Kommissar Laviolettes Geheimnis - Pierre Magnan - E-Book

Kommissar Laviolettes Geheimnis E-Book

Pierre Magnan

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Beschreibung

Große Kriminalliteratur aus der Provence von Pierre Magnan Drei Erzählungen, in denen sich das eine oder andere Geheimnis um den bärbeißigen Kommissar Laviolette lüftet. Auf einem verlassenen Bahnhof begegnet Laviolette einer alten Dame: Dreimal war sie verheiratet, dreimal wurden die Ehemänner umgebracht ... Die Stunden seiner größten Feigheit erlebt er, als er sich unfreiwillig in einer Kathedrale eingeschlossen sieht ... Und die ungewöhnlichste Zeugin von Tod und Verbrechen begegnet Kommissar Laviolette in Gestalt einer jahrhundertealten mächtigen Eiche ... (Dieser Text bezieht sich auf eine frühere Ausgabe.)

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Seitenzahl: 368

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Pierre Magnan

Kommissar Laviolettes Geheimnis

Kriminalerzählungen

Aus dem Französischen von Irène Kuhn und Ralf Stamm

FISCHER E-Books

Inhalt

Für meine Freunde [...]»Und da verstand ich, [...]Die SignallaterneDer VeilchenstraußDie Eiche

Für meine Freunde

SIMONE UND MARC GUICHARD,

die lange die einzigen Buchhändler waren,

die mich gelesen und mich weiterempfohlen haben.

»Und da verstand ich, dass Noah die Welt nie hatte besser sehen können als von der Arche aus, obgleich diese verschlossen war und obgleich es Nacht war auf der Erde.«

Marcel Proust, Tage der Freuden

Die Signallaterne

Ebenso wie den Friedhof von Barles, sagte Laviolette, mag ich den alten, aufgelassenen Bahnhof von Saint-Maime-Dauphin, wo ich noch das Raunen der Leute vom Land vernehme, die ihn einst belebten. Hier hat Modeste, mein Vater, auf alten, grünen Lokomotiven seine Lehre absolviert, ehe er später die großen internationalen Züge fuhr. Die Schienen sind verschwunden. Übrig bleiben zehn Meter Bahnsteig. Übrig bleibt der Name auf dem blauen Schild. Übrig bleibt, halb eingestürzt, das Lampenwärterhäuschen, wo ich bis heute, flüchtig zwar, aber immerhin, das Lampenöl rieche, das einst auf den Boden tropfte. Übrig bleiben auch die hohen Platanen, die im Herbst mit all ihrem toten Laub zu wispern beginnen.

Manchmal, wenn mich im Oktober der Koller packt, komme ich gegen Abend, bevor es dunkel wird, unter dem Vorwand hierher, bei Marcel Sauvaire und seiner Frau Rosemonde eine Kleinigkeit zu essen. Es ist genau gegenüber. Sie sind mit Gott und der Welt befreundet und sie decken gewissermaßen aus Barmherzigkeit auf, so wenig Geld nehmen sie dafür.

Dann setze ich mich auf die Bank auf dem verwaisten Bahnsteig und warte, bis es so weit ist: Ich tue so, als wär’s zum Zeitvertreib, dabei ist es mir das Wichtigste. Die Bank wurde gegen 1910 aufgestellt, auf Veranlassung des damaligen Bahnhofsvorstehers, an dem ein Dichter verloren gegangen war. Sie besteht aus zwei hölzernen Schwellen, an denen noch die Einkerbungen der Schienenschrauben zu erkennen sind. Er wollte seine Bank haben und er hat seine Leute dafür am Sonntag antreten lassen. »Bänke?«, hatte stirnrunzelnd sein Vorgesetzter gesagt. »Wozu Bänke? Es gibt doch schon einen Warteraum.« – »Eine Bank«, hatte besagter Bahnhofsvorsteher schüchtern eingewendet.

Der Vorgesetzte hatte sich wieder in den Fahrplan vertieft, der dringend überarbeitet werden musste, und gebrummt: »Machen Sie, was Sie wollen, Hauptsache, ich weiß nichts davon!« – eine zeitlos gültige Antwort.

Wieso wissen Sie über solche Einzelheiten Bescheid?, fragte irgendein aufmerksamer Besserwisser hinten im Saal.

Ich habe sie erfunden, antwortete Laviolette seelenruhig. Aber wenn ich mir ansehe, wie ungehobelt diese Bank ist, die alten Stützen, an denen sie festgeschraubt ist, die schlechte Qualität des Zements, worin sie verankert ist, die Tatsache, dass sie einem den Hintern aufraut und dass man miserabel darauf sitzt – all das beweist doch, dass es sich um eine Behelfsbank handelte.

Na meinetwegen!, brummelte der andere, nicht ganz überzeugt.

Und auch die Tatsache, fuhr Laviolette fort, dass man dicht daneben eine Hundsrose gepflanzt hat, die gemeinste Rosenart überhaupt, um die Latrinen zu kaschieren, sowohl den Anblick als auch den Geruch.

Kurz und gut, da war eine Bank, rief ein Verehrer Laviolettes leicht genervt. Er war begierig, die Fortsetzung zu hören.

Und sie steht noch da, ein wenig morsch zwar, aber immerhin. Und dann, eines Abends – es war schon im Spätherbst, vermutlich im November, zu der Jahreszeit, in der sich alles auflöst, wo der zerfledderte Sommer und der ebenso zerfledderte Herbst fetzenweise dahingehen, insbesondere über verwaisten Bahnhöfen mit ihren zerzausten, ächzenden Platanen. Und wissen Sie, es war auch sehr spät am Abend, zu jener Stunde, wenn in den richtigen Bahnhöfen die letzten Züge fahren; wenn man sie verpasst, muss man auf einer Bank übernachten – ja, eben: Auf einer Bank. Ich glaube übrigens, dass der Bahnhofsvorsteher dies berücksichtigt hatte, als er seine Bank unter den Bäumen aufstellte, wo sie dem Abendtau weniger ausgesetzt war.

Vermutlich dachte ich an etwas anderes, denn im Halbdunkel und im Geraschel des dürren Laubes befand ich mich plötzlich dicht an der Bank und sah, dass da jemand saß, allerdings jemand, der Platz gelassen hatte, der sich nicht mitten drauf gesetzt hatte, wie es ihm seine Einsamkeit eigentlich erlaubt hätte, sondern der sich ganz im Gegenteil am allerobersten Ende niedergelassen hatte, um den Vorübergehenden dazu aufzufordern, doch seinerseits Platz zu nehmen und ihm Gesellschaft zu leisten.

Es war eine alte Frau mit einem schwarzen Strohhut, der schon einige Jährchen alt war. Sie trug kein Kleid, sondern das, was man einst auf dem Land »Tracht« nannte, etwas sehr Altes, vermutlich Blaues oder Schwarzes, eine züchtige Stufenfolge von übereinandergetragenen Unterröcken, die steif bis zu den Knöcheln reichten und die sich keineswegs einfach so heben oder öffnen ließen ohne die großzügige Genehmigung der Besitzerin und ohne umständliche Bemühungen des Eroberers. So dass man als solcher durchaus Zeit hatte, die möglichen Konsequenzen seiner Taten abzuwägen.

Abgesehen davon interessierte sich wohl keiner mehr für die Unterröcke derjenigen, die – vermutlich schon lange – reglos hier saß, nicht einmal sie selber, denn sie war wirklich sehr alt. Unter dem Hut waren die Gesichtszüge eingefallen und verwittert, vor allem zum Hals hin, was jegliche Erinnerung an das, was sie in ihrer fernsten Vergangenheit einmal gewesen sein mochte, verwischte.

Auf dem Schoß hielt sie einen ebenfalls schwarzen Schließkorb – Sie erinnern sich doch an jene sperrigen Körbe aus geflochtenen Binsen, ohne die unsere Großmütter nie das Haus verließen und die ihnen sowohl als Behältnis für die Wegzehrung dienten als auch zu Haltung verhalfen – und das Merkwürdige an ihr war, dass sie nicht geradeaus sah, sondern den Oberkörper leicht nach vorn neigte, als ob sie Ausschau hielte nach etwas, was dort hinten am Ende des Bahnsteigs kommen sollte. Nach etwas? Nach einem Zug natürlich! Sie sah ganz so aus wie jemand, der auf einen Zug wartet und sich, um ihn nicht zu verpassen, mit leicht angewinkelten Beinen darauf vorbereitet, loszustürzen (was wir uns längst verkneifen müssen … mein Gott, wir wissen doch schon lange, dass er eher auf uns warten wird). Nur dass wir uns hier am Bahnhof von Saint-Maime-Dauphin befanden, wo die letzten Schienen 1943 von den Deutschen demontiert worden waren.

Manchmal aber gab sie diese Lauerstellung auf und blickte geradeaus, über die nicht mehr vorhandenen Gleise hinweg, auf das verfallene Lampenwärterhäuschen, dessen Dachziegel um die Mauern herum verstreut lagen.

Ich befand mich schon nahe genug bei dieser kuriosen Figur, um auf ihren Zügen die Spuren des Lebens verfolgen zu können. Die Lippen, die sich, weil sie farblos waren, nicht von der übrigen Haut im Gesicht unterschieden, bewegten sich unmerklich und schnell, als ob die Frau eine lange Litanei von immer gleichen Worten vor sich hinmurmelte. Sie alle haben schon solche Frauen vom Lande gesehen, die endlos und leise die Maschen ihres Lebens nachzählen, so als ob sich von jeher ein Fehler eingeschlichen hätte.

Ich musste ihr fast auf die Füße treten, damit sie sich mir langsam zuwandte: Vermutlich hatte sie meine Anwesenheit gespürt. Es war bereits so dämmrig, dass ich anstelle der Augen nur zwei Schattenhöhlen ausmachte.

Aus der Nähe roch sie nach Bohnenkraut und geronnener Ziegenmilch. Dieser Geruch umschwebte damals alle Frauen vom Lande, dazu kam der Duft von frischem Gras, das sie mit der Sichel schnitten, um es den Kaninchen zu verfüttern. Der Wohlgeruch – ein anderes Wort gibt es nicht – hing in ihren Haaren und in ihren Kleidern und wenn sie sich bewegten, verbreiteten sie ihn in ihrer Umgebung.

Ich, der ich unbekümmert und fest in meinen Mantel gepackt dastand, sah vermutlich danach aus, als würde ich gleich fragen: »Wissen Sie zufällig, ob der Zug nach Céreste Verspätung hat?« Dabei war ich fest entschlossen, den Abstand zu wahren. Es würde bestimmt noch eine gute Stunde dauern, bis sich der letzte Stammgast loseisen und Marcel von der Tankstelle her rufen würde:

»Komm herüber, Modeste, die Suppe ist heiß!«

Bis dahin würden mir für meinen Seelenfrieden der Gruß der hohen Bäume und die Betrachtung der Vergangenheit hinreichen. Also begnügte ich mich damit, höflich meinen Hut zu lüften, wie ich es immer tue, und sie zu fragen:

»Darf ich?«

Sie sagte weder ja noch nein und drehte sich auch kaum zu mir hin. Fügsam versuchte sie sich noch ein wenig kleiner zu machen und rutschte auf den Holzschwellen noch ein wenig weiter zur Seite. Ich wickelte mir den Mantel noch enger um den Hintern und versuchte meinerseits nur ganz wenig Platz einzunehmen, was bei mir verlorene Liebesmühe ist. Normalerweise vergesse ich, dass ich viel Platz brauche, aber wenn ich mich auf eine Bank setze, werde ich mir dessen immer wieder schmerzlich bewusst. Das Gefühl war an jenem Abend noch deutlicher als sonst. Mir war, als würde mein Gewicht allein auf den schief liegenden Holzschwellen lasten, ebenso als würde nur ich sie auf ihrem wackligen Fundament erschüttern, wenn ich die Position wechselte. Allerdings war die Alte auch nicht sehr üppig und vermutlich drückte sie die Bank nur mit halbem Hintern.

Wie es sich für zwei Reisende gehört, die sich nicht kennen, blickten wir geradeaus. Allerdings genügte das auch. Vor dem dunklen Hintergrund des Lure-Gebirges war da jenseits der hohen Bäume das ganze Hinterland von Forcalquier, das der Nacht entgegensah. Wenn im November solche Landschaften auf die Nacht warten, müsste schon eine Katastrophe hereinbrechen, um die Leute daran zu hindern, in ihren Küchen bei Frau und Kind unter der Lampe Zuflucht zu suchen. Und Leute wie ich, die sich einen solchen Hafen des Friedens versagt haben, weil sie nicht unter den unvermeidlichen Trennungen leiden wollen, können nur im Schwindelerregenden noch Trost suchen: Beim Großen Bären, der seinen Wagen rückwärts auf den Höhen des Lure-Gebirges in Stellung bringt, beim Wind in den Platanen eines ausgestorbenen Bahnhofs, in der Gesellschaft einer Alten, die vermutlich eine Familie hat und die den so beruhigenden Duft einer Frau vom Lande verströmt. Aber warum nur widerstand sie dem Ruf des Zuhause, warum blieb sie auf dieser Bank sitzen? Wer war bei ihr daheim damit beschäftigt, die Suppe auf den Küchentisch zu stellen, unter die Lampe, die den Dampf von den Tellern einfangen würde?

Ein unwiderstehliches Bedürfnis, all dies zu erfahren, wollte mich gerade aus meiner höflichen Reserve locken, da vernahm ich von ihrer Seite die Worte:

»Kann ich einen Augenblick mit Ihnen sprechen?«

Sie hatte leise und schnell gesprochen. Aber es war kein Flüstern gewesen. Die Stimme war vielmehr klangvoll und trotz des Winds im Geäst vernahm ich jedes Wort ganz deutlich. Aber ich hatte das sonderbare Gefühl, ich sei der Einzige, der imstande war, sie zu hören: Wäre jetzt jemand genauso herangeschlendert, wie ich es getan hatte, bevor ich mich gesetzt hatte, er hätte, einen Blick auf seine Uhr werfend, die Worte der Alten nicht hören können. Zwischen ihrem blassen Mund und meinem Ohr war eine Schallbrücke, die nicht für andere galt. Hatte sie mir diese Frage überhaupt gestellt? Als ich mich ihr zuwandte, um ihr zu antworten, sah ich ihr Gesicht noch immer im Profil und ihre untätigen Hände hatten sich nicht von ihrem Korb gerührt.

Die Feierlichkeit einer Begegnung will man nie sofort einsehen. Der Fremde, egal, wer er ist, ist uns immer so unbequem, dass zunächst einmal die Verachtung stärker ist. Man ist auch von Panik ergriffen, wenn eine Unbekannte einen anspricht. Stets versucht man, das Ereignis zu verharmlosen, ihm die Wirkung zu nehmen, einfach weil man verschüchtert ist und vor dem kleinen Wunder, das da geschehen ist, im Grunde Angst hat. Solche Dinge habe ich im Laufe des Lebens kapiert und im Laufe ebendieses Lebens ist mir klar geworden, wie in einer x-beliebigen Begegnung das erste Wort letztendlich wundersam ist.

Also antwortete ich mit der Intonation, der Höflichkeit, der freundlichen Ironie, die mir, wie ich es gerade angedeutet habe, die Angst zu nehmen vermochten. Ich antwortete:

»Sie können.« Und um ihr so weit wie möglich über die Befangenheit hinwegzuhelfen, fügte ich hinzu: »Offenbar mögen Sie Bänke auf Bahnhöfen?«

»Ich mag diese Bank auf diesem Bahnhof«, betonte sie.

Dann legte sie eine Pause ein, weil wir von einem ganzen Schwarm von dürren Blättern überfallen wurden. Einen Moment waren unsere beiden Gestalten wie eingehüllt, während die Platanen am Bahnsteig sich alle in die gleiche Richtung neigten. Alles, was sie mir danach mit sonderbar gepresster Stimme sagte, ohne je diese merkwürdige Reglosigkeit aufzugeben, sagte sie dem Rauschen des Windes zum Trotz, gegen den Ansturm des Laubs, das so metallisch raschelte, als sei ein Gefecht unsichtbarer Degen im Gange.

»Ich war«, sprach sie, »ein Mädchen aus der Gegend, eines von vielen und nichts Besonderes. Meine Eltern hatten einen so kleinen und so armseligen Bauernhof, dass mein Vater sich als Hilfsarbeiter im Bergwerk von Bois-d’Asson verdingt hatte, bei den Sortierern. Ich hab ihm mittags immer das Essen gebracht, weil meine Mutter Wert darauf legte, dass er warm isst. Jeden Tag nahm ich mit meinem Körbchen den schmalen Weg mit den vielen Brennnesseln, der auf der Seite des Flügelsignals den Schienen entlangführt, und im Vorbeigehen sah ich die Rangierleute und die haben mich natürlich auch gesehen und haben mich gegrüßt. Aber vor allem – meistens – redeten sie untereinander und lachten und zeigten auf mich, während ich da auf Zehenspitzen entlangmarschierte, um die Brennnesseln zu meiden. Denken Sie mal: Ich war sechzehn! Schon lange dachte ich an die Männer. Und schon seit einiger Zeit sah mich meine Mutter schief an, wenn sie ihr Brot in die Suppe tunkte. Eines Abends, sie räumte gerade den Tisch ab, hat sie plötzlich auf mich gedeutet und zu meinem Vater gesagt:

›Die da, die ist ein echtes Dummerchen. Wir müssen sie unter die Haube bringen, sonst schleppt sie uns eines Tages noch ein Kind an, von dem sie nicht einmal weiß, wer es ihr angedreht hat, und wir, wir wissen nicht, womit wir es großziehen sollen.‹

›So? Glaubst du?‹

Da schaut er mich an. Und meine drei Brüder schauen mich an, als ob ich das Problemkind schon im Bauch hätte und als wollten sie mich gleich in diesen Bauch treten, damit ich es wieder loswerde, bevor es überhaupt das Licht der Welt erblickt. So war das bei uns mit der Liebe: Wir waren drei zu viel. Sie haben nicht gewusst, die Eltern, wie man es anstellen soll, um zu verhindern, dass wir zur Welt kommen. Noch eins mehr, davor hatten sie schon immer Angst.

›Du könntest ja mal deinen Hintern bewegen und schaun, ob du ihr einen findest‹, sagte meine Mutter. ›Kennst du niemand?‹

Daraufhin klappt mein Vater gemächlich sein Taschenmesser zusammen und steckt es ein.

›Na ja‹, sagt er, ›ich tät schon einen kennen, aber der ist fast genauso einfältig wie sie. Er erzählt mir dauernd von ihr. Wenn er ihren Namen ausspricht, wird er so rot wie das Bahnsignal.‹

Madeleine hab ich damals geheißen«, fügte die Alte hinzu und sprach weiter.

»›Na dann los!‹, sagte meine Mutter. ›Sprich mit ihm und vor allem sag ihm, dass wir nix haben und dass es auf sein Risiko geht. Was macht er denn, der Stenz? Arbeitet er im Bergwerk?‹

›Nein, er ist bei den Rangierern, bei der Eisenbahn. Ich glaub er ist Vorarbeiter.‹

Und so wurde ich mit sechzehn verheiratet, einfach so, ohne Sinn und Verstand. Der lange Chiousse war achtundzwanzig Jahre alt. Er hatte noch nie eine Frau angerührt, das hat er mir zumindest am ersten Abend gesagt und ich habe auch von vornherein keinen Grund gehabt, daran zu zweifeln. Meiner Mutter habe ich gesagt:

›Er ist achtundzwanzig und ich sechzehn, glaubst du, das kann gut gehen?‹

›Achtundzwanzig, fünfzig oder zwanzig, das ist ganz egal. Weißt du, die Männer … Ob es der eine ist oder der andere … Am Ende ist es sowieso immer das Gleiche. Du wirst schon sehen: Du hast schnell die Nase voll.‹

Glauben Sie, dass man sich bei solchen Worten irgendetwas erhoffen kann? Glauben Sie, dass es richtig war, mich mit der Auskunft zufrieden zu geben? Was meinen Sie, Sie leben doch in diesem Jahrhundert?«

Vielleicht hätte ich tatsächlich eine Meinung gehabt und vielleicht hätte ich sie ihr sogar mitgeteilt, wenn sie noch jene sechzehnjährige Madeleine gewesen wäre, die sie eben erwähnt hatte. Aber was soll man einer Blume sagen, wenn nichts mehr von ihr übrig ist, nicht einmal ihre welken Blütenblätter? Was soll man sagen, wenn das grüne Gras längst zu Heu geworden ist? Ich betrachtete ihr Gerippe, das sogar durch die vielen Unterröcke hervorstach und ich schielte auf meinen dicken Bauch herab. Weder sie noch ich hatten noch irgendeine Meinung zu äußern über jene Fragen, die die Welt so sehr beschäftigen.

Und im Übrigen erwartete sie von mir auch keine Antwort, sie erhoffte sich keine Lösung, die ihr ohnehin nicht weitergeholfen hätte. Hastig, als wäre ihre Zeit knapp bemessen, fuhr sie mit ihrer eintönigen Stimme fort:

»Dieser Chiousse hatte große Plattfüße und einen ebenso platten Verstand. Nach zwei Nächten wusste ich alles, was er wusste, und seine Phantasie war bereits zu Ende. Zumal meine Mutter mir geraten hatte, laut zu schreien, was ich auch getan habe und seitdem regte sich mein Chiousse nicht mehr und verbrachte den Rest der Nacht in Habachtstellung am oberen Ende vom Bett. Und am Tag war er zufrieden, wenn er gegessen hatte und sagte:

›Siehst du, Kleine, wenn man ein Dach über dem Kopf hat, wo’s nicht reinregnet, und jeden Abend eine warme Suppe im Bauch, dann muss man schon dankbar sein. Alles andere ist überflüssiger Luxus.‹

›Und die Kleider?‹, fragte ich. ›Denkst du auch manchmal an die Kleider? Ich trage seit drei Jahren dasselbe Kleid. Es dauert nicht mehr lange und es ist durchsichtig, so abgetragen ist es.‹

Er befühlte es, dieses Kleid und sagte:

›Ach was! Es ist noch wie neu, dieses Kleid! Was hast du denn daran auszusetzen? Lass es färben, dann sieht es anders aus.‹

Ich hatte tatsächlich nur sein Dach, um darunter Schutz zu finden. Meine Mutter wohnte ganz in der Nähe und wenn ich sie besuchte, brauchte ich sie nur anzusehen, dann wusste ich, dass sie mich gleich zum Teufel geschickt hätte, wenn ich mich beklagt hätte. Es stand ihr ins Gesicht geschrieben. Sie wissen schon: ›Komm ja nicht auf die Idee, mich um fünf Franc anzubetteln, ich hab sie nicht!‹ Mit ihr war der Austausch eher so: ›Geht’s dir gut? Ich küss dich nicht, weil ich einen fürchterlichen Schnupfen habe. Na, wo du doch grad schon da bist, meine Liebe, hilf mir doch diesen Korb Wäsche zur Leine zu tragen!‹ Wer wäre schon auf die Idee gekommen, mir, dem mageren Gestell, die Hand auf die Schulter zu legen und mir zu sagen, dass ich Mitleid verdiene?«

Ich hörte diesem Klagelied nicht sehr aufmerksam zu, sagte Laviolette. Andere zu bemitleiden ist noch nie meine Stärke gewesen, ich bin nicht gut im Trösten – aber ich beobachtete, dass die Hände der Alten sich nicht rührten, dass sie mir ihr Gesicht, während sie mit dieser seltsamen Stimme zu mir sprach, nicht zuwandte. Immerhin, ich hörte zu.

»Hier saß ich, hier auf dieser Bank, als ich ihn zum ersten Mal sah und hier versuche ich, ihn mir immer wieder vorzustellen. Ich möchte mir endlich darüber klar werden, ob ich ihn denn wirklich so sehr liebte. Es war ungefähr zu dieser Stunde, es war ungefähr zu dieser Jahreszeit. Aber es wehte kein Wind. Stattdessen grummelte über dem Lure-Gebirge, von Lardiers bis Cruis, ein Gewitter und die Nacht brach doppelt so schnell wie sonst herein. Das erkläre ich Ihnen, weil ich Ihnen damit sagen will, dass ich seine Laterne gesehen habe, lange bevor ich ihn selbst sah. Er schwenkte sie, diese Laterne. Es war gerade ein Güterzug vorbeigefahren, beladen mit Steinen. Große, schwere Güterwagen. Mein Mann sagte, man müsse sehr vorsichtig sein, wenn man sie ankuppelt, sie seien viel, viel tückischer als die anderen, wegen der Drehgestelle, erklärte er.«

Und als sie diese Worte aussprach, wandte sich die Alte erstmals ganz langsam und mit dem ganzen Körper zu mir: Der Oberkörper, der Schließkorb, sogar die Füße hatten sich bewegt, aber ihre inbrünstige Aufmerksamkeit galt nicht mir. Der Blick glitt über meine massige Gestalt hinweg, suchte weit hinter mir, dort, wo nichts und niemand war, einen fernen Punkt, weit jenseits von allem, was sichtbar war.

»Und dann habe ich ihn gesehen, wie er aus dem Schatten trat. Ihn. Wie soll ich Ihnen das erklären?«

Mir schien, fügte Laviolette hinzu, dass sie die Hände zusammenschlug, als sie dieses »Ihn« aussprach, wie man es vermutlich tut angesichts eines unverhofft Eintretenden, einer Erscheinung, auf die man lange gewartet hat, ohne daran zu glauben.

»Aber bevor ich ihn gesehen habe, das muss ich Ihnen sagen, Monsieur, habe ich zunächst seine Laterne gesehen! Wo ich nun schon dabei bin, erlauben Sie, dass ich ein wenig aushole, was diese Laterne betrifft? Es war eine Signallaterne mit einem roten Glas auf der einen Seite und einem grünen auf der anderen. Dadurch wurde ein Mann gespart. Um der Lokomotive zu signalisieren, entweder dass das Gleis frei war oder dass es nicht frei war, brauchte man die Laterne nur umzudrehen. Die Idee stammte vom Sohn eines hohen Tiers bei der Eisenbahn, also hat es keine drei Monate gedauert, dann gab es zwei oder drei von der Sorte in jedem Bahnhof. Diese Laterne nannte man die 135, weil es davor hundertvierunddreißig andere Modelle gegeben hatte. Bis dahin hatte man zwei gebraucht, zwei Laternen: Eine rote und eine grüne, damit man einen Augenblick nachdenken konnte, wenn man sie wechseln musste. Und noch früher war ein Mann pro Laterne zuständig gewesen, wegen der Sicherheit.«

Aber während sie sprach, sagte Laviolette, muss wohl der Schatten dieser Signallaterne an uns vorbeigezogen sein, denn die Alte, die ihre Aufmerksamkeit so leidenschaftlich dem Ende des Bahnhsteigs zuwandte, drehte sich buchstäblich um ihre eigene Achse, ganz langsam, vermutlich im Tempo der Vision, die sich vor ihr abspielte. Zum Schluss drehte sie mir regelrecht den Rücken zu und sagte:

»Diese Laterne habe ich von dort hinten, von Gleis eins, Richtung Volx, kommen sehen. Und dann habe ich allmählich auch den Mann gesehen, der diese Laterne trug. Und dann, je mehr er aus dem Schatten trat, je mehr ich mich an ihm sattsehen konnte, desto mehr habe ich mich in ihn verliebt, ich bin buchstäblich vor ihm zerflossen; wenn ich mich getraut hätte, wenn ich gekonnt hätte, ich hätte die Hände vor ihm gefaltet. O mein Gott! Wenn Sie seinen Schnurrbart gesehen hätten, es wäre Ihnen nicht anders ergangen: Sie hätten ihn angebetet.«

Man glaubt immer, sagte Laviolette, dass Leichtsinn die Eigenschaft der Jugend sei. Das liegt daran, dass der Neunzigjährige, der einem seine Geschichte erzählt, es so tut, als sei es die Geschichte eines anderen. In Wirklichkeit aber hat sich nur sein Aussehen verändert. In seinem Innern ist er nach wie vor der anmaßende Halbwüchsige, dem es an Urteilsfähigkeit mangelt, nur dass er ihn eben als jemanden beschreibt, der ihm völlig fremd ist. Die Frau, die da zu mir sprach, war noch immer oberflächlich, leichtsinnig und frivol, auch wenn das Leben ihr heftig zugesetzt hatte; sie war versteinert, reglos, wie von der Hölle erschlagen, aber nichtsdestotrotz blieb sie flatterhaft wie ein Schmetterling. In diesem Augenblick sagte sie:

»Wenn man liebt, ist man anziehend. Und der da, der ebenfalls Rangierer war, das war ein Spanier, er hieß Manuel und so viel brauchte er gar nicht, um sich angezogen zu fühlen. Vor allem war ich ja gerade erst sechzehn, mein Bauch war damals so flach wie mein Hintern gewölbt. Und jedes Mal – hören Sie? Jedes Mal! – wenn dieser Manuel an mir vorbeiging, überkam mich zwischen den Rippen und dem Bauchnabel jenes Gefühl von Leere, das man empfindet, wenn man auf einer Schaukel sitzt und ganz oben angekommen ist, in der Sekunde bevor man wieder nach unten saust. Drück ich mich verständlich aus? Eines Abends, ich erinnere mich, hatte ich gerade einen Korb Wäsche zum Waschhaus dort drüben an der Serve gebracht. Das gibt es immer noch, aber das Becken ist mit Brennnesseln zugewachsen. Damals haben wir uns das Waschhaus geteilt mit den Mädchen der Bergwerkssiedlung, einen Tag wir, einen Tag sie. Da war also ich an der Reihe und ich hatte diesen Korb soeben ausgekippt, um die Wäsche zum Einweichen ins Wasser zu legen und da drehe ich mich um und sehe ihn. Dabei war ich im Schatten. Dieses Waschhaus ist eine wahre Gruft. Im Grunde habe ich mein ganzes Leben im Schatten verbracht. Er war plötzlich die kleine Böschung heruntergesprungen. Wahrscheinlich hatte er mir hinten im Gewölbe aufgelauert. Und ich, ich hatte schon beim Anblick seines Schnurrbarts Lust, ihm den Hosengürtel zu öffnen, ich war plötzlich ganz kraftlos zwischen den Schenkeln – ach! das können Sie nicht verstehen, Sie sind ja nur ein Mann! –, ein Gefühl, wie wenn man einen Krampf im Arm hat, weil man sich zu lange darauf gestützt hat. Und dann sagt er mir:

›Da! Nimm das!‹

Und da sehe ich, dass er ein Päckchen in der Hand hat, hübsch eingewickelt in schönes weißes Papier; er wirft es mir zu, und um zu verhindern, dass es auf den Boden fällt, strecke ich ganz automatisch die Hände aus, aber gleichzeitig antworte ich:

›Sagen Sie mal! Sie haben sie wohl nicht alle? Was ist denn in Sie gefahren? Und was soll das, dieses Päckchen?‹

›Es ist ein Kleid‹, antwortet er mir. ›Ich habe ein paar Überstunden gemacht im Bergwerk, um es dir zu kaufen. Ich hab’s auf dem Jahrmarkt in Manosque erstanden. Vielleicht ist es ein bisschen weit, aber so sehe ich Sie halt.‹

Ja, zuerst hat er zu mir ›du‹ gesagt und danach ›Sie‹. Mir war klar, dass ich ihm den Kopf verdreht hatte. Für mich, die kleine Wäscherin mit den schrundigen Händen, war er, der letzte Hilfsarbeiter im Verschiebebahnhof, der Märchenprinz, von dem so oft geredet wird.

›Das haben Sie ja fein gemacht!‹, hab ich ihm gesagt. ›Bei all den Tratschweibern, die Sie vermutlich gesehen haben, wie Sie ins Waschhaus gesprungen sind, bin ich jetzt ganz schön angeschwärzt! Wofür werden die mich denn halten?‹

Wenn man über solche Dinge auch noch zu reden anfängt, dann steckt man schon drin im Schlamassel. Und ich, ich steckte bei jedem Wort noch etwas tiefer drin. Trotzdem halte ich ihm das Päckchen hin, ziemlich herrisch.

›Nehmen Sie das zurück!‹, sag ich ihm. ›Ich brauch kein Kleid und ich bin ein anständiges Mädchen.‹

›Wer verlangt von Ihnen das Gegenteil?‹

›Sie mit Ihrem verdammten Kleid! Wer hat Ihnen überhaupt gesagt, dass ich nur eines besitze?‹

›Chiousse! Er hat uns die Geschichte erzählt, beim Rangieren! Er hat uns erzählt, dass er Ihnen gesagt hat, Sie sollen es färben lassen.‹

Seitdem er mich nicht mehr ganz so einfach rumzukriegen fand, sagte er zu mir nun endgültig ›Sie‹.

›Ja und?‹, sag ich ihm dann. ›Wie glauben Sie, wie soll ich dieses Kleid in seiner Gegenwart tragen? Glauben Sie denn, dass er es nicht merkt?‹

›Er wird glauben, dass Sie es zum Färben gebracht haben. Er weiß ja nicht einmal, was Sie jetzt für ein Kleid tragen! Er schaut Sie sowieso nie an.‹

›Nun gut‹, sag ich, ›ich will ja gern zugeben, dass meine Ehe kein Traum ist, aber meinen Mann betrügen, das schlagen Sie sich gefälligst aus dem Kopf.‹

›Und wenn Sie Witwe wären?‹, fragt er mich.

›Oh! Keine Gefahr! Paulin ist stark wie ein Tier und mit einer bösartigen Magenverstimmung brauchen Sie auch nicht zu rechnen, bei dem, was der isst und trinkt! Damit könnte man kaum eine Amsel satt kriegen! Er gönnt sich nichts. Er spart, um ein Haus zu bauen. Deshalb habe ich nur ein Kleid. Bei seiner Konstitution wird er hundert Jahre alt. Darauf können Sie Gift nehmen!‹

Ich glaube, als ich das sagte, habe ich geseufzt und dieser Seufzer war genau so, nicht lauter und nicht tiefer, wie der, den ich jetzt von mir gebe, wie alle Seufzer, die ich bis in alle Ewigkeit von mir geben werde. Wahrscheinlich war es dieser Seufzer, der mein Schicksal besiegelte.

Wir standen einander gegenüber wie zwei Verzückte, zwei Einfaltspinsel, zwei Gipsfiguren und schauten uns in die Augen. Denn, das muss ich Ihnen sagen, Monsieur: Damals, wenn eine verheiratete Frau und ein spanischer Hilfsarbeiter gerade anfingen, sich gegenseitig zu gefallen, kam es nicht in Frage, dass sie sich küssen, nicht einmal in der hintersten Ecke eines düsteren Waschhauses.

›Wenn ich eines Tages komme und Ihnen sage‹, und er sprach so leise, dass ich seine Worte hinter dem atemberaubenden Schnurrbart kaum erahnen konnte, ›wenn ich Ihnen sage: Er ist tot! – nehmen Sie mich dann?‹

›Sie haben wohl nicht alle Tassen im Schrank? Und unter welchem Dach soll ich dann leben, hm?‹

›Unter meinem‹, rief er. ›Auch ich bin fähig, ein Haus zu bauen.‹

Soviel auf einmal war mir im Leben noch nicht passiert! Da hab ich ihm gesagt: ›Lassen Sie mich vorbei!‹ Und ich bin davongelaufen mit meinem Waschkorb unterm Arm. Aber dann, unterwegs zwischen dem Waschhaus und dem Haus vom Bergwerk, das Chiousse gemietet hatte, da wusste ich nicht mehr, wo mir der Kopf steht vor Glück. Wenn es jemand gegeben hätte, dem ich es hätte anvertrauen können, ich wäre losgerannt: ›Du ahnst nicht, was mir gerade passiert ist!‹, hätte ich gesagt. Was mir passiert war, das war die Liebe! Ich wagte es kaum, an das Wort zu denken. Auch wenn der Abend so düster war wie heute, für mich strahlte er wie der Himmel im Sommer. Das Glück, Monsieur! Zum ersten Mal in meinem Leben fühlte ich mich glücklich!

Es vergingen … sagen wir sechs Monate, aber ansonsten erinnere ich mich, als wäre es gestern gewesen. Es war eine Nacht, wie sie hierzulande nur selten vorkommt. Der kleine Fluss, der zweihundert Meter entfernt vom Haus vorbeifloss, führte ungeheuer viel Wasser und das mit dem Dauergeräusch von einem Balken, der in der Mitte durchbricht. Ein Getöse, das man höchstens viermal in einem Jahrhundert zu hören bekommt. Einen Höllenradau machte der Fluss. Einen Lärm, den ich nicht mehr aus dem Ohr kriege seitdem, damals aber pfiff gleichzeitig ein Wind so heftig wie der Mistral, obwohl er von Osten kam. Er peitschte sämtliche Bäume, die Espen, das Weidengebüsch. Auch dieser Wind weht so gut wie nie. Cisampe nennt man den bei uns. Und da regnete es auch noch an diesem Abend und wegen diesem Wind klatschte der Regen gegen die Mauern. Ich war rausgegangen, um einen Eimer Kohle unter das Vordach zu zerren und da hat es mich angepeitscht, ich war nass von Kopf bis Fuß. Die Gartentür wollte gar nicht wieder zugehen, zweimal musste ich mich dagegen stemmen. Und draußen, unter der Straßenlaterne an der Kreuzung von Saint-Maime, sah man den wabernden Nebel, den die Nacht ausspuckte.

Unser Haus ging nach Norden, wie alle Arme-Leute-Häuser. Von der Türschwelle aus hätte ich eigentlich die Lichter von Forcalquier sehen müssen, wenn das Wetter normal gewesen wäre, oder zumindest die von Mane, schlimmstenfalls die von Dauphin auf dem Hügel, der nicht einmal einen Kilometer entfernt liegt. Nein. Nichts. Alles absolut finster. Ich ging fröstelnd ins Haus zurück. Es war eine Nacht, wie soll ich Ihnen das beschreiben? Ja doch, den Ausdruck hab ich seitdem gelernt: eine Nacht, die die Verzweiflung der Welt hinausbrüllte.

Ich fühlte mich zwar nicht sehr wohl in meiner Haut, aber das berührte meinen Seelenfrieden nicht. Fast hätte ich mir bei diesem Unwetter das Motto von Chiousse zu Eigen gemacht: ›Wenn man ein Dach über dem Kopf hat und eine warme Suppe im Bauch!‹

Nun war er an diesem Abend ganz fröhlich und vor sich hinpfeifend zur Arbeit gegangen. Er hatte gerade seine kleine Buchführung gemacht und zusammengezählt, was er an Rücklagen hatte. Er hatte sogar die paar Louisdor hervorgeholt, die ihm seine Großmutter hinterlassen hatte.

›Beinah schon geritzt! Die Sache läuft!‹, hatte er gesagt. ›Mit dem neuen Gesetz zur Eigenheimförderung kann ich nächstes Jahr bauen!‹

Er machte Schichtarbeit in jener Woche, der Chiousse. Er war um vier zum Dienst gegangen und ich erwartete ihn gegen Mitternacht, um ihm seine Suppe zu servieren. Damals gab es jede Nacht gegen elf einen Rangiervorgang für den Gütereilverkehr. Das fiel zusammen mit dem Personenzug Digne–Apt, der hier immer die restlichen Postsäcke für Forcalquier zurückließ. Es war der einzige Moment am Tag, wo sie beim Rangieren ein wenig überfordert waren – sie waren zu viert – und wo der Bahnhofsvorsteher ein wenig mehr als sonst mithelfen musste. Ich erzähle Ihnen das alles so genau, Monsieur, damit Sie die Geschichte auch richtig verstehen. Deshalb auch der Fluss und deshalb auch das Wetter.

Bauen! dachte ich. Ich war ruhig, ich war hochzufrieden. Das, was mich zwischen den Schenkeln sonst so heftig plagte, das spielte fast keine Rolle mehr. Ich war, glaube ich, nicht mehr weit entfernt von einem heiteren Sichdreinfinden. Ich dachte mir: Was soll’s? Vergiss es einfach. Eines Tages bist du alt, dann interessiert es dich sowieso nicht mehr. Ein Dach über dem Kopf, eine warme Suppe, ein gemütlicher Ofen. Bei dem ganzen Elend in der Welt, überall um dich herum, was willst du mehr? Du hast dann ein eigenes Haus. Was willst du mehr?

Ich erinnere mich, o doch, ich erinnere mich sehr genau. Man hat es mir oft genug wiederholt. Gerade hatte das Pfeifen des Personenzugs den Sturm übertönt. Egal, wie stark der Sturm war, der Zug pfiff immer noch lauter. Er pfiff, wenn er aus dem Durchbruch kam, direkt nach dem Tunnel von Roche-Amère. Wenn Chiousse zu Hause war, war er immer stolz darauf, dass er den Dienst habenden Lokomotivführer an der Art und Weise erkannte, wie er den Dampf rausließ. ›Heute ist der Marcel Isnard im Führerstand!‹ Er lachte: ›Sicher hat er sich wieder mit seiner Lucienne gestritten. Normalerweise pfeift er nicht so lange.‹ Na ja, oder so ähnlich halt …

Es vergingen gut fünf Minuten. Ich saß ganz friedlich da mit meiner Stopfkugel und flickte ein paar ziemlich durchgelaufene Socken. Dafür war ich bekannt. Sogar meine Mutter, die nicht gerade ausgiebig lobte, machte mir Komplimente. Und da hörte ich, fünf Minuten später vielleicht, den Personenzug zum zweiten Mal pfeifen. Das war ein Notsignal. Ein Pfeifen wie ein Hilfeschrei. Ein Pfeifen – wie soll ich es beschreiben, dass Sie es auch richtig verstehen? –, ein Pfeifen der Verblüffung, jawohl!

Nie pfiff der Personenzug mehr als einmal. Er tat es, wenn er aus dem Tunnel kam, um die Bergleute zu warnen, die mit dem Fahrrad das Gleis überquerten, um zur Schicht einzurücken.

Bei diesem Pfeifen bin ich sofort aufgefahren, ich stand da wie gebannt mit meinen Socken, meiner Stopfkugel, meinem Wollfaden zwischen den Lippen, den ich gerade ins Nadelöhr einfädeln wollte. Und gleich danach habe ich die Bremsklötze auf den Rädern gehört und zwar lange, lange, das war noch schriller als das Pfeifen, und auch dieses Geräusch übertönte den Sturm. Und dann nichts mehr. Nur noch der Lärm des Flusses, das Gejaule des Winds in den Stromleitungen. Und dann war ein Gewitter im Anzug, leise noch, dort drüben, unter dem Lure-Gebirge, vom Laye-Tälchen her.

Langsam, ganz langsam habe ich mich wieder auf meinen Stuhl gesetzt, den Oberkörper steif aufgerichtet, noch immer hatte ich den Wollfaden zwischen den Lippen und da bin ich wohl, ich weiß nicht wie lange, sitzen geblieben und habe den Atem angehalten …

Diese Dinge erzähle ich Ihnen sehr ausführlich, weil ich es mir bis in alle Ewigkeit immer wieder erzähle, jede Einzelheit und wenn ich fertig bin, fange ich von vorne an, wie die Litanei der Nonnen im Paulanerinnen-Kloster, wenn sie sich die ganze Nacht über auf die Brust klopfen.

Ich sitze also da. Die Suppe steht auf dem Herd, ich hab sie so weit wie möglich von der Feuerstelle weggestellt, damit sie nicht so dick wird. Fast, ja fast war ich glücklich, einfach weil ich in Sicherheit war, vor den Sturmböen geschützt, die immer noch zwischen den Espen an der Largue und den Weiden der Laye tobten.

Und in diesem Moment, Monsieur, habe ich mein Westminster-Ührchen läuten hören, diese Uhr war mein einziger Luxus. Ich wartete auf die vier Musiktöne und dann die zwölf Schläge von Mitternacht. Das war der Moment, wo Chiousse normalerweise, wenn er diese Schicht hatte, vor der Tür das Vorderrad seines Fahrrads anhob und eintrat, das Rad auf der Schulter, um es dann sorgfältig zwischen Wand und Herd unterzustellen. Das Ührchen wie gesagt läutet: Zweimal nur, statt viermal, wie ich es erwartet habe und gleich danach, wohltönend, zwei Schläge statt zwölf. Ich schau auf: Halb eins! Noch nie, kein einziges Mal, seit wir verheiratet waren, hatte sich der Chiousse nach der Arbeit verspätet und sei es nur um eine Minute. Er war ein solider Mensch, der weder rauchte noch trank, und zwischen dem Stellwerk und unserem Haus lagen nur sechshundert Meter.

Von da an habe ich dann gewartet, habe nichts mehr getan; mit fest zusammengepressten Beinen, die Füße auf der Verstrebung, saß ich auf meinem Stuhl, die Lippen trocken und ebenfalls zusammengepresst, denn den Wollfaden hatte ich noch immer nicht in die Nadel eingefädelt. Ich saß einfach nur da und wartete; zwischen mir und dem Rest der Welt grub der heulende Sturm einen immer tieferen Jammergraben. Und ich war eine Arbeiterfrau, die auf die böse Nachricht wartet. Mein Leben hatte sich zwischen Bergwerk und Eisenbahn abgespielt und solche Geschichten vom Warten hatte ich unzählige gehört seit meiner Kindheit, bei der Bäckerin oder beim Lebensmittelhändler, immer waren es Frauen mit hohlen Wangen, die sie erzählten und ich wusste, worum es ging. Meistens lösten sie sich übrigens in Wohlgefallen auf: ›Wie dumm, dass ich mir solche Sorgen gemacht habe! Er hat eben nur mal bei Spinelli Halt gemacht und ihm geholfen, das Holz reinzubringen!‹ Manchmal aber gab es kein gutes Ende und dann traf man die Witwe beim Lebensmittelhändler. Und monatelang, manchmal jahrelang sprach man nur noch mit verhaltener Stimme zu ihr, um an ihrem Unglück Anteil zu nehmen. So war das! Und jetzt war ich dran mit dem Warten.

Das Westminster-Ührchen hatte sein volles Geläut von sich gegeben und ein Uhr geschlagen, als sie kamen. Ich hätte sie unter allen Umständen kommen hören, denn ich wünschte es gewissermaßen herbei. Auch wenn die Largue noch so donnerte und die Weiden pfeifend das Wasser der Laye peitschten, ich hatte sie gehört, als sie noch mindestens zwanzig Meter vom Haus entfernt waren. Allerdings kamen sie ziemlich schlurfend. Chiousse hatte – aus schierer Eitelkeit – zehn Meter Kiesel auf den Weg gestreut, fein säuberlich ausgebreitet vor dem Gemüsegarten, damit es aussieht wie in einem Park. Er hatte behauptet: ›Damit man uns den Dreck nicht ins Haus trägt‹, aber ich wusste wohl, dass es einfach nur hübsch aussehen sollte.

Sie haben an die Tür geklopft, oh! ganz leise nur. Schüchtern fast. Das Klopfen hatte nichts gemein mit den schweren Schritten auf dem Kiesweg. Die Männer hatten sich gedrückt vor der Pflicht des Anklopfens. Und derjenige, der sich endlich dazu überwunden hatte, tat es ungern, in der Hoffnung, ich würde es nicht hören. Ich bin zur Tür gesprungen und hab sie weit geöffnet.

Sie waren zu dritt: Der Bahnhofsvorsteher, der seine Jacke zugeknöpft hatte, und zwei Männer von der Schicht, und alle drei hatten ihre Mützen abgenommen, als stünden sie vor einem Denkmal. Das Denkmal, das war ich, mit meinen knapp siebzehn Jahren und den dreiundfünfzig Kilo. Ich seh sie noch, ich werde sie nie vergessen und ich sehe alles andere auch, denn, Monsieur, da, wo wir, Sie und ich, inzwischen angekommen sind, laufen die Bilder nicht vor uns ab wie im Kino. Wir haben den grausamen Vorzug, die Taten unseres Lebens allesamt und gleichzeitig vor uns zu sehen. So dass die Zeit gar nicht mehr fortzuschreiten braucht. Sie bleibt reglos vor uns stehen. In Ewigkeit. Eine Minute ist die andere wert, alles einerlei.

Der Vorsteher sagt mir:

›Madeleine, jetzt müssen Sie sehr tapfer sein!‹

›Der Chiousse hat einen Unfall gehabt‹, sagt der eine von der Mannschaft.

Und der Lampenwärter fügt hinzu:

›Er ist tot!‹

Sie hatten sich wohl den Text aufgeteilt.

Wissen Sie, Monsieur, was sich im Herzen einer Frau abspielt, wenn Bestürzung, Mitleid, Entsetzen, Kummer und zugleich Liebe und Hoffnung aufeinander prallen? Ich hatte das Gefühl, dass meine Eingeweide vor meinen Füßen lagen, dass diese drei Männer ohne Mützen mich meiner Gedärme entledigt sahen – schlimmer, als wenn sie mich unter meinem Kleid nackt gesehen hätten.

Dann taucht meine Mutter auf. Offenbar war jemand zu ihr geschickt worden, um sie zu benachrichtigen. Sobald Leute in Sicht waren, kehrte meine Mutter die pflichtbewusste Frau an die Oberfläche. Sie kam mit der Essigflasche in der Hand, um mir damit die Stirn einzureiben, falls ich Anstalten machte, in Ohnmacht zu fallen. Aber ich fiel nicht in Ohnmacht. In meinem tiefsten Innern dachte ich nur: Manuel! Sobald die schreckliche Nachricht über die Lippen des Arbeiters gekommen war, hatte ich gedacht: Manuel! Oh! Glauben Sie nicht, dass mich das daran hinderte, verzweifelt zu sein. Ich war auf einem Stuhl zusammengebrochen und schrie und heulte wie eine Verdammte. Und ich zerbiss mein Taschentuch und sah niemanden um mich herum. Aber Gott hat uns eben nicht beigebracht, wie man in den schlimmsten Augenblicken des Kummers die Hoffnung zum Schweigen bringt. Ich dachte: Manuel! Und doch war mein Herz leer, und doch vergoss ich Tränen der Trauer und des Mitleids für meinen armen Mann. Aber da war nichts zu machen, die Verzweiflung überflutete mich und gleichzeitig dachte ich mit aller Kraft: Manuel! Und hauptsächlich deshalb bin ich heute hier, Monsieur.

Der Vorsteher, meine Mutter, die beiden Arbeiter, sie haben zugesehen, wie ich auf die Beine kam, schwankend wie ein Baum nach dem letzten Axthieb. Sie hatten schon die Arme vorgestreckt, um mich am Fallen zu hindern. Meine Mutter hatte den Wattebausch mit Essig schon vorbereitet. Der stechende Geruch war in der Luft.

Da hab ich dann das einzig Schickliche getan, was es zu tun gab: Ich bin zum Eingang gestürzt und hab geschrien, dass ich ihn sehen will. Zwischen der Tür und dem Fliegengitter haben sie mich eingeholt.

›Nein, Madame, nein, das geht nicht!‹, rief der Vorsteher.

Sie haben mich zu meinem Stuhl zurückgezerrt. Sie haben mich gezwungen, einen großen Schluck Karmelitergeist zu trinken. Und dann haben sie mir die Sache erzählt.

Mein armer Chiousse war Opfer seiner Gutmütigkeit geworden, wie immer. Es gab einen Pendelzug, der Schotterladungen anlieferte für die Aufschüttung des PK14, der immer abrutschte. Als dieser Zug pfiff, hatte Chiousse seinen Kameraden gesagt: ›Bleibt da, ich geh schon!‹, weil die gerade einen Imbiss nahmen, was er nie machte während der Arbeitszeit.

›Ach!‹, hat mir der Vorsteher gesagt. ›Das war nur eine Kleinigkeit! Es ging lediglich darum, zwei Schüttgutwagen anzuhängen. Dafür genügte ein Mann und der Lokführer. Nur … Sie wissen ja, dass es davor Schusterbuben regnete und dass da Nebelschwaden herumgeisterten, von denen keiner wusste, woher sie kamen, und da hatte man schnell die Orientierung verloren. Und der Chiousse, na ja, was ist da wohl passiert? Er hatte die Laterne ganz nach Vorschrift am Gleis stehen lassen, die rote Seite zur Lok hin und der Lokführer hat sie auch gesehen, trotz Wetter. Und plötzlich hat er gesehen – zumindest behauptet er, dass er es gesehen hat –, wie Chiousse am Gleis entlang zurückläuft und die Laterne schwenkt, mit der grünen Seite nach vorn … Das hieß also, dass der andere nicht mehr in der Kupplung war und dass er, der Lokführer, also schieben konnte. Na ja, das sagt er halt … Das hat er gesagt, aber jetzt ist er auch nicht mehr so sicher. Er steht noch immer dort, mit weichen Knien. Denn inzwischen hat er wohl einen Viertelliter Schnaps intus, denn wir hatten alle Mühe, ihn daran zu hindern, sich vor den Personenzug zu werfen, der ungefähr mit einer halben Stunde Verspätung abgefahren ist. Im Übrigen war es der Lokführer vom Personenzug, der Alarm geschlagen hat. Der ist knapp drei Minuten, nachdem das Gleis wieder freigegeben war, eingefahren und da hat er einen Mann zwischen den Schienen und dem Bahnsteig liegen sehen. In dem Moment fingen die Kameraden von der Schicht eben an, sich ein paar Sorgen zu machen, weil der Lokführer des Schottertransports in die Baracke gekommen war und sich wunderte, dass Chiousse nicht schon vor ihm da war.

›In null Komma nix‹, hat der Vorsteher gesagt, ›waren wir alle auf Gleis zwei, obwohl wir uns ungeheuer anstrengen mussten, um das Schloss zum Erste-Hilfe-Raum zu öffnen, der noch nie gebraucht worden war.

Aber es war so ein Zug aus lauter gemeinen Drehgestellwaggons‹, fuhr er fort und nickte bedächtig, ›wenn die Dinger aneinander gekuppelt sind, ist da kein Meter Abstand zwischen den Rädern vom einen Waggon zu denen vom nächsten. Man muss schon gelenkig sein, wenn sie still stehen. Da können Sie sich vorstellen, wie tückisch das ist, wenn sie in Bewegung sind. Das war es nämlich gewesen: Sechs Wagen haben ihn glatt überrollt. Als man ihn gefunden hat, war er zweigeteilt. Entschuldigen Sie, Madame! Verzeihen Sie! Das ist halt der Beruf! Das rutscht einem so heraus! Verzeihen Sie, Sie sind die Witwe!‹