Tod in Bronze - Pierre Magnan - E-Book
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Pierre Magnan

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Beschreibung

Große Kriminalliteratur aus der Provence von Pierre Magnan In Manosque geht ein geheimnisvoller Mörder um: Wo er zuschlägt, riecht es nach Mandelblüte – mitten im Winter. Und immer kommt Kommissar Laviolette um eine Haaresbreite zu spät. Ein Champagnerkorken führt Laviolette zwar in den Kreis der potenziellen Opfer, aber leider nicht auf die Spur des Mörders ... (Dieser Text bezieht sich auf eine frühere Ausgabe.)

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Seitenzahl: 346

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Pierre Magnan

Tod in Bronze

Roman

Aus dem Französischen von Irène Kuhn

FISCHER E-Books

Inhalt

Die Übersetzerin dankt den [...]Für Rosette Garbiès [...]~ 1 ~~ 2 ~~ 3 ~~ 4 ~~ 5 ~~ 6 ~~ 7 ~~ 8 ~~ 9 ~~ 10 ~~ 11 ~~ 12 ~~ 13 ~~ 14 ~~ 15 ~~ 16 ~~ 17 ~~ 18 ~

Die Übersetzerin dankt den Studentinnen des Studiengangs Literaturübersetzen der Universität Straßburg, insbesondere Alessandra Kartheuser, Kartin Lunau, Simone Moyen und Musica Schmidt, für ihre tatkräftige Mitarbeit.

Für Rosette Garbiès

~ 1 ~

PATERNE LAFAURIE spritzte seine Apfelbäume mit der für die Winterzeit reservierten Pestizidmischung. Der feine, zart irisierende Regen verteilte sich auf den beschnittenen Ästen und auf dem spärlichen, vom Unkrautvertilger verschonten Gras. Er rann auch über den plastikbeschichteten Kapuzenanzug, der den Fahrer vor dem gefährlichen Nass schützen sollte.

Diese Verkleidung trug er seiner alten Mutter zuliebe, aber so weit, dass er auch eine Gesichtsmaske getragen hätte, ging er nicht. Denn er war Kettenraucher, und wie sollte man rauchen, wenn man schon einen Filter vor dem Mund hatte? Im Übrigen glaubte er nicht an die Legende von den Pestiziden. Seine Nachbarn waren vorsichtig und wagten es selten, die vorgeschriebenen Mengen zu überschreiten. Er selbst erhöhte sie grundsätzlich um zwanzig Prozent.

Paterne Lafaurie war von Natur aus aufbrausend. Aber an jenem Tag war sein Gesicht dauerhaft verzerrt vor Wut. Und es gab auch Anlass dazu … Zunächst einmal hatte sich der Wind, der bislang Ruhe gegeben hatte, mitten in der etwa zweihundertfünfzig Meter langen Baumreihe eingemischt. Er blies voll aus Süden. Die Sprühwolke vor dem Traktor umhüllte auf einmal den Fahrer, legte sich wie Nieselregen auf sein Gesicht. Bei jedem Zug aus seiner Zigarette nahm er auch einen kräftigen Schluck des wohl dosierten Cocktails zu sich, mit dem er den Spritzbehälter gefüllt hatte.

Als ob das noch nicht genug wäre: Kaum war er am oberen Ende der Baumreihe angelangt, hatte er Jean-Lucs Auto erspäht, das schlecht geparkt an der Böschung stand. Dieser Faulpelz, Sohn eines angeblichen Biobauern, scharwenzelte um Léone, seine Tochter herum.

Und damit war es noch immer nicht getan: Er hatte alles stehen und liegen lassen und seine nordafrikanischen Tagelöhner anbrüllen müssen, die das Beschneiden unterbrochen hatten, um sich an einem Feuerchen aufzuwärmen. Bei dem Stundenlohn! Nein, das Bauerndasein war nicht beneidenswert, gewiss nicht! Zumal er, nachdem er Gift und Galle gespuckt und wütend den Weg zurück zum Traktor angetreten hatte, ganz deutlich zu sehen glaubte, dass hinter dem Gewirr der Äste eine Gestalt mit rotem Motorradhelm davoneilte. Doch das musste Einbildung gewesen sein. Dass man ihn so aus der Nähe, zu Hause gewissermaßen, provozierte, das konnte einfach nicht sein … Zum Glück würde das alles bald ganz anders, alle Schwierigkeiten würden wie weggefegt sein, freundlichere Aussichten würden ihm winken, das Leben würde ihm Revanche bieten.

Aber der Gedanke stimmte ihn nicht fröhlicher. Verbissen grübelte er weiter über all die Widrigkeiten, die wie geschaffen waren, um seine Wut und seine zweihundertzwanzig Blutdruck aufrechtzuerhalten.

Er warf seine Zigarettenkippe weg und schaltete auf Selbststeuerung, womit er die Hände frei hatte, während der Traktor weiter geradeaus fuhr. Er wühlte in seinen Innentaschen, schob sich endlich eine neue Zigarette zwischen die giftfeuchten Lippen. Die Flüssigkeit hatte heute einen merkwürdigen Geschmack. Am Ende der Apfelbaumreihe, weit vor ihm, begrenzte die Mauer der Strohscheune seinen Blick. Auf einmal kam ihm diese Mauer näher vor als sonst. Die Luft schien ihm plötzlich stickig. Er riss den Mund auf wie ein Fisch auf dem Trockenen. Die Zigarette fiel ihm auf den triefenden Schutzanzug.

 

Der Traktor fuhr brav geradeaus weiter. Unbeirrt seine Giftwolke ausspuckend, ließ er die Baumreihe hinter sich, überquerte den Dreschplatz vor den Wirtschaftsgebäuden. Er rammte einen Riesenstapel Apfelkisten, die am Abend zuvor aus dem Kühlraum herausgenommen worden waren. Sie warteten darauf, zur Mülldeponie gebracht zu werden; dort würde man sie mit Dieselöl übergießen und verbrennen. Die Pumpe des Traktors war noch immer in Betrieb und setzte die gesamten Apfelkisten unter Giftflüssigkeit. Ein Pfau, der gerade sein Rad schlug, wurde in einen aschgrauen Totenvogel verwandelt und begann herzzerreißend zu schreien.

In seiner Irrfahrt rammte der Traktor nun auch einen Berg leerer, grün angestrichener Giftfässer, die mit Weltuntergangsgetöse auseinander kullerten. Schließlich landete er in den Strohballen, die vor der Scheune aus Wellblech aufgebaut waren.

An dieser Stelle, beziehungsweise dahinter, waren Léone und Jean-Luc gerade dabei, sich miteinander zu vergnügen. Der Wall aus Stohballen öffnete sich vor ihnen und brach auseinander. Sie sahen direkt auf die Schnauze des Traktors, dessen Motor nun abgewürgt wurde. Sie sahen Paterne Lafaurie in einem Heiligenschein aus Kupfervitriol, den die von hinten scheinende Sonne in einen Strahlenkranz verwandelte. Das für ihre momentane Tätigkeit günstige Schatteneckchen war nun in Licht getaucht. Hilflos knieten sie da, halb nackt, den Hintern an der Luft, die Augen weit aufgerissen.

«Scheiße! Mein Vater!», rief Léone.

«Wenn ich dich je mit Jean-Luc oder einem andern im Stroh erwische, dann kriegst du Dresche!», hatte er ihr angekündigt. Kaum fielen ihr die drohenden Worte des Vaters ein, da war Léone wieder bei klarem Verstand. Jean-Luc machte sich so klein wie möglich in seiner Ecke; er versuchte, seine Kleider in Ordnung zu bringen und den Anschein zu wahren.

Starr beäugten sie Paternes giftüberströmtes Gesicht unter der Kapuze; ein böses Grinsen verzog ihm die Wangen bis hinauf zu der Stirn mit den unerbittlichen Falten. Dann erst entdeckten sie, dass er ganz langsam zur Seite glitt, dass seine Augen glasig waren.

«Scheiße! Er ist tot!», rief Léone ungläubig.

«Der Aprikosenbaum blüht!», schrie Jean-Luc.

«Halt die Klappe, Idiot! Und hau ab! Schnell, hau ab!»

Sekundenschnell wurde ihr ihre neue Situation klar.

Ein Vater, auch wenn er kein guter Vater war, bedeutete ein Dach über dem Kopf. Und das war soeben davongeflogen. Wer würde von nun an den Boden um die Apfelbäume pflügen? Wer würde die harten Verhandlungen mit den Großeinkäufern führen? Wer würde sich gegen die anzugtragenden Herren vom Crédit Agricole durchsetzen? Léone ging das Bild ihrer Mutter durch den Kopf: eine blonde, elegante Frau, die ihr Leben damit verbrachte, Autotüren zuzuschlagen. Sie kam, sie ging. Die übrige Zeit verbrachte sie mit allerlei Kursen, Körpersprache oder Ausdruckstanz, wenn es nicht gerade transzendentale Meditation war. «Zu nichts zu gebrauchen», fasste Léone ihre Meinung zusammen. Und der Onkel! Der Onkel! Léone lief es kalt den Rücken hinunter. Der Onkel würde antanzen: ein Abklatsch seines Bruders, unersättlich, ein Mann, der dreihundert Hektar besaß und der gierig genug gewesen wäre, noch mal so viel zu schlucken.

«Mistkerl!», zischte Léone.

«Der Aprikosenbaum blüht!», wiederholte Jean-Luc, der mit weit geblähten Nasenflügeln noch immer dakauerte und die Leiche nicht aus den Augen ließ.

Mit großer Entschlossenheit rückte Léone ihre Brüste in den Büstenhalter. Mit dem Ellbogen schob sie Jean-Luc beiseite, als hätte sie ihn nie gekannt.

«Pack dein Zeugs zusammen und zieh Leine», flüsterte sie. «Ich kann keinen Skandal gebrauchen.»

Sie beobachtete, wie er sich am Bewässerungskanal entlang davonmachte. Als er verschwunden war, durchwühlte sie sich das Haar, und erst dann begann sie, laut schreiend ihrer Verzweiflung Ausdruck zu geben, wie es eine Tochter tut, die gerade ihren Vater verloren hat.

 

Mit sechzig Stundenkilometern, wie es sich für diejenigen gehört, die mit gutem Beispiel vorangehen müssen, tuckerte Laviolettes Auto von Volx nach Manosque. Neben ihm saß Untersuchungsrichter Chabrand und starrte auf die Fahrbahn.

Sie waren noch ganz benommen vom sonderbaren Ausgang des Rätsels von Ganagobie, das sie gerade gelöst hatten.[1]

Hinter ihnen fanden sich fünfzig Fahrzeuge wohl oder übel mit diesem majestätischen Tempo ab.

«Äpfel!», sagte der Richter plötzlich. «Hier gibt es Äpfel zu kaufen. Schauen Sie doch mal!»

Am Straßenrand sah Laviolette ein Schild: «Äpfel zu verkaufen». Ein Sack Obst lehnte an einer alten Holzkiste, aber der Verkaufsstand, der aus zwei Holzböcken bestand, war unbesetzt.

«Sie sehen doch, dass da niemand ist!», antwortete er dem Richter.

«Egal», sagte Chabrand. «Ich brauche Apfel. Biegen Sie in diesen Weg da ein, rechts. Der führt bestimmt zum Bauernhof …»

«Moment! Erst mal langsamer fahren, den Blinker einstellen, und strecken Sie doch bitte sehr den Arm waagerecht nach außen. So, ja! Und bewegen Sie ihn auf und ab!»

Der Richter zuckte die Schultern.

«Glauben Sie nicht, dass der Blinker genügt?»

Nun holperte der Wagen über einen jener landwirtschaftlichen Zufahrtswege, auf denen die Traktoren tiefe Spurrillen hinterlassen haben.

«Was macht denn der da?», fragte Chabrand.

Ein langer, hagerer Bursche lief über ein brachliegendes Feld. Der Richter schaute ihm nach und sah, wie er sich in einen roten Wagen schwang und losfuhr.

«Warum, zum Teufel, diese plötzliche Lust auf Äpfel?», fragte Laviolette.

«Nicht plötzlich», antwortete der Richter, «vernünftig! Mein Vorrat ist aufgebraucht, und Sie wissen doch, nach meiner Hepatitis …»

«Ach ja, stimmt», brummelte Laviolette. «Ihre Hepatitis!»

Er sah ihn von der Seite an. Die Gesichtsfarbe des Richters erinnerte ihn in der Tat an jene Quitten, die im Dezember auf irgendeinem ländlichen Kaminsims allmählich von Grün nach Gelb wechseln.

«Vorsicht!», rief der Richter und packte Laviolette am Arm. «Sie fahren sie gleich um!»

Ein blondes, zerzaustes Mädchen von etwa achtzehn Jahren rannte auf sie zu, so schnell wie ihre robusten Beine sie trugen.

Sie sank dem Richter in die Arme, der wie auf Kommando gerade ausgestiegen war.

«Mein Vater!», rief sie. «Mein Vater! Er ist tot! Kommen Sie schnell, er ist tot!»

«Jäh! Jäh! Jäh! Jäh! Jäh!»

Hinter dem Mädchen versuchte ein aschgraues Pfauengespenst mit seinem Geschrei die Umgebung aufzuscheuchen. Das Gift, von dem es eine Dusche abbekommen hatte, war dabei einzutrocknen und machte seine Schwanzfedern steif. Es gelang ihm nicht mehr, sein Rad zu schließen.

«Wo ist er denn, Ihr Vater?», fragte der Richter.

Mittlerweile war auch Laviolette ausgestiegen. Er betrachtete das Durcheinander, das der Traktor auf seiner Irrfahrt angerichtet hatte; nun stand er in unsicherem Gleichgewicht auf den linken Rädern an die Strohballen gelehnt, die ihn in seinem Schwung aufgehalten hatten.

Ein Mann hing mit dem Fuß an der Kupplung, die Arme und der Kopf berührten den Boden. Er war offensichtlich tot.

Das Geschrei des Pfaus und das Gebrüll des Mädchens, das sich mit beiden Händen den Kopf hielt, hatten gewirkt. Landarbeiter tauchten zwischen den Apfelbäumen auf und liefen herbei. Aus dem modernen Einfamilienhaus abseits der Wirtschaftsgebäude kam eine alte Frau, ihr Strickzeug in der Hand. Sie lief, so schnell ihre alten Beine es erlaubten, und als sie die Szene erfasste, öffnete sich ihr Mund zu einem langen, unartikulierten Schrei.

«Großmutter! Mein Vater! Mein Vater!», schrie das Mädchen.

Inzwischen stand eine Gruppe Menschen dicht um den Toten. Man packte ihn und schleppte ihn weg, trug ihn ins Haus. Das junge Mädchen war vorneweg gelaufen, und hinter den Scheiben des Erdgeschosses sah man sie nun telefonieren.

Niemand achtete auf den Kommissar und den Richter. Laviolette nahm Chabrand beim Arm.

«Auf Ihre Äpfel müssen Sie nun wohl verzichten, denk ich mal. Wir haben eine Verabredung zum Essen um halb eins, und hier braucht uns sicher niemand …»

Sanft hatte er den Richter in das Auto geschoben. Er hatte den Motor angelassen.

«Aber ist das nicht ein wenig unfreundlich, was wir da machen? Das sieht ja ganz nach Flucht aus …»

«Mein lieber Chabrand», sagte Laviolette, nachdem er den Wagen gewendet hatte, «das letzte Mal, als ich neben einer Leiche gewartet habe – das war in Sisteron –, hat es drei Monate gedauert, bis ich wieder wegkam …»

«Armes Kind!», flüsterte der Richter.

«Wie rührend, dass die Verzweiflung dieses hübschen Mädchens Ihre Aufmerksamkeit viel mehr erregt hat als die der Großmutter mit dem Wackelgebiss. Aber irgendetwas bei dieser traurigen Szene stimmte nicht ganz. Ich weiß übrigens nicht was …»

«Könnten Sie Ihren Gedanken nicht ein wenig präziser formulieren?»

«Ach, im Grunde ist es ganz einfach … Die Mutter, die Tochter, die Tagelöhner … Man hatte irgendwie den Eindruck, dass sie seit langem auf so was gefasst waren …»

Ein Notarztwagen bog in den Feldweg ein, als sie ihn gerade verließen. Hinter ihm her kam ein silbergraues Cabrio geschossen mit einer blonden Frau am Steuer.

«Ich fresse einen Besen, wenn das nicht die Ehefrau ist», sagte Laviolette. «Die kriegt gleich einen Schock ab.»

~ 2 ~

«MIR SCHEINT», sagte der Mann von der Hauptverwaltung der Versicherungsgesellschaft zum Filialleiter, «dass wir im vorliegenden Fall nicht ohne weiteres grünes Licht bekommen werden …»

«Das kann doch nicht Ihr Ernst sein! Ein Kunde seit Jahren! Was sag ich! Seit Generationen! Sein Großvater hatte schon all seine Versicherungen bei meinem abgeschlossen. Und Sie können in der Kartei nachsehen: Er hatte niemals auch nur einen einzigen Schadensfall! Keinen Brand, keinen Autounfall. Überhaupt nichts!»

«Ja, aber jetzt soll alles auf einmal und mit Zins und Zinseszins ausgezahlt werden. Hundert Millionen! Junge, Junge! Ihr Lafaurie hat sich verdammt teuer eingeschätzt.»

Der Filialleiter hob resigniert die Arme.

«Was wollen Sie! Man kann nicht immer nur an den Leuten verdienen!»

«Ich finde diesen Spruch nicht besonders glücklich», sagte der Beauftragte der Hauptverwaltung, «und das aus dem Mund eines Provinzvertreters …»

«Tut mir Leid!», entgegnete dieser in schroffem Ton. «Aber Sie können sich ja unsere Statistiken ansehen: Unsere Region ist führend, sowohl was die Pünktlichkeit der Prämienzahlung angeht als auch die Seltenheit der Schadensfälle. Und unsere Kunden versichern sich jedes Jahr höher. An Ihrer Stelle würde ich es mir gut überlegen, ob ich sie aus ihrer Seelenruhe aufschrecke. Einstweilen glauben sie sich nämlich gut aufgehoben bei uns.»

«Ganz, wie Sie meinen. Aber wir sind kein Wohltätigkeitsverein. Und wenn wir hundert Millionen auszahlen, wollen wir unsererseits gut abgesichert sein.»

«Ich muss gestehen, dass ich nicht so recht weiß, worauf Sie in der Sache Lafaurie hinauswollen.»

«Auf Folgendes: Ich schwanke noch, ob ich unter meinen Vorbericht nicht schreiben soll: Alles deutet auf einen Selbstmordversuch hin …»

Der Filialleiter blickte zur Decke:

«Und das bei einem Mann, der zweihundertzwanzig Blutdruck hatte! Einem Mann mit beginnender Angina Pectoris! Einem Mann mit Harnsäure im Blut. Einem Mann, dem Doktor Magloire, wenn er mit ihm einen Pastis trank, immer wieder sagte: ‹Paterne! Du bist dabei, dir dein eigenes Grab zu schaufeln!›»

Der Mann von der Hauptverwaltung schüttelte den Kopf bei dieser Aufzählung. Er war nicht sonderlich überzeugt.

«Sie haben doch eben von Statistiken geredet: Sie wären überrascht, wie viele Leute mit Bluthochdruck, mit Harnsäure im Blut und was weiß ich noch alles alt werden. Nein! Überlegen Sie doch mal: Seit zwei Jahren verdoppelt dieser Mann die Dosis der Pestizide in seinem Sprühsystem. Seine Schutzkleidung ist voller Löcher. Er raucht beim Spritzen, was strikt verboten ist und gegen sämtliche Regeln verstößt, er weigert sich, eine Gesichtsmaske zu tragen! Hinzu kommt, dass er stur in derselben Richtung weiterfährt, auch wenn der Wind dreht – das würde sonst keiner wagen! Wo er doch noch hundertfünfzig Meter Baumreihe zu behandeln hat … Er kennt die Schädlichkeit des Produkts und weiß auch von seiner angegriffenen Gesundheit; da sieht es doch ganz so aus, als habe der Beschuldigte … hmmm … ich meine natürlich, das Opfer zumindest fahrlässig gehandelt …»

«Daraus wird noch lange kein Selbstmord.»

«Darüber lässt sich streiten … Wenn man ein bisschen in seinem Privatleben schnüffelt, wird man schon einen Grund finden …»

«Ich wüsste mal gerne, wie Sie das anstellen wollen?»

«Na ja, zunächst einmal, indem wir die Familie überzeugen, dass sie in ihrem eigenen Interesse eine Obduktion beantragen sollte …»

«Eine Obduktion! Aber Doktor Tronquet hat doch schon den Totenschein ausgestellt.»

Der Beauftragte der Hauptverwaltung verzog das Gesicht.

«Doktor Tronquet ist noch jung. Vielleicht hat er sich zu sehr auf die Krankengeschichte des … Opfers verlassen und zu wenig auf seine eigenen Beobachtungen. Anders ausgedrückt: Die Vorbefunde machten ihm den Tod plausibel, und er hat möglicherweise gar nicht lange überlegt …»

«Nun gut! Und wenn die Familie sich weigert?»

«Tja, dann werden wir eben Anzeige gegen unbekannt erstatten – das heißt, gegen das Opfer – wegen versuchten Betrugs.»

«Und wenn die Obduktion ergebnislos ist? Wenn sich herausstellt, dass die Pestizide mit dem Tod nichts zu tun haben?»

«In diesem Fall», seufzte der Beauftragte, «kann man wohl nichts machen! Dann zahlen wir die hundert Millionen aus, aber zumindest haben wir uns dann nicht kampflos gefügt. Wohlgemerkt: Eine Obduktion ist für die Familie auf alle Fälle von Vorteil. Wenn sich nämlich der Giftgehalt der Pestizide als ausschlaggebend erweist, dann verlieren sie zwar einen Teil der hundert Millionen, aber dafür können sie dann gegen den Hersteller des Produkts prozessieren.»

«Alles gut und schön. Aber mich müssen Sie nicht überzeugen, sondern die Familie.»

«Genau! Und ich habe mir gedacht, dass ein kleiner Beileidsbesuch vielleicht angebracht wäre …»

«Wie bitte? Die Leiche liegt noch nicht einmal im Sarg! Sie werden doch diese leidgeprüfte Familie nicht stören wollen.»

«Mein Lieber, der Schmerz, das ist eine Sache, hundert Millionen, das ist eine andere. Im Übrigen werden sie die Sache ganz schnell kapieren … die Familien kapieren immer ganz schnell …»

«Was für ein schrecklicher Beruf!», jammerte der Filialleiter.

«Sie leben davon, mein Lieber, Sie leben davon! Und gar nicht schlecht! Apropos – fahren wir mit Ihrem Passat oder mit meinem Volvo?»

 

Paterne lag da, ernst, streng, etwas verdrossen, wie es sich für einen Toten gehört, der keine Gelegenheit hatte, sich sein letztes Gesicht zurechtzumachen.

Man hatte ihn in seinem Arbeitszimmer aufgebahrt, um den Besuchern den Aufwand des Treppensteigens zu ersparen. Außerdem hatte Fabienne, die Witwe, von vornherein erklärt, dass sie nicht in einem Zimmer schlafen könnte, in dem sie ihren Mann als Leiche hätte liegen sehen.

Die Familie nahm die Beileidsbekundungen im angrenzenden Esszimmer entgegen. Aus den Schlafzimmern waren die guten Stühle heruntergeholt worden. Sie standen dicht nebeneinander um den Tisch herum und an den Wänden entlang. Der Fernseher stand mit dem Bildschirm zur Wand gedreht. Paternes Bruder – jener Bruder, den dreihundert Hektar mehr Land keineswegs geschreckt hätten – war auf diese Idee gekommen.

«Sonst glauben die womöglich noch, dass wir uns heute Abend wie immer die Nachrichten anschauen …»

Die Witwe täuschte keinen Schmerz vor. Mit ihrer schönen, sehr blassen Intellektuellen-Stirn, ihren schlanken Beinen, die sie sittsam übereinander geschlagen hatte, bot sie den Anblick vollkommener Würde, mehr nicht.

Léone stand hinter ihrer Mutter und behielt die Tür im Blick. Sie bewahrte einen klaren Kopf. Die Liebe zu ihrem Vater war nicht gewachsen, seitdem er gestorben war.

Nur die Großmutter sorgte für das nötige Aufsehen. Jedes Mal, wenn wieder jemand hereinkam, stand sie schluchzend auf und stürzte zum Totenlager, um den Leichnam zu umschlingen, und mit stockender Stimme rief sie, sie werde ihm ins Grab folgen. «Bald», fügte sie hinzu.

Ihren beiden anderen Kindern kam die anstrengende Aufgabe zu, die schwankende Mutter jedes Mal zu ihrem Sessel zurückzuführen, denn «die Beine machen es nicht mehr», hieß es. Dort verbrachte sie die übrige Zeit und kaute an ihren Fingernägeln.

Vier- oder fünfmal ließ sich Léone diese wohl einstudierte Szene gefallen. Beim sechsten Mal, zwischen zwei Besuchern, kauerte sie sich neben ihre Großmutter nieder und flüsterte:

«Weißt du denn nicht mehr, Mémé, dass dir mein Vater noch vor einem Monat einen Fußtritt in den Hintern versetzt hat, weil du nicht schnell genug aufgestanden bist …?»

Aber das war nicht die richtige Taktik. Das erinnerte allzu sehr an das schöne Leben, als alle noch gesund und munter waren … Ach ja, dieser Fußtritt in den Hintern! Den hätte sie gern noch einmal verpasst bekommen, so bedingungslos ist die Liebe einer Mutter. Sie brach erneut in Schluchzen aus.

«Du unwürdige Tochter, du!», rief sie. «Du hast deinen Vater nicht geliebt!»

«Ach komm schon, Maman!», warf Fabienne ein. «Léone, lass das!»

«Léone! Was machst du bloß wieder?», sagte der Onkel mit den dreihundert Hektar.

Er saß bequem neben seiner Schwägerin und redete geduldig auf sie ein, ohne sie zu brüskieren. Sein Vorname «Rosin», der Rosige, passte bestens zu seinem Bürstenhaarschnitt, seinem Kugelgesicht und den puterroten Hängebäckchen. Als die Nachricht zu ihm gedrungen war, hatte er zu seiner Frau gesagt: «Da gehörst du nicht hin. Mit deinen drei Kindern und dem Haushalt solltest du besser hier bleiben.» Also war er allein gekommen, gewissermaßen als Junggeselle; ein bisschen verließ er sich auf seine angeborene Verführungskunst, um das Herz seiner Schwägerin zu erweichen. Er war ein Träumer, dieser Rosin. Er malte sich bereits aus, wie er sie beraten, lenken und ihr alle Verehrer vom Hals halten würde, wie er sie allmählich mit seiner vielseitigen Persönlichkeit für ihn einnehmen und schließlich den Hof für sie verwalten würde.

«Denn bedenken Sie, Fabienne», sagte er ihr, «mit nur einer Tochter, die studiert, und Sie, die doch so vornehm sind …» Den Umständen zum Trotz schaffte er es, ein Lachen in seine Worte einzuflechten: «Können Sie sich das vorstellen, Sie auf einem Traktor?» Weil es bequem für sie ist, glauben Leute, die kein Herz haben, immer, dass die anderen eines hätten. In seiner Naivität glaubte Rosin, dass die Witwe eines Lafaurie zutiefst verzweifelt sein musste.

Also neigte er sich über Fabienne und säuselte ihr so dicht ins Ohr, dass das zarte Ohrläppchen sich rosa färbte. «Ich zahle Ihnen eine gute Rente», wisperte er, «und Sie können sich in aller Ruhe geistig weiterentwickeln …»

Diesen Ausdruck hatte er im Fernsehen gehört und er schien ihm für die Situation angemessen.

Für ihn war das Spiel so gut wie gewonnen. Er sah sich schon über die beiden Höfe und die beiden Familien herrschen. Das linderte seinen brüderlichen Schmerz ganz gewaltig.

Léone brauchte ihn nicht zu hören, um zu verstehen, was er sagte. Sein feierlich betrübtes Eintreten, sein Begrüßungskuss, der zugleich beschützend und diskret sinnlich war, alles an ihm verkündete, was ihm so direkt nicht über die Lippen kam: «Mach dir keine Sorgen, ich bin da!»

«Warte nur», dachte Léone, «du wirst schon sehen, wie du mir zum Vater wirst!»

Sie drehte der Verwandtschaft den Rücken und eilte nach oben, zu jener Abstellkammer neben dem Badezimmer, die ihr Vater «die Schleuse» nannte. Dort verwahrte er seine Arbeitskleidung. Léone zog sich einen seiner blauen Overalls über das kurze Kleid, dann holte sie die Stiefel aus ihrem Zimmer. Beim Hineinzwängen hörte sie ein Knistern in einer der Taschen. Ohne nachzudenken, steckte sie die Hand hinein und zog einen zerknitterten Umschlag des Crédit Agricole hervor; sie wollte ihn gerade in den Papierkorb befördern, als sie die Handschrift ihres Vaters erkannte. Nur eine einzige Zeile stand da, mit dickem Bleistift hingekritzelt: Freitag unbedingt H. anrufen: 75 01 68.

Léone zerknüllte das Papier und warf es in den Papierkorb. Ein leichtes Lächeln huschte über ihre Lippen: «Freitag, unbedingt … Das ist heute. Seine H. kann lange warten … Die wird ihn nie wiedersehen», dachte sie und fühlte Genugtuung.

Aber plötzlich schoss ihr ein Gedanke durch den Kopf, und sie überlegte es sich anders: «Bin ich blöd! 75 01 68… das ist vielleicht …» Sie bückte sich, um das Stück Papier wieder rauszufischen und es sorgfältig glatt zu streichen. «Ja doch, richtig …», dachte sie, nachdem sie das Gekritzel noch einmal gemustert hatte. «H., das ist nicht seine Geliebte …»

Nachdenklich steckte sie die nachgelassene Botschaft wieder in die Tasche, verließ das Zimmer und kehrte in die Abstellkammer zurück. Steif wie ein Gehenkter baumelte der Schutzanzug langsam an einem Kleiderbügel hin und her. Die Großmutter hatte ihn dem Leichnam ihres Sohnes abgenommen und ihn automatisch wieder an seinen Platz geräumt, als ob er auch weiter benutzt würde.

«Und sie hatte ganz Recht …», dachte Léone.

Ohne zu zögern, schlüpfte sie hinein und ging wieder ins Esszimmer hinunter. Rosin sah sie als Erster. Es verschlug ihm die Sprache.

«Léone! Was machst du da?», rief er.

Alle Anwesenden sahen auf. Sogar die Bertrands, die dem Toten die letzte Ehre erweisen wollten und die Großmutter umarmt hielten, reagierten heftig. Sie waren brave Geschäftsleute und hatten kein Verständnis für unziemliches Verhalten.

«Das siehst du doch», antwortete Léone. «Ich geh schwefeln.»

Das war der übliche Ausdruck für eine Handlung, die in Wirklichkeit noch weitere, komplexere Aufgaben umfasste.

«Lass das!», sagte Rosin. «Ab morgen kümmere ich mich drum.»

«Nie und nimmer wirst du dich drum kümmern», erwiderte Léone ruhig. «Hast du ein Testament, das dich zu so was verpflichtet?»

«Léone!», jammerte Fabienne. «Schämst du dich denn nicht? Du kannst doch hier nicht einfach laut werden! Wo dein Vater nebenan liegt.»

Léone warf ihr einen Blick von der Seite zu.

«Wenn er es könnte, würde er hier laut werden.»

Die Großmutter befreite sich mühsam aus der Umarmung der Bertrands. Erst jetzt sprang ihr die Verkleidung der Enkelin ins Auge.

«Léone!», schrie sie und streckte den Arm aus, als wolle sie ein Gespenst zum Rückzug zwingen. «Léone! Mein armes Kind! Warum ziehst du diesen Schutzanzug an?»

«Ich geh spritzen!», antwortete Léone.

«Hast du keine anderen Sorgen? Dein Vater ist keinen Tag tot –»

«Und was glaubst du, was er getan hätte, hm, an deinem Todestag, wenn’s die Apfelbäume dringend nötig hätten? Und sie haben’s nötig. Er hatte gerade erst angefangen. Was ist, wenn’s Regen gibt? Wenn Wind aufkommt?»

«Du kannst doch überhaupt nicht Traktor fahren!», sagte Rosin hoffnungsfroh.

Jäh wandte Léone sich ihm zu und stampfte mit dem Fuß auf.

«Und ob ich das kann! Was glaubst du wohl, was er mit mir gemacht hat in den Ferien, mein Vater? Meinst du vielleicht, er hat mich ins Ferienlager geschickt? Von wegen! Er hätte viel zu viel Schiss gehabt, dass mich einer entjungfert! Nein! Heu musste ich einbringen. Traktor fahren hat er mir beigebracht!»

Ihre Tante, Paternes und Rosins Schwester, die bislang die Lippen zusammengekniffen hatte, hielt den Augenblick für gekommen, sich ihrerseits einzumischen.

«Und die Leute, hm? Was werden da die Leute sagen?», fragte sie.

Sie hatte sich geschminkt – zur Sicherheit, man kann nie wissen –, und sie war die Ehefrau eines Abgeordneten des Conseil général. «Die Leute», das war für sie das Allerwichtigste.

«Die Leute? Die sollen doch herkommen und die Apfelbäume an meiner Stelle spritzen. Das wäre doch mal was!»

Sie pflanzte sich vor Rosin auf, starrte ihn an und schleuderte ihm ins Gesicht:

«Und ab heute wird das so sein und so bleiben!»

Die Bertrands verschwanden buchstäblich in der Zimmerwand, so besorgt waren sie ob der Vorstellung, jemand könnte meinen, dass sie die Auseinandersetzung mitbekämen.

«Léone!», jammerte Fabienne. «Und dein Studium?»

Léone deutete eine wegwerfende Geste an.

«Mein Studium? Das kann warten.»

Sie verließ den Raum und machte entschlossen die Tür zu.

Rosin blickte zu Boden, dort, wo auf den roten Fliesen neben seinen gewichsten Schuhen die für ihn allein sichtbaren Scherben seines zerstörten Traums lagen.

 

Im sonnenüberfluteten Innenhof war alles an seinem Platz, bis auf den Pfau, der gestorben war.

Léone ging gemessenen Schrittes am Geräteschuppen vorbei. Die drei Traktoren, der Mähdrescher und eine Unmenge technisch ausgeklügelter Gerätschaften, auf die Paterne so stolz gewesen war, standen aufgereiht wie für eine Landwirtschaftsmesse. All das war nun herrenlos, und über den seelenlosen Maschinen schwebte Trübsal wie bei einer im Stich gelassenen Herde.

In der Stille und Einsamkeit atmete Léone jene beißenden Ausdünstungen ein, die immer in diesem Schuppen herrschten, jene Mischung aus Chemikalien, die der Bauer im steten Kampf gegen die Natur benötigt. Heute jedoch durchsetzte den vertrauten Gestank ein ungewöhnlicher Geruch. Léone witterte nachdrücklich. Lauernd, mit bebenden Nasenflügeln blieb sie stehen, ihr Blick schweifte über die ruhig dastehenden Maschinen. Der Geruch verfolgte sie, ging ihr voraus, und schließlich wurde ihr klar, dass sie ihn an sich trug. Es war der Schutzanzug, der ihn in seinen Falten beherbergte. Einen Augenblick lang stimmte sie das nachdenklich. Dann zuckte sie die Achseln und ging auf den Traktor zu, auf dem ihr Vater gestorben und dessen Spritzturbine noch nicht abgekoppelt worden war. Die waagerechte Reihe von Zerstäubern war noch montiert, und auf Gesichtshöhe waren sämtliche Ventile offen. Sie brauchte ihre Nase nicht dranzuhalten, um zu erkennen, dass der ungewohnte, stechende Geruch aus den Schläuchen kam, wenn auch etwas gedämpft.

Léone schüttelte sich. Die Apfelbäume warteten. Bald würde es dunkel werden. Fest entschlossen griff sie nach dem Schutzblech, um sich auf den Sitz zu hieven. Und ebenso jäh ließ sie es bleiben. Irgendetwas riss sie zurück. Nein, sie durfte den Teufel nicht provozieren … Sie drehte sich plötzlich um und setzte sich auf den zweiten Traktor. Sie dachte einen Augenblick nach, ehe sie ihn anwarf. Wenn man achtzehn Jahre alt ist und wenn sich eine schwierige Situation ergibt, fällt es schwer, sich an vorher Erlebtem zu orientieren. Aber vielleicht wusste Jean-Luc weiter …?

Sie lenkte das rote Gefährt über die Gemeinschaftswege zum Bauernhof ihres Freundes. An der Grenze zwischen den beiden Anwesen verkündete ein bunt bemaltes Schild am Rand eines Kleefeldes: «Marjolaine – Biologische Landwirtschaft – Ferme Davignon.»

Sie fuhr langsamer, zögerte. Davignon und Paterne waren ideologische Feinde, was die Art der Bewirtschaftung ihrer Höfe anbelangte, und das trennte sie stärker, als materielle Interessen oder politische Leidenschaften es vermocht hätten.

Zum Glück erspähte sie Jean-Luc unter dem Schuppendach, wie er sich mit dem Spaten am Komposthaufen zu schaffen machte. Sie rief ihn. Er ließ sein Werkzeug fallen und stürzte ihr entgegen.

«Was? Du hier? Aber … dein Vater … Was werden die sagen, bei dir zu Hause? Was machst du denn in diesem grauslichen Anzug?»

«Ganz sachte! Ich vergeude meine Zeit, wenn du’s genau wissen willst! Eigentlich sollte ich gerade beim Apfelbäumespritzen sein … Aber da gibt es etwas, was mir keine Ruhe lässt … Was hast du mir gesagt, als der Traktor gestern auf uns zugefahren ist?»

«Was ich gesagt habe? Irgendwas Belangloses! Ich war doch unter Schock … Glaubst du denn, dass es mir nichts ausgemacht hat, deinen Vater tot zu sehen? Vor allem unter diesen …»

«Hör mal, Jean-Luc, wofür hältst du mich eigentlich? Das war noch nie deine Art, irgendwas Belangloses zu sagen, nicht einmal als wir zehn Jahre alt waren. Du hast von etwas Bestimmtem geredet, gestern. Sag es mir noch mal!»

Jean-Luc schüttelte den Kopf.

«Keine Ahnung, wirklich.»

Léone stellte den Traktor aus und verschränkte die Arme über dem Steuer.

«Setz dich neben mich!», befahl sie.

Jean-Luc zögerte.

«Weißt du, mit meinem Vater ist es genau wie mit deinem …»

«Setz dich neben mich, sag ich!»

Sie schlug mit dem Fuß gegen das Gehäuse des Getriebes. Jean-Luc hielt sich am Schutzblech fest und schwang sich neben Léone.

«Riech mal an mir!», befahl sie.

«Was soll ich denn riechen?»

«Riech mal an meinem Anzug. Den hatte mein Vater gestern an. Riech mal!»

Und da er nicht schnell genug gehorchte, packte sie ihn mit beiden Händen am Kopf und zog ihn an ihre Brust. Jean-Luc leistete Widerstand, schüttelte sich, er versuchte, sein Gleichgewicht zu halten, dann atmete er tief ein, gierte nach der lauen Luft über dem Kleefeld, das so schön nach Misthaufen duftete.

«Die Aprikosenbäume blühen!», hauchte er.

«Siehst du …», sagte Léone langsam. «Siehst du, du erinnerst dich …»

 

Paternes Onkel kam gegen drei Uhr. Er war der Bruder der trauernden Großmutter. Er kam von Pont-de-Chabestan her, dem Familiensitz. Man hatte ihm am Vorabend ein Telegramm geschickt, aus Anstand, und auch, weil er reich und kinderlos war. Man hatte gehofft, er sei verhindert, aber er war so frei wie ein Vogel im Wind. Von der Bushaltestelle hatte er ein Taxi genommen.

«Christophe! Was für ein Unglück! Was für ein großes Unglück!», heulte die Großmutter und sprang ihm an den Hals.

Die anderen hielten vorsichtig Abstand. Man traute seinen groben, ungeschlachten Bewegungen nicht. Kaum war er eingetreten, schon war er lästig inmitten der allgemeinen Begrüßungszeremonie. Bei jedem Schritt stieß man an seinen Bauch, seinen dicken Hintern, seine unförmige Reisetasche, die er mitten im Zimmer abgestellt hatte. Wo immer er war, störte er.

Er wollte sogleich dem Toten die letzte Ehre erweisen, und als er wieder aus dem Zimmer herauskam, befahl er:

«Macht die Tür zu! Zuschließen!»

Sein ohnehin schon puterrotes Antlitz war noch dunkler geworden. Er verstand es, seinem kantenlosen Gesicht den Anschein von strengem Scharfsinn zu verleihen. Er betrachtete sie alle, einen nach dem andern, und alle erschauerten sie, als sie von den Zügen dieses alten, erfahrenen Mannes eine derart tragische Feierlichkeit ablasen.

«Man muss eine Obduktion vornehmen!», verkündete er.

Beim Wort «Obduktion» hörte die Mutter deutlich das reißende Geräusch, das die Öffnung des Körpers begleiten würde. Sie sah die Eingeweide ihres Sohnes herausquellen. Sie stieß einen tierhaften Schrei aus, als würde sie wieder gebären.

«Nein! Keine Obduktion!»

«Ach was!», sagte Christophe. «Die sollen gefälligst dafür zahlen! Paterne war stark wie ein Stier. Es ist dieses Scheißprodukt für die Apfelbäume, das ihn umgebracht hat. Wir müssen einfach den Hersteller verklagen. Das bringt Negativwerbung, und das kann sich für uns auszahlen. Für so was gibt es Biologen. Uns werden sie mit ein bisschen Geld zum Schweigen bringen …»

«Aber, Christophe, eine Obduktion …»

Fabienne zuckte mit den Schultern.

«Außerdem hat Doktor Tronquet den Totenschein schon ausgestellt, also …»

In diesem Augenblick klopfte jemand leise an die Tür.

«Macht nicht auf!», meinte der Onkel. «Wir müssen die Dinge erst noch ein bisschen unter uns bereden.»

Aber Rosin warf einen vorsichtigen Blick über die Gardine an der Glastür.

«Das ist Froidevie, der Mann von der Versicherung», sagte er. «Mit einem anderen Kerl. Sie haben Aktentaschen dabei.»

Der Onkel blickte rasch in die Runde.

«Dann ist das natürlich was anderes. Wenn sie Aktentaschen dabeihaben!», sagte er. «Mach ihnen die Tür auf!»

Sie traten ein. Und unter ihren Beileidsbekundungen entspannte sich die Stimmung sofort: Sie brachten sie in jenem komplizenhaften Ton vor, der bei geschäftlichen Angelegenheiten üblich ist. Sogar die Großmutter verhielt sich gemäßigt.

Sie waren noch keine fünf Minuten da, als die Aktentaschen auf dem großen Tisch auch schon geöffnet wurden, zwischen halb leeren Gläsern und Nussweinflaschen. Sie waren noch keine fünf Minuten da, als die Anspruchsberechtigten auch schon erfuhren, dass der Verschiedene eine Versicherung über hundert Millionen alte Franc abgeschlossen hatte; zugleich erfuhren sie aber auch, dass diese Summe ihnen durch die Lappen zu gehen drohte.

«Das ist eine Angelegenheit für die Anwälte», erklärte Christophe kategorisch. «Aber zuerst die Obduktion …»

«Ja, die Obduktion …»

«Nein, nein, keine Obduktion», jammerte die Mutter.

«Das ist keine angenehme Sache, so eine Obduktion», erklärte Rosin.

Ihm war soeben klar geworden, dass, wenn der Witwe hundert Millionen in die Hände fielen, seine Pläne zunichte waren. Hundert Millionen … steuerfrei … da gibt’s nicht mehr viel zu …

Und so ging das Wort «Obduktion» von Mund zu Mund, wie der Wind von Blatt zu Blatt weht. Zuerst wurde es mit Schrecken ausgesprochen, mit Widerwillen, mit Vorbehalt. Dann gewöhnte man sich nach und nach daran. Es wurde ein Wort wie jedes andere auch.

In diesem Augenblick kam Léone herein. Missmutig betrachtete sie den sperrigen Onkel Christophe, der sich bereits auf sie stürzte und sie mit feuchten Küssen überzog, nicht ohne sie dabei auch ein wenig zu begrapschen. Sie wich ihm aus, so gut es ging und deutete auf die offen stehenden Aktentaschen auf dem Tisch.

«Was soll das?», fragte sie.

«Dein Vater hat eine Versicherung über eine Million Franc abgeschlossen», erklärte Fabienne. «Und sie wollen eine Obduktion vornehmen …»

Léone betrachtete sie einen nach dem andern, mit einem Gesichtsausdruck, bei dem sich selbst der Versicherungsbeauftragte unwohl zu fühlen begann.

«Ja…», antwortete sie schließlich gemessen. «Ich glaube auch, dass wir eine Obduktion veranlassen sollten.»

~ 3 ~

DER JUNGE DR. TRONQUET erlebte im Obduktionssaal die erste Demütigung seiner Karriere; der Siebenundzwanzigjährige, der sich gerade erst niedergelassen hatte, nahm sie kleinlaut, aber verhältnismäßig gefasst hin.

Beeindruckend wie eine Feldherrnstatue stand der Gerichtsmediziner in schenkelhohen Stiefeln vor ihm, mit gerötetem Gesicht, und nahm seine Zerknirschtheit wohlwollend feierlich, wenn auch mit einer gewissen Belustigung wahr.

«Das wird Ihnen eine Lehre sein», sagte Dr. Magloire, «so mir nichts, dir nichts einen Totenschein auszustellen. Eines natürlichen Todes gestorben!», brummte er. «Damit ein Todesfall nicht ganz natürlich erscheint, braucht das Opfer für Sie wohl mindestens ein Metzgermesser, das ihm im Herzen steckt! – Haben Sie denn seine Pupillen nicht gesehen?»

«Er hatte doch zweihundertzwanzig Blutdruck!»

«Haben Sie denn seinen eingefallenen Brustkorb nicht gesehen? Lungen hatte der, platt wie Flundern …»

«Aber er hatte eine beginnende Angina Pectoris und ein Gewicht von fünfundneunzig Kilo bei einer Körpergröße von einem Meter fünfundsechzig!»

«Und seine Zunge?», rief Magloire. «Er hat seine Zunge verschluckt, so sehr musste er nach Luft schnappen, die Muskeln haben die Lunge völlig blockiert.»

«Vom Gesicht her sah er aber ganz nach Schlaganfall aus. Bei der ungesunden Lebensweise …»

«Na ja, da haben Sie sich gesagt: Pastis, Wildgerichte, Tabak, Jähzorn, mangelnde Hygiene, wiederholtes oder chronisches Einatmen von Schadstoffen und achtundvierzig Jahre alt! Mit achtundvierzig Jahren kommt Ihnen ein Mann alt genug vor, um einen Toten abzugeben! Werden Sie erst einmal achtundvierzig!»

Er zog die Handschuhe aus, warf sie in eine Ecke und legte dem jungen Kollegen seine behaarte Pranke auf die Schulter.

«Nichts für ungut», sagte er, «es wäre schlimmer gewesen, wenn Sie eine Blinddarmentzündung für einen eingeklemmten Bruch gehalten hätten. Er war ja sowieso schon tot. Außerdem muss ich Ihnen jetzt was sagen. Ich kenne Kollegen, alte Hasen, die sich in diesem Fall auch getäuscht hätten: Eine Todesursache wie diese hier, das gibt’s nämlich nicht oft!»

 

«Und auf diese Weise», sagte Laviolette, «wird aus einem ganz alltäglichen Fall mit ganz natürlichem Tod eine Idiotenfalle für einfältige Polizisten. Sagen Sie mir mal, was ich da zu suchen hatte, auf diesem Bauernhof, wo keiner nach mir verlangte?»

«Äpfel kaufen!», sagte der Untersuchungsrichter. «Erinnern Sie sich nicht? Ich hatte große Lust auf Äpfel. Aber verdammt, wenn ich das geahnt hätte …»

Sie betrachteten die Mauer des hässlichen Schlachthofs gegenüber, in dem die seit hundert Jahren zu Tode gequälten Tierseelen spukten. Nun drohte das Gebäude einzufallen. Die Stadtverwaltung zögerte noch, ob sie es abreißen oder unter Denkmalschutz stellen sollte. Durch seine bloße Anwesenheit beleidigte es das schmucke Gerichtsgebäude, das wie eine Insel auf der noch nicht geräumten Baustelle schwamm. Denn es regnete und regnete und regnete. Die Bagger hatten das Gelände unterhöhlt, die Erdwälle rutschten, der Kies rieselte, die noch nicht ordentlich zugeschütteten Gräben sackten ein und füllten sich mit Wasser. Im neuen Gericht schallte es hohl und leer. Es war funkelnagelneu, aber in den noch nicht trockenen Wänden knackte es, als wollte es von vornherein Lügen und Verwicklungen abwehren.

«Haben Sie je im Leben so was Hässliches gesehen?», fragte der Untersuchungsrichter und deutete entmutigt auf seinen Schreibtisch.

«Tatsache ist, dass …»

«Zur Abwechslung könnten wir uns ja an die Akte machen?»

«Genau. Nichts wie ran!»

Der Untersuchungsrichter setzte sich auf seinen Bürosessel und wies dem Kommissar den Stuhl zu, auf dem die Beschuldigten Platz nahmen.

«Den hier», sagte der Kommissar, «den haben Sie aus Digne mitgebracht.»

«Aus Aberglauben, aus keinem anderen Grund! Die schönsten Geständnisse meiner Karriere wurden auf diesem Stuhl abgelegt … Ist er Ihnen genehm?»

«Na ja, ich nehme es, wie es kommt.»

«Wir haben es also mit einer Familie zu tun, die sich in die Nesseln gesetzt hat», sagte der Untersuchungsrichter beim Durchblättern der Protokolle, die vor ihm lagen. «Sie beantragt eine Obduktion, weil sie hofft, dadurch bestätigt zu bekommen, dass der Verstorbene eines natürlichen Todes gestorben ist, wonach der Versicherung nichts anderes übrig bleibt, als zu zahlen …»

«Allerdings hat sich die Versicherung ebenfalls in die Nesseln gesetzt, wohlgemerkt! Denn sie hat fest mit dem Beweis dafür gerechnet, dass unser Paterne Lafaurie absichtlich zu viel Spritzmittel schluckte, Schutzanzüge mit Löchern trug, beim Spritzen rauchte und ähnliche Scherze mehr. Lauter Dinge eben, die den Verdacht auf Selbstmord bestätigen …» Laviolette nickte bedächtig, während er sich eine Zigarette drehte. «Zu guter Letzt», sagte er, «ist das Opfer zwar nicht an den Spritzmitteln gestorben, es ist aber auch nicht eines natürlichen Todes gestorben …»

«Laut Obduktionsbericht ist der Tod nach anhaltendem Inhalieren von Blausäure erfolgt, welche mit dem Spritzmittel vermischt um das Opfer herum versprüht wurde … Seltsam, nicht wahr?»

«Zumindest einfallsreich. Der Gerichtsmediziner betont nachdrücklich, dass das Spritzmittel in dieser Zusammensetzung eine ideale Grundsubstanz für das Gift ist.»

«Blausäure…», wiederholte der Untersuchungsrichter langsam. «Die ist mir schon lange nicht mehr begegnet.»

«In Amerika wird in gewissen Bundesstaaten Blausäure verwendet, um Todesurteile zu vollstrecken.»

«Barbarische Methoden dekadenter kapitalistischer Länder! Wie dem auch sei, so was wird immer in sorgfältig verschlossenen Räumen vorgenommen … Wohingegen in unserem Fall … im Freien … Glauben Sie denn daran?»

«Die Obduktion lässt keinen Zweifel bestehen. Allerdings heißt es im Bericht auch, dass der Tod erst nach mehreren Minuten eingetreten ist, obwohl das Gift blitzartig wirkt. Außerdem enthielt der Tank noch genug Gift, um zehn Leute umzubringen.»

«Hätte die Tochter die Arbeit ihres Vaters fortgeführt, wie sie es ihrer Aussage nach vorhatte», murmelte der Untersuchungsrichter, «wäre sie wohl auch draufgegangen … Aber wem kann Ihrer Meinung nach daran gelegen haben, dass Paterne Lafaurie das Feld räumte?»

«Der ganzen Familie! Lafaurie hatte eine Lebensversicherung über hundert Millionen alte Franc abgeschlossen, stellen Sie sich das doch mal vor!»

«Na endlich ein richtig schönes Motiv!», sagte der Untersuchungsrichter und rieb sich die Hände. «In der verrotteten Bourgeoisie, in der wir leben, ist es doch klar, dass hundert Millionen … Aber wo kriegt man Blausäure her?»

Laviolette hob den Kopf.

«Ich nehme an, dass man so was nicht an jeder Straßenecke kaufen kann … Da müssen wir ernsthaft nachforschen.»

Der Untersuchungsrichter blätterte in der Akte.

«Und wann, glauben Sie, kam das Gift in den Tank des Spritzers?»

«Seit Tagesanbruch hatte das Opfer das Gerät benutzt. Aber eine halbe Stunde vor seinem Tod hat Paterne den Traktor am Ende des Feldes angehalten, das heißt also, direkt am Straßenrand – das ist sehr wichtig.»

«Warum hat er seine Arbeit unterbrochen?»

«Um ein Stück weiter mit den Landarbeitern zu schimpfen, die sich an einem Feuerchen die Hände wärmten, statt die Bäume zu stutzen.»

«Da haben Sie aber sehr genaue Angaben.»

«Ich habe die Zeugenaussagen der Arbeiter. Die sind nämlich wenig später ihrem Arbeitgeber zu Hilfe geeilt.»

«Und die haben wir also um den Traktor stehen sehen, als wir dazukamen, passend wie die Faust aufs Auge.»

Wieder nickte Laviolette bedächtig, während er seine Zigarette drehte, was ihm schon zweimal misslungen war.

«Die Gendarmen haben ihre Pflicht erfüllt», sagte er, «gewissenhaft wie immer. Sie haben sogar ihr Leben aufs Spiel gesetzt – wegen der giftigen Ausdünstungen –, um auch noch den Rest im Tank zu untersuchen. Den Chemiedreck haben sie vom Filter gewaschen und das hier gefunden.»

Er zog einen braunen Umschlag aus seiner Tasche, aus dem er ein winziges durchsichtiges Röhrchen nestelte.

«Das schicke ich ins Labor», sagte er.

«Was ist das?», fragte der Untersuchungsrichter.

Laviolette schüttelte das Röhrchen.