Laviolette auf Trüffelsuche - Pierre Magnan - E-Book

Laviolette auf Trüffelsuche E-Book

Pierre Magnan

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Beschreibung

Große Kriminalliteratur aus der Provence von Pierre Magnan Commissaire Laviolette liebt Trüffel-Omelettes. Doch in den Eichenwäldern rund um Banon gedeihen nicht nur die köstlichen Trüffel, es treiben sich dort auch merkwürdige Gestalten herum. Als nacheinander fünf junge Leute verschwinden, ist es mit der Dorfidylle vorbei. Doch endgültig vergeht Laviolette der Appetit, als in einer Hotel-Kühltruhe die Leiche eines hinduistischen Brahmanen und in einer Kapelle auf dem Friedhof die fünf Vermissten tot aufgefunden werden. »Ein literarisch brillanter Außenseiter unter den französischen Krimiautoren!« Hamburger Abendblatt

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Pierre Magnan

Laviolette auf Trüffelsuche

Ein Kriminalroman aus der Provence

Aus dem Französischen von Irène Kuhn

FISCHER E-Books

Inhalt

Meinem Freund Maurice Chevaly [...]~ 1 ~~ 2 ~~ 3 ~~ 4 ~~ 5 ~~ 6 ~~ 7 ~~ 8 ~~ 9 ~~ 10 ~~ 11 ~~ 12 ~~ 13 ~~ 14 ~~ 15 ~~ 16 ~~ 17 ~~ 18 ~~ 19 ~~ 20 ~~ 21 ~~ 22 ~~ 23 ~~ 24 ~

Meinem Freund Maurice Chevaly

~ 1 ~

«NUN mach schon, Roseline! Noch eine! Los, grab mir noch eine aus!»

Einen Grashalm zwischen den Lippen, den Kopf in die Hand gestützt, lag Alyre Morelon auf der Seite und sprach schmeichelnd auf Roseline ein. Und mit ihrer Zunge, die nach frischer Trüffel duftete, leckte ihm Roseline zärtlich den Bart. Zugleich stieß sie kurze, zufriedene Grunzlaute aus.

«Na los, Roseline! Stell dich doch nicht so an! Nur noch eine! Du holst mir noch eine raus und dann gehen wir nach Hause!»

Doch Roseline ließ sich bitten. Sie versetzte ihm lauter kleine Stöße mit dem Kopf, die besagen sollten: «Nun komm schon! Lass uns heimgehen! Du hast genug für heute! Deine Augen sind größer als dein Magen!»

Alyre betrachtete seinen Korb und seufzte. Er enthielt kaum vier Kilo, und am Samstag wollte der Aufkäufer zehn von ihm haben.

«Du bist eine dicke, faule Sau!», sagte er. «Mit dir red ich nicht mehr!»

Und er drehte sich auf die andere Seite. Da seufzte Roseline ihrerseits, auf ihre Art. Sie schnüffelte ein wenig um den Baum herum. Es war, was eher selten vorkommt, mitten im Trüffelhain aus jungen Eichen, ein Mandelbaum mit spiralig gewundenem Stamm, der so aussah, als hätten ihn die muskulösen Hände einer Waschfrau ausgewrungen. In dieser Gegend der Voralpen findet man solche geheimnisvollen Stämme mit schraubenförmigen Rindenfalten, die um ihre Achse herum erstarrt sind und wie vom Himmel angesogen aufwärts wachsen. Die Trüffel ist launisch: Man glaubt, sie am Fuße eines schönen, jungen Baumes im fein säuberlich geharkten Boden zu finden, aber nein, sie erwartet einen unter dem struppigen Durcheinander eines knorrigen Wacholders oder unter einer zweihundert Jahre alten Eiche, wo man angeblich noch nie eine herausgeholt hat. Sie erwartet einen … Sie erwartet einen, wenn man eine Roseline zur Verfügung hat!

«Krrk!»

Das war der «Ruf». Ein unnachahmlicher Ruf. Eher wie ein heller Schnarrlaut. Mit einem Satz war Alyre über ihr, bückte sich und beförderte die Trüffel in den Korb. Bestimmt war sie fast fünfzig Gramm schwer.

«Ach, bist du ein braves Mädchen! So ein braves Mädchen! Ja doch, Madame, wirklich!»

Er kniete sich dicht neben sie, küsste die Sau zweimal auf ihre dicken, seidenweichen Backen, und Roseline war so froh, ihm den Gefallen getan zu haben, dass sie ihn mit einem kleinen Schwenk des Hinterteils umschubste; worauf sie beide eng umschlungen, lachend und grunzend, über diesen segensreichen krümeligen Boden rollten, der halb aus Luft und halb aus Erde bestand und der ihre Goldmine war.

«Du Luder, du! Pass doch ein bißchen auf, du zerdrückst mich ja!»

Er stand wieder auf und ergriff den Korb. Die Luft roch von weit her nach heißer Suppe. Es war Zeit. Duftschwaden kamen vom Dorf herab, die zur Rückkehr aufforderten.

Sie gingen hintereinander her und erreichten den Rand des Eichenwäldchens. Die weiße, wie ausgestorbene Straße führte aufwärts nach Banon.

«Warte, Roseline, ich will dir doch noch dein Halsband ummachen, wegen der Autos …»

In Wahrheit war dieses Halsband ein rosa Seidenbändchen, das einst um die große Schokoladenglocke gebunden gewesen war, die Alyre seinem damals achtjährigen Sohn geschenkt hatte. Und dieser Sohn liebte Roseline ebenso wie Alyre, verdiente sie ihm doch mindestens die Hälfte seines Studiums in Paris. Eines Tages hatte er das Seidenband, auf dem sich schon lange die Fliegen tummelten, vom Rahmen des Spiegels in seinem Zimmer abgenommen und zu seinem Vater gesagt: «Hier, das kannst du ihr um den Hals binden …, bis ich sie wiedersehe.»

Das Halsband, an dem eine schlichte Schnur befestigt war, gab es nur der Form halber, denn Roseline, die sich wahrscheinlich ihres Marktwertes bewusst war, wich niemals vom Straßenrand ab.

Niemals… Nun ja, seit dem letzten Sommer kam es doch zuweilen vor, dass sie plötzlich durch die Eichen brach oder geradewegs unter das Laubdach der Lorbeerbäume raste. Und ausgerechnet an diesem Abend …

«Roseline! Du bist verrückt! Was machst du denn?»

Sie hatte ihm gerade mit einem heftigen Ruck die Strippe aus den Händen gerissen. Sie floh in Richtung jenes Lorbeerdickichts, das im Abendwind wie flüssige Bronze schimmerte und dessen Zweige klirrten wie die Lanzen einer marschierenden Armee. Die Bäume waren 1956 erfroren. Einige hatten unten am Stamm neu ausgetrieben, die anderen von den abgestorbenen Asten aus. Alle diese Neutriebe ragten steif wie Reisigbesen gen Himmel, Spitze an Spitze, und schüttelten die Trauerschellen ihrer giftigen Früchte.

Alyre holte Roseline am Waldrand ein. Dort blieb er einen Moment lang stehen.

Wie jedes Mal, wenn er sich am Saum des Lorbeerwäldchens aufhielt, kam es ihm vor, als wäre die Luft mit irgendeiner neuen Merkwürdigkeit durchsetzt. Auch schien ihm, als sei tief im Gestrüpp ein großes, dunkles Auto versteckt. Was tat es dort, abseits jedes befahrenen Weges? Nun, wenn man an allem und jedem hätte Anstoß nehmen wollen …!

Sie gingen weiter, eines das andere ziehend und beide vor sich hin grummelnd. An der mit dürrem Gras bewachsenen Böschung, wo er sie abgestellt hatte, nahm Alyre seine Ausbeute wieder an sich. Um den unangenehmen Eindruck zu zerstreuen, der seinen Optimismus erschüttert hatte, hob er den Korb hoch, um tief den Duft einzuatmen. Seit über vierzig Jahren grub er Trüffeln aus und nie hatte er sich an diesem Aroma satt gerochen.

Die ersten Trüffeln des Jahres verkaufte er nie. Trotz des Protestgezeters von Francine verschloss er sie drei Tage lang zusammen mit sechs nestfrischen Eiern in einem luftdichten Gefäß. Durch die Poren der Eierschalen hindurch schwitzten die Trüffeln ihren Duft, der das Eiweiß und den Dotter durchdrang. Ein subtiler Austausch fand statt, Trüffel und Ei vereinigten sich zu einem neuen, wie eigens geschaffenen Naturwesen. Es war ein Fest des Wohlgeruchs und Wohlgeschmacks, wenn an einem stürmischen Abend das noch nicht ganz gare Omelett auf dem Tisch erschien, während der gemütlich bullernde Herd einem den Rücken wärmte.

Jetzt trottete Roseline am Straßenrand durch den Staub dieses trockenen Spätherbstes.

Roseline war die einzige Sau in der ganzen Gegend, der das Glück widerfahren würde, an Altersschwäche zu sterben. Niemals würden ihre mächtigen Schenkel mit Salz eingerieben werden, um den Salpeter aufzunehmen und zu Schinken zu werden. Niemals würde ihr Speck zu Grieben ausgelassen werden. Roseline war eines jener äußerst seltenen Schweine, die die Trüffeln ausgraben, ohne sie zu fressen, außer natürlich, wenn man ihnen eine zur Belohnung gibt. Wobei man es allerdings nicht übertreiben darf, will man nicht ihren Spürsinn zerstören, denn ähnlich wie ein Säufer ein für allemal unfähig ist, einen Château-Latour von einem Château-Haut-Brion zu unterscheiden, so hätte Roseline, wäre sie zu sehr mit Trüffeln verwöhnt worden, sie schon bald nicht mehr unter der Erde ausfindig machen können.

Den Hals mit dem rosa Seidenband geschmückt, trabt Roseline in Richtung Trog, wo die warme und lecker nach der Sommerernte duftende Mischung aus Kleie und gekochten Kartoffeln auf sie wartet: ein Genuss für alle Schweine dieser Welt …

~ 2 ~

DURCH die Toreinfahrt gelangte man in einen quadratischen Hof: auf einer Seite die Hühner und nach Süden hin die Kaninchenställe. Ein Geruch nach zerkautem Gras schwebte unter dem Gewölbe des Schafstalls, in dem sich die Wärme der Herde staute. Der große Wohnraum lag im ersten Stock unter dem Vordach der gedeckten, von einem rechteckigen Pfeiler gestützten Terrasse.

Seinen Korb am Arm, streifte Alyre seine Schuhe ab und erklomm leichten Schrittes die Außentreppe. Er zog den Rahmen mit dem Fliegengitter zu sich her und öffnete die Glastür.

Francine holte gerade die mit Käse überbackene Zwiebelsuppe aus dem Ofen. Auf dem gedeckten Tisch stand der dunkle Wein bereit, ein Verschnitt aus Alicante und Jacquez, der verbotenen Rebsorte. Aber es war ein uralter Weinberg, und Francine war stellvertretende Bürgermeisterin. So drückte man bei den Rebstöcken, die seit langem hätten ausgerissen werden müssen, ein Auge zu.

Der Schäfer saß bereits am Tisch; er hielt Messer und Gabel in der Faust, Zinken und Spitze nach oben gerichtet, wie es sich gehört, und bedeutete mit seiner ganzen stämmigen Gestalt: «Na und, wird’s bald?» Die drei Hunde unter dem Tisch warteten darauf, sich die Überbleibsel des Festessens zu schnappen.

«Schau dir den an, nicht für Geld und gute Worte würde der mir zur Hand gehen!» Mit energischem Finger zeigte Francine auf den Schäfer.

«Sie haben mir gesagt, dass ich zu ungeschickt bin.»

«Das kann man wohl sagen!»

Der Schäfer hieß Pascal, er war der einzige Sohn einer wohlhabenden Familie, die er verlassen hatte, weil seine Mutter seinen Vater betrog. Er war wortlos gegangen und hatte das Geheimnis für sich behalten. Er war neunzehn Jahre alt. Fast jeden Samstag lief ihm seine Mutter bis auf die Weiden hinterher und flehte ihn an:

«Aber warum? Warum nur? Du hattest doch alles, was du wolltest! Dein Vater und ich haben dir jeden Wunsch von den Augen abgelesen!» Sie sprach gegen eine Wand. Pascal antwortete nie und ging seiner Arbeit nach. Er sagte «Tag, Mam», wenn sie kam, und «Wiedersehn, Mam», wenn sie ging.

«Es gibt Leute», war Alyres Kommentar dazu, «die auf Knien rutschen würden, um die volle Wahrheit ins Gesicht gesagt zu kriegen! Aber du wirst schon sehen! Eines schönen Tages klatscht er sie ihr ins Gesicht, die Wahrheit! Und dann müssen wir die Dame von der Wiese auflesen! Die haut es auf der Stelle um! Bums, die Nase im Ziegendreck!»

Francine drehte sich immer weg, wenn Alyre dieses schöne Wort «Wahrheit» aussprach. Was verstand der denn schon von der Wahrheit? Wo sie ihn doch schon seit zwölf Jahren belog, ohne dass er einen blassen Schimmer davon hatte!

Sie warf einen Blick auf den Korb, den er am Boden abgestellt hatte.

«Ist das alles, was du mitbringst? Ihr beiden habt euch wohl nicht überanstrengt, wie?»

In Wirklichkeit waren für über tausend Franc Trüffeln im Korb. Und das würde so weitergehen, vom 15. November bis zum 15. Februar, abgesehen von den Unterbrechungen wegen schlechten Wetters. Es gab keinen Grund zur Klage. Aber Francines Taktik bestand darin, sich genauso mürrisch zu zeigen wie immer.

Und Alyre betrachtete sie wie immer mit demselben Vergnügen:

«Schau sie nur an mit ihrem Geklunker», sagte er sich, «ist sie nicht prächtig? Unglaublich, wie sie es mit dem Schmuck hat, diese Frau! Die Armbanduhr voller Steine! Und die Kette aus falschen Perlen und der Ring mit dem dicken Klunker! Und wie das glänzt, das ganze Zeug! Und wie es leuchtet! Schlimm, wenn es kein Talmi wäre! Es ist unglaublich, was sie heute alles zustande kriegen!»

Und es stimmte, dass unter der Deckenlampe der Schmuck von Francine, ihre einzige Schwäche, sanft funkelte und eine festliche Stimmung erzeugte. Jeden Tag schmückte sie sich sorgfältig damit, sobald die grobe Arbeit getan war. «Die Francine, die liebt halt das Geschmeide …», hieß es.

Auf den ersten Blick schien diese schlanke, aufrechte Francine, die immer dunkel gekleidet war, so dass nichts wirklich auffiel, schien also diese Francine mit ihren einundvierzig Jahren recht liebesleer und gerade gut genug für einen einzigen Mann. Aber wer sie berührte, zufällig oder absichtlich, erlebte eine große Überraschung. Sie war geschmeidig und fest, und man spürte, dass ihr flacher Bauch, der hart war wie der einer Athletin, zu den schönsten Bewegungen fähig war.

Es war die Politik, die sie erweckt hatte. Bis dreißig gehörte sie jener Generation von Frauen an, die die Liebe resigniert hinnehmen, so wie sie eben kommt. Aber als sie zur Gemeinderätin und dann zur Stellvertreterin des Bürgermeisters gewählt worden war, hatte sie, in den Augenblicken der Entspannung nach den diversen Sitzungen, die Welt kennen gelernt. Eines Tages hatte sie zum Spaß ein Gemeinderatsmitglied aus einer anderen Gemeinde zum Tanz aufgefordert. Aus dieser Samba war er völlig atemlos hervorgegangen.

«Guter Gott, Francine!», hatte er ihr gesagt. «Entschuldigen Sie, aber Sie sind ein bißchen zu leidenschaftlich für mich!»

Von diesem Tag an hatte sie auf allen Empfängen, die Verbandstagungen und Kongresse krönen, getanzt. Auch mit dem Übrigen hatte sie begonnen, das war unausweichlich, aber nicht ohne Seufzer und Vorbehalte. Sie verabscheute Komplikationen und Lügen. Also hatte sie ihre Liebhaber Alyre vorgestellt.

«Alyre, morgen fahre ich mit Monsieur Maucoeur nach Les Angles! Wir wurden beauftragt, den zweiten Bauabschnitt der Wasserleitung abzunehmen … Du findest alles fertig im Kühlschrank.»

«Alyre, ich stelle dir Doktor Malgriaux vom Gesundheitsamt vor … Ich muß mit ihm sämtliche Ferienlager der Umgebung besichtigen» usw.

Falls je die Opposition eines Tages die Gemeinderatswahlen gewinnen würde, bliebe Francine nichts anderes übrig, als sich umzubringen oder die Wahrheit zu sagen.

«Die Wahrheit», dachte Alyre, während er die Zwiebelsuppe kostete, «als würde ich sie nicht kennen, die Wahrheit!»

Nun ja, solange er Roseline, die Trüffeln und die Bienen hatte … alles andere konnte ihm gestohlen bleiben!

«Sie ist nicht sämig genug!», rief Francine.

Darauf erfolgte keine Reaktion. Alyre hatte Hunger, mochte die Suppe sein, wie sie wollte …

Was den Schäfer betraf … Der Schäfer hielt den Löffel auf halbem Wege zwischen dem Teller und dem bereits geöffneten Mund und verfolgte mit dem Blick etwas an der Wand. Etwas, wovon nur er wusste, etwas Immaterielles, das soeben, zwischen zwei abgetickten Sekunden, aus dem Kasten der Standuhr aufgetaucht war, das jetzt auf den Töpfen und Pfannen entlang floh, um die Ecke der Kamineinfassung bog, das auf jeder der Gewürzdosen – Zucker, Salz, Pfeffer, Zimt – etwas von seinem Staub zurückließ, das den Zylinder der für die Gewitterabende vorgesehenen Petroleumlampe beschlug und sich endlich, zusammen mit dem Blick des Schäfers, dort drüben im Abfluß der Edelstahlspüle verlor.

«Schau ihn dir an!», rief Francine, die ihn beobachtete. «Was hat er denn nun schon wieder gesehen? Man könnte meinen, da sitzt eine Katze und lauert auf ein Gespenst!»

Das war es. Ein Gespenst verfolgte er, vom Kasten der Standuhr bis zum Abfluss der Spüle, der neunzehnjährige Schäfer, dessen Haare traurig am Hals herunterhingen; seine übergroßen Augen erinnerten an einen romanischen Christus, aber sie waren schwarz, tiefgründig. Er besaß diese besondere Fähigkeit, die den Katzen vorbehalten ist.

«Bei dem kann einem ja das Blut in den Adern gefrieren!», warf Francine erneut ein.

Sie fürchtete immer, dass ihre Geheimnisse über irgendeinen Umweg ans Licht kommen würden. Und ein Gespenst als Übermittler schien ihr durchaus geeignet …

Es dauerte lange, bis der Schäfer wieder von dieser Welt war. Es dauerte lange, bis er Francine erkannte, die er vergeblich und in aller Demut liebte.

«Es ist noch einer verschwunden», sagte er mit leiser Stimme.

«Ein was?», rief Francine.

Sie glaubte, er hätte ein Schaf verloren und traute sich nicht, es zuzugeben.

«Ich weiß nicht … Es sind die Gendarmen. Ich habe in La Charitonne gehütet …»

«Auf dem Weg nach Montsalier?»

«Der durch den Wald von Deffens führt, ja.»

«Und?»

«Und da sind sie aus ihrem Streifenwagen ausgestiegen, um mich zu fragen, ob ich ihn nicht gesehen habe.»

«Wen denn?»

«Einen, der verschwunden ist.»

«Und wie hieß der?»

«Jérémie …»

«Na, das hilft uns ja viel weiter!»

«Das habe ich den Gendarmen auch gesagt. Sie haben nicht locker gelassen. ‹Wie sah er denn aus, Ihr Jérémie?› Also haben sie ihn mir beschrieben: ‹Ein braunes Gewand mit weißen Streifen, hergestellt in Djakarta›, haben sie gesagt, ‹von einer Buddhistenkolonie. Dänische Holzschuhe, die ordentlich Krach machen. Hennagefärbte Haare, die bis zum Gürtel runterhängen, und, versteckt unter dem Bart, ein Amulett aus Zypressensamen mit einem kleinen runden Buch, das unten dranhängt.› So lautete die Personenbeschreibung der Gendarmen. ‹Ach ja, wir haben noch was vergessen: eine Mandola am Schulterband.› – ‹Ja und? Seit dem Beginn der Saison habe ich vielleicht sechzig von der Sorte gesehen, die Richtung Montsalier raufgingen. Und sie sahen alle aus, wie Sie sagen!›»

«Alle!», sagte Francine. «Vor drei Tagen ist wieder einer vorbeigekommen, der wollte, dass ich ihm ein Ei gebe. Die Frau Giraud aus Parmelles hat mir ein bisschen erklärt, wie sie leben. Sie haben Zeltplanen über dem kaputten Dach der alten Kirche aufgespannt. Sie kochen am Weihwasserbecken, das mit Regenwasser gefüllt ist. Alle noch übrig gebliebenen Kirchenbänke haben sie verbrannt!»

Der Schäfer fuhr fort:

«‹Da Sie auch lange Haare haben›, haben mir die Gendarmen gesagt, ‹dachten wir, Sie wären vielleicht ein wenig befreundet. Er kam aus Noyers-sur-Jabron. Sagt Ihnen das nichts, Noyers-sur-Jabron?› Und sie haben mich angeschaut, wie Gendarmen einen anschauen, wenn sie jemand verdächtigen.»

Er schwieg. Im Holunderbusch unter der Terrasse rauschte der Wind, befreite einen Schwall von Gerüchen aus dem schlecht verschlossenen Schafstall. Der Widder wechselte seinen Platz und schüttelte dabei seine Glocke.

Der Schäfer lauschte. Er zog erneut ein Gespenst aus dem Kasten der Standuhr; er verfolgte es über die ganze Länge des Kamins, hopp! Er begleitete es bis zum Abfluss des modernen Spülbeckens, wo es in langen Wirbeln versank.

«Das ist der Vierte seit September», sagte der Schäfer. «Der Vierte, nach dem mich die Gendarmen ganz direkt fragen …»

«Ach ja», sagte Alyre, «mal ganz nebenbei …, wo wir gerade davon sprechen, glaubst du, dass es normal ist, Francine … Glaubst du, dass es angehen kann … Glaubst du, dass es möglich ist, dass …»

Sorgfältig wickelte er einen langen Faden aus geriebenem Käse um seinen Löffel, schluckte ihn schließlich hinunter und wischte sich die Lippen ab. Er griff nach seinem Glas mit dunklem Wein, das er zwischen sich und die Birne der Hängelampe hielt. Nichts zu machen! Jacquez-Wein, da geht kein Licht durch …

Während er nach der möglichen Fortsetzung seines Satzes suchte, bemerkte er gar nicht, dass der Schäfer den vollen Löffel auf halbem Wege zwischen Teller und Mund hielt, die Lippen schon halb geöffnet, abwartend. Auch Francine lauerte mit voller Suppenkelle auf das Ende des Satzes, ehe sie sich wieder auftat.

«Was? Was kann nicht angehen? Was ist nicht normal? Spuck’s aus! Ihr beide seid ja wirklich überwältigend: Der eine fängt Gespenster, als wären es Fliegen, der andere verliert sich im Ungewissen, wenn er spricht! Sag schon! Erkläre! Sprich Klartext!»

Der Schäfer riss die Augen auf, sie glänzten vor Gier. Er sah nicht nur das Schlimmste voraus, er war auch stets bereit, ihm fröhlich ins Auge zu blicken.

«Och», sagte Alyre, den sein rhetorischer Auftakt dazu bewogen hatte, kein Wort weiter zu sagen. «Och, … das ist eine Sache, bei der man alles in Betracht ziehen muss, um sie zu verstehen. Alles! Und da man nichts weiß …»

Er glitt in einen traurigen Traum, der sich dort unten abspielte, in der Gegend seiner Trüffelhaine, zwischen den bronzenen Lanzen eines Lorbeerwäldchens. Stand diese klirrende Armee je still im Nachtwind? Das war doch eigenartig, die Launen von Roseline seit einiger Zeit, wenn sie an diesem Wäldchen vorbeikamen. Das war doch merkwürdig, die schwülen Düfte, die da neuerdings wehten und ihn schwindelig machten, wenn er dem Raunen der Luft vor diesem Wäldchen lauschte, während er die Strippe an Roselines Seidenband festknotete.

«Ich kann’s irgendwie nicht fassen!», sagte Francine. «An so viel Geheimnis hast du mich bisher nicht gewöhnt!»

«Das hat nichts mit Geheimnis zu tun», sagte Alyre, «das ist Ratlosigkeit … Genau, das ist es: Ich bin ratlos …»

Diese Ratlosigkeit zwang ihn heute Abend dazu, weitere Gesellschaft zu suchen. Kaum war der Käse gegessen, erhob er sich, schob seine Serviette in den Serviettenring, in den sein Vorname eingraviert war, und verkündete, dass er zum Kartenspielen zu Rosemonde Burle gehen würde.

~ 3 ~

DIE Uhr auf dem Armaturenbrett tickte in der Dunkelheit. Das große blaue Auto stand zurückgesetzt unter dem Blätterdach der Lorbeerbäume. Zuweilen löste der Wind eine schwarze Beere, die auf dem Blech abprallte. Durch die Windschutzscheibe war einzig der weiße Fleck nervöser Hände auszumachen, auf die ein von den schwankenden Asten gefilterter Mondstrahl fiel.

«Ist das dein letztes Wort?»

Das Mädchen hielt sich krampfhaft am Lenkrad fest und blickte gerade vor sich hin. Ihre hellen Augen füllten sich mit Tränen, und die Stimme erstickte in Schluchzern.

«Man könnte meinen, das sei eine Liebesszene …»

Der Mann auf dem Beifahrersitz hatte einen struppigen Bart und lange, verfilzte Haare; er antwortete ihr in dumpfem Ton, den Blick geradeaus gerichtet auf die fleckige Mauer in der Ferne, die von einer Eisentür durchbrochen war.

«Das ist eine Liebesszene …»

«Von wegen, das ist eine Geldszene!»

«Zehn Millionen! Du willst diesen armseligen verlausten Kerlen zehn Millionen geben! Und du behauptest, das wäre keine Liebe! Die Hälfte unseres Vermögens! Das meinst du doch nicht ernst! Der ganze Schweiß von zwei Generationen!»

«Der Schweiß von zwei Generationen von Ausbeutern, jawohl!»

«Aber was willst du denn damit beweisen, wenn du dich so verhältst?»

«Büßen. Ich büße für meinen Vater, für meine Mutter und ganz nebenbei auch für dich … Hör mir gut zu: In vierzig Jahren, in fünfzig Jahren bist du alt oder tot. Dann hast du einen Mann gehabt, den du nicht mehr liebst; Kinder, die sich fragen, was sie mit dir machen sollen, weil sie es noch nicht wagen, dich von der Treppe zu stoßen … Du hast zusehen müssen, wie sie je älter desto hässlicher werden. Dieser Gott, in dessen Religion man dich großgezogen hat, wird dir nichts mehr nützen. Und du, du wirst nie zu etwas nütze gewesen sein, weil du immer nur deine kleine, heile Familie geliebt haben wirst; und das Schreckliche an deinem Fall ist, dass du sie auch weiterhin lieben wirst, obwohl sie grauenhaft ist …»

«Wieso sollte sie denn grauenhaft sein?»

«Weil Eltern wie unsere, die immer nur nach Zaster gelechzt haben, nur fürchterliche Nachkommen haben können. Und du wirst dir ganz zufällig einen Mann unter anderen Kindern fürchterlicher Leute aussuchen!»

«Unser Vater war großzügig!»

Der Mann lachte höhnisch. «Richtig! Er ließ seine Almosen von so weit oben fallen, dass man immer glaubte, er teile sein Vermögen. Nein, das kann nicht sein! Ich muss da raus! So darf ich nicht werden! Ich will von dieser Familie nicht geprägt sein! Die Welt soll aus Brüdern bestehen! Wenn ich so wäre, hätte ich nicht meinen Platz unter den Menschen! Wenn ich so wäre wie du!»

Er machte Anstalten, die Wagentür zu öffnen.

«Nein, warte!», sagte sie keuchend. «Ich kann höchstens sechs Millionen freimachen! Du weißt es, dass das mein Leben ist! Dass ich dafür studiert habe! Dass ich alles dafür gegeben habe!»

«Du hast eine Fabrikantenseele!», sagte er verächtlich. «Ist das möglich? Ist es möglich, dass du das bist? Du, die du nichts Eiligeres zu tun hattest, als deine Puppen all den armen Mädchen von Oyonnax zu schenken?»

«Dafür wurde ich ordentlich gerügt!»

«Nicht von unseren Eltern! Davor haben sie sich schön gehütet. Das lief über deine Kindermädchen. Die mussten dir strenge Anweisungen geben, nur ja nichts zu teilen. Wann hast du aufgehört zu teilen? Wann hast du aufgehört, Dinge herzuschenken? Sag! Kannst du nicht wieder zurück? Kannst du mir nicht wieder ähnlich werden? Ich habe dich so geliebt!»

«Du liebst mich, aber du setzt mich wegen vier Millionen unter Druck!»

«Ich habe alle Kostenvoranschläge machen lassen. Ich habe alle nur möglichen Rabatte ausgehandelt: Beim Kauf sämtlicher Grundstücke, Ruinen, der Instandsetzung der Häuser, der Wasser- und Stromversorgung und so weiter. Um die Kommune mitten in der schönen Natur anzusiedeln, brauche ich alles!»

«Alles? Du bist verrückt!»

«Du weißt genau, dass ich das nicht bin! Ich habe Mathematik studiert. Du hast mich zweimal heimlich unter Beobachtung stellen lassen. Doch, doch, widersprich nicht! Ich weiß, dass du bei aller Liebe einen scharfen Verstand bewahrst …»

«Der Europlast-Konzern lauert. Er hat dafür gesorgt, dass niemand anders höher bietet. Gegebenenfalls bekommst du nicht einmal die sechs Millionen, die ich dir anbiete!»

Im Dunkeln huschte ein Lächeln über das Gesicht des Mannes.

«Du bist zu stark für mich, aber so stark nun auch wieder nicht. Ich weiß, dass du ein fundiertes Gutachten durch eine amerikanische Firma hast erstellen lassen. Auch ich habe dir etwas nachspioniert, mit Hilfe eines befreundeten Privatdetektivs. Die Fabrik ist auf fünfundzwanzig Millionen geschätzt worden. Und zwanzig Millionen ist die Höchstsumme, die sich die Europlast gesetzt hat, damit sich das Pokerspiel rentiert. Vergiss nicht, dass sie die Fabrik schließen werden, sobald sie sie gekauft haben. Nur die Kundenkartei nehmen sie mit. Also, Schwesterchen … Zehn Millionen, das ist mein letztes Wort!»

Er öffnete die Wagentür, diesmal mit Entschlossenheit. Ein unangenehmer Geruch stieg ihm in die Nase. Er warf einen unschlüssigen Blick auf das Laub der Lorbeerbäume. Die Wolken trieben unter dem Mond dahin.

«Jérémie!»

Sie hatte die Wagentür auf ihrer Seite zugeschlagen; nun ging sie um das Auto herum und versperrte ihm den Weg.

«Du quälst mich!»

Der Mond beleuchtete sie von Kopf bis Fuß. Sie trug ein Cape aus roher Wolle; die Seidenstrümpfe und die hohen Absätze leuchteten hell auf, wenn ein Mondstrahl sie streifte. Sie war ein hellhäutiges Mädchen mit riesengroßen Augen und Windstoßfrisur; ihr Gesicht strahlte Güte aus und Klugheit.

«Wie schön du bist!», flüsterte Jérémie. «Wie schade! Was wirst du tun mit all diesen Nieten? Dein Mann wird bei den Fußballweltmeisterschaften vor dem Fernseher hocken. Nach abendlichen Geschäftsessen wird er dich in echte Pornofilme mitnehmen. Du wirst Partys geben. Du wirst ein hundsgemeines Leben führen. Komm mit mir. Auf den Hügeln hier oben wirst du Männer kennen lernen, die zwar schmutzig, aber wenigstens rein sind. Und du wirst mehrere von ihnen kennen lernen, zwanglos, frei, bis dir ein Einziger zusagt! Oder eine Einzige, wer weiß? Aber wenigstens hast du in unserer Welt die freie Wahl!»

«Jérémie, ich flehe dich an! Ohne die Fabrik bin ich nur eine leere Hülle! Nimm mein Angebot an! Ich schwöre dir, dass ich mehr täte, wenn ich es könnte!»

Jérémie drehte sich zu ihr um. Unter seiner struppigen Mähne hatte er den gleichen sanften Blick wie das junge Mädchen.

«Mein Gott …», stöhnte er, «wie kannst du all das unter so viel Reinheit verbergen? Aber wie kannst du zugleich auch so naiv sein?»

Sie war erschöpft, ausgelaugt. Sie hörte nicht mehr hin. Dieser Bruder, den sie geliebt hatte, dieser Bruder, der Teil der Familie gewesen war, wo war er? Wo war seine Seele? Die Versuchung, sich aufs Bitten zu verlegen, die sie lange unterdrückt hatte, überfiel sie plötzlich. Doch er wandte sich ab, ging weg …

Sie sah, wie er fortging und ihre letzte Hoffnung mit sich nahm. Die Fabrik würde verkauft werden. Sie konnte ihm keine zehn Millionen geben. Das Schweizer Guthaben war unantastbar. Sie hatte es ihrem Vater schwören müssen. Nur wenn die Familie Frankreich verlassen musste, würde sie das Recht haben, daran zu rühren.

«Jérémie!»

Er ging weg, barfuß, das verwaschene, dünne Gewand hing verknittert an ihm herunter wie eine Mönchskutte, aber armseliger noch, ohne Gürtel, ohne Kreuz; da war nur diese Kette aus Zypressenfrüchten, die an seiner Taille klapperte.

«Mein Gott», dachte sie, «wie muss er frieren!»

Ihr Blick glitt den Wagen entlang; die weiße Reifenflanke reflektierte das Mondlicht. Im rechten Vorderrad war kaum noch Luft.

«Jérémie!», rief sie.

Er drehte sich um, kam zurück.

«Jérémie, ich habe noch nie gewusst, wie man einen Reifen wechselt. Und ausgerechnet heute …»

Er zuckte die Schultern.

«Hast du Werkzeug?»

«Im Kofferraum.»

Er machte sich um sie herum zu schaffen, kurbelte den Wagenheber hoch, holte den Ersatzreifen heraus.

«Tust du dir nicht weh an den Füßen?»

«Ach was! Ich bin stolz auf meine Hornhaut. Ich bin fünftausend Kilometer barfuß gelaufen! Das nutzt sich nicht ab wie Autoreifen. Scheiße! Die Idioten haben die Bolzen zu fest angezogen! Diese Mechaniker sind alle gleich! Die ziehen das mit einem Kreuzschlüssel fest, und du kommst dann mit deinem jämmerlichen Rohrschlüssel! Alles Idioten! Du hast nicht zufällig einen Engländer? Den könnte ich in die Röhre schieben, dann hätten wir einen Hebeleffekt.»

Er wühlte im Werkzeugkasten. Er kam zurück. Sorgfältig legte er die Schrauben in die Radkappe. Er wechselte das Rad. Er schraubte die Bolzenschrauben von Hand wieder auf.

«Halt das mal!»

Er hielt ihr den schweren Engländer hin, der ihm als Hebel gedient hatte. Er stand gebückt vor ihr. Sein struppiger Schädel war auf der Höhe der Motorhaube.

«Zehn Millionen», dachte sie, «und mein Leben … Und was wird aus mir?»

Es war die ganze Sippe, die Toten und die Lebenden der Familie, die den Universalschlüssel in der Hand der jungen Frau anhob und ihn mit voller Kraft auf Jérémies Schädel niederschlug … Einmal, zweimal …

Eine schreckliche Angst packte sie, denn statt zu fallen begann er sich langsam aufzurichten, ganz langsam, so wie vorhin der Wagen über dem Wagenheber hochgegangen war. Plötzlich war ihr klar, dass sie, wenn er sich jetzt umdrehte, wenn sie sein Gesicht sähe, ihrerseits sterben würde, ohne sein Zutun, vor Entsetzen, vor Reue, vor Bestürzung … Da schlug sie ein drittes Mal auf ihn ein, mit der Kraft der Verzweiflung, und diesmal brach er auf der Motorhaube zusammen. Doch das letzte Bild, das sie von ihm bewahrte, war nicht dieser große dünne Körper in dem weiten, sich an ihm bauschenden Gewand. Es war der noch lebendige Mann, der sich mit dieser ungeheuren Langsamkeit aufrichtete; der Mann, von dem sie wusste, welches Gesicht er ihr zeigen würde. Das Gesicht von jemandem, der gerade erfuhr, wie sie wirklich war!

«Ich habe ihn getötet, weil er Recht hatte», sagte sie sich. Doch gleich darauf dachte sie, dass sie das Glied in der Kette war, das die Vergangenheit mit der Zukunft verband. Was bedeutete es schon, dass sie eine Mörderin war? Indem sie Jérémie tötete, rettete sie ein ganzes Werk, rettete sie Arbeitsplätze. «Und du rettest dich selbst!», rief ihr eine Stimme zu. Plötzlich kam ihr, was sie vor diesem Augenblick gewesen war, zu Bewusstsein. War es möglich?

Sie betrachtete ihren Arm, als gehörte er einer anderen, sie betrachtete den blutverschmierten Universalschlüssel. Sie warf ihn auf den Boden. Das Geräusch, das er beim Fallen machte, weckte ihren Überlebensinstinkt. Sie musste ihre Spuren verwischen, musste weg, fliehen … Sie hob den Engländer wieder auf, bückte sich, um die Schrauben endgültig festzudrehen und die Radkappe anzubringen. Während dieses ganzen Vorgangs, während sie über das Rad gebeugt war, befand sich ihr wasserhelles Gesicht auf der Höhe von Jérémies Gesicht, und seine langen Haare streichelten die ihren.

Schließlich richtete sie sich auf, lud das Rad mit dem defekten Reifen mühsam in den Kofferraum und ging um das Auto herum, um sich ans Steuer zu setzen. Fliehen … Noch wusste keine Menschenseele, dass sie Oyonnax verlassen hatte, um hierher nach Banon zu kommen. Niemand … Am Vorabend vor der Abreise hatte sie voll getankt. Sie hatte noch nicht einmal an einer Tankstelle anhalten müssen … Wenn sie jetzt gleich wegfahren, vor Tagesanbruch wieder in Oyonnax sein konnte, wer würde sie dann verdächtigen? Sie mit ihrem reinen Gesicht? Ihrer Ausgeglichenheit? Mit dem Kummer, der durchaus nicht nur gespielt sein würde, der in der Öffentlichkeit glaubhaft wirken würde? Allein Jérémies Rechtsanwalt wusste von dessen Absicht, die Fabrik zu verkaufen. Sie selbst, wenn es ihr Jérémie heute Abend nicht ausdrücklich gestanden hätte, wüsste noch nichts davon. Alles sah danach aus, dass sie unbehelligt davonkommen würde. Sie sah auf die Uhr. Es war halb eins. Fünf Stunden Fahrt bei hundertfünfzig Stundenkilometern … Möglich. Sie streckte die Hand aus, um die Wagentür zu öffnen. Da sah sie Mambo. Auf seinen kurzen Beinen stand ein winziger Dackel aufrecht an der geschlossenen Scheibe und blickte sie wimmernd an, voller Ungeduld, sein Herrchen wiederzufinden. Vor dieser Vision schreckte sie zurück. Sie sah ihn noch auf dieser Straße, freundschaftlich und munter, mit dem Hündchen im Arm, eine große Trampertasche über der Schulter. Auch die Tasche war da. Vielleicht roch sie noch nach dem Schweiß des auf den Landstraßen wandernden Jérémie…

Nein! Sie bedeckte das Gesicht mit den Händen. Sie hatte töten können, weil die Fabrik es forderte. Den Dackel konnte sie nicht töten. Das würde über ihre Kräfte gehen. Lieber ihn verlieren … Unterwegs … Er war reinrassig. Irgendjemand würde ihn aufnehmen …

~ 4 ~

ALS sie sich gerade ans Steuer setzten wollte, hörte sie, wie auf dem holprigen Erdweg sich ein klappriges Auto näherte. Den Wagenspuren ausgeliefert, rumpelte es langsam herbei; das scheppernde Geräusch ließ eine notdürftig befestigte Stoßstange vermuten. Wer kam um diese Uhrzeit in diese verlassene Gegend? Vor dem Mercedes im Schatten tat sich eine Art grüne Höhle auf. Sie setzte sich ans Steuer, drehte den Zündschlüssel, fuhr zuerst ein paar Meter rückwärts und steuerte dann den Wagen in die schattige Höhle, bis sie hörte, wie die Äste die Karosserie peitschten. All das, ohne die Scheinwerfer einzuschalten. Sie stieg aus und verbarg sich zwischen den Lorbeerbüschen; kerzengerade stand sie da, weiß im Mondlicht, doch der Vorhang aus Bäumen trennte sie von der mit welkem Laub übersäten Lichtung, die von einer Mauer und einem rostigen Torgitter schroff begrenzt wurde.

Jérémie war an der Kreuzung, wo er sich mit ihr verabredet hatte, eingestiegen; von der Straße aus hatte sie ein dichtes Wäldchen wahrgenommen, das ihr für eine private Unterredung ganz günstig erschienen war. Vermutlich hatte ihr das Schicksal schon in diesem Augenblick eingegeben, ohne dass sie sich dessen bewusst war, dass sie ihn wohl würde töten müssen. Doch nun war sie in diesem Wäldchen gefangen. Auf die Straße konnte sie nur über diesen Waldweg gelangen, auf dem das alte Auto näher tuckerte, einen anderen Fluchtweg gab es nicht. Es kam näher, immer näher. Man hörte einen schwächlichen, im zweiten Gang laufenden Motor: schwächlich, aber dennoch robust; man ahnte, dass er es bei diesem Tempo noch zwanzig Jahre machen würde. Auf dem Weg, der von dem tief reichenden Lorbeergebüsch abgeschirmt war, fuhr es, dieses Auto, ohne jegliche Beleuchtung. Schließlich tauchte es auf. Es erreichte die Lichtung, wo Mondschein und Wind durch die Steineichen und die Lorbeerbäume huschend ihre Lichtspiele veranstalteten.

Das alte Gefährt war ehemals weiß gewesen, nun war der Lack rissig und grau, und die Karosserie sah aus wie der Panzer einer Schildkröte, so alt und durch die im Freien verbrachten Jahreszeiten so verwittert, dass man hätte meinen können, sie wäre nicht mehr von dieser Welt. Eine düstere Aura umgab diese alte Schrottkiste. Die junge Frau stand wie gebannt vor Kälte und Angst und unheilvoller Vorahnung. Wenn der Fahrer die Scheinwerfer einschaltete, konnte er Jérémies auf dem laubbedeckten Boden zusammengesackte Leiche unmöglich übersehen. Doch warum ließ er die Scheinwerfer ausgeschaltet? Was hatte er vor, hier um diese Stunde, in diesem mit verrosteten Gittern versperrten Garten?

Plötzlich erstarb der Motor. In der Stille hörte die junge Frau, wie ein großer Baum im Wind rauschte. Es war wie eine sehr langsam heranrollende Woge der Traurigkeit, und sie meinte, den Trauergesang einer Zypresse wiederzuerkennen. Sie starrte auf das graue Auto, das reglos mit beschlagenen Scheiben im Halbdunkel der kalten Dezembernacht stand, als sie die Wagentür quietschen hörte. Der Fahrersitz lag auf der dem Wäldchen, wo sie sich verbarg, abgekehrten Seite. Sie sah den Fahrer erst, als er sich aufrichtete. Er wandte ihr den Rücken zu. Gemächlichen Schrittes ging er auf das rostige Tor zu. Der Mondschein ließ eine undeutliche Silhouette erkennen, von Kopf bis Fuß steif und schwarz, ohne Taille, ohne Schultern und ohne Hals. Vor dem Tor hielt er inne, zog einen klirrenden Schlüsselbund aus der Tasche. Es folgte das Geräusch eines gut geölten Riegels, der sich mühelos in seinem Gehäuse bewegt. Der Mann stieß den Torflügel, der in seinen Scharnieren ächzte, weit auf. Dann drehte er sich um.

Die junge Frau erblickte eine schwarze, von Schatten und Mondlicht fleckige, unförmige Vogelscheuche, die kein Gesicht hatte. Von der riesigen Krempe seines Hutes fiel ein Schleier aus schwarzem Tüll herab, der die Arme bis zu den Ellbogen umfing. Er trug lange schwarze Handschuhe, die aussahen wie Frauenhandschuhe.

Durch das Blattwerk starrte sie ihn gebannt an. Seine Schritte knirschten auf dem Laub, während er langsam zu der Schrottkiste zurückging. Doch bevor er sie erreichte, hielt er inne; mit geschlossenen Beinen, die Arme eng am Körper, stand er reglos da, wie ein Jäger, der mit der Naturkulisse verschmelzen will. Sie hielt den Atem an. Zwanzig Meter waren sie voneinander entfernt. Vorhin, während der Diskussion im Auto, hatte sie eine Zigarette geraucht, und um sich herum roch sie ihr zartes Parfüm, das sie hätte verraten können, wenn nicht unter den Bäumen ein beißender, alles beherrschender Geruch gehangen hätte. Dennoch drehte der steife, angespannte Mann den unheimlichen Vorhang, der ihm das Gesicht verschleierte, mal nach der einen, mal nach der anderen Seite, und sein Hut folgte der Bewegung. Dann setzte er sich wieder in Gang, noch langsamer, auf sein Auto zu. Sie ahnte, dass er abwägte, zögerte. Wenn er plötzlich auf die Idee käme, den Lorbeer auseinander zu biegen und auf die Steineichen zuzugehen, würde er auf jeden Fall Jérémie entdecken, und dann … Nie und nimmer hätte sie Zeit, wegzukommen.