Noah schläft - Lutz Büge - E-Book

Noah schläft E-Book

Lutz Büge

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Beschreibung

„Was macht ihr da?“ Einfache Frage? Nicht wenn sie von einem Asteroiden kommt, von dem bis eben noch alle geglaubt haben, dass er auf der Erde einschlägt. Doch der vermeintliche Asteroid ist eine Arche. Seit Äonen fliegen die Patriarchen auf solchen Archen durchs Universum, um Geschöpfe zu retten und den Großen Plan des Alten H’rrn umzusetzen. Gar nicht so einfach! Vor allem dann nicht, wenn sich unautorisiert Leben breitgemacht hat wie die Menschheit auf der Erde. Dann stellt sich den Patriarchen nämlich die Frage: Räumungsbescheid für das Unkraut – oder zerdeppern? Bevor die Evolution immer mehr Chaos stiftet. Noch so eine einfache Frage. Für eine Taxifahrerin, einen Physiklehrer und einen schwulen Pornostar von der Erde ist das überhaupt nicht einfach. Vor allem nicht nach ihrer Entführung auf die Arche. Ungewollt kommen sie den Patriarchen in die Quere und machen, was sie am besten können: Sie stiften Chaos. Und das alles nur, weil Noah den tiefen Schlaf der Patriarchen schläft!

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Lutz Büge

Noah schläft

Die Rückkehr der Arche

Inhaltsverzeichnis

Zum Buch

Prolog

Allerdings

Mitnichten

Weiterhin

Diesseits

Überall

Insoweit

Allerdings

Unbedingt

Inwiefern

Jedenfalls

Vielerwärts

Meistenteils

Einerseits

Seinetwegen

Immerhin

Irgendwo

Ziemlich

Nichstdestotrotz

Glossar

Der Autor Lutz Büge

Danksagung

Sparkys Edition

Zum Buch

„Was macht ihr da?“

Einfache Frage? Nicht wenn sie von einem Asteroiden kommt, von dem bis eben noch alle geglaubt haben, dass er auf der Erde einschlägt. Doch der vermeintliche Asteroid ist eine Arche. Seit Äonen fliegen die Patriarchen auf solchen Archen durchs Uni­versum, um Geschöpfe zu retten und den Großen Plan des Al­ten H’rrn umzusetzen. Gar nicht so einfach! Vor allem dann nicht, wenn sich unautorisiert Leben breitgemacht hat wie die Mensch­heit auf der Erde. Dann stellt sich den Patriarchen nämlich die Frage: Räumungsbescheid für das Unkraut – oder zerdeppern? Bevor die Evolution immer mehr Chaos stiftet. Noch so eine einfache Frage.

Für eine Taxifahrerin, einen Physiklehrer und einen schwulen Pornostar von der Erde ist das überhaupt nicht einfach. Vor allem nicht nach ihrer Entführung auf die Arche. Ungewollt kommen sie den Patriarchen in die Quere und machen, was sie am besten können: Sie stiften Chaos. Und das alles nur, weil Noah den Tiefen Schlaf der Patriarchen schläft!

Impressum

Alle Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden Personen oder Institutionen sind reiner Zufall.

Alle Rechte unterliegen dem Urheberrecht. Verwendung und Vervielfältigung von Text und Bild nur mit ausdrücklicher Geneh­migung des Verlages.

E-Mail: [email protected]

Lektorat: Maximilian Burkard, DerLetzteSchliff

Korrektorat: Andrea Arendt

Umschlaggestaltung: Designwerk-Kussmaul,

Weilheim/Teck, www.designwerk-kussmaul.de

Grafische Umsetzung Titelmontage: Designwerk Kussmaul

© 2023 Sparkys Edition

Herstellung und Verlag: Sparkys Edition,

Zu den Schafhofäckern 134, 73230 Kirchheim/Teck

ISBN: 978-3-949768-08-8 - Hardcover

ISBN: 978-3-949768-09-5 - Softcover

Prolog

Zuerst hielt man das Objekt für einen Asteroiden. Es wurde daher nach gängiger Praxis auf den Namen seines Entdeckers getauft, eines Astronomen der Universität von Arizona namens Jonathan Meederman. Der hatte schon Erfahrungen mit der Öffentlichkeit gemacht. Keinesfalls wollte er nochmals als Ent­decker gelten! Aber als er auf die Daten stieß und sich darauf­hin jenen Lichtfleck im Sternbild Eidechse genauer ansah, gewann sein Pflichtgefühl die Oberhand. Also meldete er die Sache. Es war gewissermaßen höhere Gewalt. Jonathan Meederman war der Erste, über den diese Gewalt kam, und als erster spürbarer Effekt erkaltete eine Pizza, da sie der Aufmerk­samkeit des Entdeckers augenblicklich entfiel.

So begann es mit Meederman 2.

Das Wort, das jetzt folgt, ist „eigentlich“. Ich weise wegen des relativierenden Charakters ausdrücklich darauf hin. Eigentlich waren solche Entdeckungen längst Routine. Bei Meederman 2 hatte Jonathan Meederman jedoch sofort ein schlechtes Gefühl, was er in allen Interviews, die er sich zu geben genötigt sah, nicht müde wurde zu betonen. Es entsprach nicht seiner Lebens­planung, so kurz vor dem Ruhestand nochmals einen Aste­roiden zu entdecken, der auf seinen Heimatplaneten zuraste. Der Medienzirkus vom ersten Mal hatte ihn tief geprägt. Keinesfalls wollte er schon wieder für den in Aussicht stehen­den Schaden verantwortlich gemacht werden! Daher begann er alle Interviews mit der Phrase:

„Ich kann nichts dafür!“

Doch Meederman 2 nahm keine Rücksicht auf ihn. Die Tele­skope bildeten den Himmelskörper von Tag zu Tag deutlicher ab. Er wurde vermessen: veritable 31 Eurer Kilometer im Durch­messer. Noch während er Millionen Kilometer entfernt war, ließ sich aus Spektralanalysen ableiten, dass er metallischer Natur war. Das bereitete nicht nur den Experten Sorgen, denn es bedeu­tete, dass er wohl massiv war, also kein leichtes Konglomerat wie die vielen Kometen, die da draußen herum­schwirren, son­dern ein wirklich schwerer Brocken. Von dem Moment an, als die­se Nachricht öffentlich wurde, war Jonathan Meederman ab­ge­taucht.

Anscheinend hatte er vorher noch die Bahn berechnet, die hinter Meederman 2 lag, wohl um herauszufinden, woher das Ding ei­gentlich kam. Seine Resultate sind nie veröffentlicht worden. Man kann derlei mit Fug und Recht als nachrangig betrachten, wenn man nur noch wenige Tage zu leben hat!

Überall im Universum durchmustern Sternenkundige systema­tisch die Himmel ihrer Planeten, nicht zuletzt, um rechtzeitig Asteroiden ausfindig zu machen, die zu nahe zu kommen dro­hen. Sie legen dann gern Datenbanken mit allen zugänglichen Informationen über die Gesteinsbrocken an. Auch auf Eurem Planeten ist das so gehandhabt worden, doch trotzdem hatte niemand Meederman 2 auf der Liste. Dieser Asteroid, der auf den ersten Teleskopaufnahmen bemerkenswert halbmond­förmig aussah, war bisher schlicht nicht aufgefallen.

Doch die Irritation währte nur kurz. Es liegt im Wesen von Wis­senschaft, Theorien zu entwickeln. Es müssen nicht unbedingt die richtigen sein; es genügt, wenn man sich drüber streiten kann. Man nennt dieses Verfahren „Diskussion“, und es hat auf Eurem Planeten eine lange Tradition. Etwa so lange wie die Recht­haberei. Dieses Verfahren wird im Universum kaum irgendwo so intensiv gepflegt wie auf Eurem Planeten, doch ob es zur Wahrheitsfindung beiträgt, ist ungewiss. Wobei die Frage er­laubt ist, ob so etwas wie Wahrheit überhaupt etwas so Unste­tem wie der Wissenschaft anvertraut werden sollte. Vielleicht ist die Wahrheit besser bei den alten Weisen aufgehoben, die gewissenhaft abzuwägen imstande sind? Denn die Wissen­schaft, das ist im ganzen Universum bekannt, sagt in das eine Mikrofon das eine und in das andere ebenfalls das eine, aber andersrum. Und dann wird erwartet, dass alle schlauer sind! Niemand traut daher der Wissenschaft. Doch auf Eurem Plane­ten hat Wissenschaft einen hohen Rang.

Auch diesmal wurde eine solche Theorie in Umlauf gebracht: Bei Meederman 2 handle es sich um einen Asteroiden, dessen Umlaufbahn so weitläufig sei, dass er der Erde bisher noch nie nahe genug gekommen sei, um von den Himmelsdurchmuste­rungen erfasst zu werden.

Das ließ sich natürlich nicht ausschließen. Jedenfalls nicht nach den geltenden Regeln für Diskussionen. Immerhin weiß man von unzähligen Himmelskörpern, die Jahrzehnte für einen Um­lauf um ihre Sonne brauchen. Die meisten sind längst kata­logisiert, denn die Astronomen haben auch weit draußen schon nachgesehen, und längst waren Computer in der Lage, die Be­wegungen all dieser Brocken über Jahre und Jahrzehnte im Voraus und auch für die Vergangenheit zu bestimmen. Die Kennt­nisse waren also umfassend. Und so traten rasch Experten in Erscheinung, die widersprachen: Meederman 2 sei mit seinen 31 Kilometern relativ groß. Dennoch solle er bisher nicht auf­gefallen sein? „Allerdings!“, entgegnete die andere Seite. Die Bahntheorie erkläre das.

Doch wie es so ist im Leben und in der Welt: Jedes Allerdings zieht ein weiteres Allerdings nach sich, denn jedes Dings im All hat die Relativität zu fürchten, wie schon Euer Einstein postulierte. Dass Meederman 2 bisher niemandem aufgefallen war, ließ sich leicht erklären: Vor dem sternenübersäten Hinter­grund des Milchstraßenarmes, vor dem er auftauchte, war er schlicht nur eines unter unzähligen Lichtpünktchen. Von denen unterschied ihn allerdings, dass er keine ferne Sonne war, son­dern das Licht der Sonne dieses Systems reflektierte. Dies allerdings war ihm nicht auf den ersten Blick anzusehen. Dazu musste er sich nähern.

Aus dem Pünktchen war ein Punkt geworden, der stetig heller wurde, bis er endlich die Aufmerksamkeit erfuhr, die ihm zwei­fellos gebührte – denn er würde beim Aufprall alles Leben auf Eurem Planeten vernichten, mit Ausnahme allerdings von ein paar leidgeprüften Mikroben, die wieder ganz von vorn an­fangen müssten, wie schon ein paarmal zuvor.

Meederman 2 würde in wenigen Tagen einschlagen, am

1. April, und es würde Missouri treffen, die Heimat des Präsi­denten der USA, eines Staates auf Eurem Planeten. Aus­gerechnet am „Tag des Scherzes“! So heißt der bei Euch, nicht wahr? In Missouri begann man sich sogleich zu fragen, was man verbrochen habe, um eine solche Strafe des H’rrn zu ver­dienen. Doch jenem Prinzip namens Diskussion folgend wurde gleich die Frage dagegengestellt, wie man derart blöde Fragen künftig verhindern könne. Denn Strafen, die der H’rr verhängt, sind natürlich immer verdient, auch wenn das niemand ver­steht, aber das liegt vermutlich nur daran, dass Du mit den We­gen des H’rrn überfordert bist.

Und dann gab es auch noch die Komödianten, wie sie in sol­chen Situationen zuverlässig auftreten, und die behaupteten: Gerechte Strafen mögen verdient sein, aber wie ist es mit unge­rechten Strafen? Die gab es nämlich ebenfalls, sie waren sogar in der Überzahl, statistisch gesehen – von den Umerziehungs­lagern in China bis hin zur Haftstrafe für Julian Assange! Vielleicht hatte der H’rr einfach mal wieder Lust auf eine unge­rechte Strafe? Wäre nicht das erste Mal.

Trotz aller Zuneigung zum Prinzip Diskussion war man sich in Missouri weitgehend einig, dass Meederman 2 vom H’rrn ge­sandt sein müsse, denn vor kurzem erst waren Gerüchte laut geworden, in Washington plane man, Ernst zu machen mit der Trennung von Staat und Religion. Das Land solle entchristiani­siert werden. Nur vereinzelt kamen kritische Stimmen auf, die den Einwand wagten, warum der H’rr Meederman 2 dann auf Missouri werfe statt auf Washington. Und warum er, statt es dabei bewenden zu lassen, eine globale Katastrophe auslösen wolle, welche die Auslöschung der Menschheit bedeuten wür­de, obwohl die Christen global gesehen in der Minderheit sind. Ein Viertel der Erdbevölkerung werde sofort sterben, der Rest mittelfristig, da die Grundlagen des Lebens vernichtet würden: Abgesehen von den direkten Folgen des Einschlags – gewaltige Erdbeben, riesige Tsunamis, verheerende Feuersbrünste, verbun­den mit einer den ganzen Planeten umlaufenden Druckwelle – werde der Einschlag selbst so viel Asche und Staub in die höheren Schichten der Atmosphäre schleudern, dass unweiger­lich ein globaler Winter folge. Photosynthese werde dann prak­tisch unmöglich. Von Plankton über Moos, Gras bis hin zum Baum werde pflanzliches Leben zugrunde gehen, und in der Folge auch alles tierische Leben. Landwirtschaft werde un­möglich, zumal dieser globale Winter mehrere Jahre anhalten werde. Am besten fing man also auf der Stelle mit den Gebeten an, nicht nur in Missouri.

Aber angesichts der Entwicklung, welche die Dinge dann nahmen, ist es wenigstens fürs erste nicht nötig, in Sachen Apokalypse weiter ins Detail zu gehen.

Hunderte von Teleskopen weltweit waren auf Meederman 2 gerichtet, und so war es kein Wunder, dass es sofort auffiel, als der „Asteroid“ seinen Schatten auf den Mond warf, kurz darauf seinen Kurs änderte und stark verlangsamte. Er schien nun an der Erde vorbeigleiten zu wollen. Dann wurden die Daten ge­nauer, und es wurde klar: Meederman 2 wird in eine Umlauf­bahn um Euren Planeten einschwenken.

Was soll das? Man hat hier bereits einen Mond!

Ich höre die Fragen.

Es ist ein sonderbarer Moment, einer von der Art, wie man ihn nicht oft erlebt im Leben, die meisten Lebewesen und Ge­schöpfe gar niemals. Selbst die ausgewiesenen Experten und hochdekorierten Generäle und Admiräle, die zusammen mit dem Präsidenten der USA im Bunker unter dem Weißen Haus sitzen und auf den richtigen Moment warten, um auf den roten Knopf zu drücken und Penelope feuern zu lassen, selbst diese Privilegierten erleben so was zum ersten Mal. Sie sehen sich gezwungen, den Gedanken in Erwägung zu ziehen, dass Meederman 2 vielleicht kein Asteroid ist. Sondern etwas „anderes“. Mancher Daumen zuckt daraufhin allerdings erst recht, aber dieses Allerdings ignorieren wir für den Moment. Man muss nicht auf jeden fremdenfeindlichen Furz sofort an­springen.

Nun kamen Bilder in schneller Folge herein, unter anderem von der ISS 2. Frühere Aufnahmen zeigten Meederman 2 stets als halbmondförmiges Gebilde, was auf eine kugelige Gestalt hin­zudeuten schien, die seitlich von der Sonne angestrahlt wird. Tatsächlich aber war dieses Aussehen allein darauf zurück­zuführen, dass man Meederman 2 bisher nur direkt von vorn sah. Als er beidreht, zeigt sich, dass er insgesamt von langge­streckter und ebenmäßiger Gestalt und daher mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit kein Asteroid ist. Er hat die Form einer Gurke mit spitz zulaufenden Zipfeln entlang seiner Mittelachse an den Enden und besitzt enorme Ausmaße: Er ist mehr als 250 Kilometer lang.

Sicher wäre es interessant zu erfahren, wie Jonathan Meeder­man, der Entdecker, diese Entwicklung kommentiert hätte. Es besteht aber Grund zu der Annahme, dass er sich – wie die meisten seiner Kolleginnen und Kollegen und überhaupt alle Menschen auf dem Planeten – vor allem gefragt hätte: Was ist das? Sicher kein Asteroid! Doch Jonathan Meederman muss nun angesichts unserer Ankunft über Eurem Planeten in den Hintergrund treten. Ich komme später auf ihn zurück.

Allerdings

Es gibt historische Aufnahmen aus dem Lagezentrum im Bun­ker des Weißen Hauses, die den US-Präsidenten im Streit mit seinen Beratern zeigen. Experten raten dazu, Penelope einzu­setzen, um Meederman 2 – noch gab es keinen anderen Namen dafür – vom Himmel zu pusten. Andere Experten bezweifeln, ob Penelopes Sprengkraft, obwohl im Megatonnenbereich, für ein Objekt dieser Größe ausreiche. Schon gibt es die schönste Diskussion. Außerdem steht die Befürchtung im Raum, dass das Objekt sich wehren könnte, wozu es sogar das Recht hätte, wenn es beschossen würde, so dass der Erstkontakt – dieses befremdliche Wort fällt in der Diskussion, das ist belegt – eine unerfreulich feindselige Note bekäme. Könne man denn sicher sein, dass Meederman 2 in feindseliger Absicht komme?

Der Koloss mit den Ausmaßen eines kleinen Mondes hat seine erste Umkreisung soeben abgeschlossen, als es tatsächlich zum Kontakt kommt. Und zwar per Funk. Der Sender ist so stark, dass er überall auf der Erde empfangen wird:

„Nǐ zài gànshénme?“

Damit liegt der Gedanke nahe, dass dieses Objekt, das von nun an – zur Erleichterung eines abgetauchten Astronomen – nicht mehr Meederman 2 genannt wird, von intelligenten Lebewesen bevölkert ist. Allerdings kann man sich im Weißen Haus nicht erklären, warum die Fremden nicht die Weltverkehrssprache Englisch sprechen, sondern Chinesisch!

„Holt einen Dolmetscher!“, befiehlt der Präsident.

Ein solcher ist nicht zur Hand, wohl aber eine Dolmetscherin. Sie übersetzt die Aufzeichnung dieser ersten Worte aus dem Orbit wie folgt:

„Was macht ihr da?“

Da wird natürlich so manche Stirn gerunzelt.

Die historischen Aufzeichnungen aus dem Kontrollzentrum be­legen, dass Präsident Henry Callow seinem Stab daraufhin be­fiehlt, nun ausnahmsweise mal still zu sein und zuzuhören.

„Sie haben Mandarin gesprochen“, sagt er und wirkt dabei ei­genartigerweise erleichtert. „Lasst uns hören, was die Chinesen antworten.“

Diese Antwort ist ebenfalls dokumentiert. Sie lautet:

„Mein Name ist Xi Lao Xipang. Ich bin im Namen des chinesischen Volkes und als Führer der Weltrevolution hoch­erfreut, Ihre Anwesenheit zur Kenntnis zu nehmen. Herzlich will­kommen auf oder über der Erde, ganz wie Sie wollen. Wir hof­fen auf gute Beziehungen und gute Geschäfte und würden Sie gern zu einem Besuch willkommen heißen. Wann möchten Sie landen?“

Die Antwort kommt umgehend, und zwar erneut auf Mandarin.

„Die Bedingungen für unsere Landung sind nicht gegeben. Der fragliche Planet müsste dazu leer sein, bar jeglichen Lebens. Wie kommt ihr dazu, euch auf diesem Planeten aufzuhalten?“

„Die Erde ist unsere Heimat.“

„Erde? Was für ein bescheuerter Name! So könnte wohl jeder Planet im Universum heißen. Ich unterrichte dich darüber, dass dieser Planet die Bezeichnung 887/17335/37/9021/Q17/L666-3 trägt. Du wirst ihn künftig mindestens L666-3 nennen.“

„Dessen war ich mir nicht bewusst, aber ich bin gern bereit, diese Anregung aufzugreifen.“

„Ordnung ist das halbe Universum“, kommt es aus dem Orbit zurück.

„Ich spreche im Namen von mehr als 1,5 Milliarden Men­schen“, hebt Xi erneut an, „und sicher auch im Sinne un­zähliger weiterer Menschen, wenn ich …“

Die Stimme aus dem Orbit fällt Xi ins Wort.

„Menschen? Was ist das?“

Die Antwort lässt nicht lange auf sich warten.

„Wir, die Bewohner dieses Planeten.“

„Verdammt!“, kommt es zurück, kurz darauf noch einmal: „Verdammt! Warum ist dieser verdammte Planet überhaupt bewohnt? Dem Archiv zufolge …“

Darauf fällt dem chinesischen Staatslenker keine passende Antwort ein. Die Videoübertragung zeigt ihn hilflos lächelnd.

„Überprüft auf der Stelle die Unterlagen!“, klingt es aus dem Orbit. „Ist das wieder ein Fall von Wildwuchs? Muss ich wegen ein bisschen Unkraut schon wieder einen Planeten zerdeppern und weil der Alte H’rr die Evolution unterschätzt? Äh … Hallo?“

Experten werden diesen ebenso kurzen wie sonderbaren Mono­log später als Irrtum der Fremden bewerten: Man hatte an Bord gesprochen, obwohl die Übertragung lief und ohne zu beden­ken, dass auf Erden – oder, wie nun von oben angeordnet, auf L666-3 – mitgehört wird.

„Mein Name ist Xi Lao Xipang.“

Der chinesische Staatschef beweist Haltung. Das ist vielleicht nicht das Schlechteste in einer solchen Situation. Er fährt fort:

„Ich heiße die Ankömmlinge aus den Weiten des Weltraums herzlich willkommen über und auf der Erde.“

„Weltraum ist ein schönes Wort. Muss ich mir merken. Viel­leicht macht es die Sache besser. Wir nennen es Grütze. Mo­ment bitte … Was ist los? Ich stecke hier mitten in einem Hoheitsakt! Du kannst nicht einfach so dazwischen …“

Dann folgen dumpfe Geräusche, als schatte jemand ein Mikrofon mit der Hand ab.

„Es wäre sehr freundlich, wenn Sie sich mit Namen zu erken­nen geben würden.“ Xi wird etwas ungeduldig. „Das wäre eine hocherfreuliche Geste der Höflichkeit.“

Für bestimmt fünf weitere Sekunden schweigt der Unbekannte im Erdorbit, ehe es plötzlich wieder raschelt. Dann sagt er:

„Ist gut, wir klären das gleich. Lass mich jetzt. Ich muss denen da unten Bescheid stoßen! So, bin wieder da. Wie war deine Frage?“

„Mit wem spreche ich?“ wiederholt der chinesische Präsident, ohne sich die geringste Irritation anmerken zu lassen.

„Mein Name ist Noah, und ich spreche von Bord der Arche Allerdings. Ihr habt L666-3 widerrechtlich in Besitz genommen. Dieser Planet gehört euch nicht. Leider muss ich diesen Vorfall melden. Stellt euch schon mal darauf ein, dass ihr in Kürze den Räumungsbescheid bekommt.“

***

So verläuft der Erstkontakt: keineswegs zur Freude aller. Nicht nur, weil Noahs Ankündigung kaum Raum für Diskussionen lässt.

„Räumungsbescheid?“, wiederholt die nationale Sicherheits-beraterin Sheryll Templeton im Weißen Haus ungläubig und fügt hinzu: „Noah?“

Dabei sieht sie den Verteidigungsminister Noah Gordon fra­gend an. Der zieht den Kopf ein:

„Ich kann nichts dafür.“

Sheryll Templeton bedenkt ihn mit einem Blick, als wolle sie bestreiten, dass es Zufall gibt. Dann reden alle gleichzeitig.

„Unkraut?“

„Arche?“

„Allerdings?“

„Wann war das noch mal mit der Sintflut?“

„Die Arche, das war doch ein Schiff, oder?“

„Die sind aber nicht von hier!“

„Wer hat denn außer uns Menschen eine Arche gebaut?“

„Haben wir nicht, das ist nur eine Geschichte.“

„Dieser Noah behauptet, dass das eine Arche ist. Woher weiß er das mit Noah und der Arche, wenn er nicht von hier ist?“

„So als Außerirdischer?“

„Diese Arche ist offenkundig ein Raumschiff.“

„Das sehe ich selbst, aber er nennt sich Noah! Wie kommt er dazu? Glaubt er wohl, dass er wirklich so heißt? Noah ist einer von der Erde.“

„Glaubst du!“

„Ruhe!“, ruft Präsident Henry Callow dazwischen. „Marc, ho­len Sie Reverend Hamilton.“

Der Ordonanzoffizier spurtet sofort los.

„Sir, ich protestiere!“ Der Chef des Generalstabs wirft sich mächtig in die Brust. „Wir widersprechen uns selbst, wenn wir einerseits von Entchristianisierung reden, andererseits aber Prediger um Rat fragen.“

„Dass wir entchristianisieren wollen, ist bisher nur ein Plan“, entgegnet der Präsident. „Was diese Arche betrifft, brauche ich Rat. Ich muss zum Beispiel wissen, wann das mit der Sintflut war!“

„Vor etwa 5000 Jahren“, gibt der Vier-Sterne-General zurück. „Welche Rolle spielt das für unsere taktische Situation? Wir werden angegriffen!“

„Vor 5000 Jahren? Wer sagt das?“

„Mein Enkel Joseph. Vor ein paar Wochen wurde im Bio-Un­terricht die Schöpfung durchgenommen. Der Junge kam sehr aufgewühlt zu mir, weil der Lehrer behauptet hat, dass man die Sintflut nicht genau datieren kann, weil die Zeitangaben in der Bibel nicht präzise genug sind. Das wollte Joseph nicht glau­ben.“

„Im Bio-Unterricht?“, fragt die Stabschefin. „Und wann kam die Evolutionstheorie dran?“

Der General zuckt mit den Schultern.

„Sie wollen sagen, dieses Dings, diese Allerdings ist 5000 Jahre alt?“, fragt der Präsident bestürzt.

„Ich weiß nicht, was wir glauben dürfen, Sir“, antwortet der General etwas spitzfindig. „Ich rate aber zur Vorsicht. Wir soll­ten das Ding vom Himmel holen!“

„Obwohl es vielleicht die Arche Noah ist?“

„Sir, dieser Noah kann alles Mögliche behaupten“, mahnt die Nationale Sicherheitsberaterin.

„Klar kann er das“, wirft die Justizministerin ein. „Er kommt vom Himmel und hat diese Allerdings.“

„Ordonanz, wo bleibt Reverend Hamilton?“, ruft der Präsident.

„Wir versuchen, ihn ausfindig zu machen!“

„Mit Verlaub, Sir, ich muss dem Generalstabschef ausnahms­weise zustimmen“, sagt Sheryll Templeton. „Der Reverend wird uns nicht helfen können.“

„Aber er hat vielleicht fundierte Vermutungen.“

„Für einen Schlachtplan brauche ich mehr als fundierte Vermu­tungen, Sir!“ Der General explodiert fast. „Ich brauche Fakten. Was will dieser Noah?“

„Eine Unverschämtheit, oder?“, meldet sich der Vizepräsident zu Wort. „Räumungsbescheid! Wo sollen wir denn hin?“

„So weit kommt es noch.“

„Er hat uns Unkraut genannt“, ruft einer von hinten.

„Ja, und ‚beschissener Wildwuchs‘!“

„Ich hoffe, die scherzen nur“, sagt Sheryll Templeton.

Die ISS 2 schickt Bilder von der Allerdings. Der Koloss ist gezielt in den Erdorbit gesteuert worden. Jetzt treibt er nur noch dahin, denselben Naturgesetzen unterworfen wie die ISS. Es ist nicht zu erkennen, mit welchen Mitteln er abgebremst worden ist. Er besitzt keinerlei sichtbare Antriebsdüsen.

„Wir sollten zuschlagen“, sagt der Generalstabschef.

„Dieser Noah hat gesagt, er kann Planeten zerdeppern“, wendet die Nationale Sicherheitsberaterin ein. „Das klang nicht scherz­haft, sondern so, als ob er das schon mal gemacht hat.“

„Umso wichtiger wäre, dass wir was unternehmen“, insistiert der General.

„Gab es wirklich eine Sintflut?“, will jemand wissen.

„Quatsch!“, entrüstet sich der Bildungsminister.

„Aber das da ist die Arche!“

„Behauptet ein Typ, der sich ‚Noah‘ nennt.“

„Aber wenn es stimmt, was er sagt, dann …“

„… dann wurde diese Arche vor 5000 Jahren hier auf der Erde gebaut, ja?“, braust der Bildungsminister auf. „Bitte mal nach­denken! Faszinierend, die vollendete Metallbearbeitung! 250 Kilometer lang, 31 Kilometer Durchmesser. Das haben die Leute damals mit ihren bronzenen Meißeln wirklich gut hin­gekriegt! Wie lange sie wohl gebraucht haben, solche Massen von Stahl in ihren Lehmöfen zu produzieren? Ach, ich vergaß – wann gelang es Menschen überhaupt, erstmals Stahl herzustellen? Oder was ist das für ein Material, aus dem das Ding besteht? Und was ist mit der Funkanlage? Und den Systemen, mit denen man eine solche Masse so schnell verlangsamen kann, dass sie auf der Strecke vom Mond zur Erde praktisch zum Stillstand kommt? Die alten Ägypter mögen ja großartige Baumeister gewesen sein, aber …“

„John, wir haben verstanden“, sagt der Präsident.

John H. Martin, der Bildungsminister, nickt und sagt:

„Ich habe eine Theorie!“

Da werden die Ohren gespitzt. Genau das ist es, was jetzt ge­braucht wird: eine Theorie!

„Das da sind keine Menschen!“, sagt der Minister.

„Dem würde Noah sicher nicht widersprechen“, versetzt Sheryll Templeton. „Er kannte ja nicht mal den Begriff ‚Mensch‘. Er sieht uns als Unkraut.“

„Also ist die Allerdings nicht auf der Erde gebaut worden“, fährt John H. Martin unbeeindruckt fort. „Selbst wenn dieser Typ wirklich Noah heißt, kann sein Raumschiff also nicht die Arche sein, von der in der Bibel die Rede ist. Keine Ahnung, woher diese Leute kommen und warum sie ihr Schiff Arche nennen. Jedenfalls kommen sie nicht vom Himmel. Vielleicht sind sie wirklich nichts anderes als Außerirdische.“

„Klar, einfache Außerirdische“, versetzt der Verteidigungsmi­nister spöttisch. „Die kommen hier ja jeden Tag vorbei.“

„Penelope!“, fordert der Generalstabschef nochmals.

„Nein, wir machen was anderes“, sagt der Präsident.

„Was also?“, fragt der General.

„Gar nichts.“ Henry Callow lächelt.

„Aber Sir …“

„Ich erinnere an den Räumungsbescheid“, sagt Sheryll Temple­ton, „was auch immer das bedeutet.“

„Ja.“ Der Präsident zuckt die Schultern. „Warten wir ab, was er damit meint. Vorerst fühlen wir uns nicht angesprochen.“

„Aber diese Drohungen!“, protestiert der General, doch die Na­tionale Sicherheitsberaterin hat verstanden, während alle ande­ren noch auf der Leitung stehen.

„Die Chinesen“, sagt sie schlicht.

Daraufhin fällt bei einigen der Groschen, etwa beim Bildungs­minister:

„Ja doch! Lassen wir die Chinesen einfach machen.“

„Die Chinesen machen lassen?“ Der General lacht bitter auf. „Sir, wir stehen im Pazifik am Rande eines Krieges mit den Chinesen!“

„Mal sehen, ob Noah sich für derlei Kleinkram interessiert“, gibt der Minister zurück. „Fest steht jedenfalls, dass er nicht uns angesprochen hat, die USA, sondern China. Also warten wir ab, wie China mit der globalen Führungsrolle klarkommt.“

„Könnte spannend werden.“ Sheryll Templeton nickt zustim­mend.

„Wir sind still?“ Der Gedanke missfällt dem Generalstabschef. „Sind wir keine Weltmacht mehr?“

„Doch – eine Weltmacht, die sich für den Moment zurückhält“, sagt der Präsident.

***

Das ist der Moment, in dem Markus Schröder mal wieder Pech hat.

Nicht dass ihn das gewundert hätte – wenn er denn Zeit gefun­den hätte, sich zu wundern. Er ist an Pech gewöhnt. Es verfolgt ihn, er ist deswegen sogar in Therapie. Bis gerade eben allerdings hat er sein Glück kaum fassen können, denn er sitzt mit einem Mann namens Tobias auf der Rückbank im Taxi, sie knutschen wild, und alles rundherum spielt keinerlei Rolle. Oder nur eine geringe. Etwa, dass die Taxifahrerin Kopftuch trägt. Ein leicht störendes Detail am Blickfeldrand, wenn Mar­kus die Augen aufmacht. Was er daher zu vermeiden sucht.

Tobias ist Markus vor einer knappen Stunde im Lübecker Lokal Hanselore über den Weg gelaufen. Sie haben sich in die Augen gesehen und sind spontan zu der ebenso zügigen wie wortlosen Vereinbarung gekommen, dass es eine gute Idee sein könnte, den Rest dieser letzten Nacht vor dem Weltuntergang mit­einander zu verbringen. Oder was ihnen von diesem Rest noch bleibt, denn der Termin des Einschlags ist bereits nahe. Aber es ist ausgeschlossen, es gleich hier in der Hanselore zu tun. Nicht nur wegen der deutschen Schlager, die hier dauernd gespielt werden und zu denen alle mitgrölen, sondern vor allem, weil der Laden rappelvoll ist. Außer Markus und Tobias sind Dutzende von Männern auf den Gedanken gekommen, dass sie lieber mit einem Kerl im Arm sterben wollen als allein zu Hause, und die tummeln sich hier alle und sind aufgekratzt.

Alles nur wegen eines blöden Asteroiden!

Tobias hat das Problem jedoch rasch erledigt:

„Fahren wir zu mir!“

Er ist, so scheint’s, von der zupackenden Art. Auch Markus hat lange von sich gedacht, ein Macher zu sein, aber es ist immer schiefgegangen. Ausgerechnet heute gerät er an so einen, der klare Entscheidungen trifft. Was für ein Glück!

Eigentlich ist Markus nicht gut im Vorausdenken, aber als er vorhin aufgebrochen ist, um nach Möglichkeit an diesem Abend, dem wohl letzten seines Lebens, nicht allein zu bleiben, da hat er an die wichtigsten Dinge gedacht und alles einge­steckt. Irgendwas muss sich seine Therapeutin ja wohl dabei denken, wenn Sie Sätze sagt wie:

„Versuchen Sie, vorbereitet zu sein. Denken Sie daran, was passieren könnte. Es könnte ja mal was Schönes sein. Gehen Sie nicht von vornherein davon aus, dass Sie wieder Pech ha­ben werden.“

Also hat er die Zahnbürste eingepackt.

Es tut ihm gut, dass die Therapeutin ihm zuredet, aber was hilft es? Egal, wie engagiert sie ihn auf die Zukunft vorzubereiten versucht – das Weltende kommt heute! An diesem größtmög­lichen Chaos ist er zum Glück unschuldig. Er kann nichts für den Asteroiden. Oder falls doch, dann weiß er jedenfalls nichts davon. Das spielt aber momentan keine Rolle, denn gerade ist er total glücklich, und es kommt auf nichts anderes an als aufs Knutschen. Mit der Hand hat er bereits das Terrain zwischen Tobias’ Beinen erkundet, und wenn die Taxifahrerin kein Kopf­tuch getragen hätte, dann hätte er sofort begonnen, Tobias von dem textilen Scheiß zu befreien, den so ein Mann mit sich am Leib durch die Gegend trägt. Das Kopftuch sorgt indes für eine gewisse Strenge. Tobias merkt das und flüstert ihm zu:

„Wollen wir es trotzdem gleich hier tun?“

„Du meinst auspacken?“, fragte Markus.

„Vielleicht haben wir nicht mehr viel Zeit“, sagt Tobias, „und ich brauche immer ein bisschen …“

„Also jetzt gleich“, sagt Markus.

Ein verwegener Gedanke, aber das gefällt ihm. Für so was ist er zu haben. Er zerrt an der Knopfleiste von Tobias’ Hose, doch da hört er die Fahrerin sagen:

„Außerirdische?“

Sie beugt sich vor, bis ihr Kopftuch fast Kontakt mit der Wind­schutzscheibe aufnimmt, und versucht, nach oben in den Nachthimmel zu spähen. Der Wagen zieht nach links. Markus erschrickt, lässt von Tobias’ Hose ab und klammert sich lieber an den Haltegriff über der Tür, aber die Kopftuchträgerin be­kommt die Situation in den Griff.

„Was ist los?“, fragt Tobias nach vorn.

„Da sollen irgendwelche Außerirdischen sein.“

Irgendwelche Außerirdischen. So sagt sie das.

„Was für Außerirdische?“, fragt Tobias.

„Keine Ahnung. Nix zu sehen. Ist bestimmt eine Ente, nicht mehr, Inschallah.“

Markus fragt sich spontan, ob es da, wo Allah herkommt, über­haupt Enten gibt – denn wie soll Allah sich sonst mit denen auskennen?

Er hat oft solche fragwürdigen Gedankenblitze. Früher hätte er über diesen Einfall spontan laut gelacht, bis alle ihn schräg ansehen, und wahrscheinlich hätte er diese Sache mit Allah und den Enten erzählt und für einen guten Witz gehalten. Heute hält er lieber den Mund. Seine Therapeutin meint, dass seine Spon­taneität einer der Gründe für sein ständiges Pech sein könnte, denn er stößt andere Menschen möglicherweise vor den Kopf, indem er „es rauslässt“, wie er das nennt. Ganz davon abge­sehen, dass die Kopftuchträgerin den Witz wohl nicht verstan­den hätte. Ob sie überhaupt Humor besitzt? Man braucht nämlich eine besondere Spielart von Humor, um diese Art von Kalauer über die Ente lustig zu finden. Markus verfügt über diese Fähigkeit, aber die Therapeutin hat vielleicht recht. Es ist besser, wenn er so was nur in geeigneter Begleitung rauslässt. Schade um den verpassten Gag. Pech eben.

War es das dann wohl mit dem Knutschen? Das Kopftuch zeigt Wirkung, zusammen mit den Außerirdischen. Die Fahrerin stellt das Radio lauter.

„… wurde soeben bestätigt, dass ein Raumschiff einer unbe­kannten, nichtirdischen Lebensform in die Erdumlaufbahn eingetreten ist. Es handelt sich um denselben Himmels­körper, der als Meederman 2 bekannt ist. Bisher wurde er für einen Asteroiden gehalten. Er sollte eigentlich in diesen Minu­ten auf der Erde einschlagen. Stattdessen befindet er sich nun in der Um­laufbahn. Er ist von enormer Größe.“

„Und was bedeutet das jetzt für den Weltuntergang?“, fragt Markus, nun doch spontan.

„Still!“, zischen die Fahrerin und Tobias.

„… haben Funkverkehr mit dem Flugkörper abgefangen. Die Außerirdischen haben sich an die chinesische Staatsführung gewendet. Inhalte der Kommunikation sind nicht bekannt. Der Kommandant des Raumschiffs nennt sich angeblich Noah.“

„Auf welchem Comedykanal bist du da gelandet?“, fragt Markus die Fahrerin, doch die gibt zurück:

„Das sind Nachrichten, keine Comedy.“

Markus schweigt und sieht Tobias an. Der guckt zurück. Sie verstehen sich: Ziemlich ungeil! Gegen den Asteroiden kann man nichts machen, aber dass Außerirdische ihnen diese Nacht vermiesen wollen … Andererseits bedeutet das vielleicht, dass sie jetzt mehr Zeit haben als erwartet. Das wäre unter Um­ständen ein Glück! Sollen sie trotzdem jetzt weitermachen?

Markus hat seine Erfahrungen, zum Beispiel: Man darf der Umwelt nicht zu viel Einfluss gestatten, denn sie wird gern übergriffig und fordert von ihm vielleicht sogar, ordentlich zu sein. Ein Ding der Unmöglichkeit! Es gibt Ordnung in seinem Leben, aber die versteht niemand außer ihm, und er hat keine Lust, dauernd dafür um Verständnis zu werben, dass er ein bisschen anders ist. Es ist, wie es ist. Aber manchmal, das muss er zugeben, ist das, was ist, etwas anstrengend, um nicht zu sagen chaotisch. Er ist nicht unschuldig daran, aber geht es überhaupt um Schuld?

„Die chinesische Staatsführung hat eine Mitteilung rausge­geben“, sagt der Nachrichtensprecher, „in der sie die Außerirdischen willkommen heißt. Man freue sich auf gute Beziehungen zu beiderseitigem Vorteil.“

Markus sieht Tobias an und hat gerade noch Zeit für einen weiteren Gedankenblitz: Auf solche Beziehungen freut er sich ebenfalls. Nicht besonders originell. Dann wird alles anders. Die Kopftuchträgerin schreit auf, als sich die Welt in gleißendem Licht auflöst. Dann bricht ihr Schrei schlagartig ab.

Sonderbarerweise hat Markus in diesem Moment den Schlager im Ohr, der in der Hanselore gerade gespielt wurde, als Markus und Tobias aufgebrochen sind:

„Wenn du denkst, du denkst, dann denkst du nur, du denkst.“

Wäre Markus noch da, würde er jetzt mitsingen. Aber er ist nicht mehr da. Sein Pech! Auch das Taxi ist weg, als das Licht erlischt. Eben noch fährt es diese Straße entlang, und jetzt?

***

„Was glaubst du eigentlich, wie lange du damit noch durch­kommst?“

„Fang’ bitte nicht wieder mit der alten Leier an!“

„Du hast dich schon wieder als Noah ausgegeben!“

„Sedek, es reicht!“

„Red’ dich nicht wieder darauf hinaus, dass du nur den Betrieb aufrechterhalten willst, Lud!“

„Es reicht wirklich!“

„Nein, du hörst mir jetzt zu! Du hast dich vorhin verplappert, als du damit gedroht hast, den Planeten zu zerdeppern. Natür­lich im Namen von Noah, als den du dich ja ausgibst. Wie kannst du so was entscheiden? Wenn nun die Kommission für Planetenkontrolle dahinterkommt, was du schon alles ange­stellt hast! Oder das Hohe Siedlungsamt?“

„Die Kommission für Planetenkontrolle hat anderes zu tun, und der Alte H’rr auch. Die Arbeit muss schließlich gemacht werden, denn …“

„Achtung, jetzt kommt’s!“

„… Ordnung ist das halbe Universum!“

„Jawoll. Und die andere Hälfte des Universums?“

„… ist Chaos. Sedek, was ist nur los mit dir? Bedeutet dir denn der Große Plan wirklich gar nichts mehr?“

„Leben verbreiten, das Universum bevölkern und für Ordnung sorgen, genau. Super-Plan! Da unten ist Leben! Fast neun Milli­arden Lebewesen! Plus eine bisher unbekannte Zahl von weite­ren Organismen!“

„Wildwuchs! Unkraut! Dieses Leben folgt nicht dem Großen Plan! L666-3 hätte leer sein müssen, nachdem wir die Geschöpfe dieses Planeten archiviert haben, bevor der verdammte Astero­id einschlug.“

„Ist ein bisschen lange her, oder? Kein Wunder, dass sich da wieder was entwickelt hat. Das Leben findet immer einen Weg. Von allein! Es macht das einfach. Auch wenn du und Noah und der Alte H’rr das nicht begreifen wollt.“

„Ich kann nichts dafür, dass wir nicht hinterherkommen. Es ist einfach zu viel Arbeit. Und dann noch du mit deinen klein­lichen Bedenken! Wir haben eine volle Box mit Leben für die­sen Planeten an Bord. Das kommt von dort und soll da wieder hin! Nun frage ich dich: Wie sollen wir dieses Leben da unten installieren, wenn dort inzwischen Leben eigenwillig ins Kraut geschossen ist? Aber ich weiß schon, was du jetzt sagen wirst: Der Alte H’rr hat einen Denkfehler gemacht.“

„Genau. Einen Denkfehler, den er niemals zugeben wird, denn der Alte H’rr ist außerstande, Fehler zu machen. Er erschafft das Leben, sagt ihm: ‚Mehret Euch!‘, und wundert sich, dass das Leben wirklich loslegt.“

„Immer dieselbe Leier! Man könnte fast meinen, du glaubst an das Credo der anderen Seite.“

„‚Chaos ist das halbe Universum‘? Quatsch! Ich frage mich nur, ob wir alles richtig machen. Vielleicht sollten wir mal … nun ja, ein Auge zudrücken? Zumindest könnten wir uns dieses Leben genauer ansehen, bevor wir L666-3 zerdeppern.“

„Lass dich nicht aufhalten, wenn du deine Zeit verschwenden willst. Du hast alle Freiheiten, bis auf eine: Du darfst nicht runter! Unsereins betritt keine Planeten. Wir wären Erschei­nungen! Das stiftet nur Verwirrung. Der Alte H’rr müsste das genehmigen, so wie früher. Du weißt, er macht das nicht mehr.“

„Er macht gar nichts mehr“, sagt Sedek, „seit unzähligen Makronen schon nicht mehr.“

„Klingt da Kritik an?“, fragt Lud.

„Kritik? I wo. So was gibt es bei uns nicht.“

„Was sollen dann deine Einlassungen?“

„Vielleicht sollten wir versuchen, Noah zu wecken. Horch, es müsste dir doch angenehm sein, wenn du nicht mehr diese un­schönen Entscheidungen treffen müsstest, von wegen zerdep­pern und so weiter. Wenn er das wieder machen würde, wie frü­her.“

„Du weißt, das ist aussichtslos. Wir haben es schon versucht. Er schläft den Tiefen Schlaf und wird erst aufwachen, wenn die Zeit gekommen ist.“

„Dein Vertrauen in die Prophezeiungen ist wirklich unbeirrbar. Wie lange schläft er schon?“

„Sieben Tage.“

„Ach was.“

Mitnichten

Entschuldigung, ich muss kurz reingrätschen. Die Angelegen­heit droht verwirrend zu werden. Das liegt vermutlich vor allem an mir, denn ich habe mich noch nicht vorgestellt. Nur ganz kurz, später mehr: Ich heiße Abraham und weiß Bescheid. Nicht über alles, aber über vieles. Und jetzt wieder schnell zurück zu dem, worum es eigentlich geht.

„Sieben Tage“? Etwa wie in Eurem Schöpfungsbericht? Brin­gen wir Klarheit in die Sache.

Spätere Analysten haben früh darauf hingewiesen, dass gerade solche Missverständnisse wesentlichen Anteil am Misslingen der Kommunikation zwischen Patriarchen und Euch gehabt haben mögen. Wie soll man wissen, was gemeint ist, wenn man sich grundsätzlich fremd ist? Da geht es nicht nur um einzelne Begriffe, doch damit beginnt es.

Ein Wort mag vertraut klingen, aber verstehen alle Beteiligten dasselbe darunter? Was ist ein Tag? Unter Menschen mag Ei­nigkeit herrschen: Ein Tag dauert 24 Stunden. Eine quasi will­kürliche Festlegung, die sich an der eher zufälligen Rotation Eures Planeten orientiert. Wenn sich alle einig sind, dann funk­tioniert das. Auf Fomalhaut 17 hingegen ist ein Tag 357 Stun­den lang. Eine Stunde hat zehn Minuten und besteht aus 35 Stück von etwas, was dort grob übersetzt Streuobst genannt wird, und davon wiederum dauert jedes 48 Kerne. Wie lang jedoch ein Kern ist, darüber sind sich die Fomalhautis uneinig. Sie haben sogar Kriege deswegen geführt. Die Zeit und die Fomalhautis, das ist ein endloses Thema.

Zeit überhaupt!

Es geht also um Glaubensfragen. Dieses Problem wird dadurch verschärft, dass die Allerdings beim Erstkontakt ihren Über­setzungs-Universalbenutzer verwendet hat. Auf Luds Geheiß. Das Gerät hätte allerdings erst gründlich gefüttert werden müssen, da es mit einer komplexen Sprache konfrontiert war, aber dafür stand leider nur die Zeit des Anflugs zur Verfügung,

während wir die Übertragungen analysiert haben, die von L666-3 ausgehen. Als die Allerdings L666-3 zuletzt angeflogen hat, gab es dort noch keine Menschen. Geschweige denn ihre Sprachen. Insofern ist es fast ein Wunder, dass nicht noch viel mehr schiefgegangen ist.

Wenn Lud von „sieben Tagen“ spricht, wird gewiss niemand glauben, dass er irdische Tage meint. Lud, Noahs Enkel, stammt weder von der Erde noch von irgendeinem anderen Pla­neten. Er ist ein Kind der Archen. Für ihn sind lokale Zeit­rechnungen allesamt willkürlich definiert nach den Bedingun­gen auf Planeten, die zufällig unterschiedlich schnell rotieren und daher unterschiedlich lange Tage haben. Was für ein Durch­einander das gäbe, wenn man sich an Bord der Allerdings an solche lokalen Vorgaben halten müsste! Nicht auszudenken! Nein, auf der Allerdings gilt die Universalzeit, wie sie vom Amt für Universelle Taktgebung auf Safed bestimmt wird.

Die Wendung „sieben Tage“ ist bei den Patriarchen ein Synonym für das Ungefähre, aber nicht Unendliche. Immerhin ist die Sieben eine konkrete Zahl. In sieben Tagen schuf der Alte H’rr die Welt. Noch so ein Begriff! Was ist die Welt? Sagen wir lieber: das Universum. Wie lange er wirklich dafür gebraucht hat, weiß natürlich niemand, denn damals war er noch ganz allein mit seiner Schöpfung, und bis er die Zeit­rechnung geschaffen hat, brauchte er ein bisschen. Aber er hat „Tagebuch“ geführt, das ist überliefert. Die Mär davon soll bis nach L666-3 vorgedrungen sein. Ich habe sogar einen Ver­dacht, auf welchen Wegen das geschehen sein mag.

Ich verfüge über die Urfassung dieses „Tagebuchs“, das in den Schöpfungsmythen zahlloser Völker und Welten Niederschlag fand. Allerdings gibt es unterschiedliche Versionen davon. Der Alte H’rr hat es nicht so genau genommen, ebenso wie mit dem „Tag“. Doch ist in diesen Schriften belegt, dass er als erstes eben den Tag eingeführt hat, denn er hat seine Schöpfung in Tage gegliedert. Nicht in Runden, Etappen oder Kernen. Und da haben wir den Salat, denn er hat nicht festgelegt, dass der Tag 24 Stunden zu haben hat. Typisch für ihn: Er hat weit gedacht, aber nur bis zu einem gewissen Punkt. Dann war er fix und fertig und hat alles weitere den Exegeten überlassen. Wundert’s noch, dass es zu Diskussionen kommt?

Die „sieben Tage“ sind also eine Metapher. Sie bedeuten nicht, dass Noah vor sieben Erdentagen eingeschlafen ist, zu einem Zeitpunkt, da die Allerdings bereits im Anflug auf die Erde, aber noch weit weg war.

Nun fügt es sich günstig, dass ich Zugriff auf das Archiv der Allerdings habe. Dort ist verzeichnet, wann Noah eingeschla­fen ist, denn das war hier an Bord: vor 25 Millionen Makronen. Jetzt wirst Du Dich fragen, ob es überhaupt möglich ist, 25 Millionen Makronen lang zu schlafen, oder ob das nicht Schein­tod bedeutet, aber erstens sind die Grenzen zwischen Schlaf, Tiefem Schlaf und Tod fließend und zweitens ist Noah, und das ist vielleicht nicht ganz uninteressant, ein Patriarch. Die sterben nicht. Völlig ausgeschlossen! Höchstens gewaltsam, aber das passiert nur selten und ist immer von Aufregung begleitet. Ansonsten schlafen Patriarchen vielleicht mal ein bisschen lang. Schon die Tatsache, dass es dafür den Begriff „Tiefer Schlaf“ gibt, zeugt davon, dass Noah nicht der Einzige ist, mit dem man in dieser Hinsicht Erfahrungen hat.

Um zu beurteilen, ob ein „Tiefer Schlaf“ von 25 Millionen Makronen lang ist, muss ich noch mal im Archiv nachsehen. Was haben wir also da vor 25 Millionen Makronen? Hier ist ein Eintrag im Zusammenhang mit 887/17335/37/9021/Q17/L666-3 – also mit der „Erde“, wie Ihr den von Euch besetzten Planeten nennt. Denn die Allerdings war schon mal hier, weil ein Asteroideneinschlag drohte, dem zahllose Geschöpfe zum Opfer fallen würden. Die Allerdings evakuierte in geeignetem Ausmaß, um die planvolle Wiederansiedelung zu ermöglichen. Das begleitende Doku-Material zeigt unter anderem große Echsen mit enormen Zähnen – wobei „groß“ natürlich wieder­um ein Begriff ist, der alles Mögliche bedeuten kann. Diese Geschöpfe wurden in einer Box an Bord eingelagert und warten seitdem auf ihre Rückkehr nach L666-3.

Damals, in der Umlaufbahn um diesen Planeten, fiel Noah in den „Tiefen Schlaf“. Warum? Niemand weiß es. Korrelieren wir diese Erkenntnisse mit dem, was als gesichert gilt, dann haben sich diese Ereignisse vor rund 65 Millionen „irdischen“ Jahren zugetragen. Nun können wir die 25 Millionen Makro­nen umrechnen und wissen, wie lange Noah schläft und wovon Lud redet. Die Zahl der Makronen mal 2,6 ergibt die Zahl irdischer Jahre desselben Zeitraums.

Übrigens hieß auch Sedeks Tante Sedeketelebab, die Frau von Onkel Sem, dessen Sohn Lud ist. Die Frauen unter den Patriarchen haben alle lange Namen, die niemand aussprechen kann, Namen wie Neelatamauk oder Adataneses. Ich nenne Sedeketelebab daher lieber Sedek, so wie auch Lud und die anderen Patriarchen es tun. Ist einfacher. Lud ist – abgesehen von Noah selbst – der älteste Patriarch an Bord. Sein Vater Sem kommandiert eine andere Arche, ebenso seine Onkel Ham und Jafet und Luds ältere Brüder Elam, Assur und Arpachschad. Außer ihm sind noch 13 weitere Patriarchen an Bord.

Apropos Frauen und Männer – der zweite Punkt, weswegen ich reingrätsche. Es gibt hier ein kleines Problem, nämlich das der Darstellung oder Vorstellung, ganz wie Du willst. (Ich darf doch Du sagen?) Bei den Patriarchen ist es nämlich so, dass sie nach nichts aussehen, denn in der dritten Dimension, also Eurer Welt, sind sie nur ein Abklatsch von dem, was sie wirklich sind. Es liegt alles im Auge der betrachtenden Person. Wenn Du Dir Lud und Sedek als Mann und Frau vorstellst, dann ist das Dein Problem. Es gibt gute Gründe dafür, warum es den Patriarchen mittlerweile verboten ist, sich auf bewohnte Planeten zu begeben. Darum ist es sehr lange her, dass ein Lebewesen oder Geschöpf einen Patriarchen zu Gesicht bekommen hat.

Schweigen wir lieber davon!

Es steht Dir frei, Dir Lud und Sedek in menschlicher Gestalt vorzustellen. Vielleicht macht es das leichter. Tatsächlich ist es aber unwahrscheinlich, dass die Patriarchen, die seit unzäh­ligen Makronen im Auftrag des Alten H’rrn unterwegs sind, tatsäch­lich humanoide Gestalt haben sollten. Es ist so ähnlich wie mit den Tagen: Es kommt auf die Per­spektive an. Aus einer absoluten Perspektive betrachtet haben Lud und Sedek keinerlei Gestalt, aber das kann sich ändern, wenn man sie aus der persönlichen Perspektive ansieht. Dann sehen sie regelmäßig so aus, dass man sich was unter ihnen vorstellen kann. Das ist nicht immer ganz einfach für die beiden sowie für den Rest der Besatzung der Allerdings; da gibt es ja noch viel mehr, nicht nur Patriarchen. Aber man hat sich im Lauf der Zeit arrangiert. Es lässt sich ohnehin nicht ändern. Patriarchen sind nun mal Patriarchen.

Und noch ein Wort in puncto Geschlechtlichkeit. Das ist auf der Erde besonders wichtig, wie ich inzwischen weiß. Bei den Patriarchen ist das wunderbar geregelt. Seit einer Erhebung von vor drei Milliarden Makronen, als das Amt für Universelle Geburtenkontrolle, das auf Hebron angesiedelt ist, letztmals Bescheid wissen wollte, haben wir Kenntnis davon, dass es bei den Patriarchen 27 Geschlechter gibt. Mindestens! Davon kann etwa die Hälfte Nachwuchs gebären. Diese Hälfte wäre nach Deinem Verständnis weiblich, aber so einfach ist es nicht, denn etwa die Hälfte dieser Hälfte hat außerdem ein Organ, das zur Penetration fähig ist, und von dieser Hälfte ist wiederum die Hälfte zeugungsfähig, also nach Deinen Begriffen männlich und weiblich zugleich. Dann gibt es jene Patriarchen, die zeugungsfähig sind, aber nicht gebären können. Sie wären nach Deinem Verständnis Männer. Für die gilt wie fast überall im Universum: Man weiß nicht genau, warum es sie gibt, denn Zeugungen ließen sich auch auf anderen Wegen erreichen, aber anscheinend werden diese Patriarchen trotzdem gebraucht. Vielleicht, um Kriege zu führen.

Außerdem existiert eine dritte Gruppe von Geschlechtern: die „Mystischen“. Es ist unbekannt, was das genau bedeutet. Auf­fallend ist allerdings, dass viele Patriarchen, deren Eltern bei der Geburt „M“ für „mystisch“ angegeben haben – statt bei­spielsweise „G“ für „gebärfähig“, „P-“ für „penetrations-, aber nicht zeugungsfähig“ oder „P+“ für „zeugungsfähig und pene­trierbar (oder auch nicht)“ (diese Aufzählung erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit) –, sehr oft in der Bürokratie Karriere machen. Sei es bei der Hohen Ordonanz, dem Komitee für Relevanz oder dem Hohen Siedlungsamt und was es außerdem gibt. Insgesamt spielt Sexualität bei den Patriarchen nur dann eine Rolle, wenn es um Fortpflanzung geht. Aber das ist ein eigenes Thema und führt hier zu weit.

Patriarchen sind Patriarchen! Allesamt. Darum gibt es für sie nur diesen einen Begriff: Patriarchen. Sie mögen keine Vielfalt. Bei den Patriarchen wird auf den Tisch gehauen und gesagt, wo es langgeht. Das ist ziemlich praktisch, denn wo käme man hin, wenn eine Anrede bei Tisch nicht nur „Meine lieben Patriarchen!“ lauten müsste oder – für Patriarchen schon undenkbar – „Meine Damen und Herren“, sondern „Meine lieben 27 bekannten Geschlechter“? Unter Patriarchen fasst man das alles zusammen: als Patriarchen. Patriarchinnen wäre ein Widerspruch in sich. Darum hat irgendwer mal beim Oberkommando auf Jericho befohlen, dass auf den Archen alle männlich zu sein haben, auch die anderen Geschlechter. Damit können alle gut leben, die mindestens P+ sind; es gibt darüber hinaus noch „P++“, „UM1“, „UM2“ und „UM3“, wobei UM für „unfassbar maskulin“ steht. Alle anderen werden ungefragt mitgemeint. Sie haben sich daran gewöhnt. Das Universum ist schwierig genug. Man muss es nicht mit Geschlechterkram noch schwieriger machen. Vorbehaltlich der Frage, wie viele Geschlechter es bei den Patriarchen tatsächlich gibt und welche künftig noch entdeckt werden. Es gibt nämlich Verdachts­momente, wonach noch mindestens 17 weitere Geschlechter existieren. Aber was die sollen oder können oder können sol­len, das weiß niemand, und angesichts der Tatsache, dass es nur noch wenige zehntausend Patriarchen gibt, stehen die Chancen dafür, dass man das jemals herausfindet, denkbar schlecht. Darüber redet niemand. Das können die Patriarchen nämlich am besten: nicht drüber reden.

Im Fall der Mitnichten gab es solche Probleme übrigens nicht. Diese Arche zählt zur ersten Generation und ist nach meiner Kenntnis immer noch unterwegs, unter dem Kommando von Haikal, Noahs Weib, lange Zeit sein Lebenspatriarch, bis sie sich losgemacht und ihr Ansehen genutzt hat, um eine eigene Arche zu bekommen. Auf der durften nur Patriarchen anheu­ern, die P- oder jenseits davon waren, und so war die Arche bald ausschließlich besetzt mit Nichten von Patriarchen. Das hat die Welt der Patriarchen damals gehörig durcheinan­der­gewirbelt: An Bord dieser Arche wird nichts und niemand ge­zeugt werden – darf das sein? Ein vorwitziger Archenkom­man­dant hat nachgefragt, was denn da an Bord die ganze Zeit gemacht werden wird, so ganz ohne P+ und mehr. Die Er­wider­ung soll gelautet haben:

„Och, uns fällt schon was ein.“

In den offiziellen Archiven gibt es darüber natürlich keine Einträge, aber es gibt ja noch die Apokryphen, eine Art Darknet des Patriarchendenkens.

Doch jetzt müssen wir zurück in die Kommandozentrale der Allerdings. Dort kollidieren soeben Lud (UM2, zweifellos) und Sedeketelebab (w/m/d/q, Angabe unter Vorbehalt).

***

„Sieben Tage“, antwortet Lud. „Willst du meinen Job haben?“

„Nie!“, sagt Sedek. „Ich finde trotzdem, dass du nicht immer alles gleich zerdeppern musst, wenn es mal nicht hundert­pro­zentig der Norm entspricht.“

„Ordnung ist das halbe Universum!“

Sedek seufzt.

„Das sagst du immer wieder. Das ist langweilig! Ein bisschen Unordnung täte dir gut!“

„Pass auf, was du sagst. Damit scherzt man nicht!“

„Herr, die Messungen sind abgeschlossen“, sagt eine Stimme. Jemand aus dem Kreis der Hilfsvölker, ein Krei’us namens Ziusud. Die Krei’us können hilfreich sein, aber man muss sie nicht kennen oder zur Kenntnis nehmen. Das würde ihrem Willen und Wesen nicht entsprechen. Sie sind tendenziell unauffällig. Manchmal, wenn sie der Auf­fassung sind, dass sie was Interessantes zu sagen haben, kön­nen sie allerdings so freundlich sein zu fragen:

„Habt Ihr schon gehört, Herr?“

Man kann sie dann anhören, aber deswegen muss man sie trotz­dem nicht zur Kenntnis nehmen. Schon gar nicht per­sönlich. Das ist so ähnlich wie bei Euch mit den Leuten, die im Super­markt die Regale auffüllen.

Aber Lud ist neugierig auf die Ergebnisse.

„Danke, Ziusud“, sagt er. „Nimm dir ein Beispiel an ihm, Sedek. Auf die Hilfsvölker ist wenigstens noch Verlass. Sie machen ihren Job, während du nur hier rumflatterst und mir das Gehör vollstöhnst.“

Der Krei’us schweigt und erfüllt damit die Konvention.

„Also, was haben die Messungen ergeben?“

„Unschönes, Herr. Ich bin nicht dafür verantwortlich. Falls Ihr eine Strafe in Erwägung zieht, möchte ich nicht davon betrof­fen sein.“

„So schlimm?“

„Das zu beurteilen, ist nicht meine Aufgabe. Planet L666-3 steht vor Veränderungen, die es nicht angeraten erscheinen lassen, dort Geschöpfe anzusiedeln. Nicht mal versuchsweise. Keines der 13 Kriterien, die Voraussetzung wären, ist erfüllt. Das Unkraut hat sich derart überbordend vermehrt, dass sein Einfluss die Biosphäre in naher Zukunft kippen lassen wird.“

„Nenn diese Lebewesen nicht Unkraut, du Schleimer“, fährt Sedek ihn an. „Das sind intelligente, fühlende Organismen.“

„Die sich widerrechtlich auf L666-3 entwickelt haben“, fügt Lud scharf hinzu. „Und wie wir es schon oft erlebt haben, übertreibt es das Unkraut, weil es nicht reguliert wurde.“

„Wenn du den Plan eingehalten hättest, wären wir schon vor 24 Millionen Makronen wieder hier gewesen und hätten unseren Job gemacht“, versetzt Sedek. „Dann wäre das nicht passiert.“

„Du weißt genau, dass das unmöglich war! Und jetzt hör auf zu stören. Weiter mit dem Bericht, Krei’us.“

„L666-3 ist geprägt von Überbevölkerung, Raubbau an allen Ressourcen, Vergiftung der Atmosphäre, Gewässer und Böden. Der Planet wird in 15 Makronen kaum noch die Hälfte der L666er ernähren können, die sich derzeit auf ihm aufhalten. Zugleich haben die L666er eine reiche Kultur und einen be­trächtlichen technologischen Fortschritt entwickelt, der es un­wahrscheinlich erscheinen lässt, dass sie einfach vergehen.“

„Wenn wir nichts tun, überleben die?“

„Die Simulationen deuten es an, Herr. Die Spezies auf L666-3 könnte überleben, wenn auch stark dezimiert und auf Kosten anderer Spezies auf dem Planeten. Die L666er sind findig.“

„Also zerdeppern!“

„Das ist Eure Entscheidung, Herr.“

„Fragen wir Noah!“, wirft Sedek ein.

„Unkontrollierter Wildwuchs kann nicht verantwortet wer­den“, entgegnet Lud scharf. „Sonst denkt die Evolution noch, sie kann machen, was sie will.“

„Und was sagt das Komitee?“, fragt Sedek und meint den Krei’us, ohne ihn anzusehen; denn das hätte ja bedeutet, ihn zur Kenntnis zu nehmen. Oder sie. Bei denen weiß man nie, was sie für ein Geschlecht haben. Oder ob überhaupt.

„Wir haben den Bericht noch nicht eingereicht“, sagt Ziusud. „Ihr kennt die Abläufe. Erst muss der Bericht abgezeichnet werden, dann kann er nach Nazareth an die Kommission für Planetenkontrolle gesendet werden.“

„Die hat seit 25 Millionen Makronen nicht auf unsere Anfragen reagiert“, sagt Lud. „Warum sollte es jetzt anders sein?“

„Weil du dir Entscheidungen anmaßt, die deine Kompetenzen übersteigen, Lud!“, sagt Sedek.

„Ich bin Noahs Enkel! Meine Kompetenzen sind – “

„Statt einfach mit dem Großen Plan weiterzumachen, dem wir sowieso hinterherhinken, sollten wir lieber nach Nazareth flie­gen und herausfinden, was da los ist. Oder noch besser gleich nach Jericho zum Oberkommando.“

„Mit der vollen Arche? Du bist von Sinnen! Wir haben Ge­schöpfe für 300 Millionen Planeten an Bord! Die brauchen dringend Perspektiven! Wenn wir diese Geschöpfe ausgebracht haben, dann, ja, dann können wir nach Jericho fliegen, aber nicht vorher. Erst die Arbeit, erst die Pflicht!“

„Wir sind noch Millionen Makronen damit beschäftigt, diesen Plan zu erfüllen“, wendet Sedek ein.

„Es ginge alles viel schneller, wenn wir nicht dauernd auf das Problem mit dem Unkraut stoßen würden. Wenn wir auf dieser Welt das Leben aussetzen könnten, das dem Großen Plan zufolge da hingehört. Krei’us, wie sieht es mit dem Räumungs­bescheid für L666-3 aus?“

„Der Antrag liegt bereit und kann jederzeit an das Hohe Siedlungsamt geschickt werden, Herr.“

„Und wird viele Makronen brauchen“, versetzt Sedek.

„Ich unterschreibe selbst“, sagt Lud.

„Mit Verlaub, ich möchte dazu raten, die Fristen einzuhalten. Die Untersuchungen sind noch nicht abgeschlossen, und die Bürokratie reagiert ungehalten, wenn die Vorschriften nicht erfüllt werden. Dann dauert alles noch viel länger.“

„Wären die L666er in der Lage, sich selbst eine Arche zu bau­en?“, fragt Sedek.

„Warum sollten die das tun?“, fährt Lud sie an, während der Krei’us schweigt.

„Natürlich nicht für alle neun Milliarden“, gibt Sedek zurück. „Aber für ein paar hundert, um möglichst viele zu retten. Ziusud, was sagen die Scans?“

Ziusud scheint sich unbehaglich zu fühlen, aber die beiden Patriarchen nehmen das nicht zur Kenntnis.

„Vermutlich, Herr“, sagt er. „Die L666er haben begonnen, die Grütze zu erkunden. Sie haben Tausende von Satelliten, die L666-3 umkreisen, es gibt mehrere bewohnte Stationen im Orbit, drei Stationen in der Umlaufbahn um ihren Mond und eine Station, die den vierten Planeten umkreist und ebenfalls bewohnt ist.“

„Hast du gehört, Lud?“, sagt Sedek. „Wenn die L666er ein wenig Zeit bekommen, werden sie in der Lage sein, sich selbst eine Arche zu bauen.“

„Zeit ist das, was wir am wenigsten haben“, antwortet Lud. Das begleitende Geräusch, das er dabei von sich gibt, wäre viel­leicht als resignierendes Seufzen zu interpretieren. „Wie ist der Status des Inhalts von Box L666-3?“

„Quicklebendig. Kann jederzeit ausgesetzt werden!“

„Das gäbe ein Massaker!“, wendet Sedek ein. „Sieh dir an, was in der Box ist!“

„Hab’s gesehen. Nicht schön, aber voll im Plan.“

„Herr, darf ich auf ein kleines Problem hinweisen?“

„Bleib mir weg mit kleinen Problemen!“

„Es gibt eine Varianz in der Datengrundlage.“

„Was soll das heißen?“

„Es ist lange her, dass wir Arche im System L666 waren. Ziuluk meint, dass wir damals nicht vom dritten Planeten evakuiert haben, sondern vom vierten, also von L666-4, aber dann sei die Box falsch beschriftet worden.“

„Zeig mir L666-4!“, fordert Lud, und schon der erste Blick scheint ihm zu gefallen, während Sedek wohl die Stirn gerun­zelt hätte, wenn sie über eine solche verfügt hätte – aber wie gesagt, es spricht nichts dagegen, dass Du sie Dir mit Stirn vor­stellst.

„Auf L666-3 heißt dieser Planet Mars“, fügt Ziusud hinzu.

„Eine Welt nach meinem Geschmack!“, kommentiert Lud. „Praktisch leer, viel Platz! Wäre toll, oder?“

„Es wären vorbereitende Maßnahmen nötig, ehe wir den Inhalt der Box dort aussetzen könnten“, sagt Ziusud, „aber es ist nicht unmöglich. Vier Makronen, dann wissen wir es.“

„Schau dir im Vergleich dazu den dritten Planeten an“, sagt Lud. „Dieses Gewusel! Fürchterlich!“

„Wir könnten eine Ordonanz zum vierten Planeten schicken, um alles einzuleiten“, sagt Sedek.

„Und was war das mit der Datenvarianz, von der du geredet hast?“ Lud hätte vielleicht irritiert gewirkt, wenn er denn zu sehen gewesen wäre. „Was soll das sein? Das klingt, als ob da was nicht in Ordnung ist.“

Ziusud verfügt wie jeder Krei’us über Schultern, mit denen er aber dennoch nicht zuckt, wie es ein Mensch getan hätte, son­dern er gibt ein Geräusch von sich, das so klingt:

„Krk.“

„Überprüf’ das!“, befiehlt Lud. „Und dann schicken wir den Räu­mungsantrag weg.“

„Selbstverständlich, Herr. Ordnung ist das halbe Universum!“

***

Als Markus aufwacht, hat er gerade davon geträumt, dass er an einem tropischen Strand in einem Liegestuhl einen Cocktail schlürft. Das Meerwasser ist extrem blau, der Korallensand strahlend weiß und auch die Sonne gibt sich Mühe, nach Reise­werbung auszusehen. Sonderbarerweise schwitzt Markus trotz­dem nicht. Außerdem erinnert er sich noch, dass der Cocktail nach nichts schmeckt, aber dann ist er plötzlich wach und fin­det sich auf der leicht zerschlissenen Rückbank eines Taxis aus Lübeck wieder.

Sofort fühlt er sich unwohl. Es ist atembeklemmend still. Das Taxi steht. Von irgendwo kommt ein wenig Licht, von außer­halb des Taxis. Aber da draußen ist praktisch nichts. Das Ein­zige, was Markus sieht, ist Boden. Und das Einzige, was er hört, ist der Schlager aus der Hanselore, der in seinen Ohren nachhallt: „Wenn du denkst, du denkst, dann denkst du nur, du denkst.“

Markus versucht, nicht zu denken. Dabei kann jetzt sowieso nichts rauskommen. Er hat Kopfschmerzen. Das liegt bestimmt an dem Schlager. Wobei der Text gar nicht mal blöd ist.

Ein Blick auf sein Handy. Kein Netz. Das Gerät gibt als Uhrzeit 53 Uhr 177 an. Markus steckt es kopfschüttelnd weg. Auf nichts ist heutzutage mehr Verlass! Dann greift er nach rechts, ohne hinzusehen, weil er Angst hat, findet aber zum Glück den Oberschenkel, den er dort zu finden gehofft hat. Erst dann wendet er den Kopf. Tobias sitzt noch neben ihm. Er schläft tief mit nach vorn hängendem Kopf. Auch die Kopf­tuchträgerin auf dem Platz hinter dem Steuer ist noch da. Ihr Kopf hängt ebenso nach vorn wie der von Tobias. Beide atmen. Markus ist nur als erster aufgewacht, warum auch immer. Nichts weist darauf hin, dass sie gleich ebenfalls aufwachen.

Markus ist allein, wenigstens vorübergehend.

Aber wo ist er?

Draußen, hinter den Fenstern des Taxis, ist nichts. Oder jeden­falls sieht es so aus. Bis auf den Boden, auf dem das Taxi steht. Aber ist das die Art von Boden, auf die man einen Fuß setzen kann? Was passiert, wenn Markus aussteigt? Hat er da festen Tritt? Dieser Boden ist befremdlich. Er wirkt ebenmäßig bis in die Ferne, soweit Markus sehen kann. Es gibt keine Rillen, Nähte, Schweißspuren oder Schlaglöcher. Eigentlich ist das kein Boden. Selbst der beste Asphalt hat Unebenheiten. Das da draußen nicht. PVC hat Muster, Linoleum auch, ebenso Flie­sen, Laminat, Parkett und Teppich. Das da draußen hat gar nichts. Es ist einfach nur da. Unter anderen Umständen hätte Markus sich beschwert: Wer hat sich dieses bescheuerte Design ausgedacht, das keinerlei Orientierung zulässt? Dafür ist De­sign doch da! Ihm ist unheimlich zumute.

Mit den Menschen ist es so: Es gibt solche und es gibt solche. Markus ist von der ersten Art. Nämlich der, die oft Dinge tut, ohne nachzudenken. Das hat Vor- und Nachteile. Abgesehen davon, dass Nachdenken ein energieintensiver Prozess ist, so dass schnelles Handeln Energie spart, außerdem abgesehen davon, dass viel von dieser Energie verschwendet wäre, da man hinterher sowieso klüger ist – abgesehen also davon hat ihm seine Methode, die Dinge einfach zu tun, oft Probleme be­schert. Aber jetzt ist ihm klar: Er hat ohnehin ein Problem, und es kommt nun nicht drauf an, sich zu fragen, welche Probleme er noch draufsattelt, wenn er dies oder das tut oder auch jenes. Die sonderbare Umgebung wirft viele Fragen auf. Eben noch auf der Straße von Lübeck-Centrum nach Stockelsdorf, und jetzt hier, wo auch immer das ist – was soll Nachdenken da helfen? Zumal Markus niemanden fragen kann. Nicht mal To­bias oder die Kopftuchträgerin.

Markus hat die meisten Entscheidungen seines Lebens einsam getroffen, und so macht er es auch jetzt: Er öffnet die Wagentür. Sein Puls rast. Was macht er da? Hat er sie noch alle oder ist er gerade besonders mutig? Immerhin: Statt nur durch die Fen­sterscheibe hat er nun die ganze Tür als Ausschnitt zur freien Sicht nach draußen. Da ist Boden! Der Zuwachs an Information ist gleichwohl minimal. Nach hinten hin verfällt alles ins Dunkel, es gibt keine Wände, Mauern, Hecken, sondern nur Dunkel, und das bisschen Licht, das von irgendwo von oben kommt, hilft ebenfalls nicht weiter. Als wäre ein Scheinwerfer auf das Taxi gerichtet, das in einer riesigen Halle steht. Aber kein heller Scheinwerfer, sondern einer, der nur einen Schein wirft.

Markus steigt aus und blickt nach oben. Da ist kein Schein­werfer. Immerhin fühlt sich der Boden zu seinen Füßen fest an. Wie sonderbar: Da steigst du in Lübeck mit einem Kerl ins Taxi und denkst noch: Hauptsache vögeln. Und dann bist du plötz­lich hier.

„Wie schräg ist das hier?“, fragt Markus, einfach damit endlich was gesagt ist, denn es ist total still. Für einen wie Markus, der normalerweise kaum den Mund halten kann, ist Stille eine echte Herausforderung. Aber das Dunkel – es erstreckt sich in alle Richtungen –, antwortet nicht und fühlt sich auch nicht so an, als zeige es ein Interesse daran herauszufinden, was Markus „schräg“ findet.

Kleine Zwischenbemerkung, ohne schon wieder reingrätschen zu wollen: Vielleicht gibt es auch hier nur ein Kommunikations­problem, vielleicht kann die Dunkelheit nichts mit Begriffen wie „schräg“ anfangen, die ja letztlich mit Geometrie zu tun haben, also mit etwas, was es in dieser allumfassenden Dunkel­heit nicht gibt. Nur so als zarten Hinweis, bevor harte Urteile fallen. Reden sie vielleicht aneinander vorbei, Markus und die Dunkelheit? Doch müsste die Dunkelheit auf derlei überhaupt antworten? Immerhin ist sie die Dunkelheit und da­ran ge­wöhnt, die Dinge – welche auch immer – im Dunkeln zu belas­sen. Und Fragen wie:

„Wie schräg ist das hier?“ sind bei genauer Betrachtung sowie­so viel komplizierter, als es zunächst den Anschein hat. Auch weil sich der Fragesteller entgegen der Empfehlungen seiner Therapeutin vielleicht nicht genau überlegt hat, was er da eigentlich fragt. Was soll die Dunkelheit auf eine Frage nach ihrer Schrägheit schließlich antworten?