Tod unter der Glyzinie - Pierre Magnan - E-Book

Tod unter der Glyzinie E-Book

Pierre Magnan

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Beschreibung

Große Kriminalliteratur aus der Provence von Pierre Magnan Eigentlich wollte Kommissar Laviolette nur Urlaub machen und sich in dem kleinen Städtchen Sisteron die Freilichtspiele ansehen. Doch eine Szene ist nicht gespielt: Die Ermordete hieß Jeanne. Bei seinen Ermittlungen stößt Kommissar Laviolette auf eine Mauer des Schweigens ... (Dieser Text bezieht sich auf eine frühere Ausgabe.)

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Pierre Magnan

Tod unter der Glyzinie

Aus dem Französischen von Ute Bechberger und Cornelia Weinkauf in Zusammenarbeit mit Irène Kuhn

FISCHER E-Books

Inhalt

Für Lucien Henry [...]~ 1 ~~ 2 ~~ 3 ~~ 4 ~~ 5 ~~ 6 ~~ 7 ~~ 8 ~~ 9 ~~ 10 ~~ 11 ~~ 12 ~~ 13 ~

Für Lucien Henry

~ 1 ~

«KOMMEN Sie, meine liebe Jeanne, kommen Sie, wenn diese Herzlose die Stirn hat, ohne Sie in die Aufführung zu gehen …»

«Sie hat gemeint, ich sei zu empfindsam … ich würde es nicht aushalten!»

«Eine schöne Ausrede, um keine fünfzig Franc ausgeben zu müssen!»

«Ja, schon, aber ich habe Angst! Man wird uns erwischen!»

«Nein! … Kommen Sie, ich kenne den Weg! Keine Angst! Und im Übrigen kann ich Sie gleich beruhigen. Haben Sie bemerkt, dass alle Offiziellen ein Pappschildchen am Revers ihrer Jacken tragen? Hier, schauen Sie: Wie’s der Zufall will, habe ich genau zwei solche Schildchen; die werden wir uns jetzt anstecken … Hier, das ist für Sie! Sie werden sehen … So wird jeder glauben, Sie gehören dazu …»

«Ich, eine Offizielle?»

«Natürlich kein hohes Tier! … Aber immerhin eine Sanitätsschwester … Oder eine Kellnerin … Kommen Sie, beeilen Sie sich, damit Sie vom Tour de Nesle[1] wenigstens noch den letzten Akt sehen!»

Die beiden Gestalten erklommen die Stufen, die zum Wehrgang führten. Die hell erleuchtete Bühne ließ die Dunkelheit noch schwärzer erscheinen.

Es war in einer Julinacht in der Zitadelle von Sisteron. Hoch oben auf den Wällen flatterten die Fahnen im ewigen Nordwind. Unter den Mauern der Festung, die Provence und Dauphiné einst streng von einander trennte, spielte sich eine alte Geschichte ab. Die ehemals unüberwindbaren Schutzwälle dienten nur noch als klägliche Kulisse für ein mittelalterliches Paris.

Man hörte Pferde wiehern, als Prinzessinnen verkleidete Schauspielerinnen lachen und zerlumpte Raufbolde ihre Attrappenschwerter kreuzen. Am Fuße der schwindelerregenden inneren Grabenböschung wurden perfide Intrigen geschmiedet. Racheschwüre, Triumphgeheul und Schreckensgeschrei hallten als Echo in den Zisternen wider und brachen sich am Felsen von Baume dort drüben auf der anderen Seite der Durance. Aber die leise zirpenden Grillen zwischen den Steinen ließen sich davon nicht stören, auch die Zikaden nicht, deren letzte Töne in den Pinien des Friedhofs verklangen. Der Bergfried war in ein unheilvolles rotes Licht getaucht und ragte drohend vor den Zuschauern auf: Das Schauspiel beherrschend wartete er auf seine Stunde.

«Kommen Sie, Jeanne! Wir müssen uns beeilen, sonst kriegen Sie gar nichts mehr mit!»

Den gebieterischen Gesten folgend, stolperte Jeanne auf den Kieseln des Wehrgangs vorwärts. Der Lichtstrahl, der den riesigen Wallgraben der Bühne einrahmte, blendete sie und zog sie an wie eine Sonne.

«Da, schauen Sie, meine liebe Jeanne. Hier, der kleine Wehrturm mit den Alarmsirenen auf dem Dach. Hier haben wir die besten Logenplätze. Vor Blicken geschützt. Durch dieses Fenster sehen wir alles. Das ist doch herrlich, finden Sie nicht?»

Die große Schattengestalt hatte Jeanne beim Arm gepackt und schob sie mit eiserner Hand zu der gähnenden Öffnung, in der Bühne und Publikum plötzlich miteinander verschmolzen.

«Können Sie sehen? Können Sie alles gut sehen? Dort unten, in dem Baldachinbett, das ist Margarethe von Burgund. Und der Mann zu ihren Füßen, in dem pistaziengrünen Kostüm, das ist ihr Liebhaber, aber auch ihr Sohn!»

«Mein Gott!», rief Jeanne und legte die Hand auf den Mund.

«Ja, ja, mein liebes Kind, so ist das Leben! … Aber das ist noch nicht alles … Schauen Sie sich das Publikum an … Da ist sie, da, im Mittelgang, und überragt alle auf ihrem erhöhten Sitz! Genau in der Mitte! Sehen Sie sie?»

«Madame Gobert! Wie klein sie aussieht von hier oben!»

«Das liegt an der Entfernung, Jeanne … Schauen Sie, wie gerade sie sitzt in ihrem Rollstuhl … Sie vergisst völlig, dass sie keine Beine mehr hat. Sie findet es unterhaltsam, dieses blutige Schauspiel!»

«Und der Mann neben ihr, der mit dem Hut und dem großen Schal, wer ist das? Den kenne ich nicht …»

«Niemand kennt ihn …», brummte die Gestalt grimmig. «Aber ich, ich erkenne ihn … Er ist so was wie ein Polizist … Aber was soll’s! Schauen Sie sich lieber Ihre Tante an. Sehen Sie, wie stolz sie sich gibt! Wie herrisch sie wirkt! Aber wir werden sie bald herunterholen von ihrem hohen Ross – mit Ihrer Hilfe, meine liebe Jeanne …»

«Mit meiner Hilfe? O Gott, selbst aus dieser Entfernung macht sie mir Angst. Mein Gott, wenn sie mich sehen könnte! Wenn sie wüsste, dass ich ihr nicht gehorche!»

Unwillkürlich wich Jeanne zurück. Sie war zutiefst erschrocken und wäre am liebsten davongelaufen, doch die eiserne Hand hielt sie fest, die sichere Stimme sprach beruhigend auf sie ein.

«Aber nicht doch, mein armes Kind! Wie sollte sie? Sie ist völlig gefangen von dem Stück. Und Sie stehen mehr als fünfzig Meter über ihr. Haben Sie doch keine Angst! Sonst entgeht Ihnen noch das Wichtigste! Haben Sie gesehen, das Rampenlicht ist ausgegangen. Die Scheinwerfer wechseln die Farbe. Jetzt kommt der Höhepunkt des Stückes. Vom Tour de Nesle herab wird Margarethe ihre Liebhaber in die Seine stoßen lassen … Oh, der Bergfried! Er wird angestrahlt und alles andere versinkt in Dunkelheit … Gleich werden Sie es sehen, gleich stürzen die Liebhaber aus den Fenstern … Leider muss man sich ein wenig vorbeugen, um es von hier aus richtig sehen zu können … Wir sind zu dicht am Bergfried. Beugen Sie sich vor, meine liebe Jeanne, beugen Sie sich weit vor … Haben Sie keine Angst, ich halte Sie fest. Noch weiter! Gleich sehen Sie, wie die Liebhaber aus dem Fenster stürzen … Beugen Sie sich vor! Beugen Sie sich weit vor!»

 

Der Schrei hallte schrill in den Mauern der Zitadelle. Das atemlose Publikum sah, wie aus dem dunkelrot erleuchteten Bergfried längliche, farbenfrohe Gestalten herabstürzten, die die Liebhaber der Prinzessin darstellen sollten: Der Tod hatte ihren Freuden ein jähes Ende gesetzt. Aber warum war eine der Puppen nicht angestrahlt gewesen? Weshalb war sie aus dem völlig dunklen Wehrturm geschleudert worden, außerhalb des Lichtkegels der Scheinwerfer – warum hatte sie, Höhepunkt der Aufführung, das Farbenspiel der Lichter nicht erfasst? Das konnte nicht zur Inszenierung gehören, das war eine Panne, vermutlich ein Missverständnis zwischen den Technikern …

«Der Schrei war ungeheuerlich», dachte Laviolette, «echter als echt sozusagen! Sogar ich bin zusammengezuckt. Weiß Gott …!»

Kommissar Laviolette war ein dankbarer Zuschauer. Er mochte melodramatische Stücke, und um keinen Preis hätte er sich den Tour de Nesle in der Zitadelle von Sisteron entgehen lassen. Zumal er im Krankenstand zu Hause in Piégut weilte. Er hatte es nicht bereut. Die Nacht war zauberhaft. Nichts störte das Behagen eines Mannes, der es verstand, die Freuden der kleinen Leute mitzugenießen. Über dem Publikum selbst lag ein gewisses Geheimnis. Man spürte seine Hartleibigkeit, seine Zurückhaltung, man merkte, wie wenig geneigt es war, Begeisterung zu bekunden, «seiner uneinnehmbaren Zitadelle recht ähnlich», dachte Laviolette. «Recht ähnlich», spann er den Gedankenfaden weiter, «dieser Behinderten in ihrem Rollstuhl, die vorhin neben mich platziert wurde …»

Seine Nachbarin war eine große rothaarige Frau im blauen Kostüm, an dessen Revers ein leuchtend rotes Band prangte. «Sapperlott!», hatte Laviolette gedacht, der seine Orden niemals trug. Er stellte sich eine Menge Fragen; sie jedoch verharrte in regloser Unzugänglichkeit. Die meisten Menschen brennen darauf, sich anderen aufzudrängen, weil sie sich selbst so aufregend vorkommen. Auch wenn sie allein sind, selbst im Theater, halten sie nicht still; sie seufzen, machen irgendwelche einstudierten Gesten, von denen sie denken, dass sie damit interessant wirken. Doch diese Zuschauerin ließ keine solchen Schwächen erkennen. Ihre Züge waren unbeweglich, ihre Haltung unprätentiös, und sie würdigte ihre Umgebung keines Blickes. Sie war glatt, ohne jede Unebenheit. «Trotzdem», sagte sich Laviolette, «dieser bewusste Verzicht auf jegliche äußere Regung kommt auf seine Weise einem Geständnis gleich. Sie ist verschwiegen. Sie hat sich unter Kontrolle. Sie verbirgt irgendetwas, was niemand sehen soll. Aber dann sollte sie diesen Orden nicht so demonstrativ tragen.»

Als der Schrei ertönte und die Zuschauer erstarren ließ, spürte Laviolette an seinem Arm, wie seine Nachbarin zusammenzuckte. Er beobachtete sie verstohlen. Sie schwankte ein wenig von rechts nach links, der Oberkörper war leicht von der Lehne gelöst. Es kam Laviolette vor, als hätte sie sich ruckartig nach vorne geworfen, wäre ihre Behinderung nicht gewesen.

«Eigenartig», dachte er, «diese plötzliche Gefühlsregung bei einer derart beherrschten Person!»

All das dauerte nur Sekunden. Die Behinderte zog sich wieder hinter ihre abweisende Miene zurück. Doch sie war nicht mehr ganz so gelassen. Ihre Aufmerksamkeit wurde gelegentlich von der Bühne abgelenkt, wo die barbusigen Prinzessinnen mehr schlecht als recht die Liebe mimten. Ihr Blick glitt die Grabenböschung hinauf, richtete sich erst auf den scharlachrot erleuchteten Bergfried, dann auf den im Dunkeln liegenden Wehrturm. Abrupt wandte sie den Kopf zu den Sträuchern, die die Scheinwerferbatterie verbargen. Und als sie sich wieder ruhig verhielt, bemerkte Laviolette, wie sich die Finger seiner Nachbarin um den Verschluss des silbernen Handtäschchens krampften.

Währenddessen war auf der Bühne alles vollbracht. Margarethe blickte starr auf den vom Seine-Wasser durchtränkten Sack, den Buridan mit einem kräftigen Messerhieb aufschlitzte. Als die hellgrüne Farbe des Kostüms zum Vorschein kam, als die Leiche des Edelknaben, der die Ehre gehabt hatte, aus Liebe zu ihr zu sterben, vor ihr lag, schluchzte sie auf, und ihr Schrei ging durch Mark und Bein. Dem Publikum lief ein kalter Schauer über den Rücken.

In der Menge, die sich langsam dem Ausgang zu bewegte, raunte eine Dame voller Genugtuung ihrer Begleiterin zu: «Siehst du, ich hab’s dir doch gesagt, dass es ihr Sohn war!»

 

«Meine Güte, worauf warten sie nur? Wo sind sie nun wieder hin verschwunden?»

Inmitten der zum Ausgang drängenden Zuschauer gab Madame Gobert laut ihrer Besorgnis Ausdruck. Sie bewegte ihren Rollstuhl in alle Richtungen auf der Suche nach ihren Begleiterinnen.

Da erschien ihre Kusine Évangéline. Im Laufschritt hatte sie sich ihren Weg gegen den Strom der Menschenmenge gebahnt, und nun war sie völlig außer Atem.

«Was haben Sie denn so lange herumgetrödelt?»

«Ist Jeanne denn noch nicht da?»

«Wie Sie sehen, nein!»

«Aber ich habe sie seit dem Beginn der Aufführung nicht mehr gesehen. Ich suche sie.»

Ein paar Zuschauer blieben stehen und hielten sich bereit, falls sie dazu aufgefordert würden, der Behinderten im Rollstuhl zu helfen. Rogeraine presste die Lippen zusammen und dachte nicht daran, um Hilfe zu bitten. Sie war wütend, dass man es wagte, sie zu bedauern, sie, Rogeraine Gobert! Doch diesen Stolz teilte ihre Kusine nicht, sie hielt ihn für völlig fehl am Platz. Rasch hatte sie zwei, drei Bekannte mobilisiert, kräftige Burschen, die dafür sorgten, dass der Rollstuhl die zahlreichen Stufen überwand.

Laviolette hatte es nicht eilig und verfolgte mit einer gewissen Neugier, was in diesem Gewühl geschah. Unwillkürlich erhob er sich, um die Gruppe zu begleiten. Die Hände in den Taschen, sah er zu, wie die Behinderte in einen Wagen verfrachtet wurde und wie dieser Wagen davonfuhr.

Diesmal hatte er genügend Zeit gehabt, seine Sitznachbarin ausgiebig zu beobachten. Es war schwer zu sagen, ob sie um die vierzig oder eher um die fünfzig war. Ihr rotes Haar war echt, wie die vielen Sommersprossen bewiesen, die ihre Wangen und die Augenpartie übersäten. Und das dezente Make-up ließ die Blässe der echten Rothaarigen durchscheinen. Waren ihre Augen tatsächlich violett oder lag das am Widerschein der unwirklichen Theaterbeleuchtung? In ihrem Blick lag noch eine Spur von jener Beunruhigung, die Laviolette Minuten zuvor an ihr bemerkt zu haben glaubte. Die hohlen Wangen waren leicht gerötet und die Spitzen ihrer Ohren glühten. Als sie ihren Rollstuhl gedreht hatte, war Laviolette aufgefallen, dass sie für eine Frau ungewöhnlich kräftige Schultern hatte. Er erinnerte sich auch an ihre stolze Brust und das tiefe Atmen. Es schien, als staute sich die gesamte Kraft der gelähmten unteren Körperhälfte in den Armen und im Oberkörper. Welche Tragödie hatte diese prächtige, resolute Frau ihrer Beine beraubt?

«In dieser Frau», sagte sich Laviolette, «muss es brodeln wie in einem Wasserkessel. Sie glaubt sicher, an verletztem Stolz zu leiden, doch sie verzehrt sich vor unbefriedigter Sehnsucht. Ich hätte zu ihr gehen und sie fragen sollen: ‹Madame, seit wie vielen Jahren haben Sie nicht mehr mit einem Mann geschlafen?› Damit hätte ich sie aus der Fassung gebracht und bestimmt hätte sie mich beschimpft, aber es wäre eine gute Tat gewesen. Ich hätte ihre Schleusen geöffnet. Man darf es nicht zulassen, dass gewisse gefährliche Wunden sich jemals schließen.»

Er musste über sich selbst lachen. «Du und deine romantischen Klischees! Du hast ihr nichts zu sagen, und du hast ihr auch nichts gesagt! Außerdem, was weißt du schon, ob sie nicht doch mit Männern schläft, auch in ihrem Zustand? Nein, bestimmt nicht … Mit ihrem zornigen Gesichtsausdruck gleicht sie einer Wasserratte, die seit langem in einer Reuse gefangen ist und ihre immer gleichen Runden dreht.»

Er zuckte mit den Schultern, doch in Wirklichkeit verfolgte ihn das Bild dieser prächtigen Frau, die hilflos an ihren Rollstuhl gefesselt war.

Um sein Unbehagen loszuwerden, mischte er sich unter die herumwuselnden Schauspieler. In einen Anhänger wurden alle Schätze der Truppe verstaut, die am nächsten Abend in Vaison-la-Romaine auftreten sollte. Margarethes Baldachinbett wurde feierlich weggetragen und sorgfältig verpackt, damit es den Transport heil überstand. Mit einem Bleistift bewaffnet, hakte der Abendspielleiter jedes Requisit ab.

«Philipps Schwert!»

«Hier, das habe ich!»

«Pass auf, dass du es nicht wieder abknickst wie letzte Woche …»

Jeder half mit beim Abbauen, nur der Star der Truppe war in sein Hotel zurückgekehrt, und der Regisseur legte sich kalte Wickel auf die Stirn.

«Wo sind die Galgen?», rief der Abendspielleiter den nächsten Punkt auf seiner Liste auf.

Gebeugt unter der Last der Galgenattrappen und der roten Stoffpuppen, die die Gehängten darstellten, lud ein Beutelschneider, der noch sein Kostüm trug, alles vorsichtig ab.

«Passt mir ja auf die Kutsche auf! Verdreht mir nicht wieder die Zapfenlöcher wie beim letzten Mal. Und was ist mit den Leichen? Klar, die sind wieder die Letzten. Wenn ihr mir die wieder liegen lasst wie in Château-Chinon, lass ich auf eure Kosten neue machen!»

Das war an zwei langbeinige Burschen gerichtet, die sich über irgendetwas angifteten, was schief gegangen war.

«Du hast mir meinen Schrei geklaut!»

«Überhaupt nichts hab ich dir geklaut!»

«Doch! Ich hab gerade den Mund aufgemacht, da hab ich dich schreien hören! Das ist aber meine Rolle.»

«Du kannst mich mal mit deiner Rolle. Ich hab nicht geschrien! Das war ich nicht!»

«Wer denn dann?»

Der Spielleiter verlor die Geduld.

«Was ist jetzt mit den Leichen? Glaubt ihr, die kommen von allein hier runter?»

Sie machten auf dem Absatz kehrt, um flink die Schildmauer zum Torweg hochzuklettern, wo die Leichenattrappen der Edelknaben zu liegen gekommen waren, die vorhin vom Tour de Nesle herabgestürzt waren.

«Mist! Schau dir an, wo meine gelandet ist!»

«Weil du nicht zielen kannst! Ich suche mir immer einen bequemen Platz aus. Sieh mal an! Deine sitzt rücklings auf dem Tor! Viel Spaß beim Runterholen!»

«Aber, du … sag mal … Was ist denn das, dort drüben, unter dem vierten Tor, genau senkrecht unterm Wehrturm … Was ist das denn?»

«Seltsam, da hast du Recht … Jetzt kapier ich’s! Die müssen einen dritten Werfer eingestellt haben, ohne uns Bescheid zu sagen, damit es mehr hermacht, und der hat auch geschrien …»

«Moment mal, langsam. Findest du nicht, dass die Puppe von hier aus ganz schön klein aussieht?»

Er zog seinen Kumpel am Arm zu dieser überzähligen Attrappe, die sie neugierig machte. Als sie besser zu erkennen war, kam ihnen der Wind, der auf den Festungsmauern wehte, plötzlich viel kühler vor.

«Sag mal … Findest du nicht … Sieht das nicht aus wie echtes Haar, da um den Kopf herum? Und wie echtes Blut, das hier überall verspritzt ist?»

Ein Mondstrahl, den der Schatten des Tores abschnitt, beleuchtete die Hälfte eines zerschmetterten Gesichts. Die verrenkte Puppe, die sie da gefunden hatten, war eine echte Leiche.

Sie eilten, so schnell sie konnten, die Schildmauer hinunter. Ihre Rufe schallten von der Theatermauer wider.

 

Da er von Natur aus unter Schlaflosigkeit litt und dazu noch während der Aufführung gezwungen war, sich an das Rauchverbot zu halten, musste Laviolette sich mehrere Zigaretten drehen, um die verlorene Zeit aufzuholen.

Er schlenderte um den Thespiskarren herum, auf der Suche nach irgendwelchen Traumbildern. Er erkannte die prunkvollen Prinzessinnen des Melodrams nicht wieder in diesen Mauerblümchen mit ihren Schlotterhosen. Sie waren so mager, dass es ihnen kaum gelang, die Kisten zu schließen, selbst wenn sie sich darauf setzten.

«Dabei sahen sie eben noch recht üppig aus», dachte Laviolette. «Sie sind eingelaufen wie Wolle in der Wäsche …»

Traurig schüttelte er den Kopf. Die Illusion verflog und wich einem Sammelsurium aus wertlosem Plunder, Holzlatten, traurigen Männern und verbitterten Frauen. Lautes Geschrei riss ihn aus seiner Melancholie. Laviolette drehte sich um. Die beiden Statisten, die der Abendspielleiter vorhin zurechtgewiesen hatte, stürzten Hals über Kopf das Glacis herunter.

«Was haben sie denn jetzt schon wieder, diese beiden schrägen Vögel?»

Sie schossen buchstäblich zwischen ihre Kameraden. Der eine warf sich einem Mädchen an den Hals und hätte ihr beinahe die Zigarette aus dem Mund geschlagen.

«Halt mich fest! Ich falle gleich in Ohnmacht!»

Der andere ließ sich auf den Deckel einer Kiste plumpsen und drückte ihn dabei ein. Atemlos und keuchend wiesen sie mit dem Finger auf die Grabenböschung.

«Da oben! Ein Toter.»

«Nein! Eine Tote.»

«Seid ihr übergeschnappt, oder was?»

«Schaut doch nach!»

«Holt die Polizei!», befahl der Abendspielleiter, der endlich begriffen hatte.

Das war überflüssig. Der Streifenwagen bog an der Bastion um die Kurve. Laviolette steckte genau zwischen den Scheinwerfern der Gendarmen und der dicht gedrängten Truppe, die ihm den Weg in die Richtung versperrte, in die er sich davonstehlen wollte.

«Kommissar Laviolette!»

«Schönen guten Abend, Viaud!»

Der Gendarm stieg aus dem Einsatzwagen und streckte die Hand aus. Es war der Revierleiter Viaud, den er in Banon kennen gelernt hatte. Es blieb ihnen keine Zeit, Erklärungen abzugeben. Um sie herum schrien sich die Komödianten die Kehle aus dem Leib. Laviolette folgte in einiger Entfernung, seine angeborene Neugier trieb ihn gegen seinen Willen. Er gesellte sich also zu der Gruppe, die die Leiche umdrängte.

Es war eine relativ junge Frau, doch ihre Züge und die schon welken Lippen verrieten, dass sie viel zu schnell gealtert war.

«Kannten Sie sie?», murmelte Laviolette.

«Wir sind hier, um sie zu suchen. Ich muss zugeben, dass wir uns nicht sehr beeilt haben. Wir waren so gut wie sicher, sie gesund und munter wiederzufinden.»

«Wer ist sie?»

«Die Nichte von Madame Gobert.»

 

Jetzt untersuchte die Staatsanwaltschaft den Schauplatz der Tragödie. In einer Ecke versammelt, hielten sich die Schauspieler und Helfer der Truppe zur Verfügung der Justiz. Ein Gendarm nahm die Personalien auf.

«Ich hielt es für richtig, Sie zu verständigen, Frau Staatsanwältin», sagte Viaud, «denn ein Unfall ist mit Sicherheit auszuschließen. Wie Sie sich gleich überzeugen können, ist die Fensterbrüstung des Turms so breit wie der Oberkörper des Opfers – von den Schultern bis zum Becken – und die Brüstung reichte ihr ganz bestimmt bis zum Bauch … Folglich hätte sie, um zu fallen, darübersteigen müssen.»

«Oder jemand hätte sie stoßen müssen …»

«Das habe ich nicht zu äußern gewagt.»

Der alte Gerichtsarzt richtete sich mühsam wieder auf und hielt sich den Rücken.

«Sie ist buchstäblich zerschmettert …»

«Weist die Leiche, abgesehen vom Sturz, noch irgendwelche anderen Spuren von Gewalteinwirkung auf? Irgendeine Verletzung, die nicht direkt dem Sturz zugerechnet werden kann?»

Der Doktor seufzte: «Sie stellen mir da wieder eine dieser Fragen, die ich nicht einmal vor Gericht beantworten möchte. Schauen Sie!»

Mit dem Finger zeichnete er den Weg der Leiche vom Turm aus nach.

«Sie könnte mehrere Male gegen den Fels geprallt sein. Sie könnte sich an den Kragsteinen gestoßen haben, mit denen die Böschung gespickt ist. Sie könnte sich an den Pistaziensträuchern aufgeschürft haben. Wie soll ich das wissen?»

Er schüttelte den Kopf und betrachtete bekümmert die verrenkte Leiche zu seinen Füßen.

«Nein … Es ist mir völlig unmöglich festzustellen, ob eine oder mehrere der vorhandenen Verletzungen auf eine andere Ursache als den eigentlichen Sturz zurückzuführen sind.»

«Also schlicht und ergreifend Selbstmord?»

«Allem Anschein nach ja. Da Revierleiter Viaud versichert, dass ein Unfall nicht in Frage kommt.»

«Es sei denn …», murmelte Laviolette vor sich hin.

Die Staatsanwältin hatte gute Ohren.

«Nun, mein lieber Kommissar im Krankenstand», fragte sie, «Ihr sechster Sinn ist noch nicht überzeugt?»

«Immer musst du mit deinem Wissen prahlen», sagte sich Laviolette. Eine Erklärung war er nun schuldig.

«Nun ja … Um sich umzubringen, boten sich ihr so viele andere Gelegenheiten. Sie hätte sich zum Beispiel in die Durance stürzen können, sich aufhängen, zwanzig Schlaftabletten nehmen … hätte unerwartet vor einem der Lastwagen auftauchen können, die hinter dem Tunnel um die Kurve schießen.»

«Es könnte doch sein, dass der Gedanke ihr … wie soll ich sagen … ganz spontan gekommen ist?»

«Möglich, doch was mich stört, ist die Gleichzeitigkeit …»

«Ich kann nicht ganz folgen.»

«Ich meine, es erscheint mir recht seltsam, dass dieses arme Mädchen genau in dem Augenblick das Bedürfnis verspürt haben soll, sich aus dem Fenster zu stürzen, als die Attrappen aus dem Bergfried geschleudert wurden …»

«Aber ja doch! Es könnte sich um eine plötzliche Eingebung gehandelt haben … Eine Art … Aufforderung zum Tod, wenn Sie so wollen … Der Gedanke hat sie einfach gepackt und mit sich gerissen.»

«Meinetwegen, aber der Schrei, den sie ausgestoßen hat … Sie haben ihn gehört, Frau Staatsanwältin, genau wie ich, denn Sie waren auch bei der Aufführung. Dieser Schrei …»

Mit der Hand machte Laviolette eine ausholende Geste, als wollte er darin ein Bild einschließen, das sich dagegen sperrte, beschrieben zu werden, als gelänge es ihm nicht, seine Gedanken zu präzisieren.

«Nun, was ist mit diesem Schrei?»

«Er drückte nicht nur Angst, Furcht, Bedrängnis aus … Es schien, als enthielte er auch so etwas wie … Verwunderung! Genau! Das Wort habe ich gesucht. Eine ordentliche Portion Verwunderung!»

«Ich gebe zu, er war sehr lang», seufzte die Staatsanwältin, «und meiner Meinung nach viel zu perfekt für Schauspieler dieser Kategorie …» Sie hüllte sich fester in ihren Mantel. «Aber», meinte sie, «das ist alles pure Spekulation. Kann man sich nicht einfach vorstellen, dass dieses arme Mädchen genug hatte vom Leben?»

«Jedenfalls wären wir damit früher im Bett …», flüsterte Revierleiter Viaud seinem Brigadier zu. Laut sagte er: «Dieser letzte Punkt lässt sich vielleicht durch die Persönlichkeit des Opfers erhellen. Wir werden versuchen, so viel wie möglich über sie in Erfahrung zu bringen …»

In diesem Moment hatte Laviolette das Gefühl, dass jemand anwesend war, der nicht dazugehörte. Er drehte sich ganz plötzlich um. Die Gendarmen, der Schreiberling … Die Experten vom Erkennungsdienst, wie üblich auf allen vieren, den Boden nach Gott-weiß-was absuchend …

«He! Sie da!»

Die Mitglieder der Truppe, die dicht beieinander standen oder sich auf der Mauer lümmelten, wandten die Köpfe, aber Laviolette meinte nicht sie. Zusammen mit dem aufmerksam gewordenen Revierleiter Viaud ging er auf einen Bogen zu, der die Theatermauer unterbrach und in dessen Schatten sich jemand verbarg.

«Was haben Sie hier zu suchen?»

Dieser Jemand lehnte lässig gegen einen Stützpfeiler und kaute auf einem Brennnesselstängel herum. Er ließ sich Zeit mit der Antwort. Es war ein Junge. Beziehungsweise ein junger Mann von etwa siebzehn Jahren … Groß und gelenkig stand er da, er hatte blonde Wuschellocken und trug Jeans, ein weites T-Shirt und Turnschuhe.

«Ich warte drauf, dass Sie mir Fragen stellen», sagte er endlich.

«Warum?», fragte Viaud. «Hast du was zu sagen?»

«Eigentlich nicht, aber dann habe ich was von Selbstmord gehört. Deshalb vielleicht doch …»

«Hast du was gesehen?»

«Ich hab zwei Schatten gesehen.»

«Und wo warst du?»

«Im Teufelsturm da oben …»

«Und was hast du da getrieben?»

«Gevögelt.»

«Mit wem?», fragten Revierleiter Viaud und die Staatsanwältin wie aus einem Mund. Ihr alarmierter Tonfall verriet so etwas wie elterliche Besorgnis.

«Das steht nicht zur Debatte …», wandte Laviolette sanft ein.

«Mit meiner Freundin, was glauben Sie denn?», antwortete der Junge. «Wir waren in der Vorstellung, aber das hat uns angeödet, also sind wir hoch in den Zinnenturm, um die Zeit sinnvoller zu nutzen.»

«Erzähl weiter», forderte Laviolette ihn auf. «Du hast Talent.»

Der Junge musterte den Kommissar, der soeben mit zwei Sätzen seine Sympathie gewonnen hatte. Er mochte die Alten nicht, weil sie nie was kapierten, aber der hier schien den Durchblick zu haben.

«Ich heiße Robert Léonard. Ich habe auf dem Stein gegenüber vom Eingang gesessen. Sie … Sie war auf mir … Ich hatte die Augen offen … Na ja, das darf sie aber nicht wissen! … Seit ungefähr ’ner Viertelstunde hat’s mich schon nicht mehr so richtig interessiert … Über ihre Schulter konnte ich den ganzen Wehrgang überblicken, und da hab ich gesehen –»

«Es war aber sehr dunkel, der Mond war noch nicht aufgegangen … Wie konntest du da was erkennen?»

«Die Scheinwerfer haben Licht nach oben geworfen. Davor haben sich die Gestalten abgezeichnet.»

«Gestalten?»

«Ja, zwei, hab ich doch gesagt.»

«Hast du sie erkannt?»

«Die eine war sie.»

Er deutete mit dem Kopf auf die Leiche, wandte aber den Blick ab, um nicht hinsehen zu müssen.

«Bist du sicher?»

«Jeder kennt sie … Ihre eine Schulter hängt ein wenig nach unten und sie hat große Füße. Sie ist der Fußabstreifer von Madame Gobert.»

«Sie war …», seufzte die Staatsanwältin.

«Und … die andere Gestalt?», fragte Revierleiter Viaud.

«Keine Ahnung.»

«Streng dich ein wenig an, wir müssen das wissen», sagte Laviolette.

«Na ja … Ich hab gesagt, dass mich die Sache mit meiner Freundin nicht mehr so interessierte, aber eben nicht die ganze Zeit … Kam drauf an … Ich war jedenfalls nicht ganz bei der Sache.»

«Du hast Jeanne wiedererkannt. Du bist doch gewitzt genug, uns irgendetwas über den anderen Menschen zu sagen.»

Der Junge schüttelte den Kopf.

«Nein. Er war von oben bis unten in irgendwas eingehüllt. Keine Ahnung, in was. Ich dachte, es wär ein Schauspieler.»

«Ein Mann?»

«Keine Ahnung.»

«Groß? Klein?»

«So mittel. Aber … dunkler als Jeanne. Schwärzer und irgendwie glänzend, als wäre er nass. Mehr weiß ich nicht. Jedenfalls waren sie zu zweit. Jeanne ging hinterher und der andere gestikulierte, winkte sie zu sich her … sie sollte ihm folgen.»

«Hast du die Stimme gehört?»

«Nein. Der Wind pfeift immer durch den Zinnenturm. Die Fahnen haben laut geflattert. Nein, die Stimme war nicht zu hören.»

«Und du hast dich nicht gefragt, was Jeanne da oben macht?»

«Klar hab ich mich das gefragt. Sofort. Aber dann hab ich’s vergessen. Erst als ich das ganze Remmidemmi mitgekriegt hab … Ich konnte nicht schlafen. Ich wohne am Place Tivoli. Gegen drei habe ich die Autos gehört und den Kopf zum Fenster rausgestreckt. Da hab ich die Blaulichter der Gendarmerie gesehen, wie sie zur Zitadelle hochgekurvt sind … Ich hab mir gedacht, da gibt’s vielleicht was zu sehen … und mir mein Mofa geschnappt …»

«Du bist sicher», fragte Viaud sanft, «dass du nicht etwa mit Jeanne gevögelt hast? Du bist sicher, dass sie sich nicht vielleicht gewehrt hat und dass …»

Der Junge wurde blass und wich einen Schritt zurück.

«Was? Mit Jeanne? Die war schon hässlich, als sie noch am Leben war. Und sie war mindestens fünfundzwanzig. Nein! Mit meiner Freundin! Mit Sabine! Der Tochter vom Werkzeugmacher in der Rue Droite … Sie können sie fragen, sie hat nichts zu verbergen!»

Er zitterte, stotterte. Eben hatte er ganz dicht an seinem Kopf die Klauen der Justiz gespürt, die manchmal auf gut Glück zugreifen, egal wen sie gerade erwischen …

Laviolette legte ihm die Hand auf die Schulter.

«Das reicht», sagte er. «Geh schlafen. Du hast uns einen echten Dienst erwiesen. Wir werden deine Sabine fragen, aber das ist reine Routine …»

Der Junge schoss zum Ausgang. Der Schrecken über sein Intermezzo mit der Justiz verlieh ihm Flügel.

Die Staatsanwältin, der die Besorgnis ins Gesicht geschrieben stand, blickte ihm nach. Sicher gab es irgendwo, gerade jetzt in dieser lauen Nacht, ein Kind der Staatsanwältin, von dem niemand genau wusste, wo, geschweige denn mit wem es ins Bett gegangen war …

«Wir müssen seine Aussage trotzdem überprüfen …»

«Natürlich», antwortete Revierleiter Viaud.

Die Gendarmen ließen die Schauspielertruppe laufen, die zu ihrem bunt bemalten Bus flüchtete. Der Krankenwagen, der die Tote ins Leichenhaus brachte, verschwand hinter der Bastion. Laviolette hielt die Tür der Limousine auf, elegant stieg die Staatsanwältin ein und ließ dabei einen Hauch ihres dezenten Parfüms zurück.

Die Gendarmen und Laviolette blieben alleine zurück und sahen zu, wie das Auto davonfuhr.

«Zwei Schatten …», sagte der Kommissar, «also doch ein Verbrechen.»

«Nicht unbedingt. Vielleicht war es ein Unfall … Und Jeannes Begleiter ist geflüchtet, um sich Ärger zu ersparen.»

«Denken Sie an ein Stelldichein?»

Viaud zögerte mit der Antwort.

«Ach Gott! … Nach allem, was wir von dem Opfer wissen, ist das eher unwahrscheinlich. Ich habe Jeanne oft getroffen. Sie war untadelig, pünktlich … Madame Gobert hätte sie auch gar nicht anders geduldet. Sie hat sie sehr kurz gehalten …»

«Und sie war schon nicht schön, als sie noch am Leben war …», seufzte Laviolette. «Große Füße, eine Schulter hing ein wenig herab … Das hat der Junge gesagt …»

«Und ein spitzes Kinn hatte sie», fügte Viaud hinzu. «Nein, die arme Jeanne sah nicht gerade zum Verlieben aus.»

«Und außerdem hatte sie keinen roten Heller, wenn ich Sie recht verstanden habe?»

«Nein. Nichts. Madame Gobert hat sie aus gebührlicher Nächstenliebe aufgenommen.»

«Ich verstehe. War sie als Erbin eingesetzt?»

«Da bin ich alles andere als sicher. Nein, ich habe zur Staatsanwältin gesagt: Sobald wir Näheres wissen über das Leben, das sie geführt hat …, aber abgesehen von dem, was wir die ganze Zeit vor Augen hatten, hatte sie gar kein Leben.»

«Was die Hypothese Selbstmord stützen würde. Aber nein! Das passt alles nicht zusammen! Dieser Schrei. Sie haben ihn nicht gehört, Sie können das nicht verstehen …»

«Also was dann? Ein Sadist? Heutzutage wird aus den seltsamsten Motiven gemordet.»

«Aber sagen Sie, warum haben Sie eigentlich nach dem Opfer gesucht?»

«Madame Gobert hat uns verständigt. Sie war beunruhigt. ‹Erst dachte ich, sie wäre ausgerissen›, hat sie gesagt, ‹doch nun beginne ich mich zu fragen …›»

«Sagen Sie, diese Madame Gobert: Das ist nicht zufällig eine große rothaarige Frau im Rollstuhl?»

«Ja, genau. Sie war offenbar einmal eine sehr schöne Frau … Ihr Gesicht bringt noch immer so manchen zum Träumen. Ich kenne einige, die zutiefst bedauern, dass sie im Rollstuhl sitzt … Darüber hinaus ist sie hier im Ort eine Respektsperson.»

«Und dekoriert für Verdienste in der Résistance, wenn meine Augen mich nicht trügen?»

«Woher wissen Sie das?»

«Sie saß neben mir heute Abend. Irgendetwas war mir an ihr aufgefallen, und es lässt mich nicht wieder los. Eines jener Details, die manchmal der Schlüssel zum Geheimnis sind, die man aber beiseite schiebt, weil sie einem so abstrus vorkommen, oder die man ganz einfach übersieht. Sie kennen das sicher auch: Eine Sternschnuppe verglüht außerhalb Ihres Blickfelds … Ihr flüchtiger Schein am Himmel macht Sie zu spät aufmerksam. Sie wenden sich um, aber sie ist schon verglüht. Und trotzdem wissen Sie, dass sie eben noch da war.»

«Sonderbar, was Sie da sagen …»

«Ich kann Ihnen das Phänomen eben nicht besser erklären», knurrte Laviolette.

Plötzlich ergriff er den Arm des Kollegen, der in den Streifenwagen steigen wollte.

«Warten Sie! Genau das ist es! Diese große, lebenstüchtige Frau, diese große, harte Frau, und plötzlich etwas Flüchtiges … Warten Sie, ich werde es Ihnen erklären, man weiß nie, ob es noch einmal nützlich sein kann. Es war genau in dem Moment, als der Schrei ertönte … Wissen Sie, ich mache mich immer sehr breit in meinem Sitz, manchmal leiste ich mir sogar Übergriffe auf den des Nachbarn … Jedenfalls berührte mein Ellbogen den von Madame Gobert, und als der Schrei kam, ist sie zusammengezuckt. Ich habe sie verstohlen beobachtet. Sie saß ein ganz klein wenig hinter mir, denn ihr Rollstuhl stand nicht auf gleicher Höhe, und so konnte ich, als ich mich zu ihr umdrehte, ihr praktisch direkt ins Gesicht sehen. Und in dem Moment lag in ihren Augen und auf ihrem Gesicht so ein Ausdruck … Ach, es ist schwer zu beschreiben … Ein Ausdruck, der für mich so lange anhielt wie eine Sternschnuppe, die einem nicht die Zeit lässt hinzusehen … Vielleicht habe ich es mir eingebildet.»

«Wahrscheinlich war es der Schrecken, sie ging eben mit bei dem Geschehen auf der Bühne.»

Laviolette schnippte ungeduldig mit den Fingern.

«Nein, nein, das war es nicht! Eher … wie wenn man in seinem Gedächtnis forscht … Mit halb geschlossenen Augen … Der Gesichtsausdruck aufmerksam … aber diese Aufmerksamkeit gilt nicht dem, was um einen herum geschieht … Der Blick ist … nach innen gerichtet …»

«Sie gehen seltsam an die Dinge heran.»

«Haben Ihre Leute alle Mitglieder der Truppe befragt?»

«Ja! Dabei hat es Vorwürfe gehagelt. Sie haben nicht eingesehen, warum wir sie befragen und nicht die tausend während der Aufführung anwesenden Zuschauer. Wir haben ihnen gesagt, dass das noch geschehen wird. Aber daran schienen sie zu zweifeln. Ich übrigens auch … Man hätte sie an Ort und Stelle befragen müssen. Aber als sie das Theater verließen, hatte man die Leiche noch gar nicht entdeckt.»

«Jedenfalls steht fest: Falls ein Verbrechen vorliegt, hat das Opfer den Täter gekannt. Sie haben doch gehört, was der Junge gesagt hat? Jeanne folgte ihrem schattenhaften Begleiter.»

«Das bringt uns nicht weiter. Wahrscheinlich kannten alle achttausend Einwohner von Sisteron Jeanne wenigstens vom Sehen.»

«Genau das wollte ich von Ihnen hören. Wenn der Mörder Jeanne kannte, wusste er immer, wo sie zu finden war, wo er ihr auflauern, sie überwältigen musste. Warum also gerade heute Abend? Warum außerhalb der Stadt? Warum war er so unvorsichtig, sie schreien zu lassen, statt sie zu knebeln und heimlich in irgendein Loch zu stoßen? Warum? Noch dazu vor tausend Leuten?»

«Aber … warum hat er sie überhaupt getötet? Wem konnte Jeanne schaden? Was für ein Motiv hatte ihr Mörder?»

«Ja, was ist das Motiv?», wiederholte Laviolette. «Das ist die Frage. Bedenken Sie, dass es keine Mordwaffe gibt. Das ist ein Pluspunkt für den Mörder, denn eine Waffe verrät letztlich immer etwas, ein Sturz aus fünfzig Metern Höhe dagegen …»

«Das macht es nicht leichter für uns», seufzte Viaud. «Wir werden ganz Sisteron verhören müssen. Und außerdem bleibt es an mir hängen, Madame Gobert schonend beizubringen, dass ihre Nichte tot aufgefunden wurde. Nicht, dass ich Angst davor hätte, mit ihrem Schmerz konfrontiert zu werden … Aber sie wird das als persönliche Beleidigung auffassen. Von oben werden jede Menge Ermahnungen auf uns niederprasseln. Fahren Sie mit uns?»

«Danke, nein. Ich wohne im Tivoli, gleich da unten. Ich werde ganz gemütlich zu Fuß gehen. Vielleicht werde ich in diesem schönen Mondlicht sogar noch fünf Minuten am Grab unseres Dichters, des armen Paul Arène, zubringen.»

Mitfühlend sah er Revierleiter Viaud nach, der nun zum Streifenwagen und zu seinen Gendarmen ging. Für sie war die Nacht noch nicht zu Ende …

Jetzt war er allein. Das Theater war wie ausgestorben. Jenseits der Festungsmauer hörte man den Wind in den hohen Tannen des Friedhofs.

Zwischen Daumen und Zeigefinger spielte Laviolette mechanisch mit dem Beweisstück, das er den Experten des Erkennungsdienstes widerrechtlich entzogen hatte. Diesen war es im Übrigen gar nicht aufgefallen.

Er schummelte gern ein wenig bei den Ermittlungen. Immer hielt er – das war seine kleine Schwäche – ein kleines Detail von zweitrangiger Bedeutung zurück, ein Detail, das den anderen genauso zur Wahrheitsfindung hätte verhelfen können wie ihm selbst. Aber er tat das mit solch schlichter Naivität, dass er es sich nicht verargte.

«Und außerdem, Beweisstück: Das ist ein viel zu großes Wort für ein so kleines Ding», sagte er sich. «Kann man so etwas überhaupt ein Beweisstück nennen?»

Vergeblich betrachtete er es im Mondlicht, in der Hoffnung auf irgendeinen Hinweis. Winzig, unbedeutend, nur eine Nadel, auf der einen Seite wie ein Haken gebogen, auf der anderen spitz und scharf. Laviolette hatte sie in Brusthöhe aus dem Pullover der Toten gezogen. Es war ein billiger Pullover, von unbestimmbarem Grün, made in Korea. Einer dieser Pullover zu dreißig Franc aus dem Kaufhaus. Und die Tote hatte diese Nadel darauf festgesteckt, für ihre Verhältnisse wohl ein Schmuckstück, vielleicht um sich der Illusion von gebündelten Geldscheinen hinzugeben, die sie niemals besitzen würde.

«Man weiß im Grunde nie», sagte sich Laviolette, «womit sich die Unglücklichen trösten.»

~ 2 ~

WÄHREND der Sommernächte in Sisteron wird in den alten Lauben noch geflüstert. Bei Rogeraine Gobert verbirgt sich die Terrasse oberhalb der Durance unter einer üppigen Glyzinie, die zehn Meter tiefer in einem Loch der Longue Andrône[2] wurzelt. Anfangs kümmerlich und anämisch, hat sie Jahre dafür gebraucht, zum Sonnenlicht emporzustreben. Doch jetzt ist es so weit, ihre Äste haben sich über dem Eisenbogen ausgebreitet, der sich unter ihrem Gewicht bereits einwärts krümmt. Sie hat das Pflaster der Andrône gesprengt. Ihre Wurzeln sind bis zum Meules-Brunnen vorgekrochen, dessen Becken nach all den Jahren feine Risse bekommen hat. Ihr Stamm hat in seinen Windungen die Regenrinne zerdrückt, an der sie ursprünglich emporrankte. Die üppigen Dolden verströmen ihren Duft in dieser Julinacht.

«Ach Gott, meine liebe Rogeraine, diese Glyzinie ist wirklich Balsam für die Seele.»

Rogeraine, im Schatten, zuckt die Achseln. Diese treuherzig naive Esther! Eine Blumengirlande, und schon ist sie hingerissen. Oder war es gar christliche Barmherzigkeit, und sie, Rogeraine, sollte die bohrende Frage von Rosa Chamboulive nicht hören?

«Nun, meine arme Rogeraine, was tust du, wenn du niemanden findest?»

Doch es bestand keine Gefahr, dass diese Bemerkung ins Leere ging, denn die Kusine aus Ribiers hatte sie schon aufgegriffen:

«Es muss vor allen Dingen schnell jemand gefunden werden, das ist das Problem …»

«Zum Glück bist du ja da!», meinte Rosa.

«Natürlich bin ich da», erwiderte Évangéline. «Wie immer! Aber schließlich habe ich auch meine Geschäfte. Wovon soll ich leben, wenn sie nicht gehen?»

«Du bist nicht gerade mittellos.»

«Nicht mittellos, nicht mittellos … Ich bin auch keine zwanzig mehr.»

«Na komm, du bist gesund und kräftig.»

«Da übertreibst du, Rosa … Ich bin kräftig, aber ich bin auch eine Frau.»

«Auf jeden Fall hast du Constance, die dir hilft.»

«Ach, Constance! Um zehn vor sechs hat sie schon den Mantel an und das Portemonnaie in der Hand …»

«Deshalb meine ich ja, es wäre besser –»

«So ist es», schnitt Rogeraine ihnen das Wort ab, «ihr mögt mich alle ganz gern, aber ihr wollt mich in ein Heim abschieben und mir den Schierlingsbecher reichen!»

Es wurde heftig protestiert unter der Hängelampe, die das Scrabble-Spiel auf dem Tisch beleuchtete, die Gesichter aber im Dunkeln ließ.

«Was reden Sie da, Rogeraine?», fragte Doktor Gagnon. «In so einer Einrichtung hätten Sie völlige Freiheit, und immerhin garantiert man dort eine Ihrem Zustand angemessene Betreuung.»

Rogeraine blickte auf die nebeneinander aufgereihten Buchstaben und schüttelte den Kopf. «Niemals!», sagte sie, «Spekuliert nicht darauf. Eher …»

Sie beendete den Satz nicht und widmete sich wieder dem Spiel. Sie spielte leidenschaftslos, denn sie schätzte diesen Zeitvertreib nicht besonders, und außerdem war sie zerstreut, angespannt.

Nach Rogeraine war Rosa an der Reihe und entledigte sich flink all ihrer Buchstaben.

«Ausgerechnet diese Analphabetin!», dachte die Kusine aus Ribiers.