich aber wohl aus dem Kopf schlagen.

Zurzeit beliefen sich seine Ersparnisse auf etwas mehr als zweitausend Euro. Das war notfalls genug, um jederzeit zurückfliegen zu können, wenn er scheitern sollte. Was hatte er also zu verlieren? Er könnte endlich nach Ägypten!

Ein paar Tage lang las er online alle politischen Nachrichten, die er finden konnte, um sich ein Bild von der Lage im Land zu machen. Probleme gab es eher im Verhältnis zu Israel – dauernd Schießereien auf dem Sinai, Reibereien wegen Gaza. Religiöse Extremisten sprengten die israelischen Grenzanlagen und verübten Anschläge auf die Grenztruppen, und Ägypten tat so gut wie nichts dagegen. Innerägyptisch schien es dagegen eher so, als ob die Islamisten sich untereinander bekämpften. Das hielt Theo für praktisch, denn umso weniger würden sie gegen Ungläubige vorgehen.

Theo würde Arabisch lernen müssen, aber das traute er sich zu. Am besten in Ägypten im direkten Kontakt mit den Leuten. So lernte Theo am einfachsten. Die Fähigkeit zu verstehen, was jemand meinte, ohne sofort zu verstehen, was er sagte, gehörte für einen Barkeeper zur Grundausstattung.

Nach kurzen Verhandlungen übernahm der  Reiseveranstalter die Kosten des Hinflugs und stellte ihm für den ersten Monat eine Unterkunft und einen Sprachlehrer zur Verfügung. Außerdem handelte Theo ein monatliches Fixhonorar von 500 Euro aus, das ihm ein halbes Jahr lang auch dann gezahlt werden würde, wenn die Buchungen wider Erwarten ausblieben. Und so machte Theo sich auf den Weg nach Ägypten. Einen Job wie den im Katarakt würde er in Berlin jederzeit finden, falls es in Abydos nicht klappte. Gute und gut aussehende Barkeeper  waren immer gesucht. So viel Selbstsicherheit musste sein. Männer wie er zogen weibliche Gäste an, und wo Frauen sich ins Nachtleben stürzten, da blieben weitere männliche Gäste nicht lange fern.

Von der deutschen Hauptstadt zog er in die oberägyptische Kleinstadt. Doch als Theo in Araba el-Medfuna – so der arabische Name  von Abydos – vor dem Hotel Osiris aus dem Taxi stieg, begriff er, wie abenteuerlich sein Projekt tatsächlich war. Sein erster Besuch war lange her. Abydos war ein Nest! Ein paar asphaltierte Straßen rund um einen kleinen, zentralen Park, über den sich die Reste des Sethos-Tempels quasi mitten aus dem Ort erhoben. Rund um den Park ein paar halbwegs ansehnliche Bauten, in den Gassen dahinter ärmliche, schäbige Häuser, die Theo älter vorkamen als der Tempel. Außer den antiken Stätten, die sich auf mehrere Quadratkilometer in der Wüste verteilten, bot die Stadt nichts, es gab keine Restaurants, Clubs und auch keine Partymeile. Die meisten Touristen, die Abydos besuchten, wohnten entweder auf einem der Hotelschiffe, die unten in El-Balyana anlegten, oder sie kamen zu Tagesausflügen per Bus von Luxor herüber, das etwa 160 Kilometer nilaufwärts lag. So konnte in Abydos natürlich keine Infrastruktur entstehen.

Das einzige Hotel am Ort, das westlichen Standards halbwegs genügte, war das Osiris, kaum mehr als eine billige, einfache Absteige mit einem kleinen Pool auf dem Dach, von dem man einen wundervollen Ausblick über den Sethos-Tempel und die Wüstenbucht von Abydos hatte. Hier bezog Theo Quartier, vermittelt durch den Reiseveranstalter. Es sollte nur für den ersten Monat sein, damit Theo Zeit hatte, sich eine Unterkunft zu suchen, aber die Dinge entwickelten sich anders.

Eines Abends herrschte an der Bar des Hauses Notstand. Diese Bar war so ziemlich der einzige Ort in ganz Abydos, an dem man halbwegs gepflegt trinken konnte, gemessen an westlichen Standards. Es gab gezapftes Bier und recht ordentlichen Whisky, und das war der Grund dafür, dass die Bar des Osiris Anlaufpunkt für etliche der Archäologen war, die in Abydos gruben und die nach der Arbeit Entspannung und freundliche Gespräche suchten. Auch an jenem Abend hatten sich diese Leute im Osiris eingefunden, doch Mahmut, der Mann, der normalerweise hinter der Bar stand, war nicht zur Arbeit gekommen. Alia, die Chefin des Hauses, versuchte sich persönlich als Barkeeperin, doch das konnte Theo nicht mitansehen. Ungefragt ging er ihr zur Hand.

So kam er zu einem Zweitjob – jedenfalls bis sich das Rätsel um Mahmuts Verschwinden aufklärte. Drei Tage später stand der Ägypter, ein schmaler, leicht gebeugt gehender Mann von 45 Jahren, weinend vor Alia und bat darum, seinen Job behalten zu dürfen. Es stellte sich heraus, dass Mahmuts Mutter einen Schlaganfall erlitten hatte. Mit Mühe hatte Mahmut einen Krankentransport nach El-Balyana arrangiert. Für arme Leute wie sie gab es keine Rettungsdienste. Ein Handy hatte er ebenfalls nicht, so dass er nicht im Osiris hatte Bescheid sagen können. Ein Nachbar hatte die alte Frau mit seinem dreißigjährigen Pickup ins elf Kilometer entfernte Hospital gebracht. Die Notbehandlung war gratis, die Diagnose auch: irreparable Hirnschäden. Mahmut wollte seine alte Mutter zu Hause pflegen, zusammen mit einer Schwester, und das war schwierig genug, aber wenn Alia ihn entließ, würde er scheitern.

Als Theo diese Geschichte hörte, begriff er, dass er zum ersten Mal in seinem Leben ein reicher Mann war, denn für ihn würde der Rettungsdienst kommen. Er bat Alia, Mahmut nicht zu entlassen, doch das hatte Alia ohnehin nicht vor. Sie war eine Witwe von fünfzig Jahren, klein, mit blitzenden Augen, schlechten Zähnen und sehr durchsetzungsfähig – und mit Herz. Mahmut bekam sein Gehalt weiter, bei reduzierter Arbeitszeit. Den Rest übernahm Theo, der dafür von nun an kostenlos im Osiris wohnen durfte – was ihm wesentlich besser gefiel, als sich eine eigene Unterkunft suchen zu müssen, jetzt, nachdem er sich an den eigenwilligen Geruch der alten Teppiche und der schlecht gelüfteten Matratzen des Hauses gewöhnt hatte. Dennoch bestellte er sich über das Internet eine neue Matratze für sein Hotelbett.

Alia war eines der ersten arabischen Wörter, die er in Abydos lernte: die Erhabene. Manchmal nannte sie ihn Ben – Sohn.

Es gefiel ihm immer besser in Abydos. Als Barkeeper konnte er wie selbstverständlich mit den Archäologen reden, als wäre er einer von ihnen. Zurzeit gruben drei Teams in Abydos. Eines schaffte den Sand weg, der die Mastaba des Weni verweht hatte, eines Wesirs, der um 2250 vor Christus gestorben war. Ein zweites grub einen halben Kilometer hinter dem Sethos-Tempel Beamtengräber aus der Zeit des Mittleren Reiches aus, und das dritte erforschte die Pyramide des Ahmose, des Pharaos, der jene Blütezeit Ägyptens eingeleitet hatte, die als Neues Reich bezeichnet wurde. Ja, es gab tatsächlich eine Pyramide in Abydos. Sie war allerdings kaum mehr als solche zu erkennen – ein zehn Meter hoher Schutthaufen, der wie ein ziemlich banaler Hügel aussah.

Natürlich wollten die Wissenschaftler wissen, woher Theo so viel über das alte Ägypten wusste. Er erzählte von seinem abgebrochenen Studium und davon, dass er aus persönlichem Interesse archäologische Websites las. Das Manko des Studienabbrechers interessierte diese Leute kaum. Sie mochten Querdenker und hatten oft selbst Lebensläufe vorzuweisen, die jeder Arbeitgeber in Deutschland als abenteuerlich abgelehnt hätte.

Gelegentlich checkten Rucksackreisende im Osiris ein, junge Leute aus Europa, den USA oder Australien, aber in diesem Frühjahr schienen es deutlich weniger zu sein als im letzten. Dabei war die Zeit von Oktober bis April die beste Zeit, um Ägypten zu bereisen, bevor es zu heiß wurde. Die eigentliche Klientel des Osiris waren zurzeit ägyptische Geschäftsreisende und manche Archäologen, die ein festes Dach über dem Kopf dem Leben im Zeltlager vorzogen.

Wie nebenbei lernte Theo Arabisch. Selbst was die Frauen betraf, fand sich eine Lösung. Theo fremdelte mit den Ägypterinnen, aber dafür lief es gut mit Jennifer, einer Archäologin von der Weni-Grabung. Sie trafen eine Art stillschweigender Übereinkunft und genossen die Zeit, die sie miteinander verbrachten. Es war klar, dass niemals mehr daraus werden würde, denn Jennifers Mann wartete in Denver/Colorado auf sie, und im Kopf war sie ihm treu, nicht aber zwischen den Beinen. Das war ganz nach Theos Geschmack, auch wenn er manchmal das befremdende Gefühl hatte, dass sie dabei an ihren Mann dachte.

So richtete sich Theo in Abydos ein, bis er schließlich das Gefühl hatte, angekommen, ja, zu Hause zu sein. Er konnte tatsächlich Geld zurücklegen – doch das interessierte ihn immer weniger. Er fühlte sich auf angenehme Weise geerdet, ganz anders als in Deutschland. Niemand forderte mehr von ihm, als er freiwillig zu geben bereit war, niemand wollte, dass er etwas sein sollte, was er nicht war, und trotzdem hatten alle etwas davon. Der Reiseveranstalter konnte Abydos im Programm halten, Alia verdiente gut daran, dass Theo die Bar des Osiris in Schwung hielt, und Theo erledigte seine Arbeit mit Spaß und Engagement, erkundete das alte Abydos und die sandigen Hügel der Wüste, fühlte sich rundum wohl und genoss das Gefühl, jederzeit irgendwo einen Spaten ansetzen und Entdecker werden zu können. Mit dem Kalkül des Erwachsenen dagegen überlegte er, ob er sein Angebot für die Reiseveranstalter erweitern und zusätzlich zur Führung durch den Sethos-Tempel eine Führung durch das frühgeschichtliche Abydos anbieten sollte – denn immerhin gab es hier Königsgräber, die fünftausend und mehr Jahre alt waren.

Vielleicht hatten bald sogar die Abydener und ihre Stadt etwas davon, dass Theo hier war und seinen eigenen Stil mitgebracht hatte. Vor einigen Monaten hatte er einen der Individualisten, die im Osiris aufschlugen, durch das alte Abydos geführt, einen Mann namens Norman Hays, der, wie er inzwischen wusste, ein bekannter Künstler war, der sich ihm aber lediglich als „Spurensucher“ vorgestellt hatte. Solche Spurensucher gab es viele. Sie redeten sich ein, auf der Suche nach irgendwas zu sein; dabei waren sie meistens auf der Flucht vor irgendwas – überwiegend sich selbst.

Vor einem halben Jahr, im Oktober, hatte Norman Hays im Osiris eingecheckt. Inzwischen war er längst weitergewandert. Er bereiste das Land auf den Spuren eines Vorfahren, der vor 180 Jahren als Landschaftsmaler in Ägypten unterwegs gewesen war, und er versuchte, die genauen Standorte zu ermitteln, wo damals Bilder entstanden waren, und fotografierte und malte dieselben Gegenden und Perspektiven, dieselben Objekte erneut. Eines dieser Bilder, die Norman ihm auf seinem Tablet-Computer vorführte, berührte Theo, denn es zeigte den Tempel des Sethos – also seinen, Theos Tempel, von dem er lebte und den er von Tag zu Tag schöner und vollkommener fand. Doch auf der Radierung aus dem Jahr 1833 war der Tempel fast völlig unter Sand und Schutt verborgen, nur Teile der zwölf mächtigen Pfeiler der Eingangskolonnaden schauten düster aus den Verwehungen.

Es war ein Bild aus einer anderen Zeit.

***

Theo wandte den Blick gerade noch rechtzeitig ab, ehe er sich lächerlich gemacht hätte. Die hübsche Touristin, die er angestarrt hatte, grinste schon, und ihr ziemlich aufmerksamer Begleiter grinste mit ihr und legte soeben betont gemächlich seinen Arm um ihre Schultern. Die anderen Touristen wunderten sich höchstens über die ungewöhnlich lange Kunstpause, ehe Theo sich räusperte und mit seiner Führung weitermachte.

„Der eigentliche Auftraggeber dieses Tempels“, fuhr Theo hastig fort, „war vermutlich nicht Sethos, sondern ein Mann namens Haremhab, der dem Ketzerkönig Echnaton als General gedient hatte und unter Tut-ench-Amun Oberbefehlshaber des Heeres war, bevor er als alter Mann selbst Pharao wurde. Er war der letzte Pharao der 18. Dynastie, doch leider wissen wir nicht, in welcher verwandtschaftlichen Beziehung er zu Echnaton und Tut-ench-Amun stand. Sethos seinerseits war unter Haremhab General, so wie auch sein Vater Ramses I., und er hat sich wohl schon zu Haremhabs Zeiten um den Bau dieses Tempels gekümmert. Sethos selbst hat ja nur elf Jahre als Pharao regiert, also nur fünf Jahre weniger als Helmut Kohl …“

Kunstpause. Theo hatte die Lacher seiner Seite, denn Helmut Kohl als Pharao …

„ … Bundeskanzler gewesen ist, aber elf Jahre sind natürlich trotzdem eine lange Zeit.“

Dieser Gag funktionierte natürlich nur mit deutschen Touristen. Britischen Reisegruppen erzählte er die Geschichte in der Version mit Maggie Thatcher, die genauso lange Premierministerin gewesen war wie Sethos Pharao, und US-Amerikaner staunten gern darüber, dass es Zeiten gegeben hatte, in denen ein weltmächtiger Mann länger als Ronald Reagan regiert hatte. An einen Präsidenten namens Roosevelt erinnerten sich viele von ihnen kaum.

Nun war Theo wieder in der Spur. Er zwinkerte der Touristin und ihrem Mann zu. Sie war wirklich schön, und ihr Kerl passte zu ihr.

Theo hob das Belzoni-Buch und rief:

„Wollen Sie mir bitte folgen!“

Wieder funktionierte der bewährte Trick mit den Bezügen zur Gegenwart, der seine Führungen so anschaulich machte. Der Sethos-Tempel hatte sieben Kapellen für sieben Gottheiten?

„Stellen Sie sich mal eine christliche Kathedrale mit sieben Altären für verschiedene Götter vor.“

Das war natürlich einer der Punkte, an dem die Besserwisser einhaken konnten, und so war das von Theo auch kalkuliert.

„Der Clou beim Christentum“, sagte der ältere Mann, der keine Kappe trug, „ist aber gerade, dass es nur einen Gott gibt.“

„Ist das so?“, erwiderte Theo. „Und was ist dann mit dem Gott der Protestanten, der Altkatholiken, der orthodoxen Kirchen, der Pius-Brüder oder meinetwegen auch der Zeugen Jehovas? Ist die Zeit der Vielgötterei wirklich vorbei?“

„Aber die alle glauben nur an ihren jeweils eigenen Gott.“

„So wie auch Sethos nur an den einen Gott glaubte: sich selbst. Schließlich war er Gottkönig! Trotzdem gibt es hier sechs Altäre neben dem für Sethos selbst. Wir stehen hier gerade zufällig vor seinem eigenen Altar.“

Im Halbdunkel der Tempelhalle lief den Menschen ein Schauer den Rücken hinab, während Theo auf die Kapelle des Sethos und ihren Altar wies. Die Menschen fühlten sich klein zwischen den gewaltigen, einem Dutzend Meter hohen Säulen – und das fühlte sich anders an als zwischen den dreißig oder gar vierzig Meter hohen Säulen einer gotischen Kathedrale, schon allein deswegen, weil alle wussten, dass die Säulen des Sethos mehr als zweitausend Jahre länger hier standen als die frühesten gotischen Säulen. Länger sogar, als es das Christentum insgesamt gab.

„Ich habe Ihnen gerade etwas vorgeflunkert“, fuhr Theo fort, als kein Einwand kam. Dies war eine leichte Reisegruppe. „Der Gedanke, man müsse vor allem an sich selbst glauben, um es zu etwas zu bringen, hat zwar sicher auch im alten Ägypten schon Anhänger gehabt, aber tatsächlich glaubte Sethos zumindest offiziell auch an Amun, schon aus Gründen der Staatsräson, denn Amun war der Reichsgott. Außerdem glaubte Sethos wie jeder Ägypter an Osiris, den Herrn der Unterwelt, dessen Kultzentrum Abydos ist und der hier im Tempel auch einen Altar hat – und zwar direkt neben dem Staatsgott Amun.“

Theo ließ Geschichten über Geschichten folgen, während er seine Gruppe durch die Tempelhalle führte. Dann lotste er sie durch ein unauffälliges Portal neben dem Sethos-Sanktuar in einen langen Gang und lenkte ihre Blicke auf ein Relief, das Sethos und seinen Sohn Ramses vor einer unendlich scheinenden Liste von Namenskartuschen zeigte – die Königsliste von Abydos. 76 Pharaonen waren da gelistet, 1800 Jahre ägyptischer Herrschaft.

Anschließend ging es hinaus aus dem Tempel auf das rückwärtige Gelände, hinaus zum Osireion im hinteren Teil des Tempelbezirks.

Schon während Theo die Treppe zum tiefer liegenden Gelände hinter dem Tempel hinabstieg, sah er, dass etwas nicht stimmte.

Seit einigen Tagen waren hier Arbeiter unterwegs, die den Bereich um das Osireion für den Einsatz einer Ingenieursfirma vorbereiteten. Die Leute von Deep Dry sollten eine Anlage installieren, die rund um das Osireion Grundwasser abpumpte und so den Wasserspiegel im Bauwerk regulierte. Darin lag eine gewisse Komik, denn normalerweise hing in Ägypten alles davon ab, Felder, Plantagen und Haine zu be-wässern. Aber das Osireion war kein Hain, sondern eine künstliche Gruft, ein dreitausend Jahre altes architektonisches Wunderwerk, das unter dem steigenden Grundwasserspiegel litt. Die Deep Dry-Ingenieure sollten dieses Problem eindämmen und das Osireion retten, bevor das Wasser in den Kapillaren der Säulen und Mauern noch mehr Schäden anrichtete.

Doch von der Inbetriebnahme war man weit entfernt. Zuerst musste das Areal nach allen Regeln der Kunst erkundet und gesichert werden, um festzustellen, wo gebohrt werden konnte, damit keine verborgenen Artefakte beschädigt wurden. Das bedeutete, dass Massen von Sand und Schutt weggeschafft werden mussten, die sich in den Jahrzehnten seit der Freilegung des Tempels wieder angesammelt hatten.

Theo berichtete seiner Reisegruppe von diesem Projekt, während er zugleich aus den Augenwinkeln registrierte, dass die Arbeiter nicht etwa Sand und Schutt forttrugen, wie sie es während der vergangenen Tage getan hatten. Vielmehr hatten sie sich an einer Stelle des Tempelareals, die vielleicht dreißig Meter vom Osireion in der Nähe der alten Umfassungsmauer entfernt lag, zusammengefunden und starrten auf etwas am Boden.

Theo beschleunigte seinen Schritt. Er sah keinen Aufseher, keinen ihm bekannten Archäologen, nur die Arbeiter. Sie scharrten im Grund. Er wandte sich an seine Reisegruppe:

„Warten Sie bitte einen Moment.“

Dann eilte er zu den Arbeitern hinüber. Die Männer kannten ihn natürlich und machten ihm unsicher Platz. Dort im Boden, auf den sie starrten, war deutlich ein Spalt zwischen den steinernen Platten zu sehen. Er war  vielleicht einen halben Zentimeter breit und einen Meter lang, und seine Ränder waren gerade, wie mit dem Lineal gezogen. Ordentliche Steinmetzarbeit.

Eine Deckplatte!, durchzuckte es Theo. Auch wenn er, der Studienabbrecher, dergleichen nie mit eigenen Augen gesehen hatte, war er Archäologe genug, um zu erkennen, was das bedeutete: Unter den Steinplatten befand sich ein Hohlraum!

„Sabach el-Nur“, grüßte Theo etwas verspätet. „Wer ist hier der leitende Archäologe?“

„Sabach el-Cheir“, erwiderte einer aus der Gruppe, ein drahtiger Ägypter in staubigen Jeans und dreckigem T-Shirt. „Ich bin der Vorarbeiter.“

Theo entschuldigte sich wortreich, wie es im Arabischen üblich war, denn er hatte Ramadan, staubig wie er war, kaum wiedererkannt. Dabei hatte Theo sich erst vorgestern nach einer Führung ausführlich mit ihm unterhalten. Daher wusste er ja alles über das Deep Dry–Projekt. Aber warum war kein Archäologe anwesend? Die Leute bewegten Sand und Schutt innerhalb der Umfassungsmauern eines bedeutenden Tempelareals – ohne die Aufsicht eines Fachmanns?

„Niemand darf diesen Spalt anrühren, wenn kein Archäologe dabei ist“, sagte Theo. „Sonst gibt es nur Ärger mit der Altertümerverwaltung.“

„Serafina hat gesagt, sie ist gleich wieder da“, gab Ramadan achselzuckend zurück. „Das war vor drei Stunden. Ich habe schon versucht, sie anzurufen, aber das Telefon ist abgeschaltet.“

Theo hatte keine Ahnung, von wem der Vorarbeiter sprach. Einer Archäologin namens Serafina war er bisher nicht begegnet. 

„Dann müsst ihr entweder warten oder jemand anderen holen.“ Theo hatte eine Idee. Es war zwar nicht eilig, aber er war neugierig darauf, was sich unter der Steinplatte verbarg. „Wie wäre es, wenn ihr Bill Sheridan anruft? Von der Cheti-Grabung. Die sind nur einen halben Kilometer weit weg.“

Für einen Moment spielte Theo mit dem Gedanken, die Sache selbst zu übernehmen. Er konnte das, davon war er überzeugt, aber er schreckte vor der Verantwortung zurück. Mit den Typen von der Altertümerverwaltung wollte er nichts zu tun haben. Er hatte sie einmal in Aktion erlebt, und das genügte. Wenn bei einer Grabung nicht alles genau nach den Regeln ablief, die durch die Behörde festgelegt waren, dann konnten diese Leute wirklich unangenehm werden. Theo war kein Archäologe, er hatte keinen Abschluss vorzuweisen. Unter dieser Steinplatte konnte sonst was sein. Eine ähnliche Steinplatte hatte im Tempel von Karnak bei Luxor ein Depot von sechshundert Statuen abgedeckt, von denen etliche seitdem zu den bedeutendsten Kunstwerken des alten Ägyptens zählten.

„Bill Sheridan, natürlich“, sagte Ramadan. „Ich rufe ihn an.“

„Lass nur“, erwiderte Theo und zog sein Handy hervor. „Ich mache das schon.“

Er kannte Bill von der Bar des Osiris, und es brauchte kaum drei Worte, um den Archäologen dazu zu bewegen, beim Osireion vorbeizuschauen.

„Ihr dürft hier nichts anrühren“, schärfte Theo Ramadan und den Arbeitern noch einmal ein. „Macht am besten in der gegenüberliegenden Ecke des Geländes weiter, bis Bill kommt. Ich muss zu meiner Reisegruppe zurück.“

Die Leute reckten schon die Köpfe, und einige kamen gerade näher und wollten sehen, was da los war. Theo fing sie wieder ein, und mit dem gewinnendsten Lächeln, zu dem er fähig war, sagte er:

„Die Arbeiter sind auf eine lose Steinplatte gestoßen. Das kommt in Ägypten alle paar Sekunden vor. Vielleicht lesen Sie zu Hause bald etwas über einen sensationellen Fund, aber wahrscheinlich ist es einfach nur eine lose Steinplatte. Habe ich Ihnen schon erzählt, wie mir in meiner Wohnung in Berlin mal eine Wandkachel auf den Kopf gefallen ist, während ich auf dem Klo saß? Das musste genäht werden.“

Die Menschen lachten und studierten Theos hübschen Kopf, obwohl sie ihm natürlich nicht glaubten. Theo erzählte ihnen etwas über altägyptische Medizin und wie den Toten das Gehirn beim Mumifizieren durch die Nase herausgezogen werden musste, während er die Leute Richtung Osireion leitete, und das war gruselig genug, um sie abzulenken.

2. Kapitel

Sethos-Tempel, Abydos

2. März 2014, 11 Uhr

Zum ersten Mal spulte Theo zum Schluss einer Führung einfach nur sein Programm ab. Er ärgerte sich über sich selbst, denn die letzte Station, das rätselhafte Osireion, war eigentlich der Höhepunkt der Führung. Die einen sagten, es handle sich um das Scheingrab des Sethos, während die anderen meinten, es mit einem Tempel zu tun zu haben, der älter war als der des Sethos, und es gab sogar Leute, die die Auffassung vertraten, das Osireion sei das Grab des Gottes Osiris selbst, denn angeblich sei hier einst sein Schädel bestattet gewesen. Doch Theo war mit dem Kopf völlig bei dem Felsspalt und der lockeren Steinplatte, ob er wollte oder nicht. Es war das erste Mal, dass er womöglich Zeuge einer archäologischen Entdeckung wurde, und er musste unbedingt dabei sein, wenn Bill Sheridan die Platte entfernte.

Was mochte sich darunter verbergen? Ein Zugang zu unterirdischen Gewölben? Dann dürften die Deep Dry-Leute gleich mal zeigen, was sie konnten, denn solche Gewölbe wären vermutlich voller Wasser. Ein Statuen-Depot wie damals im Tempel von Karnak? Oder vielleicht nur das geheime Versteck eines Tempelnovizen, in dem er das altägyptische Pendant von Murmeln vor seinen gestrengen Lehrern versteckt hatte? Selbst das wäre ein interessanter Fund, der Einblicke geben konnte in Lebensgewohnheiten jener Zeit.

Und wenn dort ein Schatz liegt? Goldschmuck, Edelsteine?

Auch solche Funde hatte es schon gegeben.

Obwohl er abgelenkt war, brachte Theo die Führung zu einem leidlich guten Ende. Jetzt noch rasch die abschließende Fragerunde, bei der er diesmal allerdings nur knappe Antworten gab – gerade so viel, wie nötig war. Doch offenbar hatte er alle Bedürfnisse ausreichend befriedigt, denn sein Trinkgeld bewegte sich im normalen Rahmen. Gratis obendrauf schenkte ihm die schöne Touristin, die er vorhin so unangemessen angestarrt hatte, ein ziemlich anzügliches Lächeln, als er die Leute am Bus wieder in die Gegenwart entließ.

Theo traf gerade rechtzeitig wieder beim Osireion ein, um auf Bill Sheridan zu stoßen.

„Gute Reaktion“, sagte Bill anerkennend, als Theo ihm den Spalt zeigte. „Es war genau richtig, mich zu holen. So eine Fundstelle muss sofort gesichert werden. So was spricht sich immer schnell herum, und ehe man es sich versieht, sind Plünderer dagewesen.“

Ramadan und seine Männer waren schon bei ihnen. Bill hatte die beiden Studenten mitgebracht, die bei ihm ihr Grabungspraktikum leisteten, Fred und Sonja. Theo kannte beide von der Bar des Osiris. Fred war ein lustiger, etwas linkischer Bursche, und auf Sonja hatte Theo mehr als nur einen Blick geworfen, auch wenn er sie etwas jung fand. Doch jetzt galt seine ganze Aufmerksamkeit dieser Fuge zwischen den Steinplatten und nicht Sonjas ausgeprägten Kurven.

Bill Sheridan war ein Mann von 72 Jahren und verfügte über jene enorme Ausstrahlung, die nur ein langes, tatkräftiges und erfolgreiches Leben verlieh. Theo überragte ihn zwar um einen halben Kopf, aber er fühlte sich dennoch klein neben diesem drahtigen Energiebündel. Bills gebräuntes Gesicht war gezeichnet von tief eingeschnittenen Falten unter einer auffallend hohen Stirn. Bei der Arbeit trug er stets eine Baseballkappe mit ihren Salzrändern, die mit dem Schweiß im Material der Kappe aufgestiegen waren wie Wasser in den Kapillaren der Granitpfeiler unten im Osireion. Aus Bills durchgeschwitztem, staubigem Hemdkragen lugte ein faltiger Hals, und auch die übergroßen Ohren wiesen deutlich auf sein Alter hin, doch seine graublauen Augen blitzten Theo klar und mit jugendlichem Schwung an.

Archäologen-Urgestein.

Nirgendwo sonst kam man so umstandslos an Menschen heran wie an einer Bar – und besonders gut funktionierte es, wenn man selbst hinter der Bar stand. Beim leidlich guten Whisky des Osiris hatte Bill genug von seiner Arbeit erzählt, um Theo mit tiefem Respekt vor dem Archäologen zu erfüllen. Bill grub seit zwanzig Jahren für Luxor Archaelogical Research, einem der ältesten Forschungsinstitute der Ägyptologie, das auf eine Tradition von mehr als 150 Jahren zurückblicken konnte. Finanziert wurde es von einer Stiftung der Carnavaughns, einer legendären englischen Adelssippe, die viele Berühmtheiten hervorgebracht hatte: Nobelpreisträger, Unternehmer, Forscher, Weltumsegler, Sportler, Erzbischöfe und sogar einen bekannten Schriftsteller. Sie galten als Philanthropen, und die Ägyptologie war seit eineinhalb Jahrhunderten ihr Steckenpferd – oder zumindest das Steckenpferd einiger von ihnen. Theo hatte sich damals, bevor er das Studium geschmissen hatte, unter anderem bei Luxor Archaeological Research für ein Grabungspraktikum in Ägypten beworben, denn dieses Institut galt als besonders aufgeschlossen für  Studierende anderer Nationen – was Theo jetzt dadurch bestätigt fand, dass zwei junge Deutsche begehrte Praktikantenplätze bei einer Grabung dieses Instituts bekommen hatten.

Wenn er doch nur mehr Disziplin im Leib gehabt hätte! Wenn er die Mühlen des verschulten Studiums irgendwie durchgestanden hätte, würde er heute sicher ein Leben führen wie Bill und auf dem Sprung sein, ein renommierter Archäologe zu werden.

Umso mehr freute ihn das Lob aus Bills Mund.

„Das war doch selbstverständlich“, antwortete Theo. „Ich frage mich, wie die Leiterin ihre Leute hier allein lassen konnte.“

„Serafina?“ Bill musterte ihn, als habe er etwas Falsches gesagt. „Sie musste nach Luxor.“

Er kennt diese Serafina?

„Es mag unüblich sein, dass eine Grabungsleiterin sich von ihrer Grabung entfernt“, fuhr Bill fort, „aber ich finde es verzeihlich. Niemand konnte erwarten, hier noch auf etwas zu stoßen. Das Tempelareal ist um 1900 schon einmal ausgegraben worden.“

Theo überlegte, ob er widersprechen sollte, denn es gab genügend Geschichten aus Ägypten, in denen unerwartet Entdeckungen gemacht worden waren. Er fand das Verhalten der Grabungsleiterin alles andere als verzeihlich, und er wunderte sich, dass Bill sie verteidigte. Trotzdem hielt er den Mund.

Nachdenklich stand Bill vor dem Spalt. Die Blicke seiner Leute wanderten zwischen ihm und dem Spalt hin und her, auch Theo wusste in seiner Ungeduld nicht, wohin er sehen sollte. Er zwinkerte Sonja zu, der Praktikantin, als er bemerkte, dass sie ihn beobachtete, und sie zwinkerte zurück.

„Ramadan“, sagte Bill zum Vorarbeiter von Deep Dry, „ihr habt das Gelände sondiert. Irgendwelche Funde außer dem hier?“

„Nichts“, antwortete der Ägypter. „Wir haben haufenweise angewehten Sand weggeschafft, aber darin war nichts von Interesse.“

„Okay, dann wollen wir mal. Fred, was ist jetzt erste Entdeckerpflicht?“

„Fundort dokumentieren“, antwortete der Student wie aus der Pistole geschossen.

Bill zückte sein Smartphone und ließ seine Finger flink über das Display huschen. Dann legte er das Gerät neben den Spalt auf den Boden und berührte eines der Symbole auf dem Bildschirm. Eine Sekunde später hob er das Smartphone wieder auf.

„Wir haben jetzt die genauen GPS-Koordinaten des Spalts“, sagte er mit einem schrägen Blick zum Himmel, als könne er den Satelliten sehen, der das Signal aufgenommen hatte, „und hiermit …“ – erneut wirbelten seine Finger über das Display – „… wurden die Koordinaten auf die Karte des Abydos Mapping Project übertragen.“

Nachdem die Position des Spalts genau dokumentiert war, ging es daran, ihn zu fotografieren. Bill legte einen Zollstock an, und Sonja, die Studentin, schoss Fotos aus verschiedenen Richtungen wie am Tatort eines Verbrechens. Auch diese Bilder würden später in die Datenbank des AMP übertragen werden.

Vorbild für das Abydos Mapping Project war das Theban Mapping Project, in dem alle verfügbaren Daten über das Tal der Könige zu einer digitalen Karte verarbeitet worden waren. All diese Daten waren über das Internet verfügbar, die ganze Welt konnte darauf zugreifen. Zahlreiche Wissenschaftler fügten Wissenschnippsel und Einzelerkenntnisse hinzu, und so war im Lauf von bald zwanzig Jahren eine einzigartige Datenbank entstanden. Nie zuvor war es so einfach gewesen, sich auf den neuesten Stand des Wissens zu bringen – und noch nie waren die Wissenslücken derart offensichtlich zu Tage getreten. Luxor Archaelogical Research hatte etwas Ähnliches für Abydos vor, aber das Projekt steckte noch in den Kinderschuhen und war bisher nicht veröffentlicht. Theo hätte es sich sonst natürlich längst angesehen.

Bill ging auf die Knie, zog einen Pinsel aus einer der Taschen seiner Cargo-Hose und begann, Staub und Sand aus den Fugen zu fegen, die links und rechts vom Spalt im rechten Winkel von ihm fortführten. Sonja und Fred halfen ihm mit eigenen Pinseln, alle Fugen im Umkreis des Spalts freizulegen.  Ungeduldig sah Theo ihnen zu. Konnten sie nicht etwas schneller pinseln?

Schließlich war Bill zufrieden.

„Das ist unser Kandidat“, sagte er und klopfte mit dem Knöchel des Zeigefingers auf die große, von der Sonne erwärmte Steinplatte, deren Abmessungen sie mit ihren Pinseln erkundet hatten. „Ramadan – die Stemmeisen bitte!“

Der Vorarbeiter reichte ihm eines der Stemmeisen, die er geistesgegenwärtig bereitgehalten hatte. Bill stieß die stählerne Zunge auf die Steinplatte hinab. Außer dem Geräusch, das entstand, wenn Stahl auf Stein kratzte, war ein leiser, dumpfer Nachhall zu hören.

„Darunter ist ein Hohlraum“, stellte Bill fest und reichte Theo eines der Stemmeisen. „Da sind kräftige Männer gefragt. Willst du die Ehre haben?“

Natürlich wollte Theo! Er legte seinen Rucksack ab, in dem sich die Wasservorräte für seine Touristen befanden, und setzte sein Stemmeisen am Ende des Spalts an. Bill am anderen Ende, Ramadan in der Mitte. Es knirschte leise, als der Stahl zwischen die uralten Steinplatten glitt. Theo klopfte das Herz bis zum Hals. Bill hingegen wirkte völlig gelassen, als habe er so was schon Dutzende Male erlebt.