Joe - Larry Brown - E-Book

Joe E-Book

Larry Brown

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Beschreibung

Gary Jones schätzt sein eigenes Alter auf etwa fünfzehn. Zusammen mit seinem gewalttätigen Vater, einer apathischen Mutter und seinen beiden Schwestern zieht er obdachlos und ohne Chance auf ein anständiges Leben durch den Süden der USA. Bis er auf den Ex-Häftling Joe Ransom trifft, der sein eigenes Leben auf die Reihe zu bekommen versucht. Joe gibt dem eifrigen Jungen einen Aushilfsjob und nimmt ihn unter seine Fittiche. Doch Garys Vater ist damit alles andere als einverstanden. Bald kommt es zur Konfrontation.

Mit einem exklusivem Nachwort von Marcus Müntefering

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Seitenzahl: 471

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Das Buch

Gary Jones schätzt sein eigenes Alter auf etwa fünfzehn. Zusammen mit seinem gewalttätigen Vater, einer apathischen Mutter und seinen beiden Schwestern zieht er obdachlos und ohne Chance auf ein anständiges Leben durch den Süden der USA. Bis er auf den Ex-Häftling Joe Ransom trifft, der sein eigenes Leben auf die Reihe zu bekommen versucht. Joe gibt dem eifrigen Jungen einen Aushilfsjob und nimmt ihn unter seine Fittiche. Doch Garys Vater ist damit alles andere als einverstanden. Bald kommt es zur Konfrontation.

Joe wurde 2013 mit Nicolas Cage in der Hauptrolle fürs Kino verfilmt. Der Film ist als DVD unter dem Titel Joe – Die Rache ist sein erschienen.

Der Autor

Larry Brown, geboren 1951 in Oxford, Mississippi, begann seine Schriftstellerkarriere als schreibender Feuerwehrmann. Nachdem er jahrelang erfolglos versucht hatte, seine Kurzgeschichten und Romane veröffentlicht zu bekommen, erschien 1988 unter dem Titel Facing The Music seine erste Kurzgeschichtensammlung. Weitere Short Storys und fünf Romane komplettieren das Werk des Mannes aus Mississippi, der auch außerhalb der Südstaaten Kultstatus besaß und vielfach ausgezeichnet wurde. Mit seinem Werk beeinflusste er viele Songwriter, von denen einige ihm nach seinem Tod infolge eines Herzinfarkts im November 2004 mit dem Tribute-Album Just One More die Ehre erwiesen. Fay war 2017 der erste ins Deutsche übersetzte Roman.

Larry Brown

Joe

Roman

Aus dem Amerikanischen

von Thomas Gunkel

Wilhelm Heyne Verlag

München

Die Originalausgabe erschien 1991 unter dem Titel JOE bei Algonquin Books, Chapel Hill, North Carolina

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Copyright © 1991 by Larry Brown

Copyright des Nachworts © 2018 by Marcus Müntefering

Copyright © 2018 der deutschsprachigen Ausgabe by Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH

Redaktion: Alf Mayer

Covergestaltung: Johannes Wiebel, punchdesign, München unter Verwendung von Motiven von Sebastian Weidenbach/Shadow Cowboy Photography und Shutterstock (Geoff Hardy, Fantom666)

Satz und E-Book Produktion: Satzwerk Huber, Germering

ISBN 978-3-641-22761-6V002

www.heyne-hardcore.de

Für meinen großen bösen Bruder Paul Hipp

Die Straße lag lang und schwarz vor ihnen, und die Hitze drang durch die dünnen Sohlen ihrer Schuhe. Auf den trockenen braunen Feldern wuchsen schmale Reihen grüner Sprossen, junge Bohnen, die sich bis in die Ferne erstreckten. Unter der brennenden Sonne stapften sie weiter, doch jeder, der sie erblickte, hätte sehen können, dass sie ziemlich erledigt waren. Sie überquerten eine Brücke, die sich über einen ausgetrockneten Bach spannte, und ihre Schritte klangen wie schwaches Trommeln, ungleichmäßig und dumpf in der Stille, die sie umgab. Weit und breit kein Auto für die potenziellen Tramper. Die wenigen morschen Häuser, die an den von Pflanzen überwucherten Hängen standen, waren schief und verfallen, verlassene Behausungen, in denen nur Feldmäuse und Eulen wohnten. Es war, als würde niemand in dieser Gegend leben, weder jetzt noch irgendwann, doch dann sahen sie in der Ferne einen roten Traktor, der sich, von einer kleinen Staubwolke begleitet, lautlos über ein Feld schleppte.

Die beiden Mädchen und die Frau waren von der Hitze entkräftet. Im Dunkel über ihren Oberlippen klebten Schweißperlen. Sie trugen Papiertüten, in denen sich ihre Habseligkeiten befanden, alle bis auf den alten Mann, der als Wade bekannt war und nur das zerlumpte rote Halstuch in der Hand hielt, das er sich an Hals und Kopf drückte, um den Schweiß abzuwischen, der sein hellblaues Hemd dunkel gefärbt hatte. Die Sohle seines rechten Schuhs hatte sich zur Hälfte gelöst, sie klatschte und patschte unter seinem Fuß, sodass er sich nur schlitternd und schlurfend bewegen konnte und das Bein ungelenk anhob, bis das Patschen der Sohle wieder ertönte.

Der Junge hieß Gary. Er war klein, schleppte aber das meiste. Seine Arme waren mit unförmigen Kleidungsstücken beladen, mit rostigem Kochgeschirr, schimmeligen Decken. Beim Gehen musste er drüber wegschauen, um zu sehen, wo es langging.

Der Alte strauchelte plötzlich, machte einen tapsigen Tanzschritt und sackte mit leisem Grunzen vorsichtig auf den geschmolzenen Teer, um sich nicht wehzutun. Er lag da und schützte mit dem Unterarm das Gesicht vor dem Auge der Sonne. Seine Familie ging ohne ihn weiter. Er beobachtete, wie die anderen langsam kleiner wurden, wie sie sich durch die flimmernden Hitzewellen auf der Straße schleppten, verschwommene, wankende Gestalten mit langen Beinen und kleinen Köpfen.

»Wartet«, rief er. Die Antwort war Stille. »Junge«, sagte er. Kein Kopf wandte sich um, um seine Worte zu hören. Falls seine Rufe ihr Ohr erreichten, schien es sie nicht zu kümmern. Ihre Köpfe blieben beharrlich gebeugt, und während sie weitergingen, wurden ihre Schritte leiser.

Er verfluchte sie wütend, dann rappelte er sich auf, tappte hinterher, und seine Schuhsohle schlug den bizarren Takt. Er beeilte sich, bis er sie eingeholt hatte, und wortlos marschierten sie weiter durch die drückende Hitze des Nachmittags, als wüssten sie alle, wohin sie wollten, und bräuchten nicht miteinander zu reden. Die Straße vor ihnen schlängelte sich in dunkelgrüne Hügel hinauf. Vielleicht winkte die Aussicht auf tiefen Schatten und kühles Wasser. Sie überquerten eine von Feldern, Wald, Vieh und einem Sumpf gesäumte Kreuzung und musterten die Landschaft mit trübem, gequältem Blick. Die Sonne hatte oben am Himmel ihren gemächlichen brennenden Abstieg begonnen.

An einer Stelle, wo dünner grüner Schleim das hellbraune Sauergras nährte, sah der Alte im Straßengraben Bierdosen liegen. Er hatte ungeheuren Durst, doch es bestand keinerlei Aussicht auf irgendwas Trinkbares. Er, der nur selten Wasser trank, war fast so weit, förmlich nach Wasser zu schreien.

Den Kopf gesenkt, schleppte er sich dahin wie ein angeschirrtes Maultier und trat hinter seine Frau, die mitten auf der Straße stehen geblieben war.

»Mensch, da drüben liegt Bier«, sagte sie und streckte den Finger aus.

Ohne hinzusehen, war er drauf und dran, auf sie zu fluchen, aber dann folgte sein Blick ihrem noch ausgestreckten Finger.

»Wo denn?«, fragte er. Seine Augen rollten wild in den Höhlen.

»Genau da drüben.«

Er schaute hin und sah drei oder vier rotweiße Dosen wie Ostereier im Gras liegen. Vorsichtig stieg er in den Graben und blickte sich nach Schlangen um. Dann ging er näher heran und blieb stehen.

»Großer Gott«, sagte er. Er bückte sich und hob eine volle Dose Budweiser auf, die schlammverschmiert und verbeult war, ungeöffnet und immer noch trinkbar. Ein freudiges Lächeln strich über sein Gesicht. Er steckte das Bier in die Tasche seines Overalls und sah sich langsam im Unkraut um. Er hob zwei weitere Dosen auf, beide voll, und stand eine Weile da, um weiterzusuchen, doch mehr als drei gab dieser herrliche Graben nicht her. Dann stieg er wieder zur Straße hinauf und steckte eine der Dosen in eine andere Tasche.

»Jemand hat das Bier weggeworfen«, sagte er und musterte es. Seine Familie betrachtete ihn.

»Du willst es doch bestimmt trinken«, sagte die Frau.

»Wer’s findet, dem gehört’s auch. Ist noch völlig in Ordnung.«

»Wieso hat er’s dann weggeworfen?«

»Keine Ahnung.«

»Na ja«, sagte sie. »Aber gib dem Jungen nichts davon.«

»Hatte ich nicht vor.«

Die Frau drehte sich um und ging weiter. Der Junge wartete. Er stand stumm und geduldig da, die Arme vollgepackt. Sein Vater öffnete die Dose, und Schaum spritzte hervor, lief an den Seiten hinab über seine Hand, und mit zittrig gekräuselten Lippen schleckte er an den dicken weißen Bläschen. Er kippte die Dose, neigte den Kopf mit geschlossenen Augen nach hinten und goss das warme Bier die Kehle hinunter, während die andere Hand, rau und gerötet, locker herabhing. Ein Knorpel in seinem Hals glitt auf und ab, bis er, das Gesicht noch zum Himmel gerichtet, die Dose vom Mund nahm und ein Tropfen Bier herausrann, bevor er sie hinter sich in den Graben schleuderte. Dann ging er wieder los.

Der Junge schob seine Last höher und folgte ihm.

»Wonach schmeckt Bier?«, fragte er, während sich der Alte den Mund abwischte.

»Nach Bier.«

»Das weiß ich. Aber wie schmeckt es?«

»Keine Ahnung. Scheiße. Schmeckt halt nach Bier. Stell nicht so viele verdammte Fragen. Sonst muss ich jemanden in Vollzeit einstellen, bloß um sie zu beantworten.«

Die Frau und die Mädchen waren schon siebzig Meter voraus. Der Alte und der Junge hatten nicht mal dreißig Meter zurückgelegt, als Wade schon das zweite Bier öffnete. Dieses trank er langsamer, im Gehen, in vier oder fünf Zügen. Bis sie den Fuß des ersten Hügels erreichten, hatte er alle drei Dosen geleert.

Es war die Tageszeit, zu der die Sonne schon untergegangen, ihr Licht aber noch nicht verschwunden ist. Die Ziegenmelker riefen und schwirrten umher, und die Froschchöre hatten sich in den Gräben versammelt, um ihre schwermütigen Lieder zu singen. Fledermäuse huschten in der zunehmenden Dunkelheit blitzschnell durch die Luft. Der Junge wusste nicht, wo er und seine Familie waren, wusste nichts außer einem einzigen Namen: Mississippi.

Im kühlen Abendlicht bogen sie auf einen Kiesweg, ihre Gründe dafür unausgesprochen oder bloß schleierhaft. Wildere Landschaft hier, ebenso unbewohnt, eine Gegend, in der verhedderter Draht und morsche Pfähle Felder voller Aleppogras und Traubenkraut umschlossen und die düsteren Wälder auf beiden Seiten Geheimnisse bargen. Sie stapften den Weg hinauf, und der Staub legte sich auf ihre Fußspuren. Unten in der Senke ließ ein Kojote einen dünnen, zittrigen Schrei ertönen; irgendwo hinter dem Schilf, am Ende des gepflügten Bodens, sahen sie schwaches Grün. Am Fuß eines Specksteinhügels bogen sie auf einen Feldweg und folgten ihm, wichen ausgewaschenen Mulden im Boden aus, gingen an Kiefern vorbei, die einsamen Wachposten glichen und aus denen rufende Tauben auf graugefiederten Flügeln aufflogen, vorbei an Farndickichten, in denen unsichtbare Wesen geräuschvoll davonflitzten.

»Weißt du, wo du hinwillst?«, fragte die Frau.

Der Alte sah sie nicht mal an. »Du vielleicht?«

»Ich geh bloß hinter dir her.«

»Na, dann halt die Klappe.«

Das tat sie auch. Sie überquerten den letzten Hügel, und plötzlich lag die ganze Senke offen vor ihnen, das schwache Licht, das sich weit unten über eine riesige Landfläche breitete, die gepflügt, aber noch nicht bepflanzt worden war. Sie konnten bis zum Fluss blicken, an dem schwarz und massiv die Bäume standen.

»Es ist ein Flusstal«, sagte der Junge.

»Mist«, sagte der Alte.

»Ich kann keinen Fluss durchqueren«, sagte die Frau.

»Das weiß ich.«

»Nicht im Dunkeln.«

Der Alte betrachtete sie im einfallenden Licht, und sie wandte den Blick ab. Er sah sich um.

»Zum Teufel«, sagte er. »Ist gleich dunkel. Seht mal, ob ihr Holz findet, dann machen wir ein Feuer.«

Der Junge und die beiden Mädchen legten alles, was sie hatten, auf den Boden. Neben einem alten Zaun fanden die Mädchen verdorrte Kiefernschösslinge, zogen sie unzerteilt auf den Weg und brachen sie in Stücke, die man verbrennen konnte.

»Sieh mal, ob du einen Kiefernknorren findest«, sagte er zu dem Jungen. Der Junge ging, und sie hörten, wie er durchs Dickicht brach. Bei seiner Rückkehr schleppte er in einer Hand ein großes Stück Holz und trug auf dem anderen Arm dürre Zweige. Er warf alles hin und zog los, um noch mehr zu holen. Der Alte hockte sich in den Staub auf dem Weg und drehte, voll konzentriert auf seine kleine Aufgabe, eine Zigarette. Die Frau stand noch immer da, die Arme um sich geschlungen, und hörte draußen im Dunkeln etwas, das vielleicht zu keinem anderen Ohr als ihrem sprach.

Der Junge kam mit einer weiteren Ladung Holz zurück und sagte: »Gib mir mal dein Messer.«

Der Alte kramte ein Fallmesser mit kaputter Klinge hervor, und der Junge begann, dünne orange Holzspäne von dem Kiefernknorren zu schnitzen. Er zog die Klinge bis ganz nach unten und brach die Späne dort ab. Als er eine gute Handvoll abgesäbelt hatte, legte er sie in einer eigens von ihm erdachten Anordnung in den pulverigen grauen Staub.

»Gib mir mal ein paar von den kleinen Stöcken«, sagte er zu seiner kleinen Schwester. Sie reichte ihm ein Bündel dürre Zweige, und er legte sie rings um die Kiefernspäne und obendrauf. Dann zog er eine Schachtel Streichhölzer aus der Tasche und zündete eins an. In dem kleinen Feuer, das aufloderte, tauchte sein Gesicht aus dem Dunkeln auf, seltsam schmutzig und angestrengt, und seine Hände umschlossen unnötigerweise die kleine Flamme. Er schob einen der Späne zurecht, ein kleiner gelber Halm ringelte sich zusammen, und eine Ranke aus schwarzem Rauch stieg auf wie ein dickes welliges Haar.

»Das Zeug brennt ja wie Zunder«, sagte der Alte. Das kleine Stück Holz zischte, das Harz brutzelte in schwarzen Bläschen, und die Flammen fraßen sich nach oben. Der Junge nahm ein anderes Stück vom Haufen und hielt es über die Flammen, bis es Feuer fing und aufloderte.

»Gib mir mal ’n paar, die ein bisschen größer sind«, sagte er. Seine kleine Schwester reichte ihm die Zweige. Die beiden lächelten sich an. Sie begannen sich von der einbrechenden Dunkelheit abzuheben, alle fünf um das Feuer gekauert, die Arme auf den Knien. Er warf einen Stock nach dem anderen ins Feuer, und schon bald knisterte es und wuchs, rot glühende Holzstücke brachen ab und fielen in das kleine Glutbett, das sich gebildet hatte.

Er fütterte das Feuer weiter und schürte es. Er kniete sich hin, legte den Kopf seitlich an die Flammen und blies hinein. Versorgte sie mit Luft wie ein Blasebalg, und das Feuer reagierte. Es stürzte sich auf die Stöcke und loderte hoch in die Nacht.

»Legt mal ein paar von den großen auf«, sagte er und stand auf. »Ich geh da rauf und hol Nachschub.«

Die Mädchen schleppten Äste und schichteten sie aufs Feuer. Schon bald sprühten rote Funken in den Rauch. Die Sterne kamen zum Vorschein und umhüllten sie in ihrem provisorischen Lager. Sie saßen unter einer schwarzen Himmelslandschaft neben einem von Geräuschen erfüllten Wald. Die Ochsenfrösche an den Bächen, die den Fluss speisten, klangen heiser und riefen in einem fürs Ohr angenehmen Ton von den Lehmufern in die Dunkelheit hinauf.

Die Frau kramte in ihrem kargen Campingzeug und stieß oben im Sack alles Unbrauchbare beiseite. Sie zog eine geschwärzte Eisenpfanne und eine Halbliterdose grüne Bohnen hervor. Dann stellte sie beides ab und suchte noch was anderes.

»Wo sind die Sardinen?«, fragte sie.

»Die sind hier drin, Mama«, sagte das ältere Mädchen. Die Jüngere sagte nichts.

»Na, dann gib sie her, Schätzchen.«

Der Junge brach durchs Gebüsch, legte einen weiteren Armvoll Holz neben das Feuer und zog wieder los. Sie hörten ihn umherlaufen wie einen großen Jagdhund. Die Frau hatte das Messer erhoben und stach damit auf die Dose Bohnen ein. Mit vorsichtigen Fingern bog sie den schartigen Rand hoch, drehte die Dose um und schüttete den Inhalt in die Pfanne. Sie stellte sie dicht an die Glut und machte sich an die Sardinen. Als sie die Dose geöffnet hatte, stöberte sie in ihrem Sack, zog eine Packung Pappteller hervor, die noch halb in Zellophan gehüllt waren, legte sie hin und nahm fünf Stück heraus. In der Dose waren fünf von den kleinen Fischen. Sie legte einen auf jeden Teller.

Der Alte streckte sofort die schmutzigen Finger aus und nahm sich wählerisch eine Sardine, biss einmal, dann noch mal hinein, und schon war sie verschwunden.

»Die war für deinen Sohn gedacht«, sagte die Frau.

»Er hätte längst hier sein sollen«, sagte der Alte kauend und wischte sich über den Mund.

Der Junge war weit ins Dickicht vorgedrungen. Sie lauschten ihm, während die Bohnen aufgewärmt wurden.

»Wie lange denn noch?«

Die Frau starrte mit mürrischem, orangem Gesicht ins Feuer.

»Es dauert so lange, wie’s dauert.«

Plötzlich blickte sie in die Dunkelheit hinaus, als hätte sie dort draußen etwas gehört, ihr Gesicht genarbt wie Leder, der Versuch eines Lächelns.

»Calvin?«, rief sie. »Calvin. Bist du das?«

»Still«, sagte er und drehte sich zu ihr. »Lass den Scheiß.«

Sie fixierte ihn mit einem Blick düsterer Verzweiflung, ein Gesichtsausdruck, den sie nachts bekam.

»Ich glaub, es ist Calvin«, sagte sie. »Er hat uns gefunden.«

Sie ließ sich auf die Knie nieder, blickte sich ungestüm um, als suchte sie nach einer Waffe, um die Nacht abzuwehren, und rief in die schreiende Dunkelheit hinaus: »Schätzchen, komm her, es ist gleich fertig, Mama hat Biskuits gemacht.«

Sie holte Luft, um noch etwas hinzuzufügen, doch der Alte stand auf und ging zu ihr, schüttelte sie an den Schultern und beugte sich über sie, die zerlumpten Beine seines Overalls flatterten vor dem Feuer, und die Mädchen waren still und wagten nicht, einen Blick zu riskieren. Die Kleine stützte sich auf ein Knie und legte einen weiteren Stock aufs Feuer.

»Still jetzt«, sagte der Alte. »Still.«

Sie wandte sich zu ihrer älteren Tochter um.

»Deine Fruchtblase ist noch nicht geplatzt, oder?«

»Ich bin nicht schwanger, Mama.« Sie hatte den Kopf gebeugt, dunkles Haar fiel ihr ins Gesicht. »Das hab ich dir doch schon gesagt.«

»Herrgott, Kind, wenn deine Fruchtblase geplatzt ist, kann niemand mehr irgendwas tun. Ich hab mal ’ne Niggerin gekannt, da gab’s meilenweit keinen, der ihr helfen konnte, als ihre Fruchtblase platzte. Ich wollte ihr helfen, aber sie ließ mich nicht.«

»Ich hau dir gleich eine runter«, sagte Wade.

»Sie ließ es nicht zu. Ich stand draußen am Pumpenhaus, und sie gingen zu dritt oder viert rein und banden sie fest, und mit dem Hintern voran ragte ein riesiges schwarzes Etwas aus ihr raus …«

Er schlug sie. Streckte sie mit einem einzigen Hieb zu Boden. Sie stöhnte nicht mal. Sie kippte rücklings auf die Erde und lag mit ausgestreckten Armen da wie ein Zeuge Christi, der von der Macht des Blutes ergriffen war.

Die Mädchen sahen sie an und betrachteten dann die Bohnen. Sie waren fast fertig. Der Alte kauerte neben ihrer Mutter und fuchtelte mit den Händen.

Der Junge kam durchs Dickicht und den Wald zurückgerannt, und der Draht sang einen hohen, schrillen Ton, als er dagegen stieß. Er taumelte keuchend auf allen Vieren zum Feuer und sah seine Mutter ausgestreckt auf dem Rücken liegen, sah, wie sein Vater sich in flehender Haltung über sie beugte und seine beiden Schwestern mit hungrigen Blicken ins Feuer schauten, und übertönte den Lärm der Ochsenfrösche, das unerträgliche Zirpen der Grillen und das Gemurmel des Wassers unten im Bach: »Da oben steht ein Haus!«

Joe erwachte früh aus einem Schlaf voller Albträume von feuernden Waffen und niedersausenden Queues, die sein Gesicht trafen, von verstohlenen Schwarzen mit Messern, die mit weißen Augen im Dunkeln um Ecken schlichen oder auf leisen Sohlen hinter ihm auftauchten, um ihn wegen Geld umzubringen. Um halb fünf machte er Instantkaffee und trank ungefähr eine halbe Tasse. Er steckte eine Ladung Wäsche in die Waschmaschine und durchquerte die hell erleuchteten Zimmer, während ringsum draußen die ganze Gemeinde schlief. Er schaltete den Fernseher ein, um zu sehen, ob irgendwas lief, doch auf dem Bildschirm war nur Schneegestöber.

Als er die Tür aufstieß, stand der Hund mit erhobenem Kopf im Garten.

»Hier, Hund«, sagte er. »Hallo, Hund.«

Er bückte sich mit zwei geöffneten Dosen Futter in den Händen und löffelte das Fleisch auf einen Betonblock am Fuß der Treppe. Als der Hund herankam, machte Joe Platz und trat in die offene Tür zurück, um ihm beim Fressen zuzusehen. Nur ein kurzes Knurren, und ein Rucken seines narbenbedeckten Kopfes.

Als er sich wieder an den Tisch setzte, war der Kaffee in der Tasse kalt. Er kippte ihn ins Spülbecken und machte neuen, saß dann da und trank ihn in langsamen Schlucken, den Arm auf den billigen Metalltisch gelegt, eine qualmende Winston zwischen den Fingern. Inzwischen war es fünf Uhr. Er hatte ein paar Nummern auf ein Stück Notizbuchpapier geschrieben, das zusammengefaltet war und Regen abgekriegt hatte, breitete es vor sich auf dem Tisch aus, strich es glatt und wiederholte die Nummern lautlos mit den Lippen. Das Telefon stand vor ihm auf dem Tisch. Er nahm den Hörer und wählte.

»Arbeitest du heute früh?«, fragte er. Dann hörte er zu. »Was ist mit Junior? Hat er sich letzte Nacht besoffen?« Er hörte zu, grinste, hustete dann ins Telefon. »In Ordnung«, sagte er. »Ich bin in ’ner halben Stunde da. Dann müsst ihr fertig sein, hörst du?«

Er legte auf, während die Stimme noch weiterschwafelte. Er lauschte dem Surren der Waschmaschine und lauschte der Stille, in der er jetzt lebte, zumeist nur vom Winseln des Hundes auf der Hintertreppe unterbrochen. Dann stand er auf, ging zum Kühlschrank und brachte die Flasche Whiskey, die darin stand, zum Tisch. Er hielt sie einen Augenblick in der Hand und betrachtete sie, las das Etikett, wo er hergestellt wurde, wie lang er ausgebaut worden war. Schraubte die Flasche auf und trank einen großen Schluck. Auf dem Tisch stand eine Dose Cola, halb leer, schal und warm. Er vergewisserte sich, dass niemand Zigarettenasche hineingeschnippt hatte, bevor er einen Schluck nahm. Cola, dann Whiskey, Cola und dann wieder Whiskey. Er wischte sich den Mund ab, schraubte die Flasche zu und zündete sich eine weitere Zigarette an.

Um Viertel nach fünf schaltete er das Licht aus, stieg die Stufen hinab und ging durchs feuchte Gras des winzigen Gartens, ohne dass ihn jemand aufbrechen sah. Die Sterne waren verschwunden, doch die Morgendämmerung hatte den Himmel noch nicht bleich gemacht. Der Hund winselte und drückte sich an seine Füße, als wollte er mitfahren, aber Joe schob ihn behutsam mit dem Fuß weg, forderte ihn auf, aus dem Weg zu gehen, und stieg dann in den Pick-up.

»Bleib hier«, sagte er. Der Hund verschwand wieder unterm Haus. Joe schob den Whiskey unter den Sitz. Er ließ den Wagen bei offener Tür an, drückte auf den Scheibenwischerschalter und beobachtete, wie die Wischerblätter den Tau auf der Windschutzscheibe wegstreiften. Der Pick-up war alt und verrostet, und auf der Pritsche war ein lädierter Camperaufsatz befestigt, in dem die Giftspritzen und Kannen in Staubkränzen lagen und die vom vergangenen Winter noch übrig gebliebenen Kiefernschösslinge sich in dürres Feuerholz verwandelt hatten. Reserveräder und platte Reifen, leere Bierdosen und Whiskeyflaschen. Er ließ den Motor aufheulen, bis er im Leerlauf lief, dann zog er die Tür zu, schaltete die Scheinwerfer ein und setzte aus der Einfahrt zurück. Der Wagen quälte sich ruckend und stotternd die Straße entlang, und sein einziges Rücklicht verblasste langsam in der Morgendämmerung.

Fünf von ihnen standen, die Hände in den Taschen, die orangen Enden ihrer Zigaretten zwischen den Lippen funkelnd, an der Straße. Er hielt neben ihnen, sie stiegen hinten ein, und als sie sich setzten, bebte und quietschte der Wagen. Er hielt noch zweimal, bevor er in die Stadt kam, und ließ bei jedem Halt einen Mitfahrer zusteigen. Als er die Stadtgrenze überquerte, wurde es hell. Er fuhr langsam unter der roten Ampel oben auf dem Hügel hindurch und bog dann mit absackendem Heck auf die unbefestigte Straße. Das Blaulicht der Streifenwagen, die auf dem Parkplatz versammelt waren, tauchte die grauen Backsteinwände kurzzeitig in Saphirblau, während die Blinkleuchten blitzten und die Schrottautos, den verstreuten Müll und die überquellenden Container beleuchteten. Er bremste scharf, hielt und sah sich das Ganze an. Es waren drei Streifenwagen, und er sah mindestens fünf Polizisten. Er streckte den Kopf aus dem Fenster und sagte: »Hey, Shorty.«

Einer der Arbeiter kam hinten rausgeklettert und trat ans Führerhaus, um sich neben ihm zu postieren. Ein schmaler Jugendlicher in rotem T-Shirt.

»Was ist da los, Shorty? Wo ist Junior?«

Der Junge schüttelte den Kopf. »Jemand hat Scheiße gebaut.«

»Guck mal, ob du ihn schnell findest. Ich hab keine Lust, mich mit den verdammten Bullen abzugeben. Sonst glauben sie noch, ich war’s.«

»Ich geh ihn holen«, sagte der Junge und ging auf das nächstgelegene Gebäude zu.

»Beeil dich«, rief er ihm nach, und der Junge begann zu laufen. Fünfzehn, zwanzig Schwarze standen in einer Gruppe auf dem Gehsteig und gafften. Die meisten von ihnen trugen Unterhosen oder Nachthemden. Ein Polizist hielt die Leute zurück.

Während Joe sie musterte, führten die Polizisten einen Mann in weißer Jeans zu einem der Wagen. Seine Hände waren hinter dem nackten Rücken mit Handschellen gefesselt. Sie öffneten die hintere Tür, und einer von ihnen legte dem Mann in einer seltsam zarten Geste die Hand auf den Kopf, damit er sich nicht beim Einsteigen stieß. Einige der Arbeiter hinten im Pick-up wollten aussteigen, aber Joe rief, sie sollten sitzenbleiben, sie hätten keine Zeit. Er zündete sich eine Zigarette an und sah hinter ihnen zwischen den Kiefern einen roten Lichtschein. Er drehte den Kopf und sah einen Krankenwagen mit ausgeschalteter Sirene langsam näherkommen. Keine Eile, das hieß, jemand war tot. Dann sah er den Fuß. Nur einen, die Zehen nach oben gerichtet, der an der linken Seite eines Streifenwagens hervorschaute. Ein schwarzer Fuß mit blasser Sohle reglos auf dem Asphalt. Hätte er es nicht so eilig gehabt, wäre er ausgestiegen, um sich das Ganze genauer anzusehen. Doch der Krankenwagen hatte inzwischen gehalten, und die Sanitäter luden eine Trage aus. Sie schoben sie vor sich her, zwei Männer in weißen Jacken. Sie beugten sich über die Leiche, und dann war der Fuß verschwunden.

»Wir sind so weit«, sagte der Junge neben ihm. Bei ihm war ein weiterer Junge.

»Bist du das, Junior?«

Weiße Zähne schimmerten in der abklingenden Nacht. »Ich bin’s. Gibst du mir ’ne Zigarette, Joe?«

Er nahm eine Schachtel vom Armaturenbrett und schnippte eine für ihn heraus.

»Verdammt. Ich dachte schon, das könntest du sein, der da drüben lag, Junior. Was ist denn passiert?«

Er zündete ihm die Zigarette an, und Junior stand für einen Augenblick da. Er rauchte und gähnte und kratzte sich mit den Fingern, die seine Zigarette hielten, am Kinn.

»Ah, Noony war besoffen und hat wieder seinen alten Scheiß erzählt. Bobbys Sohn hat ihn abgeknallt, hat Mama gesagt.«

»Steig einfach vorn bei mir ein, Junior. Lass uns fahren, Shorty. Wir müssen uns ranhalten.«

Er legte den Rückwärtsgang ein und wartete, bis Junior um den Wagen herumkam. Junior stieg ein, aber dann gelang es ihm nicht, die Tür richtig zuzumachen.

»Knall sie fest zu«, sagte Joe. »Alle hinten drin?«

»Schätze schon. Mann. Ich hab noch im Bett gelegen.«

Er setzte den Pick-up zurück und schaltete in den ersten Gang. Dann fuhr er los, doch als er den zweiten einlegen wollte, knirschte das Getriebe. Er trat die Kupplung voll durch und versuchte es noch mal. Diesmal klappte es, aber als sich der Wagen den Hügel raufkämpfte, klapperten die Ventile.

»Ich muss mir ’ne neue Karre kaufen«, sagte er. Der schwarze Junge neben ihm kicherte wie ein Mädchen. »Wo ist deine Kappe, Junior?«

»Bin losgerannt und hab sie vergessen. Shorty hat gesagt, du lässt mich da, wenn ich nicht komme.«

»Verdammt, wir sind spät dran. Ist schon helllichter Tag, bevor wir da draußen sind. Schätze, ihr müsst alle noch in den Laden.«

»Ich muss mir was zu essen besorgen«, sagte er. »Was willst du für den alten Wagen haben, wenn du dir einen neuen kaufst?«

»Der ist nicht alt. Sind bloß ein paar Kleinigkeiten, die nicht in Ordnung sind.«

Sie hielten an der roten Ampel und warteten auf Grün. Ein weiterer Streifenwagen kam den Hügel rauf und bog mit blinkendem Blaulicht ab. Joe schaltete in den ersten Gang, fuhr wieder los und legte krachend den dritten ein. Der Wagen stotterte, ruckte heftig und blieb dann stehen. Er versuchte, ihn wieder anzulassen, doch die Scheinwerfer wurden dunkel, und er schaltete sie aus.

»Verdammte Scheißkarre«, sagte er. Schließlich sprang der Wagen an, und er holte im ersten Gang alles aus ihm heraus und beschleunigte auf vierzig, bevor er höherschaltete. Der Motor beschwerte sich lautstark, lief aber weiter.

»Das Gestänge ist kaputt«, sagte Junior.

»Mal sehen, ob wir das heute Abend reparieren können.«

»In Ordnung.«

An der Kreuzung bogen sie ab und nahmen die Straße, die aus der Stadt hinausführte. Die Läden öffneten gerade.

»Du sagst, du warst noch im Bett, Junior?«

»Ja, Sir. Ich war letzte Nacht mit Dooley und ein paar Leuten weg. Weiß nicht mal, wann wir zurück waren. War jedenfalls spät.«

»Ihr habt bestimmt Whiskey getrunken.«

»Mann. Whiskey und obendrein Bier. Ich hab ’n bisschen Geld gewonnen, aber dann war ich besoffen und hab’s wieder verspielt.«

Joe blickte in den anbrechenden Tag hinaus. Der Morgen kam jetzt schnell.

»Scheiße«, sagte er. »Wir müssen uns beeilen. Bei der Hitze könnt ihr nicht arbeiten. Sollen über dreißig Grad werden.«

»Hast du das Eis dabei?«

Er wollte schon auf die Bremse treten, schüttelte dann aber den Kopf und gab stattdessen mehr Gas.

»Nee, verdammt. Wir haben keine Zeit, deswegen zurückzufahren. Wahrscheinlich ist noch was in der Kühlbox. Und vielleicht hat Freddy welches. Dann besorgen wir’s da.«

»Gib mir noch ’ne Zigarette.«

»Da auf dem Armaturenbrett, Junge. Ich muss anfangen, euch Zigaretten und Bier vom Lohn abzuziehen. Als ich neulich nach Feierabend zum Wagen ging, war nur noch ein einziges Bier in der Kühlbox. Ihr trinkt schneller, als ich’s kaufen kann.«

»Nach der Arbeit tut ein schönes, kaltes Bier gut«, sagte Junior.

»Besonders wenn’s umsonst ist.«

Ein paar Kilometer fuhren sie schweigend, auf beiden Seiten glitten die dunklen Bäume vorbei, und in den Häusern an der Straße gingen die Lichter an. Hin und wieder mussten sie einer zerquetschten Beutelratte ausweichen.

»Und du sagst, der Erschossene war Noony? Ist das der, der immer für mich gearbeitet hat? So ’n Kleiner?«

»Nee. Das ist sein Bruder. Duwight. Noony ist der, der ständig Ärger mit der Polizei hatte. Ich glaube, er hat drei, vier Jahre im Knast verbracht.«

»Tatsächlich? Wann hat er denn gesessen?«

»Keine Ahnung. Er dürfte seit drei oder vier Jahren draußen gewesen sein.«

»Ich hab mich bloß gefragt, ob er der ist, den ich mal gekannt hab. Wofür ist er denn in den Knast gekommen?«

»Ich glaub, er hat jemanden mit ’nem Messer verletzt. Irgendwann saß er ständig im Knast. Jetzt ist er auf Bewährung draußen.«

»Ist er?«

»War er. Der Scheißkerl ist ja tot.«

Joe nahm sich die letzte Zigarette, zerknüllte die Schachtel und warf sie aus dem Fenster. Als ihn ein alter Lastwagen überholte, lehnte er sich mit beiden Armen aufs Lenkrad. Er hörte leise Schreie von hinten und grinste.

»Der ist zu schnell für uns«, sagte er. »Wieso hat ihn der Junge erschossen? Hä? Hat er sich mit ihm angelegt?«

»Wahrscheinlich. Ah, mit Sicherheit. Er meinte immer, er müsste sich mit jemandem anlegen. Ich hab ihm mal ’ne Lautsprecherbox auf den Kopf gehauen.«

»Tatsächlich?«

»Ja. Er ist mal zu Mama gekommen und hat behauptet, ich schulde ihm Geld. Ich hab ihm gesagt, er soll sich verpissen, ich würde ihm nichts schulden. Hab ihm gesagt, wenn er Geld haben will, soll er arbeiten gehen. So wie ich’s machen muss.«

»Und dann hast du ihm eins übergezogen.«

»Hab ihm ein verdammtes Loch in den Kopf gehauen. Mama hat gesagt, er wurde gegen drei Uhr erschossen. Hat da draußen gelegen, bis die Müllmänner ihn gefunden haben.«

»Und du weißt nicht, wann ihr zurückgekommen seid?«

»Nee. War schon spät.«

»Und als ihr kamt, lag er noch nicht da draußen?«

»Ich glaub nicht. Aber wer weiß das schon?«

Joe drehte die Lüftung auf und schnippte die Asche von seiner Zigarette.

»Also, ich sag dir mal was«, sagte er. »Leute, die Ärger suchen, können mehr davon finden, als ihnen lieb ist.«

Junior nickte und schlug die Beine übereinander.

»Hast recht«, sagte er. »Damit hast du vollkommen recht.«

In Dogtown sprangen sie wie eine Meute Jagdhunde aus dem Wagen, betraten redend und lachend den Laden, öffneten die Türen der Kühlvitrinen und griffen nach Milch, Cola und Orangensaft. Joe beobachtete, wie sie drinnen umherliefen, während er den Pick-up betankte. Autos kamen mit eingeschaltetem Licht die Straße entlang, mit Leuten, die zu den Fabriken unterwegs waren und um sieben auf der Arbeit sein mussten. Das hatte er früher auch getan, und er war froh, dass es ihm jetzt erspart blieb. Er hängte die Zapfpistole auf und blickte beim Reingehen auf die Uhr.

»Beeilt euch«, sagte er. Sie kauften Moon Pies, Cracker, Sardinen und Dosen mit Wiener Würstchen.

Am Tresen sah Freddy ihn mit überdrüssigem Lächeln an, während sich die Männer mit ihren Einkäufen vor ihm aufreihten. Freddy ließ sie ihre Lebensmittel, Getränke und Zigaretten jeden Tag auf Rechnung kaufen und wurde bezahlt, wenn Joe mit ihnen freitags vorbeikam. Er bewahrte ihre Rechnungen in kleinen Notizblöcken unter dem Tresen auf.

»Hallo, Joe«, sagte er. Er hörte auf zu schreiben, seufzte tief und legte seinen Stift hin. »Willst du einen Kaffee?«

»Ich kann ihn mir holen.« Er nahm einen Styroporbecher, goss ihn voll, kippte dann eine Unmenge Zucker hinein und rührte alles gut um.

»Mal sehen«, sagte Freddy. Er musterte Shorty sorgfältig. »Du bist Hilliard, stimmt’s?«

»Shorty«, sagte Shorty und zeigte auf einen anderen Mann. »Das ist Hilliard.«

Freddy schüttelte den Kopf und sah Shortys Einkäufe an.

»Ihr müsst langsam Namensschilder tragen. Ich kann euch von einem Tag auf den anderen nicht auseinanderhalten.«

»Ihr müsst euch beeilen«, sagte Joe. »Ist schon fast halb sieben. Wo ist denn Jimmy heute?«

»In Ordnung«, sagte Freddy. »Das wärst du. Wer ist der Nächste? Willst du eine Tüte dafür?«

»Ja, Sir. Bitte.«

Er zog eine kleine Tüte hervor und packte die Sachen ein.

»Der ist angeln«, sagte er. »Ich sollte den Jungen feuern.«

»Er hat gesagt, du hättest ihn schon dreimal gefeuert.«

»Wenn er nicht anfängt, mir mehr zu helfen, feuere ich ihn endgültig.«

»Wo sind sie hingefahren? Sardis?«

»Nee. Keine Ahnung. An irgendeinen verdammten Fluss. Er und Icky. Bestimmt kommen sie besoffen zurück und haben weder Geld noch Fische, das ist sehr wahrscheinlich.«

»Fragst du ihn, ob er Eis hat?«, sagte Junior.

Joe stellte seinen Kaffee auf den Tresen. »Ja. Freddy, hast du Eis da?«

»Keine Ahnung. Er hat gestern keins gemacht, aber du kannst in der Gefriertruhe nachsehen. Vielleicht ist ja noch was übrig.«

»Sieh mal nach, ob was drin ist, Junior.« Er blickte wieder auf seine Uhr. »Ihr müsst euch beeilen. Es ist schon fast Tag.«

»Hier sind zwei Beutel drin«, rief Junior.

»Na, dann steck sie in die Kühlbox. Und mach noch ein bisschen Wasser rein.«

Er nahm seinen Kaffee und nippte daran, bis der letzte Arbeiter mit seiner kleinen Tüte zur Tür hinaus war. Dann stellte er ihn auf den Tresen und wartete, bis der Ladenbesitzer die Kasse öffnete. Als Freddy von seinem Geld aufblickte und zu Joe sprach, sah er unglücklich aus.

»Du könntest nicht noch eine Weile warten, oder?«

»Was ist los? Hast du die Kohle nicht?«

»Ah, ich hab sie. Sie ist hier drin. Aber mein Benzinlieferant kommt heute. Wenn ich kein Benzin kaufen kann, kann ich genauso gut dichtmachen.«

»Wann lernst du endlich, kein Geld zu verwetten, wenn du dir den Verlust nicht leisten kannst, Freddy?«

»Ich hätte nie gedacht, dass Duran ihn schlagen würde.«

»Das sagtest du schon.«

»Kann ich dir die eine Hälfte diese Woche und die andere nächste Woche geben? Unter den gegebenen Umständen dürfte sie’s merken.«

Er dachte kurz nach, über Gewinner, Verlierer und Verschwender und die, die Gewinner sein wollten. Schließlich sagte er: »In Ordnung. Gib her.«

Freddy grapschte in die Kasse und nahm dreihundert Dollar heraus, reichte sie ihm und schüttelte erleichtert den Kopf.

»Das weiß ich wirklich zu schätzen, Joe. In letzter Zeit ist das Geschäft nicht gut gelaufen.«

»Bei mir sieht’s ziemlich gut aus«, sagte Joe.

Sie versuchten, ein Gebiet von siebenundvierzig Hektar in der Nähe von Toccopola fertigzukriegen, in dem sie schon seit acht Tagen arbeiteten. Er hatte mit einer Crew von elf Leuten angefangen, doch zwei hatte er gefeuert, und einer hatte am zweiten Tag gekündigt. Er hielt auf einem planierten Weg tief im Wald, ein Streifen rote Erde hoch in den grünen bewaldeten Hügeln. Er setzte sich mit dem Wetzstahl in der Hand auf die Ladeklappe, während Shorty und Dooley die Klingen zum Schärfen über sein Bein hielten und sich in einer Falte seiner Jeans ein kleines Nest glänzender Metallspäne bildete. Als er fünf Stück fertig hatte, forderte er Junior auf, mit den Männern loszulegen. Shorty war hinten in den Wagen gestiegen, hatte die Hundertzwanzig-Liter-Tonne Gift auf die Seite gewälzt und füllte mit Dooley die dicke braune Flüssigkeit in die Plastikmilchkannen.

Joe hob den Kopf und blickte auf die sterbenden Bäume, in die sie drei Tage vorher Gift gespritzt hatten. Es war, als hätte sich Trockenfäule über die smaragdgrünen Wipfel des Waldes gelegt und versuchte, zu ihnen vorzudringen.

»Ihr braucht noch kein Wasser«, sagte er. »Geht nach da unten, wo wir gestern aufgehört haben, und fangt an, bevor es zu heiß wird.«

»Es gibt doch keinen Regen, oder?«, fragte einer hoffnungsvoll.

Joe blickte in den grauen, bewölkten Himmel hinauf und hörte in der Ferne ein Donnergrollen.

»Nein«, sagte er. »Zumindest nicht vor dem Abend.«

Er machte die letzte Klinge fertig und versuchte, die Arbeiter anzutreiben, während sie ihrerseits den Beginn der Arbeit hinauszuzögern versuchten, indem sie ihre Spritzen füllten und die Schläuche überprüften.

»Okay, packen wir’s«, sagte er. »Ihr habt jetzt lang genug rumgetrödelt. Morgen müssen wir fertig werden, und wenn’s den ganzen Tag dauert.«

Der Mann, der das Wasser und das Gift schleppte, nahm eine Kanne von beidem und folgte ihnen, und sie gingen in die Mulde hinunter, um ihre Markierungen zu suchen und anzufangen. Joe stieg ins Führerhaus, zog den Whiskey unter dem Sitz hervor, öffnete eine warme Cola und saß dann da. Er zündete eine Zigarette an und hustete lange und gemächlich, ein Krampf nach dem anderen, dann räusperte er sich, spuckte schließlich irgendwas auf den Boden und wischte sich den Mund ab. Er trank ein paar Schlucke und schraubte die Flasche zu. Ein leichter Wind kam auf. In der Ferne spießten schwache Blitze die Erde auf. Die Kappe über den Augen und die Füße zur Tür heraushängen lassend, legte er sich auf den Sitz. Nach wenigen Minuten war er eingeschlafen.

Zarte Tropfen auf seinem Gesicht weckten ihn. Er schlug die Augen auf und sah zur Wagendecke über seinem Kopf. Seine Kappe war runtergefallen, und auf der Innenseite der Tür rann Wasser auf ihn herab. Seine Füße waren nass. Die Windschutzscheibe war trüb vom Regen, und er konnte nur verschwommene grüne Formen sehen. Es war zehn Minuten nach neun. Er setzte die Kappe auf, rutschte zur offenen Tür hinaus, setzte die Füße in den Schlamm, der sich bereits bildete. Der neue Boden war weich, und er stand am Fuß eines Hügels, also stieg er ein, ließ den Motor an und setzte schlitternd und schleudernd im roten Matsch zurück, bis er den Wagen auf eine Wendestelle lenken und ausrichten konnte. Dort ließ er ihn stehen und ging in den Wald hinunter, um zu sehen, ob er die Arbeiter finden konnte.

Es war ein feiner Regen, ein zarter Dunst, der in der Ferne alles in einen dünnen grauen Schleier hüllte. Den grünen Wald, die toten roten Hügel. Beim Hinabsteigen musste er darauf achten, das Gleichgewicht nicht zu verlieren, und an den steilsten Stellen hielt er sich an jungen Bäumen fest und war vorsichtig wie ein alter Mann, in seiner Brust das Keuchen vom Rauchen abertausender Zigaretten.

Am Fuß des Hügels befand sich ein schmaler Bach mit winzigem jungem Schilf und Felsen und Brombeeren, den er mühelos übersprang, und er landete schwer auf dem nassen Laub, suchte und fand das an einem Baum befestigte rosa Plastikband. Er ging umher, entdeckte die frischen Schnitte im lebenden Holz und sah sie einen Augenblick an. Wenn sie sich jetzt vom Regen vertreiben ließen, würden sie am nächsten Tag nicht fertig werden. Er wusste, dass sie aufhören wollten, auch wenn der Regen ihnen nichts anhaben konnte. Er betrachtete den Himmel, bleiern und wolkenschwer. Es würde nicht aufklaren, sondern schien sich einzuregnen. Er stellte sich unter einen großen Baum, zündete eine Zigarette an und kauerte sich rauchend hin, wobei der Qualm vor ihm in einem Wölkchen schwebte. Es kam ihm vor, als hätte die Luft sich verdichtet.

Er hob einen kleinen Stock auf, begann ihn träge zu zerbrechen und blickte unter dem Schild seiner Kappe hervor in den Wald. Auf einmal regnete es stärker, und er fasste einen Entschluss. Er stand auf, kehrte zum Hügel zurück und sprang wieder über den Bach, einmal riss ihm ein Dornstrauch die Kappe vom Kopf, und er hob sie auf, streifte den Schmutz ab und setzte sie dann sorgfältig wieder auf.

Er drückte zwei Minuten lang auf die Hupe, bis er sicher war, dass sie es gehört hatten. Er gab ihnen weitere zehn Minuten, dann ließ er die Hupe noch mal ertönen, damit sie der richtigen Richtung folgten und auf dem kürzesten Weg zu ihm kamen. Sie brauchten für ihre Rückkehr fast zwanzig Minuten. Sie trafen in einer Gruppe ein, lachend, nass, die Kleider an ihnen klebend, ihre Füße von großen roten Überschuhen aus Schlamm umhüllt. Sie stampften und traten mit den Schuhen gegen Reifen und Stoßstange, kratzten den Schlamm mit Stöcken ab.

»Lasst uns einsteigen und fahren, bevor es noch schlimmer wird«, sagte er. »Der Weg ist so glitschig wie Eulenscheiße.«

Sie luden alles ein und setzten sich nach hinten. Sie waren glücklich und lachten, kamen mit dem Lohn für zwei Stunden Arbeit aus. Als er den Motor anließ, hörte er jemanden brüllen, und Shorty kam grinsend mit wilden, ausgreifenden Schritten angerannt.

»Gib uns unsere Sachen«, sagte er.

Die Tüten waren auf dem Sitz gestapelt, und er reichte sie zum Fenster hinaus. Shorty schleppte sie auf den Armen nach hinten. Inzwischen regnete es stärker, und die Scheibenwischer klatschten gegen das strömende Wasser, während er den Fuß langsam von der Kupplung nahm und spürte, wie die Reifen im Lehm durchdrehen wollten. Der rote Boden blutete, kleine Ströme aus schlammigem Wasser fraßen sich schon in die Hänge und flossen den Weg hinab. Geschosse aus Schlamm bombardierten die Radkästen mit hohlen Detonationen. Er musste im ersten Gang fahren, durfte nicht riskieren, bergauf den zweiten nicht reinzukriegen. Der Pick-up schlitterte, blieb fast stecken und versuchte, sich um hundertachtzig Grad zu drehen, doch Joe lenkte gegen, und schließlich erreichten sie die Hügelkuppe und rollten geruhsam zum Highway, ein weiterer Tag vorbei und vergeudet.

Als er mit einer Hand lenken konnte, zog er die Flasche unter dem Sitz hervor und stellte sie zwischen seine Beine. Er schraubte den Deckel ab und suchte auf dem Sitz nach einer Cola. Der Regen wurde stärker.

Um halb elf hatte er alle abgesetzt, und mittags war er wieder zu Hause. Der Hund empfing ihn und beobachtete ihn hinter der Treppe hervor, sein breiter weißer Kopf uneben vom vielen Narbengewebe, die gelben Augen friedvoll und mit ihrem wehmütigen Ausdruck seltsam menschlich. Er sprach mit dem Tier und ging dann mit seinen beiden Tüten ins Haus. Das Haus kam ihm jetzt immer leer vor. Laut und hohl. Er betrachtete den Schlamm, den er auf dem Teppichboden verteilte, und setzte sich neben der Tür auf den Boden, löste die Schnürsenkel und stellte die Stiefel neben den Kühlschrank. In einer Tüte befanden sich eine Packung Hot Dogs, ein Beutel Brötchen, ein Dutzend Eier und zwei Sixpack Bud, und er stellte alles in den Kühlschrank. Dann goss er Cola in ein Glas, warf drei Eiswürfel hinein, füllte es mit Whiskey auf und setzte sich mit einem Bleistift und einem Stück Papier an den Tisch, um alles durchzugehen. Tage, Zeit und Stunden, woraus er seinen Gewinn ersehen konnte. Trotz des schlechten Wetters verdiente er mehr als zweihundert Dollar am Tag. Er rechnete aus, was er den Arbeitern schuldete, wenn sie am nächsten Tag nicht arbeiten würden, übertrug alles in einzelne Spalten, berechnete ihre Sozialversicherung, zog sie ab, schrieb alle Namen und die Beträge auf, die er ihnen schuldete, und dann war er fertig.

Im Glas war noch ein wässriger Rest übrig, und er schwenkte die schmalen Eiswürfel und trank ihn aus. Der Regen prasselte aufs Dach, und er dachte daran, dass der Hund im Schlamm lag und in dieser jähen Welt aus Wasser ein trockenes Fleckchen zu finden versuchte. Er stand auf, öffnete die Hintertür und betrachtete die Hundehütte. Das Tier hob den Kopf von den Vorderpfoten und sah ihn von seinem Bett aus vergammelten Decken groß an. Dann ließ er sich leise winselnd nieder, sah die tropfenden Bäume und das niedergedrückte Gras an und blinzelte ein-, zweimal mit den Augen, bevor sie sich schlossen.

Joe zog die Tür zu und überlegte, ob er sich noch einen Drink machen sollte, ging aber ins Wohnzimmer, schaltete den Fernseher ein und setzte sich aufs Sofa. Es lief gerade der Farmbericht. Er stand auf und schaltete um. Nachrichten und Wetter. Die Seifenopern hatten noch nicht begonnen. Auf dem Boden lag eine blassrosa Tagesdecke, und er hob sie auf, zog sie über sich wie ein Leichentuch und sah sich, auf der Seite liegend, die Nachrichten an. Nach einer Weile drehte er sich auf den Rücken und legte den Kopf auf das Kissen. Er schloss die Augen und atmete in der Stille, die Hände über der Brust verschränkt, als wäre er in einem Sarg aufgebahrt, und seine Zehen schauten unter der Tagesdecke hervor. Er dachte an Charlotte und daran, was sie am Morgen gesagt hatte.

Sie stand inzwischen am Verkaufstresen, das war besser, denn dann konnte er hingehen wie alle anderen und mit ihr reden, sofern es nicht zu lange dauerte. Er hatte sich ans Ende der Schlange gestellt und gewartet, hatte beobachtet, wie sie mit den anderen Leuten umging, wie sie lächelte. Jedes Mal, wenn er sie sah, sah sie besser aus, als er es in Erinnerung hatte, als hätte es sie schöner gemacht, dass sie ihn verlassen hatte.

Die Schlange kam nur langsam voran, und er wusste nicht, was er kaufen sollte. Briefmarken und noch mehr Briefmarken, zu Hause hatte er schon eine ganze Schublade voll. Schließlich stand er vor ihr, lächelte leicht und wandte wegen seines Whiskeyatems das Gesicht ab.

»Du siehst gut aus heute«, sagte er. »Sie halten dich auf Trab.«

Sie hielt den Blick auf die vor ihr liegenden Papiere gerichtet, hantierte mit irgendwas auf dem Tresen. Dann sah sie auf. Diese Augen waren so tief von Schmerz gezeichnet, dass er wie eine Farbe war, alte unerwiderte Liebe, eine freudige Traurigkeit darüber, ihn so nah zu sehen.

»Hallo, Joe.« Sie lächelte nicht, diese schmale Frau mit braunem Haar und der Haut einer Indianerin, die seine Kinder zur Welt gebracht hatte.

»Wie läuft’s denn so? Alles in Ordnung?«

»Mir geht’s gut. Und dir?« Sie lächelte immer noch nicht, sondern faltete bloß auf der Marmorplatte die kleinen Hände, die lackierten Nägel rot wie Blut. Er sah ihre Hände und dann ihr Gesicht an.

»Mir auch. Wir mussten heute wegen des Regens zusammenpacken, und ich hab alle nach Hause gefahren. Wann hast du Mittagspause?«

»Ich weiß nicht«, sagte sie. Ihr Blick wanderte, kehrte dann zurück, um unbehaglich auf ihm zu ruhen. »Jean ist krank, und Sheila kriegt ihr Baby. Keine Ahnung, wann ich gehen kann.«

Er hustete. Er wollte nach einer Zigarette greifen, hielt sich dann aber zurück.

»Ich dachte, ich frag mal, ob du essen gehen willst. Dachte, du hättest vielleicht Lust, ins Beacon oder irgendwohin zu gehen.«

»Ich halte das nicht für nötig. Und du?«

»Schadet doch nichts. Ich würde dir bloß gern was zu essen ausgeben.«

Sie zog einen Bleistift hinterm Ohr hervor und öffnete auf Höhe ihrer Taille eine Schublade. Doch dann schloss sie die Schublade wieder und legte den Bleistift hin.

»Ich gehe nicht mit dir aus, falls du das willst.«

»Das hab ich doch gar nicht gesagt. Warum behandelst du mich bloß so?«

»Wie denn?«

»Willst nicht mit mir reden. Willst mich nicht mal sehen.«

»Das hier ist nicht der richtige Ort, um darüber zu reden. Du kommst nicht hier rein wie letztes Mal. Mr. Harper verständigt die Polizei, wenn du das noch mal machst.« Sie beugte sich vor und flüsterte: »Was meinst du, wie ich mich da gefühlt hab? Alle hier drin haben dich gesehen. Ich hab hier einen guten Job.«

»Das weiß ich. Ich bin ja auch stolz auf dich.«

»Dann lass mich meine Arbeit machen.«

Er hob die Hände. »Verdammt, so beruhig dich doch. Ich wollte dich bloß kurz sehen.«

»Das hier ist nicht der richtige Ort, um mich zu sehen. Ich muss arbeiten.«

»Und wo ist der richtige Ort?«

»Keine Ahnung. Willst du was kaufen?«

»Ja. Gib mir ein Heftchen Briefmarken.«

Sie griff kopfschüttelnd unter den Tresen.

»Du verwendest mehr Briefmarken als alle, die ich kenne.«

»Ich hab jetzt ein paar Brieffreunde«, sagte er.

Sie verdrehte die Augen und lächelte leicht. »Klar.«

Er zog seine Brieftasche heraus. »Wie viel kostet das?«

»Zwei fünfzig für zehn oder fünf Dollar für zwanzig.«

»Gib mir zwanzig. Brauchst du Geld?«

»Nee.«

»Wenn du was brauchst, kann ich’s dir geben.«

»Ich komm schon klar. Ich wurde letzte Woche befördert und hab ’ne Gehaltserhöhung gekriegt.«

»Ach ja?«

»Ja.«

»Bist du mit jemandem ausgegangen?«

»Das geht dich nichts an. Wenn’s so wäre, würd ich es dir nicht sagen. Damit du’s weißt.« Sie legte das Heftchen auf den Tresen. Er gab ihr einen Fünf-Dollar-Schein.

»Nimm ein bisschen Geld von mir an«, sagte er. Er hielt drei gefaltete Fünfziger zwischen den Fingern und legte sie auf den Tresen.

Sie blickte sich um, um zu überprüfen, wer zusah.

»Ich will das nicht. Sonst denkst du, ich schulde dir was.«

»Du schuldest mir nichts, Charlotte. Mir wär’s lieber, du hättest es, nicht ich. Ich verschleudere es bloß. Hast du keine Lust, was essen zu gehen?«

Er hatte die Hände weggezogen, und das Geld lag zwischen ihnen. Er zündete sich wieder eine Zigarette an, wandte den Kopf ab und hustete.

»Ich kann jetzt nicht«, sagte sie. Jemand war hinter ihn getreten. Eine alte Frau, wie er sah, die lächelnd in ihrem Geldbeutel kramte und den Kopf schüttelte.

»Ich hab mich echt gut geschlagen«, sagte er. »Ich war schon zwei Wochen nicht mehr aus.«

»Das ist gut, Joe. Aber du kannst jetzt tun, was du willst.«

»Ich will nichts anderes als dich sehen.«

»Ich muss jetzt wieder arbeiten. Nimm dein Geld«, sagte sie und hielt es ihm hin.

»Bis dann«, sagte er, drehte sich um und ging.

Auf dem Sofa drehte er das Gesicht zur Seite, sah alles, was auf dem Bildschirm passierte, ohne es zu sehen, und hörte die Worte, die die Schauspieler sagten, ohne sie zu hören. Alles war wie ein Traum, wirklich und zugleich unwirklich. Er schloss die Augen, und alles verrauschte.

Sie traten über eine morsche Türschwelle ein, ihre Schritte sanft auf den trockenen, staubigen Dielen, ihre Stimmen laut in der stillen Ruine. Der Boden war mit Schlingpflanzen wie mit einem schönen Teppich bedeckt, Kletterpflanzen mit roten Stielen und verfilzten grünen Blättern, die durch die Ritzen wuchsen. Ein uraltes Dreirad stand vor der erloschenen Asche eines Kamins, dessen alte grobe Ziegelsteine, schlecht verlegt und Stück für Stück ihren selbst gemachten sandigen Mörtel verlierend, nur von den Schmutznestern zusammengehalten zu werden schienen, die das Innere auskleideten.

»Guck mal da«, sagte die Alte und deutete auf das Dreirad. »Was meinst du, wie alt das ist?«

Im Gewölbe der Dachsparren über ihnen schwenkte eine Schleiereule den Kopf wie auf geschmierten Lagern nach unten, um die Eindringlinge besser zu sehen, breitete dann ihre schmalen braunen Flügel aus und glitt lautlos durch den Giebel in die Helligkeit des Frühlings hinaus.

Sie gingen im Gesumm roter Wespen durchs Haus, in ein Hinterzimmer, wo ein vierzig Zentimeter großes Nest am obersten Deckenbalken klebte und eine Masse schwerfälliger Körper mit schwarzen Flügeln wie Maden herumkroch, vibrierend und angriffsbereit. Leise, vorsichtig zogen sie sich ins Vorderzimmer zurück.

»Hier wohnt schon lange niemand mehr«, sagte der Junge. Er stieß das Dreirad an, das hölzern über den Boden rollte und dessen Pedale sich vielleicht mit der schwachen Erinnerung an die Füße eines längst toten Kindes drehten. Er trat an ein unverglastes Fenster, berührte zwei Holzstämme, die so perfekt zusammengefügt waren, dass kein Blatt Papier dazwischen passte, und fragte sich, wie man es geschafft hatte, dreißig Zentimeter dicke, behauene Stämme so genau an ihren Platz zu hieven.

»Wir müssen was vor die Fenster hängen«, sagte der Alte. »Und die Schlingpflanzen müssen raus.«

»Beseitigen wir lieber erst mal das Wespennest«, sagte die Frau. Die beiden Mädchen hatten sich mit ihren Säcken hinten in einer Ecke niedergelassen. Sie betrachteten ihren Vater mit mürrischer Aufsässigkeit.

»Diese alte Bude ist schrecklich«, sagte die Ältere. Sie hieß Fay, und die Kleine war Dorothy.

»Besser als ein Abzugskanal«, sagte Wade.

Der Alte blieb vor einem Holzschrank stehen, an dem der Lack von einem Brand, den er in einem anderen Haushalt überlebt hatte, beschädigt und voller Blasen war. Er öffnete eine der Türen, und sie protestierte mit leichtem Knarren. Auf den staubigen Regalen im Innern lagen Mäusekot, vertrocknete leere Insektenhülsen, farbige Fläschchen mit verrosteten Deckeln.

Der Junge war von den Holzstämmen fasziniert. Er berührte ihre behauene Oberfläche, spürte den getrockneten Schlamm, der in den Ritzen saß. Er dachte, dass er gern in der Zeit gelebt hätte, als man noch solche Häuser baute.

»Maultiere«, sagte er. »Ich wette, die Leute haben Maultiere benutzt.«

Der Alte nahm Flaschen aus dem Schrank, kleine blaue und große grüne aus seltsamem, fehlerhaftem Glas, in deren welligen Wänden Luftbläschen eingeschlossen waren.

»Diese alten Flaschen sind bestimmt was wert«, sagte er.

An der Seite des Hauses war ein kleiner Raum angebaut. Die Deckenbalken hingen nur einen Meter achtzig über einem mit Laubwerk, vergilbten Zeitungsschnipseln und verrotteten blassen Stofffetzen übersäten Fußboden. Der Junge stocherte mit dem Zeh in dem Müll. Er sah seinen Vater und seine Mutter an. Sie begutachteten die Flaschen und stritten sich leise darum. Mit seinem Schuh scharrte er Zweige und Staub vom Boden. Den Schimmel unzähliger Jahre. Er bückte sich und hob eine Schrotpatrone auf, die vom Verfall ganz weich und grün angelaufen war. Als er das gekräuselte, aufgeblähte Ende berührte, zerbröckelte das ausgebleichte Papier in seiner Hand. Kleine graue Schrotkugeln, die inzwischen fast weiß waren, waren locker hineingepackt. Er drehte die Patrone um und goss einen nahezu geräuschlosen Bleiregen über seine Schuhe. Im anderen Raum murmelten und redeten sie. Außer dem Schrank gab es keine Möbel, nicht mal einen Stuhl. Er blickte aus dem Fenster und sah einen kleinen baufälligen, mit angewehtem Laub bedeckten Schuppen, der aus grünen Brettern und geschwulstartigen Holzschindeln bestand. Er sah ein eingestürztes Nebengebäude. Und gleich dahinter sammelte ein Wall aus Kiefern schon die bevorstehende Hitze des Tages. Er schaute sich im Raum um. Wer auch immer hier gewohnt hatte, war schon lange weg. Er ging wieder nach vorn und gesellte sich zu seinen Eltern.

»Ihr könnt mal das Unkraut jäten«, sagte sein Daddy.

Gary bückte sich sofort und rupfte Händevoll Unkraut aus dem Fußboden, trug es zum Fenster und warf es hinaus.

»Hätt ich doch bloß einen Besen«, sagte seine Mutter.

»Und was benutzen wir statt Wasser?«, fragte Fay. »Hier haben wir keins.«

»Wenn ihr euch umseht, findet ihr bestimmt einen Bach«, sagte Wade. »Warum setzt ihr nicht euren Arsch in Bewegung und macht euch auf die Suche?«

»Warum suchst du ihn nicht selbst?«

Der Junge hielt inne und sah seine Schwester an. Der Alte stand vor ihr, und die Frau drehte sich um und beobachtete die beiden. Das Mädchen stand langsam auf.

»Hier gibt’s nicht mal ein Bad. Sieh dir die Bude doch mal an. Sie ist voller Wespennester, und durch den Fußboden wächst Unkraut. Du weißt nicht mal, wem sie gehört.«

Der Alte gab ihr ein Ohrfeige. Mit einem Knall wie bei einem Pistolenschuss explodierte seine Hand plötzlich auf ihrer Wange, das dunkle Haar flog um ihren Kopf, und ihr Gesicht wurde seitwärts geschleudert. Die Alte bewegte sich, erstarrte aber sofort, sank mit gekreuzten Beinen zu Boden und raufte sich die Haare. Das Mädchen ballte die Faust.

»Droh mir nicht mit der Faust«, sagte Wade. »Sonst schlag ich dich grün und blau.«

Sie schlug nach seiner Nase, verfehlte sie aber um ein ganzes Stück. Er schnappte ihren Arm und drehte ihn hinter ihren Rücken. Er versuchte, ihr mit der flachen Hand eine runterzuhauen, und sie versuchte, nach ihm zu treten. Sie tanzten wie verrückt im Staub umeinander herum. Die Jüngere hatte die Hände vorm Mund und sah zu.

Er versuchte, Fay an die Wand zu drücken, doch sie wirbelte herum und trat ihm fest in die Eier. Mit gebleckten Zähnen ging er zu Boden. Sie hob einen Stock vom Fußboden auf und begann ihn damit auf den Kopf zu schlagen, nagelte ihn am Boden fest, wo er zusammengerollt und ächzend lag und die Schläge abzuwehren versuchte, die sie auf ihn niederprasseln ließ wie jemand, der einen Teppich klopft, während er Hör auf schrie und Verdammt, das tut weh.

»Wie gefällt dir das?«, fragte sie. Doch Gary nahm ihr den Stock weg und warf ihn aus dem Fenster.

»Das reicht«, sagte er.

»Du ergreifst jetzt Partei für ihn? Warum?«

»Darum«, sagte er. »Du machst ihn bloß wütend.«

»Ich wünschte, er wäre tot«, sagte sie. Sie beugte sich über ihren Vater. »Hast du gehört? Ich hasse dich wie die Pest und wünschte, du wärst tot. Dann müssten wir uns nicht mit dir rumplagen.«

Der Alte lag, die Augen fest geschlossen, ächzend auf dem Boden. Mit zusammengebissenen Zähnen sagte er: »Ich prügel dich windelweich, bis du nicht mehr sitzen kannst.«

»Du bist ein Nichts«, sagte sie. »Ich wünschte, du wärst tot und würdest in der Hölle schmoren.«