Fay - Larry Brown - E-Book

Fay E-Book

Larry Brown

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Beschreibung

Der Roman erzählt die Geschichte der 17-jährigen Fay, einer bildhübschen jungen Frau, die von zu Hause, von ihrem gewalttätigen Vater, wegläuft. Mit nichts als einer Packung Zigaretten und zwei Dollar in der Handtasche verlässt sie ihre Hütte im Wald und macht sich auf den Weg Richtung Küste, auf der Suche nach einem bessere Leben. Auf diesem Weg erlebt sie allerhand Bedrohliches, Gewalttätiges, aber auch Liebe und Hoffnung.

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Seitenzahl: 808

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Das Buch

Fay Jones ist siebzehn Jahre alt, als sie beschließt, ihr Zuhause im Hinterland von Mississippi zu verlassen. In einer Hütte im Wald lebte sie mit ihrem Bruder und der kleinen Schwester bei ihrem gewalttätigen Vater. Mit zwei Dollar und einigen wenigen Habseligkeiten läuft sie zur Straße und versucht ihrem erbärmlichen Leben zu entfliehen. Ihr Ziel ist Biloxi an der Küste, dort soll es wärmer sein, vielleicht ein besseres Leben auf sie warten. Und wenn man so aussieht wie Fay, bleibt man nicht lange alleine.

Ein paar junge Hillbillies in einem Truck nehmen sie mit und lassen sie in ihrem Trailer übernachten. Alkohol macht die Runde, und bald schon muss sich Fay sexuellen Annäherungsversuchen erwehren. Sie wird Zeuge, wie eine der Bewohnerinnen von zwei Männern missbraucht wird. Fay flüchtet erneut und wird von einem State Trooper aufgegabelt, der sie bei sich aufnimmt. So kreuzen viele Männer ihren Weg, nicht alle meinen es gut mit ihr. Doch eine wie Fay lässt sich nicht unterkriegen.

Der Autor

Larry Brown, geboren 1951 in Oxford, Mississippi, begann seine Schriftstellerkarriere als schreibender Feuerwehrmann. Nachdem er jahrelang erfolglos versucht hatte, seine Kurzgeschichten und Romane veröffentlicht zu bekommen, erschien 1988 unter dem Titel Facing The Music seine erste Kurzgeschichtensammlung. Weitere Shortstorys und fünf Romane komplettieren das Werk des Mannes aus Mississippi, der auch außerhalb der Südstaaten Kultstatus besaß und vielfach ausgezeichnet wurde. Mit seinem Werk beeinflusste er viele Songwriter, von denen ihm einige nach seinem Tod infolge eines Herzinfarkts im November 2004 mit dem Tributealbum Just One More ihre Ehre erwiesen.

Larry Brown

Fay

Roman

Aus dem Amerikanischen

von Thomas Gunkel

Wilhelm Heyne Verlag

München

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

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Die Originalausgabe erschien 2000 unter dem Titel FAY bei Algonquin Books, Chapel Hill

Die Arbeit des Übersetzers am vorliegenden Text wurde vom Deutschen Übersetzerfonds gefördert

Copyright © 2000 by Larry Brown

Copyright des Nachworts © 2016 by Alf Meyer

Copyright © 2017 der deutschsprachigen Ausgabe

by Wilhelm Heyne Verlag, München,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München

Redaktion: Alf Meyer

Umschlaggestaltung: Johannes Wiebel, punchdesign, München unter Verwendung eines Motivs von Lucy Liu/Shutterstock.com

Gesetzt aus Sabon LT Pro

Satz und E-Book Produktion: Satzwerk Huber, Germering

ISBN: 978-3-641-19658-5V003

www.heyne-hardcore.de

Für Harry Crews, dem ich mich in jeder Hinsicht verwandt fühle

Buch eins

Sie kam aus den Hügeln hinunter, die sich in der Abenddämmerung schwarz färbten, und wenn ihre Füße auf dem staubigen Weg gegen einen Schotterstein stießen, zuckte sie jedes Mal zusammen. Zum ersten Mal allein auf der Welt, und die Dunkelheit senkte sich schnell herab. Während sie im Gehen ihre Handtasche schwang, funkelten die Lichter der Häuser zwischen den Bäumen hindurch. Sie hörte die Autos auf dem Asphalt, doch bis zur Straße war es noch ein ganzes Stück.

Mehrmals blieb sie stehen und blickte zu der Hügelkette zurück, die sich hinter ihr erhob, überdachte alles noch mal, schüttelte aber jedes Mal den Kopf und ging weiter.

Süden schien ihr die beste Lösung zu sein. Sie hatte eine vage Vorstellung von der Küste. Dort würde es im Winter wärmer sein, hauptsächlich das trieb sie in diese Richtung. Sie stellte sich Zitrushaine vor, sonnige Tage, an denen sie Obst pflückte, ein kleines Häuschen, in dem sie ihr eigenes Essen hatte und fernsehen konnte, wann immer sie wollte. Einen soliden Ort, an dem sie bleiben und die anderen vielleicht irgendwie nachholen konnte. Oder mit dem Fahrrad durchs flache Land fahren, hinter dem Strand das schimmernde Wasser und am Himmel schwebende Vögel, wie auf den Bildern, die sie von dieser Gegend gesehen hatte. Sie hielt den Kopf gesenkt und lauschte im Gehen den Nachttieren, die in den Straßengräben, den Zuckerrohrfeldern, den sich im Flusstal erhebenden Bäumen schrien.

Irgendwann blieb sie auf einer schmalen Brücke stehen, um sich auszuruhen, und setzte sich auf eine mit Nägelköpfen gespickte Holzplanke. Unter ihr strömte ein Bach über zerbrochene Pfeiler und schimmernde Felsen. Sie war durstig, hatte aber Angst, sich am schlammigen Ufer einen Weg zu bahnen, und fürchtete sich vor versteckten Schlangen. So saß sie da, hielt ihre Knie umschlungen und betrachtete die Sternflecken oben am Himmel. Alles so still und reglos, die Sterne so hell. Sie wandte den Kopf wieder den singenden Wäldern zu. Zurückzugehen würde nicht lange dauern. Doch sie stand auf und ging weiter die Straße entlang.

Von einer stillen Weide aus sahen ihr Kühe zu. Sie wirkten, als wären sie aus Stein und machten ihr Angst, doch sie ging an ihnen vorbei. Sie hatte keine Uhr, schätzte aber, dass sie seit etwa einer Stunde unterwegs war.

Als sie um die letzte Kurve bog, kam sie an eine weitere Brücke, und wieder machte sie Rast, bevor sie sich eine Stelle suchen würde, an der jemand anhalten konnte. Sie setzte sich, schlug die Beine übereinander und öffnete den Verschluss ihrer Handtasche. Dann kramte sie in den wenigen Sachen, die darin waren, fand die beiden Dollarscheine und zog sie hervor, strich sie glatt und betrachtete sie. Sie faltete beide zweimal zusammen, knöpfte den obersten Knopf ihrer Bluse auf, schob die Geldscheine ins linke Körbchen ihres ausgefransten BHs, bis sie dort sicher eingepackt waren, und knöpfte die Bluse wieder zu. Dann erhob sie sich von dem geteerten Holz mit den ausgehärteten schwarzen Schmiertropfen, überquerte die Brücke und ging auf dem staubigen Kiesweg weiter. Der Mond kam zum Vorschein.

*

Sie hatte Angst vor den Hunden, die in den Gärten bellten und manchmal mit gefletschten Zähnen ans Ende der Einfahrt kamen, doch keiner verfolgte sie. Als sie an einem Gebäude vorbeikam, das ein Stück von der Straße zurückgesetzt war, sah sie, dass hoch oben am Giebel ein dunkles Kreuz im Holz prangte. Sie blieb stehen. Drinnen war irgendwo Licht, ein gelber Strahl, der durch die Buntglasfenster schien. Sie fragte sich, ob es im Garten oder an der Seite des Hauses wohl einen Wasserhahn gab. Sie ging eine gepflegte Einfahrt entlang, die mit feinem Kies bedeckt war, und strich sich mit den Fingern die Haarsträhnen aus dem Gesicht. Hinten brannte eine Laterne, und sie sah einen niedrigen Drahtzaun, hinter dem polierte Steine aufragten. Der Laternenpfahl wurde von wirbelnden Insekten umschwirrt. Die Lampe gab ein leises, stetiges Summen von sich und warf einen durchsichtigen Schleier über alles. Aus dem dunklen Wald drang das Zirpen der Grillen herüber.

Obwohl auf dem Parkplatz keine Autos standen, bewegte sie sich vorsichtig. Ihre Schritte im Kies klangen laut. Die westliche Hauswand lag im Schatten, in der Nähe des Eingangs befand sich ein gemauertes Blumenbeet. Sie trat näher, sah im feuchten Gras einen aufgerollten Gartenschlauch und auch, wo er endete, nämlich an einem Wasserhahn an einem Ende des Fundaments. Sie ging hin und drehte ihn auf.

Das Wasser war kühl und angenehm. Sie stand da und trank aus der Schlauchöffnung, als sie plötzlich ein Knurren hörte, sich umdrehte und in zehn Metern Entfernung ein gesprenkeltes Knäuel aus Fell und Knochen mit tief zwischen den Schulterblättern hängendem Kopf stehen sah. Der Hund kam mit einem seltsamen Rasseln näher. Sie hütete sich davonzurennen, ließ nur den Schlauch fallen und starrte ihn an. Er schien wie auf Krücken zu hinken, und aus seinem Maul baumelte ein Sabberfaden. Die Zähne in der blutigen Schnauze waren gefletscht, die Augen sahen krank aus. Wieder ließ er ein krächzendes Knurren ertönen, und jeder Atemzug schien ihm schwerzufallen. Die Pfote, die in einer rostigen Falle steckte, war so gut wie abgetrennt. Der Hund versuchte sie hochzuhalten, während er jaulend – vielleicht, damit sie ihm half – auf sie zukam. Sie wich zur Vorderveranda zurück und stieg hinauf. Die Veranda war auf beiden Seiten von einer eisernen Ziersäule gesäumt, deren Blätter und Ranken gehämmert und bemalt waren und sich kühl anfühlten. Der Hund kam näher. Sie ging zu der Flügeltür, dem dunklen Holz mit dem schweren Messingknauf. Als sie den Knauf drehte, öffnete sich der linke Flügel, und sie trat rasch ein, schlug die Tür wieder zu und lehnte sich mit dem Rücken dagegen. Der Hund jaulte noch einmal, dann war es still, bis auf das Rasseln des Metalls auf dem Kies, während die Falle mitsamt der Kette davongeschleift wurde. Sie horchte eine Weile, konnte aber nichts anderes hören. Sie trat in den Raum und zog den Riemen ihrer Handtasche über die Schulter. Dann ging sie zögernd weiter, beklommen im Haus eines Fremden.

Ein Raum, wie sie noch keinen betreten hatte. Ein mit Teppichen ausgelegter Gang, der unter ihren Tennisschuhen kaum knarrte, und lange geschliffene Holzbänke, die im Halbdunkel schwach glänzten. Sie berührte das dunkelbraune Kiefernholz. Die Decke zog sich mit langen Balken nach oben, und an der Rückseite des Raums hing ein großes Gemälde, auf dem rundliche, in wallende Stoffbahnen gekleidete Babys inmitten von Blumenfeldern in der Luft tanzten oder zu den Füßen Jesu versammelt waren, der, bärtig und langhaarig, in seinem Gewand auf einem Stein saß. Mit den Fingerspitzen berührte sie die kleinen Messingtafeln am Ende der Reihen. Die Wände waren von Fenstern gesäumt, die denen auf der Vorderseite glichen, mit Perlen verzierte Glassplitter in Blau, Rot und Gold, und am Ende des Gangs erhob sich ein Tisch, auf dem Schüsseln aus poliertem Metall standen. Eine weiße Spitzentischdecke. Es gab weitere Gemälde von Jesus, auf denen stets Erwachsene und Kinder um ihn versammelt waren. Auf allen Bildern hatte er einen traurigen Blick. In dem riesigen Raum war nicht das geringste Geräusch zu hören. Sie fragte sich, ob der Hund wohl inzwischen verschwunden war. Hoffentlich. Sie hielt es für das Beste, noch eine Weile zu bleiben, damit er Zeit hatte, sich aus dem Staub zu machen.

Die langen Bänke waren mit einem weichen Stoff überzogen, der sich gut anfühlte. Hinter dem Tisch befand sich eine kleine Bühne, und darauf stand ein dunkles Holzpodest. Mit einem Klicken öffnete sie ein kleines Seitentor, stieg die beiden Stufen rauf und stand vor den vielen Bankreihen. Vor ihr lag eine aufgeschlagene, in Leder gebundene Bibel, deren Seiten hauchdünn waren. Sie blätterte darin, ließ die Seiten durch die Finger gleiten. Jemand musste hier oben stehen und zu all diesen Leuten sprechen.

»Das ist eine Kirche für Reiche«, sagte sie. Der Klang ihrer Stimme erfüllte den Raum, hallte leise von den Wänden. Sie trat einen Schritt zurück und stieg wieder die Stufen hinunter, ging durch das Tor und um das Geländer herum. Hinten war eine Tür, und sie öffnete sie und gelangte in eine Küche. Über dem Herd brannte ein schummriges Licht. Reihen langer Tische und nebeneinanderstehende Klappstühle aus Metall.

Neben der Tür war ein Lichtschalter, und sie drückte darauf. Die Deckenbeleuchtung flackerte einen Moment, dann ging ein grelles Licht an, in dem das neben dem Spülbecken trocknende Geschirr, die auf der Theke abgestellten Kaffeekannen und die Schränke zu sehen waren, die die Rückseite des Raumes säumten. Ein weißer Kühlschrank.

Sie legte ihre Handtasche auf die Theke, öffnete die Kühlschranktür und sah Milchtüten, abgedeckte Schüsseln mit Eintopf, Brathähnchen und geschnittenem Schinken. Die Leuchten an der Decke summten.

In einem der Schränke fand sie einen Teller und eine Gabel und in einer Ecke der Theke ein Brot. Sie füllte Essen auf den Teller und goss sich ein Glas Milch ein. Dann setzte sie sich an einen der langen Tische und aß. Das Hähnchen war trocken, aber das störte sie nicht. Krümel fielen neben den Teller. Hätte sie doch damals schon von diesem Haus gewusst, als sie oft bloß die Knie an ihren leeren Bauch hatte pressen können, als alle darauf gewartet hatten, dass der Alte mit Essen nach Hause kam, sie die ganze Nacht gewartet hatten und er nicht aufgetaucht war.

Nach einer Weile stand sie auf, goss sich noch ein Glas Milch ein und durchstöberte wieder die Schränke. In einer Pappschachtel waren ein paar frische Donuts. Sie nahm sich drei, setzte sich wieder hin, aß einen nach dem anderen und leckte sich den Zuckerguss von den Fingern, als sie fertig war.

In ihrer Handtasche fand sie die zerknitterte Schachtel Zigaretten, die ihr Bruder Gary ihr geschenkt hatte, und sie holte eine heraus und hielt sie zwischen den Fingern, während sie die Streichhölzer suchte, die sie schließlich unter den uralten billigen Lippenstiften, Plastikkämmen und Haarbändern fand. Sie zündete die Zigarette an, wedelte das Streichholz aus und warf es in ihre Handtasche, dann zog sie für ihre Füße einen Stuhl hervor, streckte sich aus, blies den Rauch träge zur Decke hinauf und schnippte die Asche zwischen die Hähnchenknochen auf ihrem Teller. Jetzt gab es nur noch eins, was sie sich wünschte.

Der Pulverkaffee war in einer Schublade, sie machte in einem Topf Wasser heiß, entdeckte den Zucker, rührte ihn in den wirbelnden Kaffee und setzte sich, die dampfende Tasse vor sich, wieder hin. Sie rauchte noch eine Zigarette, doch inzwischen hatte sie das Gefühl, schon zu lange dort zu sein. Sie stellte die Schüsseln, aus denen sie sich bedient hatte, in den Kühlschrank zurück und schabte die Speisereste in einen Abfalleimer. Dann ließ sie heißes Wasser ins Waschbecken laufen, spülte Teller, Glas, Tasse, Löffel und Gabel ab und legte alles wieder an seinen Platz. Wischte mit Küchenpapier die Krümel vom Tisch. Sie stellte die Stühle zurück und räumte den Topf weg. Als sie fertig war, nahm sie ihre Handtasche und überprüfte ein letztes Mal, ob alles wieder wie vorher war. Dann schaltete sie das Licht aus und verließ die Küche.

Mitten im großen Raum blieb sie noch mal stehen. Jesus schien mit seinen aufgemalten Augen auf sie herabzuschauen. Sie betrachtete den Tisch und die leeren Schüsseln. Obwohl sein Gesichtsausdruck ihr das Gefühl gab, als mache es ihm nichts aus, dass sie sich bei dem Essen einfach bedient hatte, drehte sie sich um, kehrte durch den stillen Gang zum Tisch zurück und griff in ihre Bluse, um die gefalteten Geldscheine herauszuholen, die sie in ihren BH gesteckt hatte. Sie faltete sie auseinander, legte einen Schein in eine Schüssel und steckte den anderen wieder zurück.

Nichts in dem Raum veränderte sich. Ihr kam in den Sinn, sich ein Eckchen zum Schlafen zu suchen, doch sie war noch zu nah bei dem Ort, den sie verlassen hatte. Als sie die schwere Tür aufdrückte und nach draußen spähte, war der Hund verschwunden. Sie zog sie hinter sich zu und ging die Einfahrt hinauf zur Straße. Doch dann fiel ihr ein, dass das Wasser an der Seite des Gebäudes noch lief, und sie kehrte zurück und drehte es ab.

Die Straße ging hoch zu Hügeln, unter denen sich ferne Felder vor ihr ausbreiteten, die Hoflampen der Häuser waren blau leuchtende Punkte, die rot strahlenden Hecks der Autos schlichen nahezu geräuschlos einen weit entfernten Highway entlang. Es herrschte kaum Verkehr, und die beiden Wagen, die an ihr vorbeikamen, hielten weder noch drosselten sie das Tempo. Eine alte Landstraße, deren Asphaltdecke von den Ausbesserungsarbeiten ganz holprig war und an den Rändern, wo hohes Gras wuchs, allmählich zerbröckelte. Wenn sie an den Häusern vorbeiging, bellten jedes Mal die Hunde. Durch das große Vorderfenster eines Hauses konnte sie Leute sehen, die durch die Zimmer gingen und sich an einen Tisch setzten, einen Mann, eine Frau, einen Jungen und ein Mädchen. Sie blieb einen Augenblick stehen und beobachtete sie. Im Garten gab es Fahrräder, eine Schaukel. Der Mann mit T-Shirt und Brille lachte. Die Frau ging hinter ihm vorbei und legte ihm die Hand auf die Schulter, während sie sich vorbeugte und eine Schüssel auf den Tisch stellte. Der Junge und das Mädchen füllten sich etwas auf ihre Teller. Es glich einer Szene, die sie mal irgendwo in Florida in einem Fernseher im Schaufenster eines Ladens gesehen hatte, und sie erinnerte sich, wie sie dagestanden und sich das Ganze angeschaut hatte, bis ihr Vater zurückgekehrt war, sie am Arm gezogen und aufgefordert hatte mitzukommen. Diese Leute waren fast so wie die Leute in der Fernsehsendung, ein schönes Haus, gute Kleidung, reichlich Essen auf dem Tisch. Sie fragte sich noch etwas anderes, was den Vater und die Tochter betraf. Lag sie wach und versuchte den Schlaf zu verscheuchen, versuchte sie, sich irgendwo zu verstecken, wo er sie nicht finden konnte, bevor sie die Augen schloss? Sie wandte sich von der Familie ab und ging weiter die Straße runter.

Die Muskeln in ihren Beinen kündigten an, dass sie am Morgen vom vielen Bergaufgehen wehtun würden. Aber sie schien sich dem letzten Hügel zu nähern. Im Norden lag ein schwacher Lichtschein zwischen den Bäumen, der sich ans Dach der Welt schmiegte, das musste eine Stadt sein. Vielleicht war es Oxford. Sie hatte ihren Vater davon sprechen hören. Sie dachte, dass er sich da seinen Whiskey besorgte, aber sie selbst war noch nie dort gewesen. Sie waren aus dem Südosten gekommen, durch Georgia und Alabama, die zweispurigen Straßen, die verschlafenen Städtchen an den Interstates, wo sie, in Decken eingerollt oder einfach im Gras ausgestreckt, die Nächte in den Parks verbracht hatten. Und bevor er den Pick-up verloren hatte, im Führerhaus und auf der Pritsche. Doch sie war es gewohnt, zu Fuß zu gehen, eine Straße vor sich. Wie alle anderen führte auch die hier irgendwohin.

Biloxi. So hieß die Stadt. Inzwischen war sie sich sicher. Sie würde den Leuten sagen, dass sie dorthin wollte. Biloxi.

Sie versuchte, nicht ans Alleinsein zu denken. Hoffentlich kriegte sie es nicht wieder mit irgendwelchen Hunden zu tun. Der Hund vorhin hatte eine Verletzung gehabt, wollte, dass ihm jemand die Falle von der Pfote entfernte. Wahrscheinlich war er vor Schmerzen fast durchgedreht. Bevor er in die Falle geriet, war er vielleicht mal guter Hund gewesen. Vielleicht sogar jemandes Lieblingstier. Doch sie war zu oft gebissen worden, um sich Hunden gegenüber sicher zu fühlen. Vielleicht konnte sie später, wenn sie irgendwo sesshaft geworden war, einen Welpen haben, lernen, wie man mit Hunden Freundschaft schloss.

Es ging immer noch bergauf. Zur Rechten, in einer tiefen, glatten Mulde, gesprenkelt mit weißen Gestalten, die wohl schlafende Kühe waren, sah sie einen See. Der Mond war eine auf der Wasseroberfläche schwebende Kugel, und sie wusste, dass der Fluss irgendwo dort unten in dieser Senke war. Sein Name fiel ihr nicht ein. Irgendwann würde sie ihn überqueren, vielleicht auch erst auf der anderen Seite des letzten Hügels. Inzwischen war sie näher bei den roten Lichtern der Autos und blieb jäh stehen, um zu überprüfen, ob sie die Wagen hören konnte. Während sie zwei Lichtstrahlen zwischen den Bäumen hindurchgleiten sah, drang nur ein ganz leises Geräusch an ihr Ohr. Sie fragte sich, was für eine Strecke sie wohl schon zurückgelegt hatte. Wahrscheinlich fünf, sechs Kilometer, doch sie wusste nicht, wie viel Zeit verstrichen war.

Sie ging weiter, zur Kuppe des Hügels hinauf, auf der gerade ein neues Haus gebaut wurde, die Ziegelsteine noch im Garten gestapelt, das Bauholz auf Sägeböcken gelagert, eine frisch betonierte Einfahrt, die von der alten Asphaltstraße abbog. Hinter ihr ertönte ein leises Geräusch, das allmählich lauter wurde, und sie blickte über die Schulter, sah einen Lichtstrahl, der immer heller über das Gras am Straßenrand strich, und hörte, wie sich der Motor abmühte. Sie ging neben der Straße weiter. Bevor der Wagen bei ihr angelangt war, ging der Fahrer vom Gas, und als er vorbeirollte, wandte sie sich um, ein Ford-Pick-up mit nur einem Rücklicht, im Fenster das Gesicht eines Jungen, der sie beobachtete. Der Wagen wurde immer langsamer, fuhr noch zwanzig Meter weiter und hielt dann. Auch sie blieb stehen. Das Bremslicht leuchtete rot, und auf der Pritsche lag ein Boot, das am Führerhaus lehnte. Eine Leuchte ging an, und der Pick-up kam rückwärts auf sie zu. Sie stand da und wartete.

Im Wagen saßen drei junge Männer. Der Kerl, der aus dem Fenster schaute, hatte blondes Haar und einen dünnen Bart, den sie undeutlich erkennen konnte. Die beiden anderen waren dunkel, schemenhaft. Im Führerhaus lief Musik, doch der Fahrer streckte die Hand aus und drehte sie leiser.

»Hey«, sagte der Junge am Fenster.

»Hey«, gab sie zur Antwort.

Der Mittlere besprach sich mit dem Fahrer. Der Blonde musterte sie von oben bis unten und trank einen großen Schluck Bier, streckte dann den Kopf aus dem Fenster und ließ beide Arme heraushängen. Über sein Gesicht konnte sie nicht viel sagen. Am linken Unterarm hatte er ein Tattoo. Der Wagen rumpelte im Leerlauf.

Einer von ihnen forderte den Blonden auf, sie zu fragen, wo sie hinwolle. Und der andere sagte, er solle fragen, ob sie ficken wolle.

»Wo soll’s denn hingehen?«, fragte der Blonde.

Sie hätte sein Gesicht gern besser gesehen, um vielleicht irgendwas über ihn erkennen zu können. Sie hatte noch nicht besonders oft mit Jungs geredet.

»Biloxi«, sagte sie.

Der Mittlere murmelte irgendwas und beugte sich ein Stück vor. Der Blonde trank wieder von seinem Bier.

»Also, das ist noch ’ne ganz schöne Strecke«, sagte er. »Was ist, hat dein Wagen den Geist aufgegeben?«

»Ich hab keinen Wagen«, sagte sie.

Der Fahrer stellte den Motor ab. Bevor er die Scheinwerfer ausschaltete, zeigten sie stämmige Kiefern, einen verrotteten Zaun und eine Straße, die ins Nichts führte. Der Pick-up rollte ein paar Zentimeter zurück. Doch sie verspürte noch keine Angst. Sie glaubte, jederzeit wegrennen zu können, falls es danach aussah, als könnte im nächsten Moment was passieren.

»Wir haben unten am Fluss geangelt«, sagte der Blonde. »Wir haben da unten Leinen ausgelegt. Wohnst du hier in der Gegend?«

Sie deutete die dunkle Straße entlang zu den Hügeln, die sie hinter sich gelassen hatte.

»Da drüben hab ich gewohnt. Ich will nach Biloxi. Fahrt ihr da hin?«

Der Blonde lachte leise und kratzte sich am Kinn. Er gefiel ihr, auch wenn er den Kopf schüttelte.

»Wir fahren nicht nach Biloxi. Weißt du, wie weit das ist?«

»Nein. Wie weit denn?«

»Keine Ahnung, wie viele Kilometer das sind. Da muss man durch den ganzen Staat fahren.«

Sie hob den Blick zum Horizont, wo das breite, gedämpfte Licht immer noch zwischen den fernen Bäumen schimmerte.

»Ist das da oben Oxford?«, fragte sie.

»Wo oben?«

Sie deutete mit dem Kopf auf die Hügel.

»Da oben. Wo die Lichter zu sehen sind.«

Der Junge blickte in die angegebene Richtung und nickte.

»Ach. Ja, das ist Oxford.«

»Muss ich da lang?«

Er zog den Kopf aus dem Fenster und öffnete die Tür. Als er ausstieg, wich sie einen Schritt zurück. Der Mittlere rutschte rüber, blieb aber sitzen. Sie spürte, dass er sie beobachtete, konnte aber seine Augen nicht sehen. Anscheinend war er es, der diese Frage gestellt hatte. Der Blonde deutete mit seinem Bier auf die Lichter. Er war groß, hatte muskulöse Arme und roch nach Fisch.

»Da kannst du durchfahren«, sagte er. »Aber von da müsstest du nach Batesville und dann auf der 55 ganz nach unten. Die geht bis Louisiana. Von da ist es nicht mehr besonders weit bis Biloxi.«

Er drehte sich wieder zu ihr um, und sie sah, dass er barfuß war.

»Ich heiße Jerry«, sagte er. »Und du?«

»Fay«, sagte sie. »Fay Jones.«

»Tja. Willst du ein Bier, Fay Jones?«

»Schätze schon. Wenn ihr genug dabeihabt.«

*

Auf der Pritsche des Pick-ups war es frisch, und der Wind blies ihr das Haar ins Gesicht. Er saß neben ihr, die Schultern an die Scheibe des Führerhauses gedrückt, und hatte Probleme mit dem Anzünden seiner Zigaretten. In dem Boot standen zwei Kühlboxen, und sie hockten sich auf den Hecksitz und stützten die Füße darauf.

Er war vor Kurzem aus der Navy entlassen worden und sprach von all den Orten, an denen er gewesen war, Singapur, Hongkong, Manila. Er erzählte, dass er mit den beiden anderen in der Nähe der Stadt in einem Trailer lebte, dass sie alle in der Spätschicht bei Georgia-Pacific arbeiteten und Sperrholz herstellten. Sie hätten drei Tage Urlaub gehabt, und das Wochenende mitgerechnet, hätten sie weitere vier Tage frei.

Anfangs wollte sie seine Hand nicht halten, aber nach einer Weile tat sie es doch. Sie ließ sich ein paarmal von ihm küssen, aber als er versuchte, ihr an die Titten zu fassen, schob sie seine Hand weg. Manchmal wünschte sie sich, dass sie kleiner wären. Die Leute sahen sie ständig an, Männer, Jungs wie die hier. Er protestierte nicht. Sie presste die Knie zusammen und versuchte, ihr Haar festzuhalten.

Sie stürzte ihr Bier hinunter, und er machte ihr noch eins auf. Durch das verschlissene Hemd, das er trug, sah sie die Muskeln an seinem Rücken. Nachdem er ihr das Bier gereicht hatte, beugte er sich vor und küsste sie wieder. Sie wehrte sich nicht.

Hinter ihnen spulte sich die Straße ab, und der weiße Mittelstreifen glitt jenseits der Heckklappe davon, verblasste, verschwand in der Finsternis. Die Häuser, an denen sie vorbeifuhren, wurden im Dunkeln immer kleiner. Sein Körper war warm, doch der Wind wurde langsam kühl, und ihre Haut bildete winzige Hubbel wie die aufgerichteten Brustwarzen, die sie in ihrem BH spürte. Sie wusste nicht, was sie machen würden, wenn sie zu ihrem Fahrtziel gelangten. Sie wollte die anderen nicht dabeihaben und sagte ihm, sie habe gehört, was der eine von ihnen gesagt hatte.

»Der ist bloß betrunken«, sagte er.

Sie hielten an einer roten Ampel, und als Autos hinter ihnen stehen blieben, schlug sie die Beine übereinander. Der Pick-up bog ab und fuhr einen langen Hügel hinunter, vorbei an Einkaufszentren, Videoläden und Schnellimbissen. An einer anderen roten Ampel ließ ein Polizist im Streifenwagen sie nicht aus den Augen, doch der Blonde hatte ihr schon gesagt, dass sie das Bier verstecken sollte, solange sie noch in der Stadt waren. Der Polizist beobachtete sie die ganze Zeit, und sie hatte Angst, er würde sie anhalten, aber er tat es nicht.

Bei geringem Verkehr fuhren sie den nächsten Hügel hinauf, nur Jungs in Jeeps und japanischen Pick-ups, die die Straße auf und ab gondelten. Wo hatten die bloß das Geld für so teure Fahrzeuge her? Sie schienen überall zu sein, standen auf Parkplätzen und unterhielten sich mit ihresgleichen, versammelten sich in Gruppen und lehnten sich lachend aus den Fenstern.

»Was haben die denn vor?«, fragte sie.

»Ach, die hängen bloß rum. Schätze, die haben nichts Bessres zu tun.«

Jetzt, wo sie in der Stadt waren, wirkte er stiller. Der Pick-up rumpelte, bog ab, fuhr eine weitere Straße hinauf und drosselte dann das Tempo, um ein riesiges weißes, von Scheinwerfern beleuchtetes und von hohen Eichen umgebenes Gebäude halb zu umrunden. Als sie es hinter sich ließen, fragte sie: »Was ist das?«

»Gerichtsgebäude«, sagte er. »Warst du denn noch nie in der Stadt?«

»Nicht in der hier.«

Der Wagen beschleunigte, jetzt war der Wind noch kälter. Sie schmiegte sich an ihn, um sich zu wärmen, ihr Haar flatterte an ihrer Wange, und sie schloss ab und zu die Augen. Seine Hand rieb über ihren Rücken und ihre Rippen. Sie spürte, wie seine Finger innehielten, um die Form eines Knochens nachzuzeichnen, und sie schämte sich, weil sie so dünn war und niemand es sehen sollte.

Sie fuhren jetzt stadtauswärts, auf einer holprigen Straße mit unbeleuchteten Gebäuden und mit wuchernden Kudzupflanzen bewachsenen Gräben, an der hinter Maschendrahtzäunen kaputte Autos gestapelt waren. Ein blauer Wasserspeicher erhob sich auf blauen Beinen, war wie die Autos auf dem darunter gelegenen Parkplatz in dunstiges Licht getaucht, von einem flachen Fabrikdach stieg Rauch auf. Eine Wand aus Kiefern glitt vorbei. In den Kurven schwankten sie auf dem Bootssitz, sie redeten nicht viel, verbargen sich bloß vor dem peitschenden Wind und tranken in kleinen Schlucken ihr Bier. Der Pick-up beschleunigte, und sie fuhren in eine Mulde mit schwarzen Bäumen und Holzzäunen hinab, die sich hinter ihnen, soweit ihr Blick reichte, in der sie verfolgenden Dunkelheit verloren. Die Bremslichter warfen einen schwachen roten Schleier über die Zaunpfähle und die Teerflecke auf der Straße. Der Wagen bremste mit quietschenden Reifen und bog in eine unbefestigte Einfahrt. Äste hingen herab, grünes Laub streifte über das Dach des Führerhauses, und der Pick-up ruckelte und schaukelte über Löcher und Unebenheiten im Kiesweg. Bier schwappte aus der Dose auf ihren Rock, und unter dem dunklen Fleck fühlte sich ihr Bein kalt an.

»Ich muss mal auf die Toilette«, sagte sie.

»Ja. Einen Moment noch.«

Er löste den Arm von ihr, lehnte sich aufrecht ans Führerhaus, kippte den letzten Schluck Bier hinunter und warf die Dose in die vorbeigleitenden Büsche. Sie fuhren einen engen Bogen, dann hielt der Wagen mit einem Ruck. Der Blonde stand auf, sprang von der Pritsche und sagte irgendwas zu dem Mittleren, der gerade seine Tür schloss. Sie betrachtete den Ort, an dem sie angelangt waren. Es war ein Hain junger Kiefern mit einem ungewöhnlich breiten Trailer in der Mitte. Unten drunter waren noch abgesägte Baumstümpfe zu sehen. Eine Hängelampe, die an einem der Bäume befestigt war, beleuchtete eine halbfertige, mit Sägemehl und Holzschnitzeln übersäte Holzveranda und einen Sägebock, an dem Bretter lehnten. Aus dem Innern der Aluminiumwände hörte sie ein schreiendes Baby und dröhnende Musik.

Sie stand auf. Der Blonde streckte die Arme hoch, um ihr herunterzuhelfen. Sie schwang die Beine über die Seitenwand, sprang halb, rutschte halb, und seine kräftigen Hände hielten sie am Oberkörper, bis er ihre Füße auf dem Kies abgesetzt hatte. Er musterte sie einen Augenblick. Dann trat er zur Seite, beugte sich über die Pritsche und zerrte an einer der großen Kühlboxen. Der Fahrer kletterte ins Boot hoch, trat zwischen die Sitze, packte den anderen Griff, und dann hoben sie die Box gemeinsam auf die Seitenwand. Dort hielt der Blonde sie fest, bis der Mittlere bereit war, sie mit ihm herunterzuheben.

»Wir müssen die Fische ausnehmen«, sagte der Blonde.

»Da drin ist einer, der wiegt fast fünf Kilo«, sagte der Mittlere. »Willst du ihn mal sehen?«

»Ja«, sagte sie.

Sie trugen die Kühlbox näher ans Licht, und der Mittlere hob den Deckel, sodass sie einen Blick in das zerstoßene Eis werfen konnte, in dem schwarz und glänzend die glitschigen Welse mit ihren Bartfäden und toten Augen lagen.

»O Gott, was für eine Menge«, sagte sie. »Was wollt ihr denn mit so vielen Fischen anfangen?«

Der Fahrer war ausgestiegen und trat neben sie. Der Mittlere wühlte in den schleimigen Fischen, um ihr das große Tier zu zeigen.

»Wir braten sie irgendwann«, sagte er und grinste sie über die Schulter an. »Trinken Bier. Machen Party. Hast du Lust auf ’ne Party?«

»Schätze schon«, sagte sie. Sie lächelte ihnen zu und trank noch einen Schluck Bier. Ihre Handtasche baumelte an ihrem Arm, und sie musste dringend auf die Toilette, doch sie wollte nicht im Beisein der anderen danach fragen. Aus den Tiefen der Kühlbox zog der Mittlere den gebogenen, eiskalten Körper eines Flachkopfwelses, der fast sechzig Zentimeter lang war, und streckte ihr den tropfenden Fisch wie ein Geschenk entgegen.

»Schönes Exemplar, was?«

»Allerdings«, sagte sie. Sie berührte das glitschige Fleisch mit der Fingerspitze, dann ließ der Junge das Tier wieder in die Eissplitter fallen und wischte sich die Hände an seiner Hose ab.

»Wenn du willst, kannst du schon reingehen«, sagte der Blonde.

Sie trat näher und stand da, bis die beiden anderen mit der Kühlbox weggingen.

»Wo ist die Toilette?«, fragte sie.

Er drehte sich um und deutete auf das eine Ende des Trailers.

»Immer den Flur lang. Linda ist drinnen, aber sag ihr einfach, dass du mit uns gekommen bist. Wenn wir mit den Fischen fertig sind, kommen wir auch rein.«

Er wartete keine Antwort ab, sondern begab sich zu einer Werkzeugkiste auf der Veranda und kramte darin. Er holte irgendwas heraus und ging dann zu den beiden anderen am Ende des Trailers. Einer hielt eine Taschenlampe, und sie sah kurz einen groben Tisch und die Beine ihrer Blue Jeans.

Sie stand allein da und trank noch einen Schluck Bier. Linda. Und da war auch ein Baby, doch im Moment konnte sie es nicht hören. Drinnen lief weiter Musik, eine seltsame Gitarre, wie sie noch keine gehört hatte, aber sie hatte nur selten Musik gehört, nur das, was im Auto lief, als sie den Pick-up noch hatten, oder manchmal, wenn die Pflücker, mit denen sie in den Obsthainen arbeiteten, ein Radio mitbrachten. Sie hatte sich immer gewünscht, eins zu besitzen, um es wie die anderen mit sich herumzuschleppen.

Zu den Stufen führte ein Weg aus weißem Splitt, jemand hatte sich die Mühe gemacht, auf beiden Seiten eine Holzumrandung zu bauen, und da, wo vermutlich der Rest der Veranda hinkommen sollte, waren vor dem Trailer Pfosten eingerammt. Sie stieg über die orangen Verlängerungskabel hinweg, ging um ein kaputtes Dreirad herum und die Stufen hinauf. Da sie nicht wusste, ob sie anklopfen sollte, machte sie einfach die Tür auf, steckte den Kopf hinein und blickte sich um. Das Wohnzimmer war mit Teppichboden ausgelegt, die Wände mit einer glänzenden Täfelung verkleidet. Zur Rechten eine unordentliche Küche und irgendwas, das in einem Topf auf dem Herd dampfte. Sie trat ein und zog die Tür hinter sich zu. Das seltsame, unangenehme Gejammer des Babys ging irgendwo wieder los. Den Flur zur Linken entlang. Aber er hatte nach rechts gezeigt.

An der Rückwand des Wohnzimmers stand neben einem Fernseher eine große Stereoanlage, und aus den Lautsprechern kam laute, kraftvolle Musik mit wummerndem Bass. Sie musterte die neuen Möbel und die ganzen Schallplatten, die sie hatten, sah, wie dick der Teppichboden und wie schön alles war, und da wusste sie, dass es richtig gewesen war wegzugehen, auch wenn ihr Bruder ihr bereits fehlte.

Sie stellte ihr Bier auf die Küchentheke und ging den Flur entlang. Es war eng, und als sie sich an einem zusammenklappbaren Wäscheständer vorbeizwängen wollte, stieß sie mit einer molligen jungen Frau zusammen, die aufschrie und mit ängstlichem Blick gegen die Wand taumelte.

»Wer zum Teufel bist du denn?«, fragte sie, und Fay wich zurück.

»Ich hab die Toilette gesucht. Er hat gesagt, ich muss den Flur lang.«

»Wer hat das gesagt? Du hast mich zu Tode erschreckt.«

Fay deutete nach draußen.

»Jerry? Der Typ da draußen? Die haben einen riesigen Haufen Fische gefangen.«

Am anderen Ende des Trailers jammerte das Baby inzwischen lauter, ein kummervolles Geschrei, das in dem Gitarrengewitter im Wohnzimmer unterging.

»Ich glaube, die Musik hat das Baby geweckt«, sagte Fay.

Die Frau drängte sich an ihr vorbei und murmelte: »Was weißt du denn schon?«

Fay blickte ihr nach. »Ich weiß gar nichts«, sagte sie zu ihrem Rücken. »Ich wollte bloß auf die Toilette.«

Sie beobachtete, wie die Frau das Wohnzimmer durchquerte und zum anderen Ende des Trailers ging, dann schlug irgendwo eine Tür zu, und es war nur noch das Dröhnen der Musik zu hören. Sie wusste nicht, was sie tun sollte. Sie war es gewohnt, in den Wald zu gehen, aber da hinten waren die Männer, und sie hatte Angst, sie würden sie sehen. Also wartete sie. Eine Minute verstrich, und dann kam die Frau mit einem Baby im Schlafanzug auf dem Arm aus dem Zimmer. Als sie an der Stereoanlage vorbeikam, drehte sie die Musik leiser. Sie blieb am Rand des Flurs stehen und rieb über den Rücken des Kindes, wiegte es hin und her. Das Baby hatte die Finger im Mund und schaute Fay an.

»Es ist da drüben«, sagte die Frau. »Zwei Türen weiter.«

Fay sagte nichts. Sie drehte sich um, ging durch den Flur, und als sie die Toilette sah, trat sie ein und schloss die Tür, hob den Rock hoch, zog den Slip bis zu den Knien herunter und setzte sich. Dann schloss sie die Augen, stieß einen langen Seufzer der Erleichterung aus und beugte sich vor, bis sie fertig war. Es roch seltsam im Bad, vor der Wanne war Wasserspielzeug auf dem Fußboden aufgereiht, und auf einem Regal lagen, ordentlich zusammengefaltet, Schlafanzüge und Socken. Sie tupfte sich mit einem Papiertuch ab, stand auf, richtete ihre Kleidung und betätigte die Toilettenspülung. Bei all- dem hatte sie ihre Handtasche keinen Moment losgelassen.

Als sie wieder in den Flur trat, war niemand zu sehen. Ihre Dose stand noch auf der Küchentheke, und sie trank einen Schluck, doch das Bier war warm und schmeckte schal. Sie hatte keine Lust, sich aufs Sofa zu setzen. Am liebsten hätte sie sich irgendwo eine Weile hingelegt und darüber nachgedacht, was sie als Nächstes tun sollte.

Sie ging ins Wohnzimmer und hörte ein paar Minuten der Musik zu. An den Wänden hingen gerahmte Bilder der Frau, auf denen sie jünger und schlanker war und ihr Haar eine hellere Farbe hatte. In einer Ecke lehnte ein Kleinkalibergewehr, der Schaft rot gestrichen. Neben dem Sofa waren Zeitschriften aufgeschichtet, die sich auf den Boden verteilten.

Sie nippte wieder an ihrem Bier, sah neben der Stereoanlage ein Fenster an der Rückwand und ging hinüber. Als sie das Gesicht an die Scheibe drückte und mit der Hand die Augen beschirmte, sah sie, wie die Männer draußen die mit dem Kopf an den Bäumen hängenden Fische mit ihren Zangen bearbeiteten, wie sie ihnen die Haut abzogen und wie das Licht auf ihren blutigen Händen und dem blutigen Fleisch tanzte. Sie wich zurück, damit sie nicht merkten, dass sie sie beobachtete, und durchquerte wieder das Zimmer.

Sie öffnete die Tür, schloss sie hinter sich und stieg die Stufen hinunter. Die Frau saß neben dem Weg auf einem Gartenstuhl und versuchte, das Kind auf die Beine zu stellen. Es war offenbar noch nicht alt genug, um laufen zu können.

»Hey«, sagte Fay. »Tut mir leid, dass ich dich erschreckt hab.«

»Ich weiß nie, wer da ist und wer nicht«, sagte die Frau.

»Sie haben mich an der Straße mitgenommen.«

»Wo haben sie dich denn aufgegabelt, auf der anderen Seite des Flusses?«

»Ja.«

»Keine Ahnung, weshalb sie ihre ganzen Huren mitbringen müssen.«

»Bin keine Hure.«

Die Frau richtete den Blick auf irgendwas hinter den dunklen Bäumen. Der Scheinwerfer strahlte in ihr Gesicht, und ihre Augen leuchteten rot. Das Kind versuchte, einen Schritt zu machen, und sie ließ es los, doch es wäre fast gestürzt und klammerte sich an ihr Knie.

»Wenn du hierbleibst, musst du dich an den Kosten beteiligen«, sagte die Frau. »Und ich hab heute Abend schon gegessen. Wenn du was willst, musst du’s dir selber machen.«

»Ich hab schon gegessen.«

Die Frau schüttelte verstohlen den Kopf, als würde sie das zufriedenstellen.

»Sind sie betrunken?«

»Ich glaub nicht. Aber das kann ich nicht beurteilen.«

»Wie viele Fische haben sie gefangen?«

»Einen ganzen Haufen. Der eine wiegt fast fünf Kilo.«

»Du hast nicht zufällig eine Zigarette, oder?«

Fay drehte sich ins Licht, öffnete ihre Handtasche und kramte darin nach der zerknitterten Schachtel, zog sie hervor. Es waren noch zwei oder drei Zigaretten übrig. Sie schnippte eine heraus, trat näher und hielt sie ihr hin. Die Frau nahm sie und steckte sie zwischen die Lippen, streckte ein Bein aus und nestelte in ihrer Tasche.

»Scheiße. Hab’s im Haus liegen lassen.«

»Ich hab Streichhölzer«, sagte Fay und stöberte in ihrer Handtasche, bis sie sie gefunden hatte. Als sie ihr die Streichhölzer reichte, ließ die Frau das Baby los, und es bekam einen solchen Schrecken, dass es kurz mit den Armen fuchtelte und dann hinfiel. Obwohl es zu spät war, um es aufzufangen, wäre Fay ihm fast zu Hilfe geeilt. Das Kind lag auf dem Boden, während die Frau sich bemühte, ihre Zigarette anzuzünden.

»Scheiße«, sagte sie. Sie hob das Kleine auf, hielt es mit den Knien fest, brachte die Zigarette schließlich zum Brennen und gab Fay die Streichhölzer zurück.

»Ist das dein Baby?«

»Ja. Ist meistens krank. Als du reinkamst, hatte ich es fast so weit, dass es schläft.«

Fay sah ein paar Sterne zwischen den Zweigen der schützenden Kiefern hindurchfunkeln. Jemand fuhr vorn auf der Straße vorbei. Sie blickte sich nach einer Sitzgelegenheit um, konnte aber keine Stühle entdecken. Das Baby hatte die Hand in den Mund gesteckt und sah sie verschämt, beinahe lächelnd, an, doch sie konnte nicht erkennen, ob es ein Junge oder ein Mädchen war. Es war lange her, dass sie einem Baby so nahe gewesen war, und sie lächelte zurück.

»Ich weiß gar nicht, wo wir die unterbringen sollen«, sagte die Frau. »Ich hab Charles gesagt, dass er noch eine Gefriertruhe besorgen muss, und er hat gesagt, dafür hätten wir keinen Platz, und da hab ich gesagt, dann bau irgendwas, weil die, die wir haben, ist voller Wild, und das kommt mir langsam zu den Ohren raus. Da drüben ist ein Stuhl, falls du dich setzen willst.«

»Wo denn?«

»Da. Der blau-weiße. Mit welchem bist du denn zusammen?«, fragte die Frau.

»Du meinst … mit welchem von den Jungs?«

Die Frau funkelte sie an und sog heftig an ihrer Zigarette. Fay gefiel ihr Blick nicht.

»Also, Charles ist es jedenfalls nicht. Sonst gnade ihm Gott. Wenn der Scheißkerl dich abgeschleppt und hierhergebracht hat, dann reiß ich ihm sämtliche Haare aus. Wegen diesem Angelausflug hab ich zwei Baseballspiele verpasst.«

»Ich hab mich mit Jerry unterhalten«, sagte Fay. »Er hat auf der Fahrt bei mir gesessen.«

»Pah«, sagte sie. »Da kannst du froh sein, dass Brenda nicht da ist.«

»Wer ist Brenda?«

»Seine Frau. Sie ist in meinem Baseballteam. Sie spielt Shortstop und ich Second Base. Warst du schon mal bei einem Baseballspiel?«

»Ich glaube nicht«, sagte Fay. Die Frau hatte sich auf ihrem Stuhl umgedreht und achtete nicht auf das Baby. Es kam zwischen ihren Beinen hervor und versuchte, ein, zwei Schritte zu machen.

»Wir spielen für Rent-All«, sagte die Frau. »Wir sind die Rent-All Lady Rambos, ich, Brenda, Jo Ann, Rachel, Heather Patterson und Kuwanda Starr, das ist eine Schwarze, die hat einen guten Schlag, aber sie kann nicht besonders gut rennen, denn ihr Freund wollte sie umbringen und hat sie mit dem Auto über den Haufen gefahren. Letzten Donnerstag haben wir gegen Handy Andy gespielt, und Rachel war auf der zweiten Base und ich auf der dritten, und Kuwanda hat einen Ball geschlagen, der fast bis zum Zaun ging, und ich hab’s auf die Homeplate geschafft, aber Rachel nicht.«

Das Baby hatte die Arme gehoben, vielleicht, um das Gleichgewicht zu halten, und schwankte, beide Füße nach innen gerichtet, als würde es sich zu seiner eigenen Melodie bewegen. Es blickte zu Fay auf und versuchte, auf sie zuzugehen.

»Sie haben mich gebeten, nächstes Jahr das Training zu übernehmen«, sagte die Frau. »Ich hab gesagt, dass ich’s mache, aber sie müssten uns bessere Trikots besorgen.« Sie nahm einen letzten Zug an der Zigarette und warf sie in den Garten. Dann blickte sie kurz in den Himmel hinauf und lehnte sich auf dem Stuhl zurück. Das Baby hatte die Sicherheitszone ihres Knies verlassen.

»Früher hab ich für Northeast gespielt«, sagte sie. »Aber die Liga, in der wir waren, hat mir nicht gepasst, weil, wir haben immer nur gegen Nigger gespielt und mussten auf Turnieren in Holly Springs antreten, und da gab’s jedes Mal Ärger. Und da hab ich zu Ken gesagt, ich hab nix gegen Nigger, hab ich gesagt, wenn sie sich anständig aufführen. Ich hab keine Vorurteile, ich war mit Kuwanda auf jeder Menge Betriebsfesten und so und begegne ihr ständig bei Wal-Mart. Aber, hab ich zu Ken gesagt, wenn du denkst, ich lass mir in Holly Springs von einer Horde Affen wegen einem verdammten Baseballpokal die Kehle durchschneiden, dann fick dich ins Knie. Sind die da hinten immer noch nicht fertig?«

Sie blickte über die Schulter, und als das Baby hinfiel, hörte Fay, wie sein Kopf mit einem üblen Geräusch an die Holzumrandung prallte. Sie stand auf.

»Darf ich’s mal halten?«, fragte sie.

Die Frau drehte sich wieder um und blickte sie an. Sie schien sie zu taxieren. Dann richtete sie sich auf, hob das Kind hoch und reichte es ihr.

»Warum nicht«, sagte sie. »Aber lass es nicht fallen.«

»Das würde ich nie tun«, sagte Fay, und schon saß das Baby auf ihrem Bein, und sie schlang die Hände um seinen Bauch und blickte in sein blasses Gesicht. Es kaute irgendwas.

»Ich geh mal nach hinten und seh nach, was sie alles gefangen haben«, sagte die Frau und stand auf. Sie ging den Weg entlang und am Pick-up vorbei, und ihr breiter Hintern verschwand in der Dunkelheit auf der anderen Seite des Trailers.

Fay steckte den Finger in den Mund des Babys, ließ ihn die weiche, feuchte Unterlippe entlanggleiten und angelte nach dem Steinchen, doch es rutschte in den glatten Spalt vor dem Zahnfleisch, und sie sperrte mit dem Finger seinen Mund auf, starrte hinein, holte das Steinchen heraus und warf es auf den Boden.

»Iss lieber keine Steine«, sagte sie zu dem Kind. Sie war zu dem Schluss gekommen, dass es ein Mädchen war. Sie wiegte es ein Weilchen auf dem Knie, und es lachte freudig und schaukelte hin und her. Von früher konnte sie sich noch an die kleinen dicken Hände mit den Grübchen unter den Fingerknöcheln erinnern. Wie gut das Haar eines Babys nach einem Bad duftete. Das Haar der Kleinen war von einem zarten Hellbraun, und sie küsste es auf die Wange.

»Ich wünschte, du wärst mein Kind«, sagte sie. »Ich würde dich nicht hinfallen lassen.« Sie dachte einen Augenblick nach. »Und auch nicht gegen ein Auto eintauschen.«

Die Frau blieb lange weg. Einmal hörte sie einen Streit, protestierende Stimmen, und mehrmals sah sie, wie der Strahl einer Taschenlampe um die Ecke des Trailers leuchtete, wo dessen Rahmen auf Mauersteinen ruhte. Sie hatten die Räder nicht abmontiert, und Fay fragte sich, wie sie ihn hier unten hingeschafft hatten. Das Baby begann zu quengeln, doch sie umarmte es fester, und als es zu schreien anfing, drückte sie es an sich und tätschelte ihm den Rücken, bis es sich wieder beruhigte. Nach einer Weile merkte sie, dass es schlief. Aus der Dunkelheit drang Gelächter herüber, und sie fragte sich, ob diese Brenda herkommen würde und ob sie dann irgendwas von ihr zu befürchten hatte. Der nächste Tag war noch zu weit weg, um darüber nachzudenken, wie er sein würde und was sie essen könnte. Doch sie hatte kaum noch Geld. Sie betrachtete die kaputten Tennisschuhe an ihren Füßen, die Schnürsenkel zerrissen und wieder zusammengebunden.

Sie nahm das Baby in die Arme, legte es behutsam auf ihren Schoß und drehte es auf die Seite, damit sein Kopf auf ihrem Schenkel ruhte. Die dicken Händchen in ihren Fingern waren kühl und faltenlos. Sie betrachtete die winzigen Fingernägel und die geschlossenen Lider und sah am Kinn des Babys eine dünne glänzende Sabberspur, die sie mit dem Daumen wegwischte.

»Ich würde nicht zulassen, dass dir was passiert«, flüsterte sie. Da draußen hinter den Kiefern herrschte nur dunkle Nacht.

*

Im Wohnzimmer brannte inzwischen Licht, und die Musik war ein Lebewesen, das durch die Luft glitt und Fays Haut berührte. Es war ihr noch nie gelungen, die einzelnen Töne so deutlich zu hören, die Streicher, das Schlagzeug, die Bläser und die Klaviertasten. Sie saß im Schneidersitz neben dem Couchtisch und lachte unbeschwert, an der Bierdose in ihrer Hand hingen noch kleine Eissplitter. Sie reichten ihr immer wieder die Pfeife, und plötzlich wusste sie, dass es richtig gewesen war, alles hinter sich zu lassen. Das Ganze kam ihr jetzt bloß wie ein Albtraum vor, wie ein anderes Leben, das sie eine Weile geführt hatte, bevor sie das hier fand. Sie hatte nicht gewusst, dass man sich so gut fühlen konnte, so geliebt und geschützt und glücklich. Noch letzte Nacht hatte sie in dieser vermoderten schwarzen Hütte im Wald gehockt. Und jetzt war sie hier, mit Musik und Freunden, war in Sicherheit.

Auf dem Tisch stand jede Menge Essen: Chips, Dips und Brezeln, der Blonde und der Mittlere hatten Welse filetiert und brieten sie auf dem Herd. Sie roch den brutzelnden Fisch und hörte das zischende Öl, und jedes Mal, wenn sie zu dem Blonden hinüberschaute, zwinkerte er ihr zu. Während er am Herd hantierte, musterte sie seine Armmuskeln und die Umrisse seiner Beine in der Blue Jeans. Aber sie musste ihn nach dieser Brenda fragen. Es war noch genug Zeit, um darauf zu sprechen zu kommen. Er hatte bereits gesagt, dass sie hier übernachten könne. Zum Reden blieb noch jede Menge Zeit. Im Augenblick wollte sie bloß weiter kaltes Bier trinken, die Musik hören und sie bis ins Innerste spüren, sowie sie durchs Zimmer dröhnte und aus jedem Winkel sprach.

»Willst du noch ein Pfeifchen?«, fragte der Fahrer. Er saß neben ihr auf dem Boden, den Rücken ans Sofa gelehnt, und Linda saß in einem Sessel an der Tür und sang mit geschlossenen Augen zur Musik. Irgendwann hatte sie das Baby wieder ins Schlafzimmer gebracht und war eine Weile dort geblieben. Später war sie wieder zurückgekehrt, und seitdem war sie hier.

»Klar«, sagte Fay. Er reichte ihr Beutel und Pfeife und trank noch einen Schluck Bier. Auf dem Tisch stand auch eine Flasche Whiskey.

»Willst du was?« Der Fahrer nahm die Flasche und hielt sie ihr hin.

»Warum nicht«, sagte sie. Sie nahm die Flasche und setzte sie an die Lippen, trank einen kräftigen Schluck. Der Whiskey war heiß und brannte im Mund und dann auch im Magen, und sie verzog das Gesicht und reichte die Flasche zurück. Er schien sie innerlich durchzurütteln, sie stieß den Atem aus und wedelte mit der Hand vor dem Mund.

»Heftig, was?«, sagte er. Er lachte über sie und stellte die Flasche wieder auf den Tisch. Im Fernsehen lief irgendeine Sendung, doch sie konnte dem Ganzen nicht folgen. Sie griff in den Beutel, nahm ein bisschen Gras und steckte es in die Pfeife. Der Fahrer beobachtete sie. Ein paar Krümel fielen vom Pfeifenrand und landeten auf ihrem Rock. Sie warf einen Blick darauf und streifte sie dann auf den Teppichboden.

»Verdammt«, brüllte er. »Das Zeug hat fünfzig Dollar gekostet. Wirf es nicht auf den scheiß Fußboden.«

Sie blickte auf und sah, dass er richtig wütend war.

»Tut mir leid«, sagte sie. »Hast du Feuer?«

Er klatschte ein Feuerzeug vor ihr auf den Boden und starrte auf den Bildschirm. Linda schaukelte in ihrem Sessel.

Als Fay die Pfeife zum Mund führte, setzte der Blonde sich neben sie. Sie drehte sich halb zu ihm um, knipste das Feuerzeug an, hielt die Flamme an die Pfeife und sog am Mundstück, spürte, wie der beißende Rauch in ihre Lunge strömte, und hielt, wie sie ihr gesagt hatten, die Luft an.

»Lass mich auch mal ziehen«, sagte der Blonde und nahm Pfeife und Feuerzeug.

Fay formte mit den Lippen ein kleines Loch und blies einen dünnen Rauchfaden aus, denn so hatte sie es bei den anderen gesehen. Sie beobachtete den Blonden und sah, wie die rote Saat des Feuers im Pfeifenkopf wuchs. Nachdem er alles eingesogen hatte und die Pfeife erlosch, legte er sie weg. Er bekam einen Hustenanfall, zog den Kopf ein und lehnte sich ans Sofa. Immer noch hustend, legte er den Arm um sie.

»Verdammt«, sagte er. »Das alte Zeug hat’s echt in sich. Bist du bekifft?«

»Mir geht’s gut«, sagte sie. »Ich hab mich noch nie so gut gefühlt. Wirklich nett von euch, dass ihr mich hier übernachten lasst.«

Er drehte ihr Gesicht zu ihm, und als sie sich vorbeugte, nahm er ihren Kopf in beide Hände, und wieder roch sie den Fisch an ihm. Die Musik war immer noch laut, und im Zimmer hing dichter Rauch. Sie hatte ein flaues Gefühl im Magen, und der Bass aus den Lautsprechern begann schmerzhaft in ihren Ohren zu dröhnen. Er zog sie beiläufig an sich und küsste sie, sein Atem heiß und säuerlich, dann schob er ihr die Zunge in den Mund. Sie wich zurück, zog seine Hand nach unten und hielt sie in ihrer eigenen, und er schlang seine Finger in ihre. Sie spürte, wie sie errötete. Seine Hand glitt wieder nach oben, und wieder entzog sie sich ihm. Als sie sich zu dem Fahrer umdrehte, sah sie, dass er sie anstarrte. Der Mittlere stand noch am Herd und hatte nichts bemerkt. Linda saß mit geschlossenen Augen in ihrem Sessel. Vielleicht schlief sie.

»Nicht vor den Augen der anderen«, sagte Fay.

»Dann komm«, sagte er und stand auf.

Sie blickte zu ihm auf, und plötzlich wurde ihr schwindlig. Sein Gesicht schien zur Decke zu wirbeln, seine Haarsträhnen standen ihm seitlich vom Kopf.

»Ich dachte, wir wollten essen«, sagte sie, doch auf einmal hatte sie keinen Appetit mehr und plapperte es bloß so dahin, um das Ganze hinauszuzögern und nicht aufstehen zu müssen, aber er streckte die Hand aus, fasste sie am Handgelenk und zog sie hoch.

»Iss später«, hörte sie ihn sagen. Dann führte er sie um den Tisch herum und durchs Wohnzimmer, und der Mittlere hob den Blick, um Fay zu beobachten, während sie vorbeigingen. Der Geruch des spritzenden Öls traf sie mit voller Wucht, und eine Dampfwolke stieg zur Abzugshaube auf. Ihr wurde wieder ganz flau. Sie warf einen Blick in die Pfanne, sah die mit angebranntem Maismehl bestäubten dicken Fischstücke und die dünnen blutigen Risse, die das Fleisch durchzogen, und ihr trat kalter Schweiß auf die Stirn.

»Ich fühl mich nicht so gut«, sagte sie, doch der Blonde schien es nicht zu hören. Er hielt sie immer noch an der Hand, und sie gingen den Flur entlang, in dem sie Linda begegnet war, aber jetzt war es dunkel, und sie stieß mit den Schultern gegen die Wände. Auf dem Boden lagen überall Kleidungsstücke. Sie kamen an der offenen Badezimmertür vorbei. Sie hätte nicht gedacht, dass der Flur so lang war. Von dem ganzen Bier, das sie getrunken hatte, war ihre Blase schon wieder voll, und sie zerrte an seiner Hand, um ihm zu sagen, dass sie stehen bleiben wollte, doch er war zu stark und zog sie einfach weiter. Am Ende des Flurs stieß er eine Tür auf. Im Zimmer schaltete er eine Lampe an, warf sie auf das ungemachte Bett und schloss die Tür. Sie landete auf der Bettkante, ihr Rock weit nach oben gerutscht, ihr Verstand benebelt. Sie sah Angelzeug auf der Kommode liegen, Köder, aufgespulte Schnüre und eine verhedderte Rolle, und dahinter hingen Farbposter von nackten Frauen an der Wand.

»Oh«, sagte sie und legte die Hand auf den Bauch, um die dort wütende Rebellion zu beruhigen. Sie wollte mit einem Ruck aufstehen, um zur Tür zu gelangen, kippte aber auf eins der Kissen und versuchte, sich mit zittrigem Arm hochzustemmen. Er streifte sein T-Shirt über den Kopf.

Es klopfte, und eine Stimme fragte: »Wollt ihr was essen?« Sie versuchte wieder aufzustehen.

In ihrem Innern schien sich alles irgendwie verlagert zu haben, denn ihre rechte Seite fühlte sich schwerer an als die linke. Ein Bein versagte ihr den Dienst, und sie hatte Angst, sich einzunässen. Und plötzlich lag er auf ihr, sein heißer, hungriger Mund presste sich auf ihren, und ihr Haar hing ihr ins Gesicht, als es wieder klopfte und die Stimme sich meldete: »Hey. Wie viele Hushpuppies könnt ihr verdrücken?«

Seine Hand glitt unter ihren Rock, und sie spürte, wie seine Finger das Gummiband ihres Slips wegschoben und weiter vordrangen, wie seine Fingernägel an ihrer Haut kratzten. Sie zuckte zurück und versuchte, Wörter zu bilden, um ihm zu sagen, dass sie darauf keine Lust hatte. Es war heiß in dem winzigen Zimmer, und sie roch seinen Schweiß an den Laken, aber plötzlich stand er auf, öffnete seine Hose, packte Fay an den Ohren und zog sie zu sich. Sie streckte die Hände aus, um ihn wegzustoßen, sah seinen Schoß auf ihr Gesicht zukommen. Doch er hielt ihren Kopf in stählernem Griff, und sie spürte, wie seine harten Finger gegen ihren Schädel drückten. Als sie sah, dass er in ihren Mund eindringen wollte, übergab sie sich.

Das hielt ihn auf. Er stieß einen kurzen Schrei aus und wich zurück, und sie versuchte, vom Bett zu gelangen, bevor sich ihr noch mal der Magen umdrehte, doch da kam auch schon der nächste Schwall. Sie wollte sagen, dass er ihr helfen solle, doch bevor sie das Bett verlassen konnte, war er schon an der Tür, riss sie auf, rannte ins Bad und knallte die Tür hinter sich zu. Aber es war noch nicht vorbei. Sie suchte rasch etwas, in das sie kotzen konnte, sah einen kleinen Abfalleimer aus Plastik, halb voll mit Verpackungen und Zeitungen, torkelte darauf zu und kniete sich schwerfällig daneben, während salzige Tränen in ihren Mund liefen. Sie erbrach den restlichen Mageninhalt, bis nur noch Galle kam und sie ein letztes Mal würgen musste. Ihr Mund war weit aufgerissen, sie rang nach Atem und sah, dass sogar ihre Haare etwas abbekommen hatten.

Plötzlich stand der Blonde wieder vor ihr, brüllte sie an, und die anderen kamen den Flur entlang, einer mit einem Pfannenwender in der Hand. Einen Augenblick sah sie alle, doch sie kamen ihr unwirklich vor, und dann spürte sie, wie sie zu einem Ort hinabsank, an dem sie noch nie gewesen war, und hörte ihren Kopf auf den Boden prallen.

Irgendwo lief Musik. Fay erwachte und schlug die Augen auf, doch sie bewegte sich nicht, sondern blieb einfach liegen und versuchte sich zu erinnern, und dann fiel ihr alles ein: Hände, die an ihr zogen und sie hochhoben und umdrehten, wie sie durch den Flur geschleift, wie dann wieder alles schwarz wurde, wie sie in der Badewanne aufwachte, weil von der Brause kaltes Wasser auf sie herabspritzte, die ganze Horde neben der Wanne und sie in Unterwäsche, ihr Haar in nassen Strähnen am Kopf, wie sie in der Wanne ausrutschte, als sie aufstehen wollte, und diese Linda sie wieder ins Wasser stieß und »Verdammt, was für eine Sauerei« sagte. Und wie sie, in ein raues Handtuch gehüllt, zitternd auf dem Toilettendeckel saß, ihre ganze Unterwäsche an der Duschstange hing und Wasser von ihrem Slip tropfte, ihre kalten nackten Füße auf dem Linoleum.

Sie hob den Kopf und stieß heftig irgendwo gegen. Ihr wären fast die Tränen gekommen, doch sie streckte nur die Hand aus, um zu sehen, was es war, ertastete einen glatten kühlen Rand, beugte sich vor und sah Gas- und Bremspedal, auf dem Fußboden ein paar Kassetten. Sie duckte sich unterm Lenkrad hindurch und zog sich auf dem Sitz hoch. Dann blickte sie sich um. Das Boot lag immer noch auf der Pritsche des Pick-ups. Sie konnte es schemenhaft durchs Rückfenster sehen, dahinter die Silhouette des Trailers draußen im Garten, die ausgeschaltete Hängelampe am Baum. Das Fenster auf der Fahrerseite war heruntergelassen, und auf dem Armaturenbrett lag eine volle Zigarettenschachtel, daneben ein Feuerzeug. Sie machte die Schachtel auf, zündete sich eine an und saß rauchend da. Ihrem Magen ging es inzwischen besser, doch sie konnte nicht sagen, wie viel Zeit verstrichen war. Vermutlich war es schon spät. Bis auf die Schuhe war sie vollständig bekleidet, doch ihre Sachen waren ganz feucht. Offensichtlich hatte jemand sie in eine muffige Decke gehüllt, aber sie hatte sie wohl im Schlaf weggestrampelt, denn sie knäuelte sich an ihren Beinen. Sie zog sie über die Schultern und saß zusammengekauert da, und bei jedem Zug an der Zigarette glühte deren Spitze vorm Armaturenbrett. Wo war ihre Handtasche? Sie tastete auf dem Sitz herum, streifte die Decke ab und suchte überall, doch sie war nicht da. Und sie brauchte ihre Schuhe. Ob sie wohl die Tür abgeschlossen hatten und sie bis zum Morgen warten musste, um ihre Handtasche und ihre Schuhe zu holen und zumindest ein paar von ihnen noch mal zu sehen?

Sie schob den Finger zwischen ihre Beine, um zu sehen, ob irgendwas passiert war, während sie geschlafen hatte. Sie konnte es nicht sagen. Und hätte sie ihn abwehren können, wenn es so weit gekommen wäre? Der Kerl hatte sich zweimal an sie rangeschlichen, und sie hatte ihn zweimal abgewehrt, hatte aber befürchtet, dass es irgendwann passieren würde, während sie schlief. Deshalb war sie gegangen. Sie wünschte, sie hätte auch Gary zum Abhauen aufgefordert. Dann hätte er jetzt bei ihr sein können. Doch sie wusste, dass er die Familie nicht verlassen würde, dass er bleiben würde, um sich um sie zu kümmern. Zumindest bis auch ihre kleine Schwester mitkommen konnte. Vielleicht war es ein Fehler gewesen, so zu gehen. Aber zu bleiben wäre auch falsch gewesen.

Sie musste wieder an Biloxi denken. Eine Tagesreise, hatte er gesagt.

Die Zigarette war fast aufgeraucht, und sie zündete die nächste daran an. Sie zögerte es hinaus, den Trailer wieder zu betreten. Doch sie brauchte ihre Handtasche, und zum Weitermarschieren musste sie ihre Schuhe haben. Sie schob rasch die Hand in ihren BH. Der Dollar war nicht mehr da.