Masurengold - Rudolf Braunburg - E-Book

Masurengold E-Book

Rudolf Braunburg

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Beschreibung

Im Zweiten Weltkrieg ließen sie Gold für 20 Millionen in den Wäldern von Masuren zurück. Nun wollen sie es holen. Michael Holle, der Ich-Erzähler, Pilot im Zweiten Weltkrieg und Schriftsteller, ist auf der Flucht: vor der Gegenwart, die er als oberflächlich verachtet – und vor der Vergangenheit, die ihn mit einer gefährlichen Verlockung heimsucht. Einer Einladung folgend hat er sich in die Einsamkeit Masurens zurückgezogen. Hier, in einem abgelegenen, karg eingerichteten Bauernhaus, will er zwei Jahre lang an einem neuen Roman arbeiten. Doch dann taucht unerwartet Erik Kasch auf, sein ehemaliger Bordfunker, der sich von seiner Reisegruppe getrennt hat, die noch einmal ihre ehemalige Heimat im heutigen Polen wiedersehen will. Er erinnert ihn an ein altes Versprechen: Gemeinsam wollten sie den millionenschweren Goldschatz heben, den sie kurz vor Kriegsende nach einer Notlandung in den riesigen Wäldern Masurens zurücklassen mussten. Zunächst zögert Michael, doch dann ist auch er gepackt vom Jagdfieber, von der schieren Lust am Abenteuer. Ein dichter, spannender Roman.

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Rudolf Braunburg

Menschen am Himmel

Roman

BsB

BestSelectBook_Digital Publishers

Alle Rechte vorbehalten

Für A.B. – wie immer

Der Autor

Mit 16 Jahren schrieb Rudolf Braunburg, Jahrgang 1924, seinen ersten Roman, der bei einem Bombenangriff vernichtet und deshalb nie veröffentlicht wurde. Im Zweiten Weltkrieg war er Jagdflieger. Nach dem Krieg studierte er Pädagogik und Philosophie. Um sein Studium zu finanzieren, arbeitete er als Jazztrompeter und Ghostwriter.

Mit abgeschlossenem Studium wurde er Lehrer in Hamburg. 1955 ging er zur Deutschen Lufthansa und war bis 1979 Flugkapitän.

Nach Anfängen als Navigator und Copilot auf derLockheed Super Constellationund derDouglas DC-3wurde Braunburg Flugkapitän, zuerst auf der DC-3, dann auf derConvair CV 440Metropolitan, später wieder auf derSuper Constellationund, nach Beginn des Jet-Zeitalters auf derBoeing 727, derBoeing 707und schließlich auf derMcDonnell Douglas DC-10.

In seiner aktiven Zeit als Flugkapitän war Braunburg auch Vorsitzender derVereinigung Cockpit.

Braunburg schrieb über 70 Romane, Sach- und Jugendbücher. Außerdem veröffentlichte er zahlreiche Artikel über Umweltschutz und Jazz. Er war engagiert in Fragen der Luftfahrt und der Flugsicherheit und galt lange Zeit als bekanntester deutscher Experte.

Rudolf Braunburg lebte zuletzt in Waldbröl.

Der Roman:

Im Zweiten Weltkrieg ließen sie Gold für 20 Millionen in den Wäldern von Masuren zurück. Nun wollen sie es holen...

Michael Holle, der Ich-Erzähler, Pilot im Zweiten Weltkrieg und Schriftsteller, ist auf der Flucht: vor der Gegenwart, die er als oberflächlich verachtet – und vor der Vergangenheit, die ihn mit einer gefährlichen Verlockung heimsucht. Einer Einladung folgend hat er sich in die Einsamkeit Masurens zurückgezogen. Hier, in einem abgelegenen, karg eingerichteten Bauernhaus, will er zwei Jahre lang an einem neuen Roman arbeiten.

Doch dann taucht unerwartet Erik Kasch auf, sein ehemaliger Bordfunker, der sich von seiner Reisegruppe getrennt hat, die noch einmal ihre ehemalige Heimat im heutigen Polen wiedersehen will. Er erinnert ihn an ein altes Versprechen: Gemeinsam wollten sie den millionenschweren Goldschatz heben, den sie kurz vor Kriegsende nach einer Notlandung in den riesigen Wäldern Masurens zurücklassen mussten.

Zunächst zögert Michael, doch dann ist auch er gepackt vom Jagdfieber, von der schieren Lust am Abenteuer.

Ein dichter, spannender Roman.

„Braunburg vermittelt kritische Bewusstseinsimpulse, ein Fortschritt auf dem Gebiet des Unterhaltungsromans, der dieser Gattung insgesamt nur zugutekommen kann.“

Frankfurter Allgemeine Zeitung

Man kann die Menschen nicht zum Guten führen;man kann sie nur irgendwohin führen.Ludwig Wittgenstein

1

 

Ende April kehrten die Sprosser zurück.

Als ich fünfundzwanzig Kilometer hinter Danzig die Weichsel überquerte, schraffierte feiner Regen den späten Vormittagshimmel. Der Fluss glänzte, je nach Beleuchtung und Wolkenschatten, bald wie Kupfer, bald wie Stahl. Wie alle Straßen, die in Nordpolen nach Osten führen, war die Chaussee nach Elbing kaum befahren. Ich fuhr, wie ich am liebsten fuhr: ohne Schuhe; und obwohl ich gern gewusst hätte, ob die Sprosser schon zurück waren, bog ich bei Nowy Dwor nach Süden auf die Straße 173 in Richtung Marienburg ab. Ich genoss den Morgen, den regenfrischen Duft der Flusswiesen, den Anblick der Osterlämmer, die durch Löwenzahnfelder sprangen.

Ich machte den Umweg, um wieder einmal die Türme und Wälle der Marienburg vom Westufer der Nogat aufsteigen zu sehen. Sie war nach dem Krieg in mühevoller Kleinarbeit wiederaufgebaut und als Museum eingerichtet worden. Auf den Nebenstraßen, die ich von Marienburg aus nach

Ost-Masuren fuhr, begegnete ich außer Pferdefuhrwerken keinem Fahrzeug – alle Straßen gehörten mir. Ich lehnte mich entspannt zurück und begann zu pfeifen. Ein herrlicher Morgen.

Vor dem Regen hatten Nebelschleier über den Flussniederungen und Auwiesen gehangen. Als hinter der Nogat die Sonne endgültig durchbrach, bescherte eine honigsanfte Brise makellose Weitsichten über goldgelb blühende Rapsfelder. Im seidigen Licht schimmerten die Seen, die von Kilometerstein zu Kilometerstein häufiger und größer wurden, wie dunkler Bernstein.

Im Geist sah ich die Heere der Deutschordensritter nach Osten ziehen, mordend und brandschatzend und gleichzeitig die Siedlungen gründend, in denen Handel und Kultur blühen würden, in Thom, Kulm, Elbing, Königsberg.

Im Prolog zu ihren Regeln heißt es, der heilige ritterliche Orden vom Spital Sankt Mariens vom Deutschen Hause habe verdient, mit manchem ehrsamen Gliede geziert zu werden.Denn sie sind Ritter und erwählte Streiter, die aus Liehe zum Gesetz und zum Vaterlande die Feinde des Glaubens mit starker Hand vertilgen. Sie sind auch aus überströmender Liebe Empfänger der Gäste und der Pilger und der armen Leute. Sie sind es auch, die aus Milde den Siechen, die im Spitale liegen, in brennendem Geiste dienen.

Freilich: im >Chronicon terrae Prussiae< des Peter von Dusburg, einem Priesterbruder des Ordens, liest sich das ganz anders. Uber eine Schlacht gegen die verhassten Pruzzen, bei der an einem einzigen Tag über fünftausend getötet wurden, lässt er verlauten:Sie betraten das Gebiet Reisen, töteten und fingen viele Leute und rückten zum Flusse Sorge vor, wo sie das erlebten, was sie lange gewünscht hatten...sie...besetzten die Wege rings um die Umzingelten mit ihren Bewaffneten, damit ihnen niemand entgehen könne, und dann vernichteten sie die Sünder in ihrem Zorn. Dort verzehrte das Schwert der christlichen Ritterschaft blitzend das Fleisch der Ungläubigen, und hier bohrte sich eine Lanze nicht vergebens in eine Wunde ein, denn die Preußen vermochten weder hier noch dort dem Antlitz ihrer Verfolger zu entweichen. So erfolgte ein großes Blutbad ... Die Kreuzfahrer aber kehrten alle voller Freude in ihre Heimat zurück und priesen die Gnade des Heilands.

Hinter den Fronten der blutigen Eroberungskriege schoben sich die Mönche ins verheerte Land, aus der die Bevölkerung geflohen war, und versuchten, neben den Gräbern der Gefallenen neue Anfänge zu schaffen.

Ich ließ meine Gedanken, während ich durch blütenübersäte Wiesen vorbei an Seen und Bächen fuhr, zurückschweifen zur Marienburg.

»Um die Hochburg der deutschen Ritter klang Wie Schlachtruf der Nogat Frühlingsgesang...«

Grauenhafter Schwulst; und in sämtlichen Nachkriegsbildbänden hieß es, die Burg sei durch die Russen zerstört worden. So, als ob die deutsche Wehrmacht sich nicht hartnäckig darin verschanzt hatte, um den Nogat-Übergang zu sichern, und die bösen Russen sie ohne Anlass mutwillig zerstört hätten.

Und obwohl die Ritter einst ein Armutsgelübde abgelegt hatten, waren sie zu beeindruckendem Wohlstand gelangt. Da ich das Bedürfnis hatte, mich eingehend über den Erzfeind und Buhmann jenes Volkes zu informieren, dessen Gast ich für zwei Jahre war, hatte ich die Ausgabenrechnungen des Ordens in den Treßler-Büchern studiert. Da waren vom Hochmeister 700 Gramm Silber für zwei Knechte aufgewendet worden, die dem englischen König als Geschenk zwei Falken brachten. Für eine Tagung auf der Marienburg mit dem Erzbischof von Riga waren dreieinhalb Kilo Silber für 10 Pfund Rosinenkonfekt, 10 Pfund Korianderkonfekt und 10 Pfund Aniskonfekt aufgewendet worden. Und natürlich gelangten rund die Hälfte aller Bier- und Weinsendungen aus Deutschland, Italien und Welschland, die für Beratungen gedacht waren, in des Hochmeisters Privatkeller.

Ich lebte seit mehr als einem Jahr in Masuren – eine friedliche, schöpferische Zeit. Meine Behausung war ein uraltes, windschiefes Bauernhaus, aus dem die Besitzer gegen Kriegsende geflohen waren und das von den neuen Besitzern zwanzig Jahre später wiederum aufgegeben worden war. Seit der Zeit hatte es mehreren, staatlich organisierten Zwecken gedient: Als Wochenend- und Erholungsheim bot es jenes Mindestmaß an Komfort, auf das auch Naturliebhaber nicht verzichten können.

Die Abgeschiedenheit, in der ich am Urwald von Augustow zwei Jahre zu verbringen gedachte, zwang mich zur Rationalisierung der kulturellen Mittel. Ich genoss Schallplatten, Bücher und Tonbänder wie kostbare Konserven auf einem Hochseekutter. Zum dritten Mal war ich aus den Wäldern nach Danzig, in die Großstadt gefahren – sozusagen auf kultureller Hamsterfahrt. Wenn mir die Hafenstadt mit ihren 365.000 Einwohnern größer und glanzvoller als Paris oder New York zu erscheinen begann, dann wurde es Zeit für eine solche Hamsterfahrt ...

Glückliche Rückkehr durch verschnörkelte Birkenalleen! Auf dem Hintersitz, eingerahmt von Paketen, Tüten und Päckchen aller Größen, hockte, ein Cerberus vor den Toren großstädtischer Zivilisationsprodukte, der Dackel Cäsar. Cäsar ist ein Kurzhaardackel mit mäßigem Stammbaum, aber sozusagen überhündischer Bescheidenheit und Geduld auf Autofahrten. Als ich

mich kurz umwandte, reckte er seine vibrierende Schnauze vor, während seine Zunge bis auf wenige Zentimeter an mein Gesicht heranleckte: eine weitere erstaunliche Fähigkeit. Er wusste, dass ich seine Zunge in meinem Gesicht nicht mochte. Dort, übereinander getürmt, stapelten sie sich – die Schätze, die mir durch Frühjahr und Vorsommer helfen würden. Die Schallplatten derpolskie nagraniaund bulgarischenbalkanion.Einundzwanzig Bände der Tolstoi-Gesamtausgabe des Aufbau Verlages. Romane, Erzählungen, Symphonien, Rhapsodien, Bildbände, Tonbänder, Whisky- und Cognacflaschen.

Querab von Elbing, hinter der alten Autobahn nach Königsberg, machte ich die erste Rast, entkorkte eine Flasche Honigwein, schnitt ein Stück Trappistenkäse ab, brach das dunkle, knackige Landbrot, das ich im Außenbezirk von Danzig gekauft hatte. Scharen von Störchen zogen über meinem Fiat hinweg und ließen sich schwirrend auf einer Heuwiese nieder, die gerade gewendet wurde. Pastoraler Frieden lag über der Landschaft, die nach dem kurzen erfrischenden Schauer nach prallem Leben roch.

Wenige Stunden später, als ich mich dem Mauersee näherte, befiel mich eine jener impulsiven Ideen, die logisch nicht zu erklären sind. Ein Holzschild zeigte von der Straße hinter Rastenburg, das jetzt Ketrzyn hieß, nach Gierloz: acht Kilometer bis zum ehemaligen Hauptquartier Hitlers, der Wolfsschanze. Schon bog ich auf die schmale Chaussee ein. Mehrmals war ich an diesem Wegweiser vorbeigekommen, ohne dass er einen Impuls ausgelöst hätte. Wollte ich plötzlich Vergangenheit bewältigen, politische Bildung nachholen?

Ich lebe in seltsamer Weise in der Vergangenheit. Schon jetzt, kurze Zeit hinter der Nogat und nach meiner Rast, sind die Erinnerungsbilder davon stärker, als es der unmittelbare Eindruck war. Ich sehe den Westflügel des Hochmeisterpalastes hoch aus den Baugerüsten des Flussufers ragen, erinnere mich des Farbspiels, das die Sonne auf den Wellenkreisen zweier Fischerboote ausführte. Cäsar hatte sich bei meinem ersten Picknick mit einem wilden Sprung aus dem Fond ins Gras gestürzt und war imaginären Hasen nachgejagt. Erst jetzt wurden mir Einzelheiten bewusst: schniefend hatte er vor einem Erdloch gekratzt und gescharrt, dass die Pflanzenfetzen flogen. Zerzaust und mit Lehmballen an den Pfoten war er zurück ins Auto gestürmt. Es hatte mich nicht gestört; es störte mich erst jetzt.

Ich absolvierte das komplizierte Eintrittsverfahren am Eingang zur Wolfsschanze. Eine Schranke versperrte die Auffahrt zum Parkplatz. Man stieg aus und versuchte einem attraktiven, aber nur polnisch sprechenden Schaltermädchen klar zu machen, dass man eine Eintrittskarte zu erwerben beabsichtigte, um durch die Sperre zu gelangen. Das schien ein seltsames Ansinnen zu sein, obwohl der Parkplatz vollgestopft war mit Bussen aus derddr,derbrd,Holland, Polen, Bulgarien. Schließlich, nach langen Pantomimen, erwarb man zwei Karten, eine offensichtlich für den Parkplatz, die andere für die Bunker, das Museum und einen Kinosaal, wo nonstop ein Dokumentarfilm über den Zweiten Weltkrieg gezeigt wurde, aus dem hervorging, dass er nur durch das siegreiche Eingreifen der ruhmreichen polnischen Armee hatte beendet werden können.

Ich verließ nach wenigen Minuten den mit Schulklassen und Touristengruppen vollgepferchten Saal und nahm im angrenzenden Café einen jener polnischen Espressos zu mir, der Tote aufweckt. Dann begann ich, ziellos den Wald zu durchstreifen, in dem die Überreste der gesprengten Bunker zerstreut lagen wie die Gebeine riesiger Saurier. Um die haushohen Betonmassen aufzuschütten, mussten ganze Sklavenheere von Zwangsarbeitern tätig gewesen sein. Viele Decken hatten selbst den konzentriertesten Sprengladungen widerstanden und türmten sich übereinander – in skurrilen Stellungen, aber in sich intakt. Der Wald hatte längst wieder sein Recht zurückgewonnen. Buchen, Fichten und eine Fülle von Schlinggewächsen überwucherten Ruinen, die zwar die Gigantomanie klassischer Bauwerke, aber nicht deren Schönheit besaßen. Selbst auf den Dächern hatten sich junge Birken angesiedelt. Einige klammerten sich in abenteuerlichen Stellungen mit ihren Wurzeln an winzige Risse in senkrechten Wänden. Überall im Bunkerwald waren die Gesangskaskaden der Buchfinken zu hören. Goldammern huschten über die Pfade. Die Führer, die ihre ausländischen Gruppen von Ruine zu Ruine lotsten, hatten die Bunker nummeriert: Nummeriiwar der Bunker Bormanns, 17 der Jodels, 19 hatte Keitel gehört, 13 Hitler und 16 Göring.

Ich suchte die Behausung Görings heraus. Die grauen, flechten- und moosüberzogenen Betonbrocken mit den verzerrten Stahlgeflechten unterschieden sich nicht von denen der anderen Bunker.

Doch, es gab einen Unterschied! Hinter einem vergitterten Luftschacht, der aus einer steil und bizarr emporgereckten, mehr als zwei Meter dicken Wand ragte, hatte ein Kohlmeisenpaar sein Nest gebaut. Zunächst wurde ich durch die feinen Signale der Brut aufmerksam, sie klangen, als entweiche sanft Dampf aus einem Kessel. Dann sah ich die beiden Meisen fliegen. Der Anblick hatte etwas Tröstliches inmitten der dumpfen Beklemmung, die von dem düsteren Abbild sinnloser und fehlgeleiteter Energien ausging. Fast bedauerte ich, den geduldig in sein Schicksal ergebenen Cäsar im Wagen gelassen zu haben. Er hätte der trostreichen Gewissheit, dass die Natur den Sieg über den versteinerten Wald errungen hatte, durch herzerfrischendes Kläffen Ausdruck gegeben.

Ich hielt den Anblick des Kohlmeisennestes am Bunker Görings für die größte Sehenswürdigkeit des Totenwaldes und hastete jetzt auf dem kürzesten Weg zurück. Cäsar empfing mich mit wildem Geheul.

Auf der Weiterfahrt durch goldblütenübersäte Wiesen, unter einem Himmel, der voll von silbrig schimmernden Tauben und majestätisch kreisenden Störchen war, kam ich mir wegen des Abstechers wie ein Idiot vor. Immerhin, dieses Kapitel war endgültig ad acta gelegt.

Denn es gab einen Grund, weshalb ich mir in dieser Trümmerwüste ausgerechnet den Bunker Görings angesehen hatte.

2

 

Das beste Mittel, Natur zu erhalten, sind schlechte Straßen. Bis Lyck waren die Chausseen schmal und kurvenreich, aber einwandfrei asphaltiert gewesen Jetzt, als ich nach Norden in Richtung Treuburg abbog und von dort gleich hinter den Neubausiedlungen Lycks wieder nach Osten abschwenkte, genoss ich jedes Schlagloch der Sandpiste, die zu meiner Behausung führte. Jeder Morast, jeder Erdrutsch bewahrte meinen Frieden. Als ob ich im östlichsten Teil Masurens, knapp siebzig Kilometer von der russischen Grenze entfernt, als Westeuropäer nicht ohnehin abgeschieden genug gewesen wäre! Wenige hundert Meter noch auf der Sandpiste, und Cäsar begann zu heulen. Eine kultische Handlung, die sich an dieser Stelle nach jeder Rückkehr vom Wochenmarkt in Lyck oder Treuburgwiederholte. Ich öffnete die hintere Tür, und er tobte hinaus, überschlug sich ein paarmal und jagte dann mit hechelnder Zunge davon. Als traue er ab hier keiner Technik mehr, als sei sein Heimweh noch größer als meins!

Behutsam tastete ich mich im zweiten Gang die gewundene Sandstraße hinauf. Der Regen, der hier ausgiebiger als in Danzig gefallen sein musste, hatte zahlreiche Pfützen hinterlassen und die weichen Banketten noch heimtückischer gemacht. Gleichzeitig hatte er die vorher nur zaghaft blühenden Wiesen in wahre Goldfelder verwandelt: Dotterblumen an den Bächen, Hahnenfuß, Scharbockskraut, gelber Ackerklee und Klappertopf wild über Mulden und sanfte Hügel verteilt.

Das hohe Heugras, die grünlichen Kornfelder mit einem Hauch von erstem Gelb versteckten das Haus bis zur Hofeinfahrt. Die letzten zehn Meter der Sandstraße wurden durch junge, aber kräftige Birken umsäumt. Ich kannte die Triumphstraßen ägyptischer Tempel in Karnak und Luxor; mit diesen masurischen Birken konnte es keine Sphinx- oder Widderallee aufnehmen.

Zunächst tauchte das Strohdach, dann die Westwand auf, durchbrochen von wurmstichigem, vermorschtem Fachwerk. Der fleckige, ausgebleichte Kalkverputz war inzwischen weiter zerbröckelt. Gleichzeitig waren die ersten Buschrosensträucher aufgeblüht, die die gesamte Front in eine Orgie aus Grün und Karminrot hüllten. Einer der Zweige hing quer vor dem Fenster meines Arbeitszimmers. Ich fuhr auf den winzigen Hof. Und dort, zwischen zwei Pfützen, stand Cäsar wild kläffend und hieß mich herzlich willkommen, als habe er seit Tagen geduldig auf meine Rückkehr gewartet. Er sprang bis zur Brust an mir hoch und ließ erst nach, als ich ihm mitteilte, ich habe ihm etwas Ausgezeichnetes mitgebracht. Ich zog aus dem Handschuhfach den Knochen, den ich auf der Langgasse von Danzig für diesen Zweck erstanden hatte, und konnte in Ruhe auspacken. Ich verstaute Platten, Bücher, Schreibpapier unter, neben und auf dem Arbeitstisch. Und auch das: vierzig Flaschen Pilsener Urquell, die in Lyck nur selten erhältlich waren. Dann, es war mittlerweile fünf Uhr abends, rückte ich mir meinen einzigen Sessel ans Westfenster, ließ mich fallen und atmete tief aus. Auf dem Dachfirst sang eine Wacholderdrossel. Die Pausen zwischen ihren Kaskaden wurden nur durch Cäsar unterbrochen, der mit Knacken und Schmatzen seinen Knochen zerlegte. Ich hatte das Bauernhaus für eine lächerlich geringe Summe durch Vermittlung des Süddeutschen Schriftstellerverbandes vom Schriftstellerverband der Volksrepublik Polen für zwei Jahre gemietet, um dort ungestört an einem neuen Roman arbeiten zu können. Eine ungewöhnliche Transaktion – aber möglich.

Kurz vor Lötzen hatte ich den Europabus überholt, der wöchentlich westdeutsche Pauschalreisende ins ehemalige Ostpreußen schleuste. Er kam von Posen herauf, fuhr über Allenstein bis Lötzen und zurück über Danzig, Kolberg und Stettin. Die

Insassen waren fast ausnahmslos ehemalige Ansässige, mit schweren Masurenschädeln und in betagtem Alter. Sie wollten noch einmal sehen, was aus ihren ehemaligen Häusern, Höfen und Grundstücken geworden war, und hakten nach dem Schemasteht – steht nicht mehr –oder –gut erhalten – sträflich verwahrlost – nicht wiederzuerkennenihren ehemaligen Besitz ab. Ich stieß gelegentlich in den Hotels in Angerburg, Lyck oder Goldap auf sie, wenn ich mit meinem Polskie Fiat unterwegs war oder keine Lust mehr hatte, meine eigenen Kochkünste zu genießen. Ich legte aus dem neu erstandenen Stapel Schallplatten Chopins Klavierkonzert Nr. I e-Moll opus 11 auf, in einer Aufführung des Symphonischen Orchesters der Nationalphilharmonie Warschau, mit Halina Czemy-Stefanska als Solistin. Ich goss mir aus der neuen Flasche Remy Martin einen dreifachen Cognac ein und genoss die schönste, die masurische Abendstunde.

Die Landschaft, auf die das breite Fenster Aussicht bot, lag in pures Gold getaucht. Über dem schmalen Abendpurpur-Streifen am Horizont wölbte sich ein honiggelber Himmel fast bis zum Zenit, wo er in flüchtiges Grün und dann, nach Osten hin, in intensives Tintenblau überging. Das Gelb des Westhimmels teilte sich an die Luft, von dort bis an die Erde mit, so dass die grünlichen Ähren der Kornfelder fast ausgereift erschienen.

Das Haus lag auf einer Anhöhe. Hinter dem Fenster schwang sich ein Getreideacker bis in eine birkenbestandene Mulde. Der Birkenhain säumte das Ufer eines versumpften Waldsees. Jenseits des Birkenhains, der mir einen Durchblick auf die Seerosen erlaubte, mit der seine rabenblaue Oberfläche sich überzogen hatte, drängte sich ein dichter Mischwald aus Buchen und Ulmen, der durch riesige Fichten sein düsteres Aussehen erhielt.

Ein gewaltiger Eichentisch nahm zu zwei Dritteln den Raum vor diesem Fenster ein. Das letzte Drittel wurde durch meinen Sessel ausgefüllt. Er war eine geradezu surrealistische Kombination aus spätem Rokoko, verplüschtem Louis-quatorze und vergeblich reparierter Nachkriegs-Abnutzung. Sein Grundton war Salonsofa-Grün. Technisch gesehen war er eine Kombination aus Bürodrehstuhl, Ohrensessel und Manager-Schaukelstuhl. Von geradezu legendärer Bequemlichkeit. Ein Mann um die fünfzig weiß das zu schätzen – auch wenn er vorgibt, sich wie dreißig zu fühlen. Auf dem Schreibtisch, von ungeordneten Bücherstapeln voller Lesezeichen, Manuskriptheftern, Notizbüchern und Farbbandschachteln umwuchert wie die Bunker von Gierloz vom Urwald, stand, verheißungsvoll, anklagend und allzeit mahnend bereit, die elektrische Schreibmaschine – der Spaten des literarischen Goldschürfers. Die goldene Masurenstunde zwischen fünf und sieben war meine beste Arbeitszeit. Vergoldet wurde sie zusätzlich durch einen Cognacschwenker, der, wenn schon nicht immer französischen, so doch den ausgezeichneten polnischen Winiak oder den berühmten russischen Koniak aus Armenien enthielt. Nach den Eindrücken, die ich nach langer Abgeschiedenheit durch meinen Drei- Tage-Aufenthalt in Danzig und durch die Autofahrten erhalten hatte, war meine Stimmung eine Mischung aus Erschöpfung, Kontemplation und berauschter Sensibilität. Ich genoss diesen Zustand mit dem Bewusstsein, gerade jetzt das ganz große Kapitel schreiben zu können, das meinen neuen Roman an die Spitze aller Bücher katapultieren würde. Ich hütete mich, an die Maschine mit ihren herausfordernden achtundvierzig Tasten zu gehen und mich vom Gegenteil zu überzeugen.

Ich hütete mich sogar, Hand anzulegen an die begonnenen Reiseartikel, die von meiner westdeutschen Agentur in Auftrag gegeben worden waren, um mir das von Monat zu Monat überwiesene Bargeld in möglichst attraktiver Form zu gewährleisten. Ich saß einfach da und sah die Sonne über Lyck untergehen. Ich war rundherum glücklich.

 

Als die Sonne in den See gesunken war, unwiderruflich wie bei einer Notlandung, verspürte ich kräftigen, gesunden Appetit. Meine Vorliebe für deftige Hausmannskost hatte ich von meiner Mutter geerbt, die aus Königsberg stammte. Sie kam im Winter 44/45 auf dem Treck um.

Bevor ich mich mit der Inbrunst und Hartnäckigkeit eines Traktatblättchenverkäufers an die Zubereitung von litauischen Klößen machte, räumte ich einen Teil der mitgebrachten Bücher in das offene Wandregal ein, das die ganze hintere fensterlose Wand des Raumes ausfüllte.

Dieses Regal freilich war weniger Gebrauchsgegenstand als vielmehr ein Kunstwerk mit dem KatalogtitelHausaltar.Es stammte von meinem Vorgänger, einem Bildhauer und Graphiker aus Krakau, den es allerdings in dieser polnischen Version der römischen Künstler-Villa Massimo nur ein knappes halbes Jahr gehalten hatte. Wegen des gewaltigen Umfangs musste er es notgedrungen zurücklassen – es war das einzige Werk, das er während seines Aufenthaltes geschaffen hatte; er verbrachte seine Tage vorwiegend meditativ. Es war aus rohem Kistenholz gezimmert und mit jener laienhaften Unbekümmertheit vernagelt worden, die gleichzeitig absolute handwerkliche Unfähigkeit und höchste künstlerische Intuition zum Ausdruck brachte. Die großräumige, geradezu kosmische Leere der einigermaßen horizontal und vertikal verlaufenden Hauptbretter wurde durch Dutzende kleiner, an keine Norm gebundener Einzelfächer mit dem nach Bestätigung drängenden, um Verkörperung ringenden Ich-Bewusstsein des in seinem Wesen bedrohten Individuums ausgefüllt. Eine globale Überwindung der inneren und äußeren Nicht-Existenz des nur noch als Idee vorhandenen Existentiellen. So jedenfalls stand es in einem Prospekt, den ich anhand von Langenscheidts Taschenwörterbuch in arbeitsreichen Nächten aus dem Polnischen übertragen hatte. Mein Vorgänger, Slawomir Milosz, war ein anerkannter Künstler, der mit seinen fast immer recht umfangreichen und schwergewichtigen Werken Ausstellungen in Elbing, Sandomir, New York und Bremen beschickt hatte.