Der Mörder mit der schönen Handschrift - Pierre Magnan - E-Book

Der Mörder mit der schönen Handschrift E-Book

Pierre Magnan

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Beschreibung

Große Kriminalliteratur aus der Provence von Pierre Magnan Emile Pencenat gräbt Sonntag für Sonntag an seinem eigenen Grab auf dem Friedhof von Barles. Eines Tages findet er dort einen Brief ohne Absender und gibt ihn bei der Post auf. Bald darauf wird die Empfängerin des Schreibens ermordet. Emile findet weitere Briefe, deren ordnungsgemäße Zustellung jedes Mal einen Mord nach sich zieht. Kommissar Laviolette ermittelt in der Familie der Adressaten ... (Dieser Text bezieht sich auf eine frühere Ausgabe.)

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Pierre Magnan

Der Mörder mit der schönen Handschrift

Ein Kriminalroman aus der Provence

Aus dem Französischen von Jörn Albrecht

FISCHER E-Books

Inhalt

»Ich hab sie gerochen, [...]Für Domnine Pico, die [...]~ 1 ~~ 2 ~~ 3 ~~ 4 ~~ 5 ~~ 6 ~~ 7 ~~ 8 ~~ 9 ~~ 10 ~~ 11 ~~ 12 ~~ 13 ~~ 14 ~~ 15 ~

»Ich hab sie gerochen, die Todbringer!«

T.S. Eliot, ›Mord im Dom‹

Für Domnine Pico, die Leserin meiner Vorstellung

~ 1 ~

AM Friedhofstor von Barles befindet sich ein Briefkasten. Schon von weitem sieht man den Schlitz, wenn man den gepflasterten Weg emporsteigt. Der rechte Torflügel scheint wie durch ein Lächeln verklärt, mit dem sauber ausgeschnittenen Rechteck in der Mitte und den Regen- und Windschutzblechen auf beiden Seiten.

Zahllose Leichenzüge haben die beiden weit aufgerissenen Torflügel passiert, ohne dass sich irgendjemand Gedanken über diesen Schlitz am unpassenden Ort gemacht hätte, an dem ja nun auch nichts Außergewöhnliches ist. Ein Briefkasten an sich ist schließlich etwas so Banales, dass niemand je auf ihn achtet.

In den Jahren nach 1960 allerdings benutzte der Mörder mit der schönen Handschrift diesen Briefkasten. Es war schon damals ein alter Kasten, ohne Boden und mit einem schief in den Angeln hängenden Türchen. An wüsten Tagen, wenn der Mistral um den Gipfel des Couar knallte wie in den Segeln eines Schiffs, klapperte das Türchen leise in seinen Scharnieren. Da nun aber so viele rheumatische Skelette unter der Friedhofserde hartnäckig darauf bestanden, mit lautem Knacken jeden Wetterumschlag anzukündigen, wie sie es einst im Leben getan hatten, fand das gedämpfte Klappern dieses Wettermelders ebenfalls keine Beachtung.

Es war die Zeit, als Emile Pencenat sein Grab schaufelte, Sonntag für Sonntag. Er hatte die Erlaubnis dazu erhalten, obschon es für ein solches Vorhaben keinen Präzedenzfall gab. So unangenehm berührt er sich von dieser aberwitzigen Idee zeigte – der Gemeinderat hatte nichts ausfindig machen können, was ihrer Umsetzung in die Tat ausdrücklich im Wege gestanden hätte.

Wohl wissend, dass es an geeigneten Kräften zum Unterhalt des Totenackers fehlte, und um eine Entscheidung in seinem Sinne herbeizuführen, hatte Emile Pencenat feierlich erklärt:

»Ich werde ihn für Sie sauber halten, Ihren Friedhof. Die verwelkten Sträuße werde ich wegschaffen. Das Unkraut zwischen den Gräbern hacke ich Ihnen weg, und nach stürmischen Tagen werde ich sogar die umgefallenen Töpfe mit den Chrysanthemen wieder aufstellen.«

Wie hätte man dem Angebot so vieler freiwilliger Hilfeleistungen widerstehen können? Man fragte Pencenat noch nicht einmal, warum er denn um jeden Preis seine eigene Grabstätte haben wollte, wo er doch über ein geräumiges, tönend leeres Familiengrab verfügte. Man kannte die Antwort auf diese Frage nur allzu gut. Er wollte die Stätte der ewigen Ruhe nicht mit Prudence, seiner Frau, teilen, mit der er mehr schlecht als recht zusammenlebte.

Im Übrigen war das Familiengrab durchaus nicht nach seinem Geschmack. Inmitten dieses katholischen Friedhofs nahm es sich wie ein protestantisches Mausoleum aus: Streng und abweisend gestand es der Ewigkeit nur sparsame Ausmaße zu und ließ sie dazu noch ohne jeden Reiz erscheinen. Nun hatte aber Emile Pencenat die beneidenswerte Gabe, sich den Aufenthalt im Reich der Schatten in leuchtenden Farben auszumalen. Gerade dunkle Gedanken rufen nach Blumenschmuck. Sein Grab sollte, wenn irgend möglich, die wesentlichen Merkmale des Prunkbetts eines absoluten Herrschers aufweisen. Unter einem mit schweren, goldbetressten Vorhängen geschmückten Baldachin sollte ein wollüstiges Himmelbett den Blickfang abgeben, und das Ganze sollte mit Säulenreihen eingefasst sein.

»Das sind doch Träume«, sagte Monsieur Régulus, der Dorfschullehrer. »Sie träumen davon, solch prachtvolle Dinge mit den Verwesungssäften Ihrer erbärmlichen Leiche zu besudeln. Das ist ja makabrer Hedonismus!«

Aber dergleichen Sarkasmen nahm Emile Pencenat überhaupt nicht zur Kenntnis. An Regentagen schnitzte er in seinem Schuppen die Engelsköpfchen, mit denen er die Säulen aus rosa Marmor zu schmücken gedachte, die sein Meisterwerk umrahmen sollten. So weit war es allerdings noch lange nicht. Weder wusste er, wo er rosafarbenen Marmor hernehmen, noch wie er ihn bezahlen sollte. Nun hatte jedoch die Idee, sein eigenes Grab zu schaufeln, erst vor einigen Monaten von ihm Besitz ergriffen, zum Zeitpunkt seiner Pensionierung, als er sich mit Schrecken gefragt hatte, wie er nun die innere Leere ausfüllen würde. Es blieb also noch reichlich Zeit, so glaubte er, für alles eine Lösung zu finden.

An einem schönen Herbstabend – die milde Wärme war noch in einem Meter Tiefe im Erdreich zu spüren – hörte Emile Pencenat es fünf Uhr schlagen. Er kletterte aus seinem Loch, um sich nicht unnötig dem tückischen Abendtau auszusetzen.

Kaum war er die Stufen seiner Trittleiter hochgestiegen, als er, direkt in Augenhöhe, auf dem Grab der Familie Pourcin du Charmel etwas Weißes, Rechteckiges liegen sah.

Dieses Erbbegräbnis befand sich genau unter dem verbeulten Briefkasten, auf den niemand achtete. Es war für alle Zeiten mit Blumen versehen (und nicht zu knapp), mit diesen knallbunten Kunststoffchrysanthemen in ihren unverwüstlichen Farben.

Pencenat beäugte das Rechteck aus Papier. Er ging darauf zu, bückte sich und tat sich an den scharfen Kanten der abweisenden Plastikblumen weh. Als er sich wieder aufgerichtet hatte, hielt er einen Briefumschlag in seinen mit Erde verschmierten Händen. Einen Briefumschlag!

Von seinen Ideen zur Ausgestaltung seiner letzten Heimstatt einmal abgesehen, verfügte der ehemalige Briefträger Emile Pencenat über keinerlei Einbildungskraft. Die unvorhergesehene Benutzung eines offensichtlich zu rein ornamentalen Zwecken angebrachten Briefkastens brachte ihn nicht aus dem Gleichgewicht. Letztlich war das doch ganz normal. Was war schon ungewöhnlich daran, wenn jemand einen Briefumschlag in einen Briefkasten steckte, mochte dieser nun über einen Boden verfügen oder nicht? Einigermaßen verwirrend erschien ihm nur die Anschrift, die auf dem Umschlag zu lesen war:

Mademoiselle Véronique Champourcieux

4, rue des Carmes

Digne (Basses-Alpes)

Es war eine schöne, steile, geradezu aristokratische Schrift, so weit Pencenat das beurteilen konnte. Anmutig prangte das Wort Mademoiselle, voll ausgeschrieben, im regelmäßigen Wechsel der Auf- und Abstriche auf dem Umschlag. Ein Wort, das den Schwung eines auffliegenden Vogels in sich birgt. Pencenat glaubte es förmlich zu hören. Augenblicklich erschien ihm die Person, die hinter dieser unbekannten Mademoiselle steckte, im strahlenden Schmuck der verschiedensten Laster; kunstvoll entblößt, wie die Titelschönheiten jener anrüchigen Zeitschriften, die er beim Zeitungshändler heimlich durchblätterte, wenn er unten in Digne zu tun hatte.

Als sich diese Assoziation bei ihm einstellte, fing der Brief augenblicklich an, ihm die Finger zu versengen. Er durfte ihn nur ja nicht mit nach Hause nehmen. Prudence – allein schon die Tatsache, dass der Vorname seiner Frau »Vorsicht« bedeutete, ließ ihm diese schätzenswerte Eigenschaft in einem höchst unsympathischen Licht erscheinen –, Prudence, die Kluge, Vorhersehende also würde bocken wie ein Pferd vor dem Hindernis, wenn sie das Wort Mademoiselle auf einem Brief zu lesen bekäme, dem noch die Wärme von Pencenats Hosentasche anhaftete.

Nicht, dass sie eifersüchtig gewesen wäre, Gott bewahre, aber jede Gelegenheit, ihrem Mann das Dasein zu vergiften, kam ihr gelegen. Eines Tages, es war schon ziemlich lange her, hatte sie ihn dabei ertappt, wie er die Rose Roche, die das Bureau de Tabac des Dorfes betrieb, ganz ungeniert begrapschte.

Diese Rose Roche, eine Kriegerwitwe mit üppigen Formen, schien ihren Beruf allein im Hinblick auf die Möglichkeit gewählt zu haben, möglichst viele Männerbekanntschaften zu machen. Man musste einmal gesehen haben, wie sie ihre Brüste über dem Ladentisch zur Schau stellte. Prudence hatte diese Eskapade zum Vorwand genommen, Pencenat fortan die ehelichen Rechte zu verweigern. Schwer gefallen war ihr das nicht, denn schon lange widerstrebte es ihr, ihren ehelichen Pflichten nachzukommen, und sie träumte davon, das Ehebett allein für sich zu haben. Im Handumdrehen hatte sie in der nach Norden gelegenen, kalten Vorratskammer, in der es winters wie sommers nach überreifen Äpfeln roch, eine annehmbare Schlafkabine eingerichtet. Pencenat blieb nichts anderes übrig, als sich damit abzufinden.

Seither war es Prudence – im Volksmund hieß sie in Anspielung auf ihren Namen nie anders als »Mutter der Porzellankiste« –, die alle zwei Tage das Päckchen Zigaretten Marke Scaferlati besorgte, das zur Aufrechterhaltung des seelischen Gleichgewichts Pencenats nun einmal nötig war.

Anfangs bedachte sie Rose mit einem spitzen, überlegenen Lächeln, wenn sie ihre drei Francs hinlegte. »Als ob sie mir keinen Nachtisch gönnen wollte«, sagte sich Rose immer wieder und ließ es dabei bewenden. Sie hatte doch nichts weiter gewollt, als Pencenat ihrer Sammlung von Liebhabern einzuverleiben, ganz beiläufig, so wie man einen Schmetterling aufspießt, der in der eigenen Sammlung noch fehlt. Aber dann konnte sie sich nicht mehr zurückhalten: »Wir wollen mal sehen, ob diese arrogante Ziege nicht doch noch zu Kreuze kriecht.« An einem gewittrigen Tag war es schließlich so weit. Der Platzregen ließ Prudence an der Türschwelle stocken. Sie zögerte, auf die andere Straßenseite zurückzukehren; die Zigaretten hätten dabei völlig durchweichen können. Da kam Rose hinter ihrem Ladentisch hervor und brachte ihre üppigen Rundungen direkt neben der dürren Prudence zur Geltung.

»Hör mal«, sagte sie sanft, »das war keine gute Idee von dir, deinem Alten diesen Spaß nicht zu gönnen. Ich hätte ihm da so einiges beibringen können, und du wärst vielleicht ganz zufrieden gewesen, wenn er es nachher mit dir gemacht hätte.«

Prudence wandte sich ihr langsam zu und schaute ihr geradewegs mitten auf die Stirn. Dabei bemerkte Rose, dass sie sehr schöne mandelfarbene Augen und volle Lippen hatte, die wohl nie zu etwas anderem gut gewesen waren, als Suppe zu schlürfen. Und diese Lippen formten die folgenschweren Worte:

»Und wenn du mir das alles selbst beibringen würdest?«

Rose blieb mit offenem Mund stehen. Seit langem stellte sie mit Bedauern fest, dass ihren erotischen Erfahrungen, so bereichernd sie sein mochten, doch immer noch das gewisse Etwas fehlte; keine befreite sie von ihrer Melancholie. So kamen Prudences Worte wie ein Lichtblitz über sie. Bevor sie ausgeredet hatte, fingerte Rose schon hastig an dem Nagel, der die Klinke an der Glastür festhielt, und nahm die Klinke ab.

Damals wurde ihr schlagartig klar, dass hinter Prudences strenger Stirn gut dreißig Jahre unerfüllten Begehrens stecken mussten. Wie ihre gebieterische Zunge sie halb erstickte, diese mageren, sehnigen Ziegenschenkel sie fest umklammerten! Prudence war es, die sie, die es bereitwillig geschehen ließ, nach hinten zur Bettnische zerrte und schubste. Dort machten sie denn ihre erste und überzeugende Erfahrung auf dem Gebiet der sapphischen Liebe. Was danach kam, war nur noch Stimmungen und Launen unterworfene Routine.

So vertreibt man sich die Langeweile in diesen verschlafenen Dörfern. Denn hier wie anderswo gilt: »Man muss sich nur trauen!«

Manchmal traut man sich zehn Jahre lang nicht, weil die Umstände nicht danach zu sein scheinen, aber wenn man erst einmal ins kalte Wasser gesprungen ist, dann schwimmt man auch und hält sich alle Befürchtungen mit wilden Freudenschreien vom Leibe. Kaum jemand hat wirklich etwas dagegen, es sei denn die Grabschaufler, doch die finden andere Wege, um auf ihre Kosten zu kommen.

Emile Pencenat allerdings war keineswegs geneigt, das alles für ein Vergnügen zu halten, als er verwirrt auf den Brief starrte, den ihm das Schicksal in die Hände gespielt hatte. Er fragte sich, wie er ihn verschwinden lassen konnte, bevor Prudence ihn zu sehen bekam. Ihn einfach dorthin zurücklegen, wo er ihn gefunden hatte? Das Gewissen des ehemaligen Briefträgers sträubte sich dagegen, und ebenso hatte er Skrupel, ihn einfach im nächsten Gully verschwinden zu lassen. Schließlich gelangte er zu dem Schluss, dass die einfachste, vernünftigste und einleuchtendste Lösung des Problems darin bestand, den Brief der Post zur normalen Beförderung anzuvertrauen. Obwohl er natürlich nicht frankiert war.

»Was heißt hier eigentlich ›natürlich‹?«, fragte sich Pencenat. »Natürlich wäre es doch eher, wenn der Brief frankiert gewesen wäre … Aber eigentlich kann mir das doch piepegal sein. Wenn die Prudence den entdeckt, kann ich mindestens eine Woche lang mein Bett selbst machen. Am besten einfach zerreißen. Und da könnte ich ihn ja vorher sogar lesen! Wissen, was drin steht! In einem Brief, der beim Friedhof eingeworfen wird, kann ja nur was Spannendes drin stehen …«

Aber das schöne Wort Mademoiselle – voll ausgeschrieben – wirkte seiner aufkommenden Wurstigkeit entgegen. Ohne zu einem Entschluss zu kommen, hielt er den Umschlag zwischen den Fingerspitzen, als wollte er ein Sakramentshäuschen spazieren tragen. Dabei merkte er plötzlich, dass er inzwischen den steilen Friedhofsweg hinuntergegangen war, den Platz mit dem Denkmal des heldenhaften Frontkämpfers überquert hatte und direkt vor dem Postamt gelandet war. Er ging hinein.

Die Félicie Battarel hat dann später erzählt – aber sie hatte ja genügend Zeit, sich alles vorteilhaft zurechtzulegen –, er habe sich wie ein Dieb durch die Tür gedrückt.

»Wie einer, der nicht ganz bei sich ist«, sollte sie später sagen.

Pencenat verlangte eine Briefmarke, klebte sie auf den Umschlag, verließ den Raum, um den Brief in den Außenbriefkasten zu werfen, und ging leichten Herzens nach Hause.

Wie gewöhnlich lag Félicie Battarel auf der Lauer und war mit einem Sprung bei dem Korb, in den der Brief gefallen war. Der einzige angenehme Zeitvertreib, den ihr Amt mit sich brachte, bestand darin, die Geheimnisse der Kunden durch sorgfältige Prüfung aller der Post anvertrauten Sendungen auszukundschaften. Dies umso mehr, als der Posteingang in Barles spärlich und die Abende lang waren, sodass man jeden einzelnen Fall gründlich überdenken konnte.

Mit dem Stempel in der erhobenen Hand zerbrach sich diese schätzenswerte Postbeamtin, die es auf achtzig Kilo bei einer Größe von ein Meter vierundfünfzig brachte, lange den Kopf darüber, was denn dieser Pencenat mit seinen kaum vorzeigbaren Fingernägeln jener Mademoiselle Veronique Champourcieux, 4, rue des Carmes in Digne, wohl mitzuteilen haben konnte. Wo hatte der sich diese steile, aristokratische Schrift abgeschaut? Und wusste Prudence überhaupt etwas von diesem Briefwechsel, der nach Félicies Überzeugung nur geheim sein konnte?

Wenn sich ein Fräulein von der Post den Kopf zerbricht, dann eröffnen sich großartige Aussichten hinsichtlich des dramatischen Potenzials eines noch so geringfügigen Ereignisses. Während der knapp zwei Minuten, in denen sie den Brief mit ihren dicklichen Fingern betastete, war ihr eine ganze comédie humaine voller verwickelter Intrigen durch den Kopf gegangen. Die Fortsetzung sparte sie sich für die kommenden langen Winternächte auf. Sie stieß einen kleinen Seufzer aus. Eines blieb ihr leider versagt, den Brief zu öffnen. So wollte sie ihn wenigstens so lange wie möglich für sich behalten. Deutlich sichtbar lehnte er an dem grünen Schirm ihrer Schreibtischlampe, die nur noch dekorativen Zwecken diente.

Am Abend, kurz bevor der Grand Magne, der Busfahrer, vorbeikam, um die Post mitzunehmen, hielt sie ihn gegen die Hängelampe, aber der Umschlag zeigte sich hartnäckig undurchsichtig. Es blieb nichts anderes übrig, als ihn in den großen Jutesack zu werfen, mit all den übrigen Sendungen, die bedauerlicherweise keinerlei Anreiz zur Verletzung des Postgeheimnisses boten. Ihre betrübliche Banalität war auf den ersten Blick zu erkennen.

Aber letztlich war Félicie gar nicht auf diesen Umschlag angewiesen. Er hatte sich tief in ihr Gedächtnis eingegraben. Er war weder von handelsüblichem, noch von ausgefallenem Format, weder lila, blau oder gar rosa, was Anlass zu allen möglichen Spekulationen geboten hätte, sondern von einheitlichem, strengem Weiß, bedrohlich, wie der Marmor eines Grabmals. Nur die elegante Schrift verlieh, tiefschwarz und Unheil verkündend, all diesem Weiß einen Hauch von Trauer. Die Feder, die diese Schriftzüge hinterlassen hatte, war in Tusche getaucht worden; in solchen Dingen kannte Félicie sich aus. Sie ging sogar so weit, eine kleine Unebenheit glatt zu streichen, die eine wütende Faust beim Zukleben des Briefs hinterlassen haben musste.

Konnte man der spekulativen Einbildungskraft noch weiter Raum geben? Unsere Postangestellte war jedenfalls bereit, darauf zu schwören, dass weder Schrift noch Tinte und Umschlag aus dem Hause Pencenat stammen konnten.

Bis zum Einschlafen konzentrierte sich Félicies Phantasie an diesem Abend allein auf diesen ganz besonderen Brief, und auf ihre reiche, ausschweifende und blühende Phantasie war sie stolz. Doch musste sie sich später, sehr viel später, als sie alles erfahren hatte, eingestehen, dass es mehr Dinge zwischen Himmel und Erde gibt, als sich eine einsame Postbeamtin ausdenken kann, so sehr sie sich den Kopf zerbrechen mag in dieser gottverlassenen Gegend, verloren in den Schluchten des Bès zwischen Barles und Verdaches.

~ 2 ~

AM Abend heulte der Mistral in den clues, den tiefen, durch Brüche der Gesteinsschichten entstandenen Klüften. Nur selten gelangt er so weit. Aber wenn er sich einmal bis dort hineinwagt, hört man ihn das Jagdhorn durch die Schlucht des Bès blasen, die viel zu eng für seine Statur ist und der er seit jeher mit wütenden Böen Gewalt antun möchte.

Emile Pencenat überquerte den düsteren Schulhof, wo im Dämmerlicht der Laternen die Staubwirbel ein dumpfes Geräusch machten. Sie verfolgten magere, in welke Blätter gehüllte Derwische, die in ihrem wilden Treiben an die dicken Mauern stießen und vergeblich einen Ausgang suchten.

Pencenat öffnete das quietschende Tor. Er ging unter der zerfetzten Trikolore hindurch, die im Wind schlug. Er hob den Kopf. Dort oben, über den hohen Fenstern des Klassenzimmers, brannte Licht in der ersten Etage. Dürre Schatten gestikulierten vor einer Hängelampe.

Die Schule war einer dieser Zweckbauten aus der Zeit Jules Ferrys, des berühmten Erziehungsministers, der die allgemeine Schulpflicht eingeführt hatte. Kahle, nüchterne Wände und Rollläden vor den Fenstern. Eine jener Schulen, die damals als hässlich galten, die sich jedoch heute, durch die Nostalgie, die sie ausstrahlen, mit einer pathetischen Schönheit schmücken.

Pencenat durchquerte den Korridor, wo an den Kleiderhaken einige vergessene Schals hingen. Er ging die Treppe hoch. Die Tür am Ende des Ganges stand halb offen. Er zögerte. Seitdem er diesen seltsamen Brief eingeworfen, seitdem er schweigend seine Suppe mit Prudence gegessen hatte, die ihm gegenübergesessen und ihn intensiv beobachtet hatte, war er von einer unbändigen Lust ergriffen, seine Geschichte zu erzählen. Sein Kopf war voll von: »Stell dir vor …«, »Stellt euch vor …«. Vorhin, vor Prudence, hatte er Luft geholt und sogar den Mund geöffnet, um ihn dann schnell vor Worten, die er später bereuen würde, zu verschließen. So sehr verfolgte ihn sein merkwürdiges Abenteuer. Dennoch gefiel ihm die Vorstellung, seinen Mitspielern vom Mittwochabend davon zu erzählen, überhaupt nicht. Das waren alles gebildete Leute, die ihre Lippen zusammenkneifen, ihn verstohlen anstarren und ihm durch ihr missbilligendes Schweigen deutlich zu verstehen geben würden, für wie unwichtig sie ihn hielten und dass sie ihm jeden gesunden Menschenverstand absprachen.

»Was hätte ich denn tun sollen? Was hätten Sie denn an meiner Stelle getan?«

Keiner von denen, die heute Abend hier waren, hätte auf diese beiden Fragen geantwortet.

In tiefes Nachdenken versunken, lehnte sich Pencenat unwillkürlich gegen die einen Spalt offen stehende Tür. So gelangte er in eine altmodische Küche, in einen geräumigen, reinlichen Raum, in dem ein runder, mit einem Wachstuch bedeckter Tisch sowie ein Holzofen standen. Vertraut und gleichzeitig irgendwie im Weg stehend wie ein Wesen aus Fleisch und Blut thronte der Ofen im Raum. Man konnte fühlen, dass er der wichtigste Bestandteil dieser Räumlichkeit war und dass ohne ihn hier nichts geschehen könnte. Die mit Schleifpapier blank geputzte gusseiserne Platte glänzte wie ein dunkler Spiegel.

»Mensch, Emile! Was zum Teufel haben Sie denn gemacht? Es ist schon nach acht! Wir haben schon auf Sie gewartet!«

Monsieur Régulus trug ein bis zum Kragen zugeknöpftes Alpakajackett und weiche, breite Schuhe wie die eines Geistlichen, die jedermann auffallen mussten. Er war das letzte Relikt einer ausgestorbenen Rasse von Volksschullehrern. Jeden Morgen legte er sich feierlich seine Lüstermanschetten an und blickte wie ein Olympier auf seine zwölfköpfige Klasse.

Durch den hohen Haaransatz wirkte sein Schädel leicht birnenförmig. Seine schrägen, an Haferähren erinnernden Augenbrauen und der Kneifer, den er nach Ansicht seiner Schüler gar nicht benötigte, verliehen ihm diesen zornigen Ausdruck, mit dem er sich Autorität zu verschaffen hoffte. Er trieb seinen nostalgischen Laizismus so weit, dass er jeden Morgen selbst den Ofen des Klassenzimmers anzündete, wobei er bedauerte, dass es nur ein Ölofen war.

Diese Steifheit und Strenge seines Junggesellenlebens, die keine Seelenregung erkennen ließ, diente Monsieur Régulus dazu, seine Passion zu verbergen.

Niemand wusste, worum es sich dabei handelte. Der einzig sichtbare Teil seines Geheimnisses war ein kleiner Schlüssel, der an seiner Uhrkette hing, die quer über eine altmodische Weste verlief. Keine Stunde des Tages verging, in der er nicht an diesem Schlüssel herumfingerte. Manchmal, so zum Beispiel, wenn er weit ausholende Bewegungen machte, um die Tafel zu wischen, glitt der Schlüssel bis ans Ende der Kette. Dann machten sich seine Hände plötzlich erschreckt an der Weste zu schaffen und ein Aufblitzen der Verzweiflung ließ seinen wütenden Blick menschlicher erscheinen.

Aus Angst, man könne ihn zum Reden bringen, mied er offene, heitere Menschen, die ihn durch ihre Liebenswürdigkeit veranlassen könnten, etwas zu erzählen oder sich ihnen anzuvertrauen.

Da man jedoch nicht in absoluter Einsamkeit leben kann – vor allem nicht in Barles, wenn die Schüler auf der Straße lärmend in alle Richtungen verschwunden sind und plötzlich das Geräusch des Bès wieder allein Besitz von der Stille ergreift –, hatte Monsieur Régulus sich bereitgefunden, seine selbst gewählte Isolierung durch einige Zugeständnisse zu mindern. Das war die Erklärung für die drei sonderbaren Gestalten, die er dazu überredet hatte, sich jeden Mittwoch- und Samstagabend bei ihm zum Kartenspiel einzufinden.

In seiner Anwesenheit fühlte sich Emile Pencenat wieder wie ein Schüler. Er beeilte sich, zu seinem Stuhl an dem runden Tisch zu gelangen und sich wie jemand, den man endlich nicht mehr tadeln konnte, darauf fallen zu lassen. Der Morchelsammler warf ihm einen vorwurfsvollen Blick zu.

»Na, Emile, Sie haben ja ganz schön auf sich warten lassen! Waren Sie vielleicht mit der Mutter der Porzellankiste im Bett?«

»Keineswegs, keineswegs, Monsieur Fondère! Es ist nur …«

Er beendete den Satz nicht und tat so, als würde er Luft holen, um wieder zu Atem zu kommen, wie jemand, der sich beeilt hat, um niemanden warten zu lassen.

Der Morchelsammler schürzte die Lippen angesichts des anzüglichen Gelächters, das sein Bonmot ausgelöst hatte. Wenn er lachte, was selten genug geschah, so tat er es geräuschlos und bot dabei den Anblick eines Skeletts mit langen gelben Zähnen. Er lachte übrigens nie offen im alltäglichen Leben. Wie ein störrischer Maulesel war er schreckhaft und besorgt beim geringsten Anzeichen von irgendetwas Ungewöhnlichem.

Esprit Fondère. Hinter diesem gutbürgerlichen, Vertrauen einflößenden Namen steckte ein Mann mit einer bläulichen, merkwürdig pickeligen Nase, der unter einer Stirn wie aus frisch gebackenem Brot seine großen roten, ängstlichen Hasenaugen rollte.

Er wohnte in einem von Schimmel befallenen, von Fliederbüschen halb erdrückten Häuschen an der Straße nach Digne, das nur aus zwei übereinander liegenden Räumen unter einem Walmdach bestand, auf dem das verrostete Banner einer Wetterfahne quietschte.

Seitdem sie vom Postboten erfahren hatten, was dieses Häuschen enthielt, nämlich ein Feldbett, einen Tisch, drei Stühle, einen Gaskocher, vier Töpfe und zwei Koffer, nannten seine Mitbürger den Morchelsammler Prêt à partir - zum Aufbruch bereit.

Er lebte von einer rätselhaften Rente, die ihm wahrscheinlich regelmäßig alle drei Monate bar an irgendeinem geheimen Ort ausgezahlt wurde. Das jedenfalls folgerten wir aus seiner zeitweiligen Abwesenheit.

Der Grand Magne, der Busfahrer aus Seyne, erzählte, dass er ihm oft noch hinter Selonnet, manchmal sogar am Ortsausgang von Verdaches begegnet sei, ja dass er ihn dabei gesehen habe, wie er den Pfad zum Gipfel des Vernet hinaufgestiegen und in den Graben gesprungen war, um sich zu verstecken, sobald er ihn kommen sah. Einmal sei es ihm sogar so vorgekommen (da sei er sich aber nicht sicher), als ob er den Morchelsammler dabei überrascht habe, wie dieser hinter den großen Thujen des château des Pautrelles verschwand, hoch über den saftigen Weiden in Richtung Seyne.

Wenn er von seinen kurzen Ausflügen zurückkam, beglich er sofort, was auf der Tafel der Grimaude und im kleinen Heft beim Lebensmittelgeschäft Gardon auf ihn angeschrieben war, mit seinen frischen, manchmal neuen, auf jeden Fall immer sorgfältig gefalteten Geldscheinen, die leicht nach getrocknetem Lavendel dufteten, wie ihn friedfertige Menschen hinten in ihre ordentlich gefüllten Wäscheschränke legen.

Seine Augäpfel ließ der Morchelsammler ständig von einer Seite der Augenhöhlen zur anderen gleiten, als liege er auf der Lauer, als rechne er mit einem Schwall von Schlägen, der unerwartet auf ihn niederprasseln könnte. Je öfter wir ihn sahen, desto mehr erschien es uns, als ob ihm durch die ständige Angst merkwürdige Ohren wuchsen, spitz und zitternd wie die eines Hasen.

Alle drei Monate ungefähr parkte ein Kleinbus der Gendarmerie jedes Mal mehr als eine Stunde lang vor dem fliederumsäumten Häuschen. Wir lauerten den Gendarmen immer beim Ausgang auf, wir versperrten ihnen wie versehentlich den Weg, wir stellten ihnen Fallen, um sie aufzuhalten; wir erzählten ihnen von gestohlenen Hühnern, von Füchsen mit zwei Beinen, von merkwürdigen Geräuschen in alten, leer stehenden Bauernhöfen. Kurz gesagt, wir taten, was wir konnten.

Wie eine dickbäuchige Spinne versuchte die Grimaude vom Rand ihres Netzes aus, die Gendarmen mit vor Kälte beschlagenen Pastisgläsern in den angenehmen Schatten ihres Wirtshauses zu locken. Manchmal gingen sie darauf ein. Wenn sie dann dachte, sie habe die Polizisten fest im Griff, baute die Grimaude sich in voller Größe auf ihren kurzen Beinchen hinter dem Tresen auf und sagte voller Hoffnung: »Und?«, als wenn sie darauf wartete, dass sie mit ihr schlafen würden.

Aber die Gendarmen zwinkerten nur amüsiert mit den Augen, schlugen sich auf die Schulter, bedankten sich und gingen. Undurchdringlich verließen sie uns und lächelten jedem zu. Als ob sie nicht wüssten, dass wir alle an ihren Lippen hingen wie ein Bettler aus Indien am Rockzipfel einer Frau Oberst der Heilsarmee. (Dieser Vergleich stammte von unserem Bürgermeister, der nicht aus dieser Gegend stammte.) Polizisten sind wirklich nicht hilfsbereit.

Die Félicie Battarel sagte, sie kämen, um zu überprüfen, ob er immer noch da, ob er auch nicht geflohen sei. Sie sagte, er sei nur scheinbar ein freier Mann. In Wirklichkeit sei jedoch die Gegend der clues, von Barles bis Verdaches, sein Gefängnis, das er nicht verlassen dürfe. Sie hatte sich eine sehr schöne Vergangenheit für Monsieur Fondère zurechtgelegt, der sie in ihren Bann zog, sobald sie ihn zufällig traf.

Aber was uns am meisten empörte, was ihn unbeliebt machte, war, dass er uns alles wegnahm. Wir waren hier schon seit vielleicht hundert Generationen ansässig, und Morcheln fanden wir zwar jedes Jahr, aber nur zehn, zwölf, höchstens fünfzehn, und noch nicht einmal jede Familie. Er aber verhöhnte uns mit seinen vollen Körben, die er deutlich sichtbar durch das ganze Dorf trug.

Jedes Frühjahr verfolgten wir ihn, aber es war zwecklos. Er brach immer in Richtung Blayeul auf, und auf dem Rückweg kam er von der montagne de Chine, genau an der gegenüberliegenden Talseite, herab. Zuerst machte er einen Umweg von zwei Stunden, der einzig und allein dazu diente, uns zu verwirren. Wir konnten noch so sehr mit dem Fernglas nach ihm Ausschau halten, plötzlich verschwand er, verschluckt von dem Schatten eines Waldsaumes, manchmal sogar mitten auf einer Wiese, als habe die Erde ihn verschlungen.

Seine Morcheln aß er alle auf, ganz allein, ohne uns welche anzubieten, ohne welche davon zu verkaufen. Er machte sich daraus riesige Omelettes (immer genau ein Ei pro Morchel). Wir sagten unter uns: »Eines Tages wird er schon daran sterben«, und setzten dabei ein wenig Hoffnung in eine giftige Morchelart, die bei uns sehr häufig vorkommt. Aber nein, er starb nicht daran. Wir waren allerdings nicht sicher, ob er nicht womöglich schon tot war, so leichenhaft wie er aussah.

Was nun diesen Monsieur Fondère anbelangte, so hätten wohl alle gern mehr gewusst: »Versuch ein bisschen was über ihn herauszufinden!«, hatte Prudence Emile Pencenat befohlen. Sie war von Rose angestachelt worden, die genauso brennend neugierig war wie all die anderen und die nicht abgeneigt gewesen wäre, ihre erotische Sammlung mit einer geheimnisvollen Gestalt zu vervollständigen.

»Etwas herausfinden!«, brummte Pencenat. »Die ist vielleicht komisch!« Und laut: »Was willst du denn wissen? Und was soll’s denn da überhaupt herauszufinden geben? Der Mann ist ein armer Teufel, wie wir alle, nicht mehr …«

Immerhin war der Morchelsammler eine nahezu alltägliche Erscheinung im Vergleich zu diesem Hochseekapitän. Als der vor drei Jahren hier ankam, war die Ginette Riboud ihm als erste begegnet, als sie um eine Scheune herumging. Sie hatte vor Schreck aufgeschrien, als sie mit ihren Brüsten gegen seinen mageren Körper gestoßen war. In Erinnerung an eine Radierung in seinem alten Malet et Isaac, dem berühmt-berüchtigten Geschichtsbuch aus seiner Schulzeit, hatte ihm der Volksschullehrer den Beinamen »Ramses II« gegeben.

Er war eine Art Bückling. Er hatte die gleiche unheilvoll goldene Farbe und eingefallene Augenhöhlen wie die Kiemen eines erstickten Fisches. Der Whisky hatte sein Fett, seine Muskeln und seine Nerven aufgefressen.

Dieser Mann war immer in einen marineblauen Mantel aus Ratiné eingehüllt, auf dessen abgenutztem Kragen sich ständig Schuppen ansammelten. Er hatte einen ruckartigen, wiegenden Gang und suchte dauernd irgendeine Stütze in seiner Nähe, um sich daran festzuhalten. Beim geringsten Anzeichen einer Gefahr duckte er sich unvermittelt, als bräche im nächsten Moment eine gewaltige Woge über ihn herein.

Er war an einem Mittwoch ohne Gepäck mit dem Bus aus Verdaches angekommen, und seither waren ihm nur wenige Sachen gefolgt. Es waren bunt zusammengewürfelte Sachen, alle mehr oder weniger nützlich, wie aufs Geratewohl bei einem jäh hereingebrochenen, vernichtenden Schiffbruch auf einem behelfsmäßigen Floß angehäuft.

Die erste Person, die er aufgesucht hatte, war der Volksschullehrer. Aus dieser Begegnung stammte ihre Kameradschaft.

»Man hat mir gesagt«, hatte der Kapitän begonnen, »dass Sie die Gegend gut kennen?«

»Ich bin seit vierzehn Jahren hier, und außerdem bin ich am Fuße des Cheval-Blanc, genauer gesagt in Archail geboren.«

»Dann können Sie mir ja sicherlich eine Auskunft geben: Kann man von hier aus das Meer sehen?«

»Das Meer?«

»Ja, genau, das Meer.«

Sie waren durch den Schulhof spazieren gegangen. An den Rändern der einzigen ebenen Fläche, auf der das Dorf gezwungenermaßen entstanden war, sah man nur stacheliges Grün, eingestürzte Felsschluchten, von Erdrutschen durchschnittene Grashänge, Felswände inmitten steil aufragender Wälder, und dort oben, ganz oben, auf der einen Seite den Blayeul und auf der anderen die montagne de Chine. Ob man nun in Richtung Digne schaut, wo immer ein leichter Dunst die clues ankündigt, oder in Richtung Verdaches, wo goldfarbene Birken schimmern, wo immer ein Wind weht, das Tal ist durch ein V mit fest verbundenen Schenkeln verriegelt.

Tief eingegraben, dieses düstere und unheilvolle Bild, das an einen Sarg erinnert, war das einzige, das zu den Ausgängen des Talkessels von Barles passte.

»Aber von wo zum Teufel wollen Sie denn hier das Meer sehen?«, hatte Monsieur Régulus ausgerufen.

»Von hier aus wahrscheinlich nicht, aber von dort oben? Von diesem Gipfel? Und von dem dort?«

»Nein, Monsieur! Noch nicht einmal vom Gipfel des Estrop kann man es sehen!«

»Was ist das, der Estrop?«

»Der höchste Berg der Gegend: zweitausendneunhunderteinundsechzig Meter, Monsieur! Nein, ich bedauere … Wenn Sie das Meer sehen wollen, müssen Sie woandershin gehen!«

»Ja, aber … garantieren Sie mir das?«

»Ich garantiere Ihnen gar nichts! Ja, aber! Was ist das überhaupt für eine Ausdrucksweise?«, hatte Monsieur Régulus erwidert, der leicht aufbrauste. »Ich sage Ihnen, dass man das Meer nicht sieht, und damit basta!«

Da hatte der Hochseekapitän ihm anvertraut, dass er Horace Combaluzier heiße; dass er vierzig Jahre lang mit der See verheiratet gewesen sei; dass er die Nase gestrichen voll von ihr habe, von ihrem Prunk und ihren Zärtlichkeiten, von ihrer Romantik, von ihrer sinnlosen Weite; dass er sie nie wieder sehen oder von ihr sprechen hören wolle.

Er hatte seinen Ärmel hochgeschoben, seine Haut gezeigt, seine Adern, seine Behaarung, die den Barten eines Fisches glich, seine eingefallenen Augenhöhlen.

»Monsieur, ich steckte in der See fest, wie ein Stint zwischen den Lagen eines Packens Stockfisch! Das Salz ist in meine Poren eingedrungen, in meine Schleimhäute, in meine Knochen! Ich bin bis zur Seele eingesalzen! In meinem Sarg werde ich wie ein Kabeljau in der Dose tausend Jahre haltbar sein, Monsieur!«

Er ließ sich nieder. Er kaufte eine Villa im anglonormannischen Stil, die ein sonderbarer Marseiller kurz vor seinem Tod auf einem für ein Butterbrot erworbenen Hanggrundstück hatte errichten lassen. Ihr Fachwerk war mit festen Steinen ausgefüllt; mit diesem glänzenden Stein, der die Farbe verwitterter Moränen hat, eine Farbe, mit der die Erosion alles Gestein bei uns versehen hat. Er richtete sich dort ein Zimmer in Richtung Norden ein, mit Blick auf drei dreißig Meter hohe Tannen, die sich gefährlich über den Abhang einer steilen Wiese neigten.

Neidisch, weil sie ihm nicht zu einem guten Preis ein schönes Grundstück am Ufer des Bès hatten verkaufen können, dachten einige Nachbarn, sie könnten ihm das Leben damit schwer machen, dass sie ihn bedauerten:

»Mein Gott, Sie Ärmster! Haben Sie denn nicht hingeschaut? Die Wiese hinter diesem Haus, sie wird darüber hereinbrechen! Sie stemmt sich ja schon dagegen! Wie lange das wohl noch hält? Ob das überhaupt noch hält! Ach, wenn Sie uns doch gefragt hätten! Vorher! Das Haus da, eines Tages wird der Berg es bedecken! Mit einem einzigen Platsch! Sie werden sich unter vierzig Metern Erde wiederfinden, ohne vorher die Zeit gehabt zu haben, das Vaterunser aufzusagen!«

Er antwortete, dass, was das Vaterunser angehe, die Zeit allemal lang genug sei, für die paar Brocken, die er davon kannte; und was die vierzig Meter Erde angehe, so würden sie ihm wohl kaum genügen.

»In Sachen Erde über mir«, sagte er, » bin ich unersättlich!«

Manchmal, wenn der Wind sich plötzlich am Bug der clues zerriss, fuhr er nachts in seinem Bett hoch, die Schläfen nass von Schweiß. Die See stürzte sich auf ihn, um durch alle möglichen Mittel seine Angstvorstellungen zu schüren. Er hasste sie wie ein Kenner, wie ein Mann, der weiß, was hassen bedeutet.

Manchmal, wenn er die Karten mischte, vergaß er auszuteilen. Seine Zwangsvorstellungen kamen über ihn wie die steigende Flut. Dann erzählte er nicht. Auf einen Schlag, ohne Vorwarnung, stieß er in Worten aus, was in ihm steckte, indem er die Seiten einer ununterbrochenen Geschichte, die er in sich selbst schrieb, umblätterte, ohne Luft zu holen, eine Geschichte, die sich nur manchmal durch das Wort offenbarte.

»Und dann …«, sagte er.

Und die drei anderen hörten ihm mit offenem Mund zu.

»Und dann … Um die See, den Orkan zu beruhigen, kurz nachdem wir sein Auge passiert hatten, mit Hilfe von Fässern voller Öl. Das war unsere Ladung. Ich goss dieses Öl durch das Loch der Latrine. Ich habe vielleicht tausend Tonnen davon ausgegossen! Das Deck, eine Wüste! Kein Mast, keine Antenne, kein Schornstein, keine Reling mehr! Die See unmittelbar vor den Augen! Oder dreißig Meter über uns … Das verbogene Ruder reichte gerade noch, um zu verhindern, dass wir uns querschiff legten. Drei Tage und drei Nächte lang. Und ihr denkt, das wäre nichts, die See!«

»Also, Horace!«, schalt Monsieur Régulus ihn, »Sie übertreiben!«

»Ihr werdet schon sehen! Sie wird euch auffressen! Sie hat schon damit begonnen … Euer Blayeul, eure montagne de Chine, und sogar der Gipfel eures Estrop! Maulwurfshügel! Das alles wird sie im Nu verschlingen! Sie ist eine ausgehungerte, zuckende Möse. Mit ihrer Geilheit wird sie euch das ganze Land platt machen! Da geht sie drüber, über alles. Drachenseelen werdet ihr haben, wie Leviathan! Ihr werdet schon sehen, ihr werdet schon sehen … Ich habe vierzig Jahre mit ihr zusammen gelebt. Wenn ich euch doch sage, dass sie eine Hure ist …«

Das waren also die Mitspieler, die Monsieur Alcide Régulus aufgetrieben hatte, um die Winterabende auszufüllen. (Im Sommer widmete er sich der Gartenarbeit.) Menschen, die sich nach Barles zurückgezogen hatten, um dort unauffällig zu leben. Beide durchaus zuverlässige Leute mit urbanen Umgangsformen, die immer den Hut zogen, freundlich auf ihre Art und Weise, trotz ihrer leichenhaften Kälte. Falls sie früher etwas zu vertuschen gehabt hatten, so sah man es ihnen nicht an.

Es fehlte ein Vierter zum Kartenspiel – zur belote. All die wortkargen Eselhirten, all die argwöhnischen Ziegenhüter und all die umsichtigen Magier mit ihren gepflegten Gärten – also wir alle – hatten ausweichend auf die Einladungen des Volksschullehrers geantwortet, sodass er sich wohl oder übel mit Emile Pencenat hatte zufrieden geben müssen, der zögernd akzeptiert hatte.

Abgesehen davon, dass er sein Grab schaufelte, gab es bei diesem Pencenat keinerlei Geschichten, keine See, die ihm im Nacken saß, kein mysteriöses Einkommen, das ihm von jenseits der großen Wälder zugeflossen wäre, keinen kleinen Schlüssel, der an der Uhrkette hing.

An jenem Abend entschuldigte er sich unbeholfen für seine Verspätung, was die anderen murrend annahmen, bevor sie ihm schlaffe Lappen anstelle von Händen entgegenstreckten.

»Sie verstehen doch wohl«, sagte er, »dass ich in meinem Loch nicht merke, wie die Zeit vergeht.«

»Ersparen Sie uns die Details, Emile, ich bitte Sie!«, stöhnte Monsieur Fondère.

»Entschuldigen Sie bitte, Monsieur Fondère, und Sie auch, Monsieur Combaluzier.«

Wenn er zwischen diesen beiden Herrschaften eingeklemmt saß, kuschte Pencenat. Ein kaltes, schlecht gebändigtes Grauen schlich über seine Zehen. Im allgemeinen Durcheinander des Aufbruchs nach dem Spiel vermied er es sorgfältig, die Männer auch nur leicht zu berühren. Der Volksschullehrer – ja, sogar er – versetzte ihm einen gewaltigen Bammel. Er fühlte ganz genau, wie ein Hase den Jäger spürt, dass er es hier mit organisierten und wachsamen Köpfen zu tun hatte, wohingegen der seine immer träge blieb und nichts hervorbrachte.

Sie ihrerseits schienen zu denken, dass er, unnütz wie er war, sich schon längst freiwillig in seinem Grab hätte zur Ruhe legen und dabei in Kauf nehmen sollen, irgendeinen Tagelöhner dafür zu bezahlen, dass er die ganze Erde, die er ausgehoben hatte, wieder über ihn schaufele.

»He, Emile! Woran denken Sie? Ich habe gerade mit Karo bedient, und Sie legen jetzt Pik! Sie sind wohl nicht ganz bei der Sache.«

»Ich denke …«, begann Pencenat.

Er beendete den Satz nicht. »Ich denke«, wollte er sagen, »an diesen Brief. Je öfter ich daran denke, desto mehr sage ich mir, dass da was nicht stimmt …«

Aber die Angst vor dem Sarkasmus der anderen hielt ihn davor zurück, sie ins Vertrauen zu ziehen. In seiner Unterwürfigkeit glaubte er, es mit abgebrühten Gemütern zu tun zu haben, die keinerlei Besorgnis zugänglich waren und die sich über seine Naivität lustig machen würden, falls sie ihm nicht sogar vorwerfen würden, zu viel zu trinken.

In Wirklichkeit waren sie jedoch alle in Gedanken versunken. Achteten sie überhaupt auf die Farbe ihrer Karten? Alle nippten sie an dem Nusswein von Monsieur Régulus. Manchmal, wenn sie kurz davor waren, ihren entscheidenden Trumpf auszuspielen, stockte ihnen die Hand über dem Kartenteppich; sie lauschten auf weiß der Teufel was, im Tal, in der Nähe der Schule: auf das melancholische Brausen des starken Windes, das Bellen eines Fuchses, den Absturz einer Böschung in das angeschwollene Flussbett des Bès oder auf den Ausbruch eines donnernden Gebrülls, das der Frau oder dem Vieh galt.

In Wahrheit fürchteten sie sich genau wie Pencenat vor dem Fluch dieser kargen Gegend, die sie für eine Zuflucht gehalten hatten und die sie nun beharrlich unter sich begrub, während sie noch ihre Pläne bis ins Unvorhersehbare machten.

»Man braucht eine Beschäftigung, die einen ganz in Anspruch nimmt, um die hallende Einsamkeit dieser Gegend auszuhalten, wo die Fluten, die Bäche und der Wind ganz allein Besitz von der Stille ergreifen und die Erde allmählich aufzehren, um sie ins Meer zu ziehen«, sagte sich der Kapitän Combaluzier. Er jedenfalls hörte nichts anderes.

Wortlos und nur seinen spachtelförmigen Daumen bei jeder Runde anfeuchtend teilte Monsieur Régulus die Karten aus, wahrscheinlich, um seinen Mitspielern Gelegenheit zu geben, die ganze Tiefe des Landes genau auszukosten. Nichtsdestoweniger beobachtete er Emile Pencenat verstohlen. Er erkannte an ihm die geheimnistuerische Miene eines Schülers, der unter seinem Pult die Kröte versteckt, die der Lehrer gleich schlucken soll. Eine Miene, die jeder alte Pauker zu deuten weiß.

»Es scheint mir, Pencenat«, sagte er sanft, »als hätten Sie Lust, uns etwas zu erzählen?«

Hastig besann sich der überraschte Pencenat auf eine Lüge, wie man sie eben unter dem Blick eines Schulmeisters hervorbringt, ohne Hoffnung, Glauben zu finden.

»Oh!«, sagte er, »Überhaupt nichts. Gar nichts. Ich habe nur gerechnet. Ich hab mir gesagt, dass ich nun schon anderthalb Meter tief gegraben habe, und, unglaublich … immer noch trocken! Mit dem Regen, den es im September gegeben hat, müsste der Boden doch aufgeweicht sein … Aber nein, er ist trocken und lässt sich gut abtragen; die Erde ist ganz leicht und zerbröckelt! Lediglich am Rande des Lochs ist es ein bisschen feucht, gerade mal zwanzig Zentimeter tief! Ach, ich versichere Ihnen, die Toten dort unten bleiben fünfhundert Jahre lang im Trockenen! Da braucht es schon eine Sintflut, damit die nass werden!«

Er war glücklich über diese schnell gefundene Ausrede, bei der er ein gewisses Frohlocken nicht hatte unterdrücken können.

»Man kann sagen«, brummte Monsieur Fondère, »dass wenigstens Sie mit glänzenden Zukunftsaussichten liebäugeln!«

»Wieso?«, fragte Pencenat. »Der Tod ist doch etwas Natürliches, oder etwa nicht?«

»Nicht immer!«, knurrte Combaluzier. »Und ich für meinen Teil könnte Ihnen von einigen Todesfällen erzählen, die es nicht waren!«

»Warum?«, fragte Régulus ruhig, der gerade seinen nächsten Spielzug, eine tierce, angekündigt hatte. »Wenn diese Todesfälle gewaltsam waren und unerwartet eintraten, wie Sie uns offenbar zu verstehen geben möchten, so muss das doch nicht heißen, dass sie unnatürlich waren. Und außerdem, was nennen Sie …«

Mit einem Mal hielt er inne. Jäh richtete sich sein lauernder Blick bis zum äußersten Rand seiner Augenlider nach oben, und er hob den Kopf zur Decke.

»Psst!«, flüsterte er befehlend.

Es erschien ihm, als ob irgendeine Maus in seinem Zimmer oder unter dem Dach oder – wer weiß – vielleicht auch im Schuppen nebenan, der als Holzverschlag diente, nicht wieder zu behebende Schäden verursachte. Jedes Mal, wenn er es hörte, ließ ihm dieses Geräusch das Blut in den Adern gefrieren.

Dieses »Psst!«, das ebenso ihm selbst wie den anderen gegolten hatte, war ein Ausbruch, mit dem sein Leben plötzlich zum Stillstand kam.

Nicht die beständige Arbeit des Bès und der einlullende Wind, die sich nachts im Tal von Barles miteinander verschworen, trugen zu seinem eigenen langsamen Verfall bei, sondern dieses Knabbern, sehr schwach, aber doch ganz nah, unter dem soliden Dach und innerhalb der dicken Mauern der Schule. Dieses beharrliche, aufdringliche Knabbern, das womöglich …

In diesen Momenten der Angst dachte er immer daran, dass er sich unbedingt eine Katze zulegen müsse. Und dann vergaß er es.

Er erhob sich zur Hälfte und schlug, als wolle er eine Fliege töten, unvermittelt mit der Hand flach auf den Schlüssel, der ihm als Anhänger diente.

»He!«, kreischte Monsieur Fondère und presste seine Karten gegen seine Brust. »Tun Sie sich keinen Zwang an! Gucken Sie sich doch ruhig mein Spiel an!«

»Oh!«, schnaufte Monsieur Régulus, »ich beteuere, dass ich nicht im Geringsten vorhatte, Ihnen in die Karten zu gucken!«

»Dann ist Ihnen also unwohl?«, sorgte sich Pencenat.

»Oh, nein. Nichts! Gar nichts!«

Régulus wandte sich Combaluzier mit einem schiefen Lächeln zu:

»Stellen Sie sich vor«, sagte er, » auch ich habe manchmal so meine Ozeane …«

 

»Hören Sie, Monsieur Combaluzier, ich wollte Ihnen schon seit langer Zeit sagen …«

»Na was denn, Monsieur Fondère?«

Durch das Tor, das sie geradezu hinauszuwerfen schien, traten sie auf die Straße. Genauer gesagt stürzten sie hinaus, als wollten sie der Hand der Justiz ausweichen, die dabei war, sich auf ihre Schultern herabzusenken. Normalerweise trennten sie sich schon an diesem Tor, und jeder verdrückte sich mit ruckartigen Schritten und wie durch unsichtbare Tritte in den Hintern getrieben in Richtung seiner Behausung.

Sie waren gerade mal wieder von Monsieur Régulus um zwei, drei Francs erleichtert worden, was häufiger vorkam als andersherum. Und merkwürdig war, dass sich der kurzsichtige Pencenat mit seiner furchtsamen Miene immer ganz gut durchschlug und manchmal sogar gewann.

Oh, natürlich hatten sie am Anfang versucht zu tricksen, aber sie waren auf einen geldgierigen Mann gestoßen, mit scharfem, durchdringendem Blick, und zudem gewöhnt an die geschickten Schummeleien in Bedrängnis geratener Schüler. Als sie das erste Mal einen faulen Trick riskiert hatten, hatte Monsieur Régulus unter dem Tisch ein Lineal aus Stahl hervorgezogen, mit dem er barsch auf den Teppich geschlagen hatte.

»Messieurs, muss ich Ihnen etwa auch auf die Finger klopfen?«, hatte er leise ausgestoßen.

Sie hatten es sich gesagt sein lassen.

»Nun, Monsieur Fondère, was wollten Sie mir denn Dringendes anvertrauen? Offenbar so dringend, dass Sie sich genötigt sehen, mich zu begleiten, ohne mich um Erlaubnis zu fragen.«

Auf dem Weg zertraten sie den Flughafer und die spätblühende Zitronenmelisse. Im Dunkel der Nacht stießen sie Herbstastern achtlos zur Seite. Ihrer Kleidung entströmten abgestandene, üble Gerüche von verrufenen Kneipen. Sie hatten welke Gesichter und rochen muffig, wie Männer, die schon zu lange den Umgang mit Frauen entbehren mussten. Aber gerade in diesem Zustand können in langsam schlagenden Herzen die leuchtendsten Hoffnungen aufkeimen.

»Mir ist eine Idee gekommen …«, kündigte Monsieur Fondère an. »Offen gestanden lässt sie mir seit einiger Zeit keine Ruhe mehr, aber … Ich zögerte, es Ihnen mitzuteilen, denn im Grunde kennen wir uns ja kaum …«

»Ist es denn so zweckmäßig, Monsieur Fondère, dass wir uns besser kennen lernen?«

»Mein Gott … Wenn wir unsere mageren Einkünfte ein bisschen aufbessern wollen, dann vielleicht schon.«

»Ah! Unsere mageren Einkünfte! Es ist gut, dass Sie das ansprechen! Vor allem, was mich betrifft, Monsieur Fondère!«

»Dabei habe ich mir doch sagen lassen, dass Sie auf den Meeren einige schmerzliche Abenteuer erlebt haben?«

»Das Wort ist schwach: viel schlimmer als schmerzlich. Aber ich sehe schon, Sie haben sich gut informiert?«

»Ich habe einige alte Bekanntschaften … Eine davon hat Sie in Malacca getroffen, als Sie beide auf dem gleichen vom Monsun überschwemmten Strohhalm verrotteten, und wo Sie, so scheint es, ganz knapp mit dem Leben davonkamen …«

»Gewiss! Und was mich angeht, mit dem nackten Leben! Gezwungen, wieder bei null anzufangen!«

»Ich danke Ihnen für Ihre Offenheit. Aber nun sollte ich Ihnen vielleicht meinerseits Auskunft geben …«

»Überflüssig! Ich habe zwar keine alten Bekanntschaften, dafür aber einen beachtlichen Geruchssinn. Sie sollten es unterlassen, Ihre Kleidung in Ihren alten Pappkoffern aufzubewahren. Sie riechen aufdringlich nach Gefängnis.«

»Von mir aus«, räumte Monsieur Fondère ein. »Nehmen wir also einmal an, wir kommen beide aus dem gleichen Stall.«

»Was beweist«, sagte der Kapitän dumpf, »dass Verbrechen sich nicht auszahlen.«

»Davon kann ich ein Lied singen«, seufzte der Morchelsammler. »Mir bleibt heute kaum was zum Leben übrig! Und dann muss ich es auch noch hier verbringen! Aber, wer weiß? Vielleicht haben wir es ja nur falsch angepackt? Wer weiß, ob heute bei unserer Erfahrung und Reife …«

Der Kapitän lachte in der Dunkelheit hämisch und schüttelte seinen Kopf, der aussah wie der eines alten pergamentenen Toten, von dem die Haut nicht gewagt hatte abzufallen.

»Sie sind ganz schön jung geblieben, Monsieur Fondère … Aber, sagen Sie mal, ich habe nicht genau verstanden, wie Sie die Liebe zu Gott – Sie waren doch Seminarist, glaube ich? – gegen die Liebe zum Geld eintauschen konnten.«

»Das Spiel, Monsieur, das Spiel! Diese Karten mit ihren beiden Köpfen, diese roten und schwarzen Mysterien haben mich schon immer fasziniert. Zuerst habe ich einen großen Bauernhof an der Isère, im Grésivaudan, verloren, den mein Vater geerbt hatte. Die Geschichte ist schnell erzählt: Meine Mutter war eine Bayard … Ebenso habe ich innerhalb von drei Jahren eine florierende, dreihundert Jahre alte Schreibwarenhandlung, dort unten, in Pontcharra-sur-Bréda verspielt … Ich bin vor den Schultoren gelandet. Ja, Monsieur! So wie ich vor Ihnen stehe, bin ich von einem Gymnasium zum anderen gezogen!«

Der Kapitän deutete einen leichten Schritt zurück an, wie jemand, der zutiefst schockiert ist.

»Aber nein! Aber nein!«, rief Fondère aus. »Was denken Sie denn? Mein Job waren die Drogen. Monsieur, meine Vergangenheit ist voller flehender und trauernder Mütter auf Knien! Koks, Heroin, Haschisch, halluzinogene Pilze! – Meine Spezialität! – Ich habe sie zwischen den Schwellen der Eisenbahnschienen gesammelt!«

Er stieß einen tiefen Seufzer aus.

»Was für ein Dasein! Ich habe jeden Tag das Gymnasium gewechselt, jeden Sonntag das Département. Ich bin nachts mit der Angst im Nacken auf die vorbeifahrenden Züge aufgesprungen …«

»Damit bringen Sie mich nur zum Lachen, mein armer Fondère, mit Ihren Schultoren!«, stieß der Kapitän aus, der sich schon kaum mehr hatte zurückhalten können. »Mich, der ich hier – wie durch ein Wunder – hier neben Ihnen in Barles stehe! Die Füße fest auf dieser Scheiß-… nun ja, auf dieser Erde!«

Er stampfte mit dem Absatz auf, um sich davon zu überzeugen, dass sie auch immer noch da war, fest, kompakt und real.

»Monsieur, ich war der rettende Engel für all die naiven Unternehmer, die sich in äußerster Bedrängnis befanden, nur ich allein konnte sie retten. Gegenüber ihren Versicherungsgesellschaften hielten sie sich für Ganoven schweren Kalibers. Die armen Kleinen! Ach, was erzähle ich Ihnen! Ich habe ungefähr dreißig Schiffe untergehen lassen, die schon fünfzehn Mal neu angestrichen waren! Die nur noch durch den Rost zusammengehalten wurden … Schiffe, Monsieur, die im Sterben lagen! In deren Kielraum schon sechshundert Kubikmeter Meerwasser geflossen waren, kaum dass wir die Hafenmole passiert hatten. Und bei jedem Wellenstoß, wenn die Wassermenge zurückschwappte, wich auch das Schiff zurück, wie ein widerspenstiges Pferd …«

»Und wahrscheinlich mit einer Ladung unbehauener Steine?«, fragte Fondère, um ganz sicherzugehen.

»Ganz genau! Die konkurrierenden Nationen begannen, es uns nachzumachen. Wir exportierten eine Menge von Faksimiles von unseren dörflichen Kriegerdenkmälern. Sind Sie Hellseher?«

»Das verstand sich ganz von selbst …«, grinste Fondère hämisch.

»Stellen Sie sich das doch einmal vor! Dreihundert Kriegerdenkmäler, die ein durchlöchertes Schiff auf den Grund ziehen! Und ich darunter, Herr einer Mannschaft, die mit Schnaps aus den Kneipen weggelockt worden war … Zur Eingewöhnung habe ich mit Winden der Stärke Neun angefangen, die vielleicht noch stärker werden konnten. Ich hatte Kohle oder Öl für dreihundert Seemeilen gebunkert, nicht mehr …«

»Wer den Pfennig nicht ehrt, ist des Talers nicht wert!«, kicherte Fondère.

Combaluzier ließ aus seiner eingefallenen Brust ein Grabeslachen erklingen:

»Es scheint ja Hochseekapitäne zu geben! Ich hingegen war ein Tiefseekapitän!«

Er verschluckte sich an seinem Lachen und zündete eine Zigarette an, um sich zu beruhigen.

»Das ganze Meer«, fuhr er fort, »war nur eine riesige Fallgrube. Ich habe meine Zeit damit verbracht, die Schachzüge, mit denen meine Arbeitgeber meine Route gespickt hatten, zu durchkreuzen. Hören Sie! Mein aufblasbares Boot zum Beispiel! Ich hatte es immer bei mir, in einem riesigen Koffer. Warum? Weil ich einmal nachts vergeblich hineingeblasen habe, bis ich völlig außer Puste war. Mein Reeder hatte es mit einer Rasierklinge zerschnitten!«

Monsieur Fondère hob die Arme zum Himmel.

»Das versteht sich von selbst!«, murrte er.

»Warum versteht sich das denn von selbst?«, fragte der Kapitän gereizt. »Waren Sie etwa einmal Reeder?«

»Leider nein! Aber ich versetze mich in deren Lage: Ein Kapitän, der an der Reling festgeklammert stirbt, das erscheint doch viel glaubwürdiger, oder etwa nicht?«

Combaluzier musterte ihn verächtlich von oben bis unten:

»Sie haben eine praktische Veranlagung«, sagte er, »Sie hätten einen guten Reeder abgegeben.«

»Leider ist nichts daraus geworden!«, seufzte Fondère. »Aber … Wie ich sehe, hat Ihnen das Kapitänsamt wohl auch nicht besonders viel eingebracht. Wenn ich nach dem Ratiné ihres Mantels urteile …«

»Oh! Sie können danach urteilen! Ich habe auf Provisionsbasis gearbeitet: Wenn meine Arbeitgeber zu zehn Jahren verurteilt wurden, bekam ich fünf oder drei aufgebrummt … Manchmal, wenn ich mir einen guten Anwalt leisten konnte, bekam ich sogar Bewährung.«

»Wir haben wirklich kein Glück gehabt!«, klagte Fondère.

Die Wälder von Barles – sie hatten schon ganz andere Geständnisse gehört – unterstrichen mit ihrem dumpfen Brausen im Nachtwind die Schandtaten, die sich die beiden schmächtigen Männer wie im Beichtstuhl zuflüsterten und die immer auf das eine Leitmotiv hinausliefen:

»Ach! Wir haben wirklich kein Glück! Ach! Sie haben schon Recht: Verbrechen zahlen sich nicht aus!«

Sich gegenseitig auf diese Art und Weise bedauernd, waren sie vor der Villa des Kapitäns angekommen.

»Aber«, sagte dieser plötzlich, »ich bemerke gerade, dass Sie mir ja wohl nicht bis hierher gefolgt sind, um sich mein Leben anzuhören?«

»Keineswegs, keineswegs!«, rief Fondère aus. »Obwohl es mir sehr geholfen hat, denn es scheint mir, dass wir uns hier in einer Angelegenheit befinden, in der wir im Hinblick auf unser gemeinsames Missgeschick immerhin einiges wieder wettmachen könnten, so wenig es sein mag.«

»Wo? Hier? In Barles? Machen Sie Witze?«

»Ich habe leider schon seit langem aufgehört, Witze zu machen. Haben Sie unseren Gastgeber schon einmal genauer beobachtet?«

»Wen? Monsieur Régulus? Ein alter pedantischer Junggeselle.«

»Nein, aber … Haben Sie ihn genau beobachtet?«

»Irgendein Geheimnis bedrückt ihn. Er spielt immer an seiner Uhrenkette herum.«

»Sicher. Aber nicht aus Angst. Ich habe selten einen Menschen gesehen, der mehr Selbstbeherrschung besitzt als Monsieur Régulus.«

»Scheinbar ja. Eines Tages habe ich jedoch gesehen, wie er einem Hund, der gegen das Tor der Schule pinkelte, einen gewaltigen Tritt versetzt hat. Als er merkte, dass er dabei beobachtet worden war, hat er mir einen tödlichen Blick zugeworfen.«

»Ich habe nicht gesagt, dass er nicht bösartig ist. Ich habe gesagt, dass er nicht aus Angst an seiner Uhrenkette herumspielt, sondern wegen des kleinen Schlüssels, der immer daran befestigt ist und der doch wohl zu irgendetwas passen muss.«

»Zu einem Schloss.«

»Klar. Aber was ist hinter diesem Schloss?«

»Wahrscheinlich nicht viel. Ein Geizhals macht sich schon um ziemlich wenig Sorgen.«

»Das sehe ich anders. Ich habe einmal hochgerechnet: dieser Régulus ist seit mehr als fünfundzwanzig Jahren Lehrer. Er ist Vegetarier. Die Schule ist umgeben von einem großen Garten, in dem alles wächst, was er braucht. Manchmal habe ich im Vorbeigehen dort sogar einen Schüler umgraben sehen. So etwas nennt man »Werken« im Lehrplan. Er hat einen Hühnerstall, aus dem er seine Eier bekommt – und er verkauft sie sogar! Er hat kein Auto. Er macht nie Urlaub. Falls er eine Geliebte in der Gegend hat, wird sie ihn wohl nicht viel kosten, vielleicht sogar gar nichts, schließlich wird sie für das bisschen Abwechslung dankbar sein. Also, ich verrate Ihnen etwas: Eines Abends war ich zu früh dran. Er hat in irgendetwas in seinem Zimmer herumgewühlt und hatte aus Versehen auf dem Küchentisch sein Scheckheft offen liegen gelassen.«

»Aus Versehen? Ich glaube nicht, dass unser Gastgeber fähig ist, ein Versehen zu begehen.«

»Nehmen wir also einmal an, dass er mir Auskunft über seine Armut erteilen wollte. Auf jeden Fall war der Restbetrag, der auf dem letzten Kontrollabschnitt stand, buchstäblich lächerlich.«

»Da sehen Sie es! Natürlich! Ein Volksschullehrer! Bei dem mageren Gehalt, das die bekommen! Da ist es bei dem Fleischpreis heutzutage nicht verwunderlich, dass so einer Vegetarier ist!«

»Meinetwegen hat er ein mageres Gehalt. Trotzdem traue ich diesem Volksschullehrer glatt zu, dass er mindestens die Hälfte davon zur Seite legt, das ist einer von der Sorte! Und wenn man die Hälfte eines Volksschullehrergehalts fünfundzwanzig Jahre lang spart und es dann in irgendwas verwandelt, was dieser Schlüssel beschützt und was nur an Wert gewonnen haben kann …«

»Reine Spekulation! Aus Müßiggang geboren! Wissen Sie ganz genau, ob unser Gastgeber nicht vielleicht spielt? Genau wie Sie? Und ob er dort nicht genau wie Sie sein letztes Hemd verspielt?«

»Ein Geizhals dieses Ausmaßes? Nie im Leben! Sehen Sie doch, wie leicht er uns ausnimmt! Er ließe sich nie auf ein Spiel ein, bei dem er verlieren könnte. Haben Sie zum Beispiel bemerkt, dass sein Nusswein einen solchen Bodensatz hat, dass wir immer die Hälfte im Glas übrig lassen?«

»Und diese Reste füllt er in die Flasche zurück. Ich weiß. Habe ich bemerkt.«

»Haben Sie auch bemerkt, dass er immer die gleiche Anzahl Walnüsse pro Person austeilt? – Sogar die winzigsten Zigarettenstummel zerlegt er in ihre Einzelteile, um seine Pfeife damit zu stopfen.«

»Er nimmt auch unsere auseinander und sogar die von Pencenat, die vor Spucke triefen. Nee! So etwas widert ihn nicht an!«

»Und Sie wollen mir einreden, dass ein solcher Mensch spielen oder sogar verlieren kann? Nein! Nein! Glauben Sie mir, Combaluzier! Dieser Mann hat eine Passion, und es kann nur die eines Geizhalses sein! Es kann nur etwas sein, das wertvoll ist!«

»Einverstanden! Angenommen, es ist wirklich so! Aber wie sollte man ihm dieses ›Etwas‹ nehmen? Und zunächst einmal, wie sollte man überhaupt herausfinden, was es eigentlich ist?«

»Eben!«, sagte Fondère, der ein bisschen nach Luft rang. »Durch das Fenster der Toilette in meinem Häuschen kann ich die ganze Fassade der Schule überblicken, mit ihren hohen Fenstern – ohne Vorhänge, wohlgemerkt! Ich sehe alles: das Klassenzimmer, die Küche, das Schlafzimmer, die Abstellkammer für Eingemachtes, die Luke des Dachbodens. Alles, sage ich Ihnen! Nur«, schloss er kläglich, »es ist zu weit entfernt, ich kann nur schlecht etwas erkennen …«

»Na also! Da sehen Sie es! Geben Sie doch endlich diese Utopie auf. Sonst laufen Sie Gefahr, noch einmal fünf Jahre aufgebrummt zu bekommen!«

Tief unten in der Tasche seines Mantels ließ Combaluzier schon das Geräusch seiner Schlüssel erklingen, die er herausziehen würde, um die Tür zu öffnen. Monsieur Fondère trat von einem Fuß auf den anderen.

»Ich habe mir sagen lassen«, fuhr er zögernd fort, » – Oh, wahrscheinlich völlig zu Unrecht! – dass Sie, wie es scheint, bei Ihren zahlreichen Schiffbrüchen trotz allem eines dieser Ferngläser retten konnten, die so teuer, aber auch so leistungsfähig sind.«

»Wer hat Ihnen das erzählt?«

»Ach, was weiß ich. Die Gerüchteküche. Es wird sogar behauptet, dass Sie Ihr Fernglas der Tochter der Grimaude ausgeliehen hätten, damit sie mir nachspionieren kann, wenn ich auf Morchelsuche gehe.«

»Dummes Geschwätz! Warum zum Teufel die Tochter der Grimaude?«

»Mein Gott … Vielleicht in der Hoffnung, sie ins Bett zu kriegen. Als Wärmflasche …«

»Sie machen Witze! Sie ist doch viel zu bucklig!«

»Das sollen die besten im Bett sein, hat man mir gesagt. Und was ist denn schon dabei? Können wir uns etwa erlauben, wählerisch zu sein, so mager und dürftig, wie wir aussehen? Ich gestehe Ihnen, dass …«

»Sie hat mir versprochen«, murmelte Combaluzier finster, »dass sie sich flachlegen lassen würde, wenn ich ihr dabei helfe, Ihre Morchelstellen zu entdecken. Das heißt, sie pfeift auf mich!«

Monsieur Fondère wog seine Worte ab, bevor er antwortete.

»Nun«, sagte er schließlich, »wenn uns diese Angelegenheit gelingt – nachdem Sie mir Ihr Fernglas geliehen haben, versteht sich –, werde ich Ihnen zwei von meinen Morchelstellen zeigen.«

»Das würden Sie machen?«

»Ich schwöre es, hoch und heilig!«

»Warten Sie!«, rief Combaluzier aus.

Er ging schnell zur Tür, öffnete sie und verschwand im Haus. Als er wieder auftauchte, hatte Monsieur Fondère sich nicht von der Stelle bewegt.

»Hier, nehmen Sie!«, sagte er und hielt ihm das Fernglas entgegen. »Aber lassen Sie sich eines gesagt sein: Dabei bleibt es! Zählen Sie nicht auf mich! Reißen Sie sich meinetwegen diesen angeblichen Schatz unter den Nagel, aber erzählen Sie mir nichts mehr davon! Ich habe eine Gegend ohne Meer gefunden und, falls Sie erlauben, lasse ich es dabei bewenden!«

»Haben Sie Angst?«

»Nennen Sie es, wie Sie wollen. Aber … Monsieur Régulus hat heute Abend etwas gesagt, das Sie zur Vorsicht anhalten sollte.«

»Was denn? Was hat er denn so Großartiges gesagt?«

Combaluzier starrte aus den blutunterlaufenen Augen in seinem Bücklingsgesicht unverwandt auf die pickelige Nase von Monsieur Fondère.

»Sie haben es also nicht bemerkt?«, fragte er.

»Na ja, wie gewöhnlich hat er nur wenig geredet.«

»Natürlich! Sie brauchen ja immer viele Worte!«

»Nicht gar so viele!«, erwiderte Fondère. »Zum Beweis gehe ich jetzt schnurstracks nach Hause! Soll doch der Teufel Sie und Ihre Ratespielchen holen. Trotzdem: vielen Dank für das Fernglas. Vielleicht werde ich schon in ein paar Stunden wissen, woran ich bin! Wie dem auch sei, ich wünsche Ihnen eine gute Nacht!«

»Eine gute Nacht!«, lachte der Kapitän hämisch. »Wie soll die denn gut sein? Hören Sie nicht den Wind an den Klippen?«

In Wahrheit hörte man nur, wie sich der Wind an den rauen Borken der Birken rieb, die in Richtung Verdaches standen. Ein trauriger Ton.

»Warum glauben Sie eigentlich«, stieß der Kapitän aus, »dass ich mir irgendjemanden, sei es auch nur eine Bucklige, in mein Bett holen will?«

»Sehen Sie!«, rief Monsieur Fondère mit gedämpfter Stimme.

Er presste den Arm seines Gefährten und deutete mit dem Finger durch die windbewegten Zweige hindurch, auf die Fassade der Schule, wo in einem Zimmer das Licht ausging und in einem anderen angemacht wurde.

»Sehen Sie!«, wiederholte Fondère in höchster Erregung. »Ganz sicher zählt er gerade seinen Schatz!«

»Oder seine Ozeane …«, murmelte der Kapitän.

Und er schloss vor dem sprachlosen Gefährten die Tür seines Hauses.

~ 3 ~

IN einem etwas zu schnellen Tempo – darin bestand ihre persönliche Art, vor Verlegenheit zu erröten – misshandelte Mademoiselle Véronique Champourcieux eine Brahms-Sonate auf ihrem schlecht gestimmten Klavier.

Sie geriet immer bei demselben Thema ins Stocken, und unter dem Vorwand, es perfekt einzuüben, wiederholte sie es wieder und wieder, um es voll und ganz auszukosten.

Diese Musik, die von so viel uneingestandener Liebe erzählt, drang unmittelbar in Véroniques noch unberührtes Herz. Ihr kantiger Körper war verblüht, ohne dabei gealtert zu sein. Die tiefen Ringe unter ihren Augen deuteten darauf hin, dass ihre Tränendrüsen das ganze Leben hindurch trocken geblieben sein mussten. Ein solcher Befund schließt leider weder ein empfindsames Herz noch unerfülltes Sehnen aus.

Nun, eine Brahms-Sonate als einzige Wegzehrung, wenn der Wind der verlorenen Zeit durch die großen Bäume weht, das ist wirklich ein bisschen wenig, um eine tiefe Einsamkeit auszufüllen, und doch kam Véronique Champourcieux immer wieder auf dieses Stück zurück. Sie stieß sich daran wie eine Fliege an einer Scheibe, als ahnte sie, es könne vielleicht unter diesem geheimnisvollen Schleier doch noch einen Ausweg geben, der zur Liebe führte.