111 Gründe, 'Tatort' zu lieben - Kurt-J. Heering - E-Book

111 Gründe, 'Tatort' zu lieben E-Book

Kurt-J. Heering

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Beschreibung

Am 29. November 1970 sah man es zum ersten Mal, das Augenpaar im Breitwandformat, um das sich zum Soundtrack von Klaus Doldinger konzentrische Kreise schlängeln. Damals ahnte vermutlich niemand, dass der 'Tatort' noch 40 Jahre später fast jeden Sonntag Millionen von Zuschauern 90 Minuten Spannung zum Ausklang des Wochenendes bescheren würde. Mittlerweile ist die Krimi-Reihe nicht nur die langlebigste, sondern auch die erfolgreichste deutsche TV-Serie aller Zeiten, die durchschnittlich 8,5 Millionen Zuschauer Sonntag für Sonntag vor die Geräte bannt. Der Tatort ist außerdem längst Kult. Fanclubs treffen sich zum gemeinsamen Gucken, es gibt 'Tatort-Cafés', im Internet pflegen hartgesottene Fans Dutzende von Seiten. Kein Wunder, sind die Krimis doch meist hochkarätig besetzt, originell und oft ganz anders, als man anfangs denkt. Häufig bieten sie Anlass zu heftigen Diskussionen, die das private und berufliche Umfeld tagelang beschäftigen. Als der erste 'Tatort' im Fernsehen lief, waren Silke Porath noch nicht geboren und Kurt-J. Heering gerade 17 geworden. Aus unterschiedlichen Perspektiven haben die Autoren 30 bzw. 40 Jahre 'Tatort' hautnah miterlebt. In 111 kleinen Geschichten frönen sie in ihrem Buch ihrer ausgeprägten Liebe zum 'Tatort': Sie beleuchten die Highlights aus über 40 Jahren, zeigen, warum die Folgen oft Geschichtsreisen sind, widmen sich den Macken der Kommissare, graben die schrägsten Geschichten aus, schauen sich die Ermittler genauer an, enttarnen (peinliche) Prominenz im Tatort und erzählen Wissenswertes über Ambiente, Kolorit, Regisseure, Autoren sowie Nebendarsteller. '111 Gründe, ›Tatort‹ zu lieben' ist eine amüsante, informative und anregende Liebeserklärung, die manchmal auch ein bisschen böse ist - vor allem aber ist sie ein Muss für alle 'Tatort'-Fans!

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Kurt-J. Heering & Silke Porath

111 Gründe, »Tatort« zu lieben

Eine Liebeserklärung an eine ganz besondere Krimireihe

INHALT

Mein erstes Mal

Vorwort von Silke Porath

An mein erstes Mal erinnere ich mich noch ganz genau. Es war Wochenende, meine Eltern waren unterwegs und ich durfte bei den Großeltern übernachten. Das allein war schon ein großes Abenteuer: die fertig in Stückchen geknackte Marzipan-Schokolade in der roten Plastikschüssel, die Partie »Mensch ärgere dich nicht« mit Opa, der Schweinebraten mit Erbsen von Oma. Und dann, wenn es Abend wurde, richtete Oma mein Bett auf der hellbraunen Cordcouch. Die Daunendecke mit dem bunt geblümten Flanellüberzug türmte sich zu einer duftenden Wolke über mir auf. Opa platzierte sich im Sessel, Oma öffnete die magische Klappe und schaltete den Fernseher ein.

Mit dem Duft von Persil und Lenor in der Nase und den Kommentaren des Sprechers beim Fußballspiel im Ohr döste ich ein. Nirgendwo schlief es sich so kuschelig wie in Omas Wohnzimmer. Irgendwann drang Schnarchen aus Opas Sessel und Oma ließ die Stricknadeln sinken. Beide schlummerten selig und ich linste unter der Decke hervor. »Erwachsenenprogramm« gucken. Heimlich. Weil streng verboten.

Dann hörte ich zum ersten Mal die Musik. Sah die Augen im Fadenkreuz. Welche Folge gerade lief, kann ich heute nicht mehr sagen. Schemenhaft erinnere ich mich an ein Auto auf einer einsamen Landstraße. An einen Mann, der »Gudrun!« ruft. Und daran, dass es irgendwie toll war, auch wenn ich nichts kapiert habe.

Es sollten noch viele Jahre vergehen, ehe ich freiwillig wieder »Tatort« guckte. Und das auch nur wegen Götz George. Schimanski mit Schnittchen und Mixed Pickles wurde damals wohl in Tausenden deutscher Wohnstuben serviert. Meine Freunde wollten so cool sein wie der Superbulle und einigen wenigen gelang es auch, sich eine ähnliche Jacke zu besorgen. Die hatten in jenem Jahr die meisten Mädchen.

Vor Schimanski war der »Tatort« für mich streng verboten gewesen. Jeden Sonntag hatte es in meinem Elternhaus Punkt 20.15 Uhr geheißen: »Ab ins Bett, wir gucken jetzt ›Tatort‹. Und wehe, jemand taucht noch mal auf!«

Mittlerweile gehört der »Tatort« so fest zum Sonntagabend wie das berühmte Amen zur Kirche. Ohne »Tatort« als Wochenend-Abschluss ist es kein gutes Wochenende. Ich bin mit dem »Tatort« groß geworden. Schließlich sind wir beide ungefähr gleich alt. Die Kinderjahre der Krimiserie liegen in meiner Erinnerung im blassen Nebel, aber zum Glück werden die alten Folgen regelmäßig wiederholt. Und ich hoffe für meine Kinder, dass das mit den aktuellen Folgen auch so sein wird. Denn die bekommen am Sonntag Punkt Viertel nach acht zu hören: »Ab ins Bett. Wir gucken jetzt ›Tatort‹. Und wehe …«

Mehr ist dazu eigentlich nicht zu sagen

Vorwort von Kurt-J. Heering

Zwei Vorworte zu einem Buch? Na ja, es sind ja auch zwei Autoren. Und die haben sich auf der Frankfurter Buchmesse 2011 dafür entschieden, dieses Buch gemeinsam zu schreiben und zu verantworten. Wir machen nur eine Ausnahme und verraten, dass der erste Grund in diesem Buch – der über »Duisburg-Ruhrort« – vom älteren Teil dieses Duos stammt. In ihm finden sich einige Passagen, die erklären, weshalb er den ersten Schimanski von 1981 genauso liebt wie seine Kollegin, wenn auch aus ganz anderen Gründen. Zumindest teilweise. Was unter anderem natürlich auch am Geschlecht liegt. Geschwärmt habe ich für Götz George nicht – was vermutlich auch nachvollziehbar ist –, obwohl ich ihn schon vor dieser Rolle für einen tollen Schauspieler hielt. Aber der Typus, den er verkörperte, der war damals noch etwas Besonderes. Selbst 13 Jahre nach 1968. Wie das Land bis dahin aussah, hat Silke nicht erlebt. Aus meiner Perspektive würde ich sagen: zum Glück! Darüber könnte man natürlich trefflich streiten.

Aber egal. Gemeinsam blicken wir zurück auf über 40 Jahre der besten und erfolgreichsten Krimireihe des deutschen Fernsehens. Wir teilen die Liebe zu diesem Format, wenn auch nicht ohne Einschränkungen. Denn es gab immer wieder Episoden, die einfach nur deppert waren. Aber da dieses Buch in doppelter Hinsicht subjektiv geschrieben ist, verrät es vielleicht gerade in diesen Passagen mehr über deutsche (nicht nur TV-)Geschichte als in denen, die uneingeschränkt positiv sind. Schau’n mer mal! Oder, mit den Worten des russischen Futuristen und Dadaisten Daniil Charms: »Mehr ist dazu eigentlich nicht zu sagen.«

1. Kapitel

Highlights aus 40 Jahren »Tatort«

Weil Götz George als Horst Schimanski das Krimi-Genre unwiderruflich entstaubt hat

Ein Mann, von dem man zunächst nur die rechte Schulter sieht und dass er ein rotes T-Shirt trägt, legt mit der Linken eine Kassette in einen altmodischen Radio-Rekorder und drückt die On-Taste. Es erklingt »Leader Of The Pack«, ein Song aus der Mitte der 1960er-Jahre, der größte Hit der Girlie-Gruppe The Shangri-Las. Die Kamera fährt ein Stück zurück. Durch ein milchiges Fenster – vermutlich seit Monaten nicht mehr geputzt – blickt der Zuschauer mit dem T-Shirt-Träger auf ein tristes Industriegebiet unter einem wolkenverhangenen Himmel. Der Mann kratzt sich – wo genau, ist nicht zu erkennen, irgendwo jedenfalls an hinteren Körperteilen. Dann dreht er sich um. Im Bild ist nun ein müder, womöglich verkaterter Mann um die vierzig, mit vollem dunklen Haar und einem Schnäuzer. Unter den Achseln seines T-Shirts sind deutlich Schweißflecken zu erkennen. Geduscht hat er kaum.

Die Kamera wandert mit dem Mann durch die Wohnung, direkt in die Küche. Bilder, wie sie hier zu sehen sind, wird man 25 Jahre später in Reality-Soaps wiederfinden, unter Titeln wie »Hausbesuch bei einem Messie«. Überall stehen leere Flaschen herum, zum größten Teil Bierflaschen. Auf dem Herd türmen sich Töpfe, Teller und Pfannen, die in der übervollen Spüle daneben keinen Platz mehr gefunden haben.

Der offenbar gerade aus dem Bett Gekrochene hat Hunger, doch im Kühlschrank finden sich nur noch ein paar rohe Eier. Also Herd anwerfen und nach einer Pfanne suchen. Die findet sich auch inmitten des schmutzigen Geschirrs, jedoch in einem Zustand, der selbst diesen hartgesottenen Abwaschverweigerer vor nochmaligem Gebrauch zurückschrecken lässt. Also bleibt nur eins: die rohen Eier in ein Glas, ein-, zweimal schütteln und dann runterwürgen. Der Magen braucht was zu tun.

In der nächsten Sequenz sammelt der Mann ein paar leere Bierflaschen in eine Plastiktüte, streift sich mit einer Hand einen blauen Pullover über, grapscht nach seinem graubeigen Parka und verlässt die Wohnung.

Schnitt. In der Folgeszene schreitet der Dunkelhaarige direkt auf eine Kneipe in einer düsteren, schmuddeligen Straße zu. Die Tüte ist weg, vermutlich hat er noch schnell Flaschenpfand eingelöst, um ein paar Groschen dabeizuhaben. Vor der Kneipe singt eine Gruppe uniformierter Frauen kirchliche Lieder. Anscheinend handelt es sich um eine Sekte. Wenige Meter entfernt liegen mitten auf der Straße etliche zertrümmerte Möbelteile herum – eine Sperrmüllentsorgung der besonderen Art. Ein Passant, offensichtlich mit unserem Helden bekannt, deutet auf ein geöffnetes Fenster im ersten Stock des Hauses gegenüber und bemerkt: »Der schon wieder.« In derselben Sekunde sieht man schemenhaft einen Mann am Fenster, der sich nun anscheinend auch seines Fernsehgerätes entledigen will. Der Dunkelhaarige im Parka dreht sich um, blickt nach oben und schreit: »Horsti, du Idiot … Hör auf mit der Scheiße!« Doch der Mann am Fenster lässt sich nicht aufhalten. Unter lautem Geschepper landet auch die Glotze auf der Straße.

Diese Szenen erzählen detailgenau die ersten dreieinhalb Minuten der 126. »Tatort«-Folge nach, die am 28. Juni 1981 unter dem Titel »Duisburg-Ruhrort« zur besten Sendezeit im ARD-Abendprogramm lief. Es war der erste Auftritt des knapp 43-jährigen Götz George als Hauptkommissar Horst Schimanski, eine Rolle, die den Sohn des Schauspielerpaars Berta Drews und Heinrich George zu einem der größten Stars des deutschen Fernsehens werden ließ. Spät, aber nicht zu spät. Und verdient allemal.

Was in dieser Eingangssequenz und den gut 90 Minuten danach auf dem Bildschirm ablief, war eine Mediensensation, die Aufsehen erregte wie kaum ein »Tatort« zuvor und danach. Denn George alias Schimanski stellte mit seinem prolligen Auftreten das Bild des deutschen Polizeibeamten auf den Kopf und revolutionierte gemeinsam mit den Drehbuchautoren Thomas Wittenburg und Horst Vocks sowie Regisseur Hajo Gies das Krimi-Genre insgesamt. So episch wie in der Eingangssequenz ging es in der Folge nämlich nicht weiter. Das Erzähltempo des Films beschleunigte sich zusehends und mündete immer wieder in Action-Szenen, die man bis dahin fast nur aus US-amerikanischen Produktionen oder Bond-Filmen kannte.

George prügelte und prollte sich durch die Handlung, bediente sich mit Vorliebe der Fäkalsprache und verstieß unzählige Male gegen den Verhaltens- und Ehrenkodex realer Polizeibeamter. -Zusätzlichen Reiz gewann das Flair des Schmuddelbullen durch den ständigen Kontrast zu seinem Partner, Hauptkommissar Christian Thanner, dargestellt von dem früh verstorbenen Eberhard Feik. Der parliert perfekt auf Französisch, trägt Anzug und saubere gelbe Pullunder und belehrt einen Verdächtigen schon mal mit präzisen grammatischen Erläuterungen, weshalb er einen Satz im Protokoll nochmals ändern müsse. Funktioniert hätte die Provokation »Schimanski« vielleicht auch ohne Thanner, aber gemeinsam bildeten sie ein Dream-Team, das die harten Action-Szenen um Comedy-Elemente bereicherte.

Wer nach 1960 oder sogar nach 1970 geboren ist, wird schwer nachvollziehen können, welche Sprengkraft diesem und den folgenden »Schimanskis« gesellschaftspolitisch innewohnte. Die »Tatort«-Reihe war 1971 unter anderem auch als Antwort der ARD auf die überaus erfolgreiche Serie »Der Kommissar« ins Leben gerufen worden, die seit 1969 im ZDF lief. Bei den Mainzern ermittelte der 1910 geborene Schauspieler Erik Ode, umgeben von einem Mitarbeiter-Team, das ihm treu ergeben war und die »natürliche« Autorität des Älteren nie im Leben infrage zu stellen gewagt hätte; ganz zu schweigen von der »Rehlein« genannten Sekretärin, die selbstverständlich nur Protokolle tippte und Kaffee kochte.

Seit 1974 gab es dann zusätzlich beim ZDF den Gentleman Derrick (Horst Tappert), dessen Assistent Harry (Fritz Wepper) kaum mehr war als ein hochrangiger Laufbursche. Die Fälle spielten – wie auch beim »Kommissar« – überwiegend in der »besseren Gesellschaft« Münchens und verkündeten den Zuschauern, dass man die »Reichen und Schönen« nicht beneiden müsse, denn sie endeten fast immer als Leichen oder als überführte Täter. Und selbstverständlich machten sich weder Derrick noch der Kommissar bei ihren Fällen jemals schmutzig oder schimpften gar wie die Rohrspatzen, das Wort »Scheiße« kam ihnen nicht über die Lippen.

Im Großen und Ganzen blieben auch die »Tatort«-Ermittler des ersten Jahrzehnts noch diesem Bild vom absolut korrekten Beamten verpflichtet. Dass Hansjörg Felmy als Kommissar Haferkamp (1974–1980) ständig mit seiner Exfrau herumturtelte und sich auch schon mal zu Mittag zur Bulette ein Bierchen genehmigte, war bereits das exotischste Verhalten unter den Ermittlern der ersten Dekade.

Wirklich aus dem Rahmen fiel vor Schimanski einzig der von Sieghardt Rupp verkörperte Zollfahnder Kressin. Diese Figur hatte der Drehbuchstar und Ekel-Alfred-Schöpfer Wolfgang Menge (»Ein Herz und eine Seele«) erfunden und auch als kleine James-Bond-Persiflage angelegt. Jedenfalls sah man in Filmen wie »Kressin stoppt den Nordexpress« mal wilde Verfolgungsjagden, an deren Ende der Fahnder noch allemal korrekt frisiert war und natürlich nicht schwitzte. Zudem hatte er immer seine eigenen Bond-Girls um sich, gespielt von Sex-Sternchen der damaligen Zeit wie Brigitte Skay, Eva Renzi oder Heidi Stroh.

Doch das alles war nichts im Vergleich zu dem Skandal, den George als Schimanski auslöste. Tatsächlich gab es kritische Diskussionen darüber, ob eine Figur wie dieser Kommissar nicht das Ansehen der deutschen Polizeibeamten beschädigen würde. Und ob ein solcher Held sich als Vorbild für die Jugend eigne. Na ja, wir vermuten mal, dass so etwas von den Drehbuchautoren auch kaum beabsichtigt war.

Auch wenn die Schilderung der »einfachen Verhältnisse« im Pott in »Duisburg-Ruhrort« wie in den folgenden Teilen der Reihe bisweilen bis an die Grenze zur Karikatur überzeichnet war, zeigten »Tatorte« mit Schimanski und Thanner doch fast immer ein getreueres Bild der bundesrepublikanischen Wirklichkeit als die Geschichten von sauberen Morden in Grünwalder Villen. Wem das Zauberduo George/Feik noch kein ausreichender Grund ist, der müsste die Duisburger »Tatorte« mindestens dafür lieben.

Weil nach »Reifezeugnis« 1977 gleich zwei Hollywood-Karrieren begannen

Die Kamera fängt das Panorama einer Kleinstadt ein. Man sieht Aufnahmen schmucker Einfamilienhäuser und einiger Villen. -Unmittelbar hinter der Stadt findet sich ein kleiner Wald, der direkt an einen See grenzt. Idylle pur. Aus dem Off erklingt eine Mädchenstimme. In melancholischem Ton hält die noch Unbekannte einen Monolog, der sich an ihren Geliebten richtet. Es hat den Anschein, als spräche das Mädchen zu seiner ersten großen Liebe. Zu einem Mann, der es zur Frau gemacht hat. Manchmal fühle sie sich wie jemand, der im Dunkeln etwas suche und Angst habe zu fallen, sagt die Stimme. Und sie fragt den Geliebten, ob er sie auffangen würde.

Dann füllt langsam eine Schüler-Schönschrift den Bildschirm. »Reifezeugnis« ist zu lesen und darunter: »von Herbert Lichtenfeld und Wolfgang Petersen«. Dieses erfolgreiche Duo hatte dem von Klaus Schwarzkopf gespielten Kommissar Finke seit 1971 bereits fünf Fälle auf den Leib geschrieben bzw. die Filme inszeniert; denn der eigentliche Drehbuchautor war Lichtenfeld, Petersen war für die Regie verantwortlich und wirkte am Buch lediglich mit. Episoden wie »Blechschaden«, »Strandgut« oder »Jagdrevier« zählten zu den besten »Tatorten« der frühen Jahre, reichten aber nicht an den Erfolg dieses sechsten Finke-Falls von 1977 heran, der bis heute als ein Meilenstein der Serie gilt.

Bevor Kommissar Finke in seinem »Tatort« zum ersten Mal auftritt, vergehen annähernd 25 Minuten. Selten zuvor und danach nahm sich ein Krimi derart viel Zeit für die Exposition. Und die handelt hauptsächlich von den seelischen Konflikten jenes Mädchens, das sich verliebt hat. Sie heißt Sina, wie der Zuschauer inzwischen weiß, und ist ausgerechnet in ihren Deutschlehrer Helmut Fichte verknallt. Der ist natürlich auch noch verheiratet – und seine Frau ist Lehrerin am selben Gymnasium. Das bildhübsche Mädchen mit dem traurigen Blick wird auch von Mitschüler Michael umschwärmt, der sich darüber wundert und ärgert, dass seine Freundin keine Zeit mehr für ihn hat, sondern angeblich ständig lernen muss. Als sie mit dem Rad in den Wald fährt, folgt der Junge ihr heimlich und beobachtet, wie sich Sina mit Fichte trifft und mit ihm schläft. Wütend und verbittert lauert er ihr später auf und verlangt von ihr, am nächsten Tag mit ihm Sex zu haben und sofort mit dem »Schwein« Schluss zu machen. Dummerweise verplappert er sich auch noch einer Klassenkameradin gegenüber.

Als es zu dem Treffen kommt, fällt er hemmungslos über das Mädchen her. In ihrer Verzweiflung erschlägt Sina ihren Peiniger, täuscht einen Vergewaltigungsversuch vor und lenkt den Verdacht auf den »grünen Mann«, einen Unbekannten, der laut Zeitung in »grüner Jägerkleidung« Frauen auflauert und sie überfällt. Fichte wird unterdessen von der erwähnten Klassenkameradin Michaels erpresst, die ihn zwingt, bei seiner Frau die nächste Englisch-Arbeit auszuspionieren.

Von jetzt an vergehen weitere 70 Minuten, in denen der Film kaum Tempo aufnimmt und trotzdem keine Sekunde langweilig ist. Nach und nach gelingt es dem Kommissar, die Fäden zu entwirren. Als der ursprünglich Verdächtigte als Täter ausscheidet, gerät Sinas Liebhaber ins Fadenkreuz der Ermittlungen, denn Fichtes Verhältnis zu einer Schülerin ist bald aktenkundig.

Nachdem der Deutschlehrer das Verhältnis beendet hat, verliert das Mädchen vollends die Selbstbeherrschung und versucht, sich umzubringen. Die Pistole ihres Vaters hat zum Glück Ladehemmung, sodass Finke in letzter Sekunde eingreifen und das Schlimmste verhindern kann.

Wie schon angedeutet, muten weder der Plot noch die Insze-nie-rung besonders spektakulär an. Zumindest nicht in der reinen Beschreibung. Seine Faszination verdankt »Reifezeugnis« fast ausschließlich dem intensiven Spiel der Darsteller, die ihre Rollen lebendig und glaubhaft gestalten wie selten in einem Krimi, der ja doch in erster Linie von Action und der Suche nach dem Täter lebt. Beeindruckend ist die Zeichnung des enttäuschten Lovers Michael durch den damals bereits 23-jährigen Markus Boysen, Sohn des bekannten Theater- und TV-Schauspielers Rolf Boysen. Doch auch er wird glatt an die Wand gespielt von der erst 16-jährigen Nastassja Kinski, die Sinas Gefühlswelt mit Blicken, Gesten und wenigen Worten physisch greifbar werden lässt.

Kein Wunder, dass diese Glanzleistung der Tochter des genial-verrückten Mimen Klaus Kinski – den sie übrigens hasst und verachtet – die Eintrittskarte nach Hollywood war: Zwei Jahre nach diesem »Tatort« spielte sie unter dem Regie-Exzentriker Roman Polanski in der Hardy-Verfilmung »Tess« die Titelrolle und war später unter der Regie von weiteren Hollywood-Legenden wie Francis Ford Coppola (»Einer mit Herz«) zu sehen. Ihr natürliches Talent hatte sie da zusätzlich durch Unterrichtsstunden bei Lee Strasberg in New York verfeinert; zu den Hollywoodstars, die nach Strasbergs »Method Acting« ausgebildet wurden, zählen unter anderem Marlon Brando, Al Pacino oder Robert De Niro.

Regisseur Wolfgang Petersen wiederum beendete mit dieser Folge seine »Tatort«-Karriere und wechselte endgültig zum großen Bruder des Fernsehens, zum Kino. Nach seinem Hit »Das Boot« (1981) ging es auch für ihn nach Hollywood, wo er zum neben Roland Emmerich erfolgreichsten deutschen Regisseur nach dem Zweiten Weltkrieg aufstieg. Zu seinen größten Erfolgen in Übersee zählen Blockbuster wie »In The Line Of Fire« mit Clint Eastwood (1993), »Air Force One« mit Harrison Ford (1997) oder zuletzt »Troja« (2004) mit Brad Pitt und Orlando Bloom.

Unterm Strich verlief seine Karriere noch sensationeller als die von Nastassja Kinski. So hat also diese Episode von 1977 gleich zwei Weltstars den Weg geebnet. Und »Reifezeugnis« ist vermutlich der am häufigsten wiederholte »Tatort«.

Weil »Frau Bu lacht« bis heute ein Meilenstein in der Geschichte der Serie ist

Schlusssequenzen wie diese kennt man aus unzähligen Krimis: Ein Mörder ist überführt, aber noch nicht dingfest gemacht. Er flieht zu einem Flughafen, oft einem der großen des jeweiligen Landes, manchmal aber auch zu irgendeinem kleinen, abgelegenen, wo es dann meist zum spektakulären Showdown kommt. Die Verfolger steuern im zweiten Fall in der Regel ihr Auto auf die Startbahn und hindern den Bösewicht so daran, sich der gerechten Strafe zu entziehen. Und auf Passagierflughäfen wird versucht, den Flüchtenden vor dem Durchqueren der Sicherheitsschleuse abzufangen. Misslingt dies, muss die fragliche Maschine am Start gehindert werden. Dazu bedarf es allerdings meistens eines richterlichen Beschlusses. Und den bekommt man nicht einfach so. Die Erwartungshaltung des Zuschauers ist eindeutig – er hofft, dass die Falle in letzter Sekunde zuschnappt. Fast immer werden diese Erwartungen auch erfüllt, denn zu guter Letzt braucht jeder Krimi zwar das Böse, um Spannung zu erzeugen, aber belohnt werden soll es dann doch nicht.

Wenn die Schlussminuten eines »Tatorts« überwiegend auf dem – damals noch sehr jungen – Flughafen »Franz Josef Strauß« in München spielen, ahnt man schon, dass man es einmal mehr mit einem dieser Fälle zu tun hat. Anders jedoch als sonst wünscht man sich diesmal, dass der Zugriffsversuch der Polizei scheitert. Der beziehungsweise die Verfolgte, nachweislich eine Mörderin, soll möglichst entkommen. Und zwar nicht allein, sondern mit ihrer kleinen Tochter. Als dann auch noch die Kommissare Ivo Batic und Franz Leitmayr auftauchen und die Aufmerksamkeit ihrer uniformierten Kollegen von dem kleinen asiatischen Mädchen ablenken, das gerade durch die letzte Schranke in den Abflugbereich stapft, atmet nicht nur die deutsche Freundin und Helferin der Gejagten auf, sondern ebenso der Zuschauer. Ungewöhnlich, nicht wahr?

Ja, genauso ungewöhnlich wie der ganze zwölfte Fall des Münchner Duos Batic/Leitmayr, der zum 25-jährigen Jubiläum der »Tatort«-Reihe im November 1995 lief: »Frau Bu lacht«, inszeniert von Dominik Graf, wird von Fans wie Kritikern völlig zu Recht als einer der besten aus weit über 800 Filmen der Serie angesehen.

Die Story ist schnell erzählt: In einer tristen Siedlung am Stadtrand von München wird die Leiche eines unscheinbaren Mannes aufgefunden. Gründe, weshalb man ihn getötet haben könnte, finden sich vordergründig nicht – Geldgier, eines der beliebtesten Motive, kann es kaum gewesen sein, der Tote war nicht wohlhabend. Schnell gerät die Ehefrau des Getöteten ins Blickfeld, eine Thailänderin und – wenn das auch erst einmal wie ein Griff in die tiefste Klischeekiste klingt – bestellt via Katalog. Man kennt ja den fantastischen »Mai-Ling-Sketch« von Gerhart Polt.

Doch dieser »Tatort« ist wesentlich vielschichtiger als so mancher Krimi, der dieses Thema aufgreift – so nach dem banalen Strickmuster: Alter deutscher Sack kauft junge asiatische Frau, die ihm irgendwann eine Skulptur über den Schädel zieht, weil sie ihn nicht mehr ertragen kann. Das gibt es natürlich auch, doch Geschichten dieser Art sind völlig ausgelutscht. Wenn man das Ganze noch ein wenig steigern will, hat der »alte Sack« seine asiatische Ehefrau auch noch aus dem Puff geholt. Und die will jetzt an seinen Bausparvertrag. Ja, auch solche Plots sind leider nicht nur erfunden. Aber langweilig doch, vor allem, wenn sie im klischierten Stil erzählt werden.

Von alledem ist »Frau Bu lacht« weit entfernt. Wie sich herausstellt, wurde Sita Mauritz, die Mörderin, auf deren Entkommen die Zuschauer am Ende hoffen, von einer Agentur vermittelt, die deutschen Männern nicht nur zu devoten Frauen aus Fernost verhalf, sondern auch zu Frauen mit kleinen Kindern. Die wahren Beweggründe sind schnell zu erahnen.

Auch solch eine Verwicklung kann noch leicht dazu führen, ein sozialpädagogisches Lehrstück zu konstruieren und zu inszenieren. Doch diese Klippe umschiffen Dominik Graf und seine Akteure mühelos. »Frau Bu lacht« erzählt eine bittere, ja tragische Geschichte, aber ohne peinlich erhobenen Zeigefinger; emotional und mitfühlend, aber nicht besserwisserisch-larmoyant. Selbst die wahren Täter, die Katalog-Kunden, kommen zwar nicht sympathisch daher, wohl aber realistisch. Sie sind keine Karikaturen. Wie vermutlich auch ihre Vorbilder im wirklichen Leben nicht. Außerdem: Die Kunst des Karikierens beherrschen Fachleute wie Gerhart Polt ohnehin besser als Drehbuchautoren von Krimis. Vielleicht ein Tipp für andere Autoren der Serie, zum Beispiel der Filme aus Bremen?

Bliebe noch zu fragen, ob Batic/Leitmayr vielleicht zum 50-jährigen Jubiläum des »Tatorts« noch einmal ermitteln werden. Könnte doch ein nettes Revival werden. Der 1952 gebo-rene Regisseur hätte von den dreien als Einziger mit 67 die neue Rentengrenze überschritten – aber für Autoren galt die ja ohnehin noch nie.

Weil man »Zahn um Zahn« als ersten »Tatort« auch im Kino sehen konnte – und heute noch möchte

Es war ein ganz besonderes Weihnachtsgeschenk, das die Bavaria Film, die Neue Constantin Film und der WDR den »Tatort«-Fans am 27. Dezember 1987 um 20.15 Uhr servierte: »Zahn um Zahn« ist ganz großes Kino. Götz George liefert in gut 90 Minuten Sendezeit ein schauspielerisches Meisterstück – kein Wunder also, dass es diesen »Tatort« auch in der Kinoversion gibt. Denn er ist mehr als nur ein Fernsehkrimi. »Zahn um Zahn« ist ein Millionen-Ding. Nicht nur wegen der Zuschauer, die bis heute millionenfach einschalten, wenn die Folge wiederholt wird. Die Kinoversion spielte fast drei Millionen Mark ein. Und Klaus Lage, der mit seiner unverwechselbaren Reibeisen-Stimme für den sexy Groove des Titelsongs sorgte, landete mit »Faust auf Faust« ganz oben in den deutschen Charts (und – unter anderem – in der Schweizer Hitparade). Kein Wunder, trägt der Titelsong doch das Lebensgefühl eines ganzen Landstrichs und einer ganzen Generation in die (Fernseh-)Welt. Das Lied braucht heute nur im Radio zu laufen und schon beginnt das Kopfkino zu rattern: Schimanski in seiner legendären Jacke, der sich durch den Ruhrpott und das malerische Marseille pöbelt und ganz nebenbei einen Bösewicht zur Strecke bringt.

Mit Folge 200 der »Tatort«-Reihe wurde eine neue Zeitrechnung eingeläutet. Regisseur Hajo Gies hat aus dem bis dahin doch beschaulichen Krimi ein kinotaugliches Format gemacht und 1985 in die Kinos gebracht, mit Götz George und Eberhard Feik als neuem Team im Reigen der Kommissare. Und mit Charles Brauer (als Grassmann) und Renan Demirkan (Ulli) auch die Nebenrollen prominent besetzt.

Überhaupt Renan Demirkan – in der Rolle der Journalistin Ulli ist sie brillant. Die Reporterin ist hinter derselben Story her wie Schimanski, nur aus anderen Gründen. Es geht um folgende Geschichte: Eine Werkssiedlung in Duisburg soll plattgemacht werden. Mitten drin Alf Krüger, der seine ganze Familie (bis auf das jüngste Kind) ermordet und sich dann selbst richtet. Schimanski ist nicht nur Ermittler, sondern auch ein alter Schulfreund der Opferfamilie. Seine Nerven gehen mit ihm durch und er platzt bei Grassmann in eine Sitzung. Der ist verantwortlich für den Abriss der Siedlung und setzt sein ganzes »Vitamin B« dafür ein, dass der Fall offiziell zu den Akten gelegt wird.

Offiziell. Aber nicht für Horst Schimanski. Er ermittelt auf eigene Faust weiter, selbst als er vom Dienst suspendiert ist. Genauso wie Ulli. Beide haben dasselbe Ziel und landen in Marseille. Ihre Gegner sind mächtig – ehemalige Fremdenlegionäre, die mehrere Anschläge auf das ungleiche Paar verüben.

Zurück in Duisburg begibt sich Ulli erneut auf einen Alleingang. Schimanski warnt sie, aber ihre Neugier und ihr Gerechtigkeitssinn sind stärker. Schimmi kommt gerade rechtzeitig zur -gewaltigen Explosion im Haus des Hauptverdächtigen – aber zu spät, um Ulli zu helfen. Sie stirbt in seinen Armen. Zum ersten Mal zeigt der ruppige Ermittler sein großes Herz. Heulend macht er sich auf den Weg zu Grassmann – und platzt mit blutverschmierter Jacke mitten in eine Feier. Schimanski zieht seine Waffe und legt an …

Ja, das Ende kennen alle. Und wer es noch nicht kennt: ansehen. Unbedingt. Auch wegen des rasanten Drehbuchs von Horst Vocks und Hajo Gies. Und der bis dahin im deutschen Fernsehkrimi nicht gekannten rasanten Kameraführung von Jürgen Jürgens. Und wegen der Schnauzbärte von Schimanski und Thanner. Oder ganz einfach wegen des Filmplakats. Götz George in Überlebensgröße, die legendäre Jacke geöffnet, die gebräunte Brust und dieser Blick … Nicht nur Frauen geraten ins Schwärmen!

Schimanski wird übrigens immer dann eingesetzt, wenn es gilt, eine Schneise in den Wald zu schlagen und ein Erdbeben auszulösen. Das hat mit der Kinoversion jedenfalls geklappt. Auch die Frage der Staatsanwältin, ob Schimmi der neue James Bond ist, kann getrost mit Ja beantwortet werden. Schimmi braucht es nicht gerührt oder geschüttelt – er braucht es knackig, kernig und geradeaus. Und weil er wirklich, wirklich genial ist – hier der Anfang des Songtextes. Kopfkino an und Lautsprecher aufdrehen!

Fang mir jetzt bloß nicht an zu weinen,

du spielst doch sonst so’n harten Mann.

Mischst dich in alles ewig ein,

bist wieder mal selbst schuld daran.

(…)

Und das ist hart für Schimmi,

dein ganz privater Krimi.

Weil die Münchner Ermittler in »Der oide Depp« eine der originellsten Zeitreisen der »Tatort«-Geschichten antreten

Ivo Batic und Franz Leitmayr ermitteln seit nunmehr über 20 Jahren in München. Bevor sie ihren Dienst antraten, kannte man aus der bayerischen Metropole eher beschauliche Fälle, die ihren Reiz stärker aus dem knurrigen Auftreten des ersten Kommissars Melchior Veigl (verkörpert von dem Volksschauspieler Gustl Bayer-hammer) oder dem urigen Charme seines Nachfolgers Helmut Fischer als Ludwig Lenz bezogen. Die Geschichten waren bieder bis langweilig.

Das änderte sich allerspätestens mit dem zwölften Fall des von Miroslav Nemec und Udo Wachtveitl dargestellten Teams: »Frau Bu lacht«, ausgestrahlt Ende 1995, griff das brisante Thema »Kindes-missbrauch« auf, verknüpft mit dem Erwerb asiatischer Ehefrauen aus dem Katalog (siehe Grund Nr. 3).

In den folgenden Jahren bescherten Batic/Leitmayr und ihre Drehbuchautoren, unter ihnen der Romanautor Friedrich Ani (Erfinder des Detektivs Süden), den »Tatort«-Fans Highlights am Fließband.

Folgen wie »Das Glockenbachgeheimnis«, »Norbert«, »Ein mörderisches Märchen« oder »A gmahde Wiesn« zählen zu den mit Abstand besten Filmen aus gut 40 Jahren der Serie; und die übrigen Episoden bewegen sich, von wenigen Ausnahmen abgesehen, noch allemal weit über dem Durchschnitt.

Trotz all dieser Höhepunkte hebt sich das, was die Münchner dem Publikum am 27. April 2008 boten, noch einmal besonders deutlich aus dem Allerlei des deutschen Serien-Fernsehens heraus: Die von Alexander Adolph geschriebene und von Michael Gutmann in Szene gesetzte Folge »Der oide Depp« ist ein Meister-werk. Wenn auch mit kleinen, klitzekleinen Schönheitsfehlern.

Zunächst beginnt alles wie gewohnt. In der Eingangssequenz, die betont unspektakulär verläuft, um den Cast einzublenden, sieht man Batic und Leitmayr, beide in dunklen Anzügen, die Treppen ins obere Stockwerk des Präsidiums hinaufsteigen und in das Büro eines am Schreibtisch überraschten Mannes eintreten. Schnitt. Die nächsten Bilder sind schwarz-weiß. Zwei Streifenpolizisten steigen in ihren Dienstwagen und fahren los. Die Kamera begleitet sie durchs Vorderfenster durch ein München, wie es vor Ewig-keiten ausgesehen haben mag. Und auch wirklich ausgesehen hat. Denn die Bilder der Stadt, die erscheinen, wenn die Uniformierten nicht zu sehen sind, stammen aus der zwischen 1960 und 1963 gesendeten Serie »Funkstreife Isar 12«. Die Aufnahmen von Bernie und Hubi, den beiden Polizisten, natürlich nicht; die wurden über 40 Jahre später gedreht in Schwarz-Weiß. Die Unterschiede fallen nur auf, wenn man gezielt darauf achtet.

Bernie und Hubi fahren durch das Bahnhofsviertel, damals wohl noch ein wirkliches Rotlichtviertel. Heute kann man dort allenfalls von »Redlight light« sprechen, wenngleich man in der Goethe- und der Landwehrstraße oder in den kleinen Seitenstraßen rechts und links bisweilen noch Etablissements antrifft, die vermutlich 1965 schon genauso ausgesehen haben. Bernie fordert seinen Kollegen und Freund auf, mal kurz anzuhalten, weil er einer Dame ein -Geschenk bringen will. »Nach dem Rechten sehen«, nennt er das. In der Wohnung der zu Beschenkenden erwartet ihn allerdings eine unliebsame Überraschung: Unter der zurückgeschlagenen Bettdecke findet sich eine riesige Blutlache und die Mieterin liegt tot im Bad. Erstochen. Hubi fordert seinen Freund auf, sich davonzumachen, um unangenehmen Fragen nach dessen Verhältnis zu dem Opfer aus dem Weg zu gehen. Und Bernie schlendert mit hängenden Schultern davon.

Schnitt. Ein dicklicher älterer Herr in den Sechzigern mit billigem Goldkettchen um den Hals – ja, Klischee, natürlich – erfährt von einem Arzt, dass ihm eine Bypass-Operation drohe. Eine beiläufige Bemerkung des Mediziners verrät dem Zuschauer, dass der Patient offensichtlich aus den USA nach München zurückgekehrt ist. Münchner ist er allerdings ohne Zweifel, wie man seinen ordinären Flüchen entnehmen kann. Und als er auf die Straße zurückgekehrt ist, kann er nur noch zusehen, wie sein falsch geparktes Auto abgeschleppt wird. Auf seine Nachfrage, wo er die Kiste denn abholen könne, erhält er die Auskunft, das Fahrzeug sei von der Polizei beschlagnahmt worden, denn im Handschuhfach hätte sich die Tatwaffe eines seit 1965 unaufgeklärten Prostituierten-Mordes gefunden.

Schnitt. Batic und Leitmayr erhalten Besuch von einem alten Kollegen, der ihnen einen verstaubten Stapel Akten auf den Tisch knallt. Die Unterlagen zum »Nuttenmörderprozess« von 1965, erklärt Opa Sirsch, »der oide Depp«, der den beiden Kommissaren als Ersatz für den Exkollegen Carlo Menzinger zugeteilt wurde. Schnitt. Leitmayr und Batic sind wieder in dem Büro aus der Eingangssequenz und erfahren von dem Mann am Schreibtisch, ihrem neuen Vorgesetzten, dass der aktuelle Fall mit höchster Dringlichkeit und Diskretion zu behandeln sei. Denn die aus den USA zurückgekehrte ehemalige Rotlichtgröße Esslinger verfüge über beste Beziehungen bis in die höchsten Kreise hinein.

Von hier an vergehen noch gut 85 Minuten, bis der Fall gelöst ist. Und in dieser Zeit wiederholt sich das Wechselspiel aus heutigen und früheren Szenen unablässig, der Zuschauer muss sich schon sehr konzentrieren, um die Handlungsfäden zu entwirren. Denn vor allem die Schwarz-Weiß-Sequenzen aus dem Jahr 1965 arbeiten ständig mit Vor- und Rückblenden. Batic und Leitmayr kommen der Lösung des Rätsels erst auf die Spur, als sie erfahren, dass »Opa Sirsch« nach der Wende 1989/90 in den neuen Bundesländern war, um den Kollegen dort Nachhilfe in EDV zu geben. Ihnen gegenüber hatte er sich bis dahin als »oider Depp« ausgegeben, der mit Computern und ähnlichem neumodischen Schnickschnack rein gar nichts anfangen könne. Seltsam. Gegen Ende dieser sensationellen 90 »Tatort«-Minuten ahnt der Zuschauer noch eher als die beiden Ermittler, was eigentlich gespielt wird. Ja, »Opa Sirsch« ist Bernie und nach München zurückgekommen, um Esslinger, den Zuhälter seiner geliebten Gina, nach mehr als vier Jahrzehnten als Mörder zu überführen. Doch zuletzt muss er erfahren – ein Motiv, fast einer griechischen Tragödie würdig –, dass nicht der schmierige Goldkettchenträger der Täter war, sondern … sein bester Freund, der Exkollege Hubi, von dem er bis zuletzt glaubte, der hätte den Polizistenjob aus Enttäuschung über den ungeklärten Fall an den Nagel gehängt.

Ein absolutes Highlight der Serie ist »Der oide Depp« nicht nur wegen des hervorragend durchkomponierten Drehbuchs, sondern auch und gerade wegen der Inszenierung von Michael Gutmann. Die Entscheidung, die Passagen aus den Sechzigern in Schwarz-Weiß zu drehen, verlieh den entsprechenden Sequenzen nicht nur größere Authentizität, sondern half den Zuschauern auch, in dem überaus komplexen Plot halbwegs die Übersicht zu bewahren.

Und die kleinen Schönheitsfehler? Einer von ihnen fällt in die Kategorie Erbsenzählen. Als Batic und Leitmayr zu Beginn ins Büro des Vorgesetzten platzen, tragen beide dunkle Anzüge; in der Schlussszene sieht man Batic wieder in seiner vertrauten Lederjacke.

Etwas schwerer könnte wiegen, dass sich die Protagonisten von 1965 und ihre älteren Versionen von 2008 so gar nicht ähneln. Aber darüber kann man locker hinwegsehen. Denn Fred Stillkrauth überzeugt als »Opa Sirsch« ebenso wie Dieter Kirchlechner als gealterter »Hubi«. Und doch werden beide übertroffen von Nicholas Ofczarek und Jörg Hube: Der junge wie der alte Esslinger sprühen nur so vor schmierigem Charme – man muss die Schauspieler dafür ebenso loben, wie man ihre Rollen-Alter-Egos verachtet und hasst. Für Hube war der alte Esslinger eine seiner letzten Rollen, er starb 2009 im Alter von nur 66 Jahren.

Weil es selten einen »Bösewicht« gibt, mit dem der Zuschauer so mitfiebert wie bei Matthias Schweighöfer

Der Böse ist einer, der Augen hat wie Kevin Spacey – die berühm-testen Augen Hollywoods, wenn es darum geht, nur mit einem Blinzeln oder einem Zwinkern eine ganze Geschichte zu erzählen. Im »Tatort« ist das aber nicht Spacey. Sondern Matthias Schweighöfer. Und der schafft das eigentlich Unmögliche: Der Zuschauer fiebert mit ihm, dem Bösen, mit. Das schafft nur einer der ganz Großen. Ein Schweighöfer, ausgezeichnet mit dem Bambi und der Goldenen Kamera. Dass er seit Anfang 2012 im Wachsfigurenkabinett der Madame Tussaud in Berlin stehen darf, ist allemal verdient.

»Wir hassen die Bösen nicht nur, weil sie uns schaden, sondern weil sie böse sind.« Dieses Rousseau-Zitat läutet einen der besten »Tatorte« ein. Untermalt von der »7. Sinfonie« von Beethoven. Dazu die Kommissare Charlotte Sänger (Andrea Sawatzki) und Fritz Dellwo (Jörg Schüttauf). Eine Prise Bob Dylan. Allen voran jedoch Balthasar Staupen (Matthias Schweighöfer).

Der findet seinen Vater eines Abends tot im herrschaftlichen Adelshaus. Erschlagen mit einem Morgenstern. Die Tat wurde vom Überwachungssystem aufgezeichnet. Staupen kehrt das Prinzip von Gut und Böse um: Er erpresst den Täter, indem er ihn zu weiteren Morden anstiftet.

Aber zurück zum Anfang. »Du schaffst das, Rolf. Heute wird die Welt ein bisschen besser.« Das sagt sich Rolf Herkel, alleinerziehender Vater eines autistischen Sohnes, welcher im späteren Verlauf eine Wand mit Buntstiften anmalt. Wer Kinder hat, weiß, wie das an den Nerven zerrt. Und ahnt, warum Herkel ausrastet, als die Kollegin seine Idee klaut, mit der er brillieren wollte. Er packt sie am Arm – das Biest petzt beim Chef. Rolf kassiert telefonisch die Kündigung.

Aber er hat einen Plan B. Denn das Geld, das ihm für die Therapie seines süßen blonden Buben fehlt, besitzt die Familie Staupen. Rolf ist Hobby-Ahnenforscher – und findet heraus, dass seine Familie und die Staupens im Mittelalter in eine wüste Fehde verwickelt waren.

Was dem alten Staupen herzlich egal ist – er macht sich über seinen ungebetenen Gast nur lustig. Und der schwingt den Morgenstern. Mit tödlicher Wirkung.

Auftritt Matthias Schweighöfer: Der Vater liegt tot am Boden. Er, der Sohn, stupst ihn mit dem Fuß an und zeigt das wahrscheinlich angewidertste Gesicht der ganzen »Tatort«-Geschichte. Charlotte Sänger und Kollege Dellwo ermitteln im Umfeld der Familie. Aber alle haben ein Alibi … und kommen nacheinander ums Leben: der Onkel, der als Zuhälter Millionen scheffelt; die Schwester, die mit Waffengeschäften noch reicher wird. Sie müssen sterben, weil Balthasar Staupen es so will. »Weil sie böse sind.«

Dass er dabei nicht selbst Hand anlegt, ist klar. Er erpresst den verzweifelten Vater: seine Freiheit gegen das Leben der mit Schuld beladenen buckligen Verwandtschaft.

Schweighöfer spielt seine Kollegen komplett an die Wand. Selbst Sawatzki und Schüttauf werden zu Nebenfiguren. Übrigens trefflich charakterisiert vom Onkel aus dem Rotlichtmilieu: »Sie wirken wie ein altes Ehepaar auf Museumsbesuch.«

Weil in »Die Blume des Bösen« die Nerven der Zuschauer bis aufs Äußerste strapaziert werden

Die Kommissare und ihr Privatleben: Manchmal sind diese kleinen Seitenstränge erheiternd, manchmal nur langweilig, bisweilen sogar absolut nervig. Vereinzelt beziehen Folgen der Serie aus den intimen Verwicklungen der Bullen sogar ihren eigentlichen Reiz oder ihre Spannung.

Die Kontrastierung der Lebensverhältnisse von Freddy Schenk und Max Ballauf gehört seit der ersten Folge von 1997 zum Kolorit des »Tatorts« aus Köln: Schenk ist Familienmensch, auch wenn die Seinen schon mal monatelang kein Wort mit ihm sprechen; und seit einiger Zeit ist er begeisterter Opa, der schon vor der Geburt des Enkels die Spielzeugabteilung eines Kaufhauses plündert und dabei eine Auswahl trifft, die vermuten lässt, Schenks Tochter würde demnächst ein Vorschulkind entbinden. Ballauf hingegen ist der ewige Single, der auch nach etlichen Jahren noch im Hotel wohnt und mit schöner Regelmäßigkeit kurze Affären hat. Manchmal auch mit einer Verdächtigen. Na ja, die Frauen machen ja auch keinen Hehl daraus, dass er »ein lecker Kerlchen« ist, wie man in Köln sagt.

In einem Fall aus dem Jahr 2007, »Die Blume des Bösen«, erweist es sich als lebensgefährlich, irgendwann einmal ein Verhältnis mit dem Kölner Bullen gehabt zu haben. Denn Max Ballauf wird von einem offenbar psychopathischen Killer bedroht. Einem Mann, der den Polizisten für etwas verantwortlich macht, das ihm widerfahren ist. Was genau, verrät der Unbekannte nicht. Doch es muss ihn schwer getroffen haben, denn er jagt Menschen, die dem Kommissar nahestehen. Oder einmal nahestanden. Und so wird einer von Ballaufs One-Night-Stands bestialisch ermordet. Am Ort des grausigen Geschehens hinterlässt der Täter eine rote Lilie.

Kurz darauf wird eine weitere Ex des Kommissars entführt. Das Katz-und-Maus-Spiel nimmt immer bizarrere Formen an: Der Kidnapper fordert von Ballauf ein Lösegeld im sechsstelligen Bereich, nur um ihn am Ort der Übergabe aufzufordern, die Scheine zu verbrennen – zur Begeisterung einer Gruppe von Stadtstreichern, die den einen oder anderen Hunderter vor den Flammen retten können.

Zu allem Überfluss muss der Polizist gerade in diesen Tagen noch auf die Tochter seiner attraktiven Cousine Beatrice aufpassen, die sich im Krankenhaus einer Krebsuntersuchung unterzieht. Nachdem auch die zweite Ehemalige von Ballauf das Zeitliche gesegnet hat, rücken Beatrice und die kleine Anna ins Visier des Racheengels. Als Schenk in Vertretung seines Freundes das Mädchen aus dem Kindergarten abholen will, wird ihm mitgeteilt, dass die doch schon mit einem anderen Kollegen auf dem Weg nach Hause sei.

Ballauf gerät in Panik, doch wenig später steht Anna vor der Tür. Und erzählt von einem Mann, der sehr freundlich zu ihr war und offensichtlich auch mal eine Tochter in ihrem Alter hatte. Ein Fingerzeig?

Schließlich kommt man dem Täter auf die Spur: Vor Jahren hat Ballauf bei einem Einsatz versehentlich ein kleines Mädchen erschossen, das zufälligerweise am Ort des Geschehens war. Die internen Ermittlungen kamen zu dem Ergebnis, dass es sich um ein Unglück handelte und Ballauf keine Schuld am Tod des Kindes trug. Doch dessen Vater sieht das anders und beharrt auf seinem Rachefeldzug.

Im Krankenhaus versucht er, Beatrice zu entführen, was mit viel Glück gerade noch verhindert werden kann. Der Killer jedoch entkommt und bringt in Beatrices Wohnung Schenk in seine Gewalt. Die kleine Anna, die der Bulle beschützen sollte, hat sich unterdessen in einem Schrank versteckt.

Der Film endet mit Szenen, in denen die Nerven der Zuschauer bis aufs Äußerste strapaziert werden. Vor allem fürchtet man, dass das Mädchen im Schrank sich verraten könnte. Und dann muss man mit ansehen, wie der hinzugeeilte Ballauf von dem Psychopathen aufgefordert wird, zwischen zwei Spritzen zu wählen, die dem gefesselten Freddy injiziert werden sollen – die eine sei mit tödlichem Gift gefüllt, die andere harmlos. Wie sich später herausstellt, wäre das der perfide Schlussakt des Wahnsinnigen gewesen, denn beide Spritzen enthielten ein gefährliches Serum. Aber natürlich wird der Racheengel rechtzeitig überwältigt. Denn einen Moment der Unaufmerksamkeit leistet sich auch der hinterhältigste Bösewicht. Zumindest im »Tatort«.

Ob »Die Blume des Bösen« der beste unter den zahlreichen herausragenden Kölner »Tatorten« ist, darüber kann man durchaus streiten. Der spannendste ist er jedoch allemal.

Weil die Fälle aus Kiel immer außergewöhnlich sind, auch wenn die Vorlage nicht von Henning Mankell stammt

Wenn Klaus Borowski sein »Ich höre« ins Telefon bellt, ist garantiert ein »Tatort«-Highlight zu erwarten. Die Kieler »Tatorte« schaffen es aber auch noch aus ganz anderen Gründen in die Highlight-Liste.

Klaus Borowski ermittelt seit 2003 in Kiel. Am 30. November trat er seinen Dienst in der Folge »Väter« an. Und zum Glück für die 7,87 Millionen Zuschauer der Kieler Premiere begeht er den Fehler, einen Verdächtigen auf dem Dach eines Bordells anzuketten. Doof für den Zeugen – gut für Frieda Jung. Die Psychologin soll Borowski durchleuchten und wird zur Ko-Ermittlerin. Fortan ist das ungleiche Paar (obwohl einer so kantig ist wie der andere) Publikumsmagnet, wenn in Kiel ermittelt wird.

Axel Milberg und Maren Eggert schweben mit norddeutschem Charme und einer stets flackernden, aber nie wirklich ausbrechenden Leidenschaft füreinander durch die Folgen. Borowski, der immer irgendwie verschlafen wirkt, hält zwar nichts von Psychologie und sich selbst auch für komplett normal. Von der schönen, aber unnahbaren Polizeipsychologin Frieda Jung aber ist er angetan. Auch wenn es ihn so manches Mal Überwindung kostet, zu den »Sitzungen« zu gehen – etwas an ihr zieht ihn magisch an. Wie gut, dass die beiden auch als Ermittler funktionieren.

Unter Fans als einer der vielleicht besten »Tatorte« überhaupt gilt Borowskis zehnter Fall, zum ersten Mal ausgestrahlt am 17. Februar 2008. Die »Zeit« schreibt gar: »Wir sind begeistert, mein Gott, was für ein großartiger Film.«

Stimmt. Was vielleicht auch daran liegt, dass die Idee von den Hauptdarstellern selbst stammt, die sich eine Story in einem Mädcheninternat gewünscht haben. Ganz bestimmt aber am grandiosen Drehbuch von Sascha Arango. Und an Maria Schrader in der Rolle der Iris Raven. Aber zurück auf Anfang: Ein Mädchen, verkleidet als Marlene Dietrich, mit blonden Locken, schwarz glänzendem Hut und mit Zigarettenspitze, haucht »Ich bin die fesche Lola« in die Kamera. Schnitt. Ein Weg, ein Mädchen auf einem Fahrrad. Ein Wolf, der durch den Wald streift. Im Hintergrund hört man die Töne der Warteschleife einer Bank.

Das Mädchen fährt zu einem Supermarkt. Dort sitzt der Hausdetektiv, beobachtet via Bildschirm das Geschehen im Laden und ruft die Kreditabteilung an. Während er seine prekäre finanzielle Situation schildert, stülpt das rothaarige Mädchen sich die blonde Perücke über. Sie hat nicht vor, den Nagellack zu bezahlen – und die Bank hat nicht vor, dem Detektiv zu helfen. Er rastet aus, knallt das Telefon an die Wand. Dann sieht er, wie die falsche Blondine ein Parfum einsteckt. Er will sie stellen, aber das Mädchen verschwindet auf der Toilette.

Als sie wiederkommt, sind weder der Nagellack noch das Parfum oder die von einer Schaufensterpuppe gemopste Perücke in ihrer Tasche – die fischt sie wenig später aus dem Lüftungsschacht hinter dem Supermarkt. Detektiv Raven erwischt sie. Sie wird biestig, verletzt sich selbst und ruft um Hilfe. Das wird das Letzte sein, was sie im Leben macht: Der Detektiv hält ihr den Mund so lange zu, bis sie tot ist. Er schleppt die Leiche ins Lager und versteckt sie unter einem Weihnachtsmannkostüm.

Frieda Jung nimmt die Vermisstenanzeige auf. Die Eltern vermuten eine Entführung, schließlich sind sie stinkreich. Allerdings: Ihr Töchterchen war im Internat alles andere als beliebt. Auf dem Weg dorthin fährt Borowski einen Wolf an. Klaus Raven, dessen Tochter ebenfalls auf diese Schule geht und die Erzfeindin der Vermissten ist, nimmt ihn mit. Borowski ahnt nicht, wie nah er dem Mörder ist … und dass die Leiche des Opfers im Kofferraum liegt. Legendär ist der Satz: »Man tötet eine Kreatur und denkt sich nichts dabei.«

Mehr als einmal will man den tapsigen Borowski an der Hand nehmen und ihn auf die richtige Fährte locken. Unterdessen dreht sich die Spirale weiter und weiter – und der Nebel über dem Moor wird dichter.

Arango hat auch für Lena Odenthal einen Krimi geschrieben, bei dem der Täter von Anfang an bekannt ist. Die Geschichten tragen trotzdem oder vielleicht gerade deswegen: Sie zeigen die Not und den Zerfall auf der Täterseite. Und Maria Schrader in der Rolle der Iris Raven: So verbittert. So liebend gegenüber der Tochter. So verachtend gegenüber ihrem Mann. Maria Schrader in der Figur einer scheinbar biederen Hausfrau, die im heimischen Ehebett mit Freiern schläft, um das Internat zu finanzieren. Sie ist gescheitert, also soll es wenigstens die Tochter besser haben. Doch statt eines Happy Ends gibt es einen Amoklauf …

»Der coole Hund« – vielleicht würde Klaus Borowski sich selbst gerne so sehen. In jedem Fall heißt sein 16. Fall so. Und der hat es in sich. Nicht nur, weil die Vorlage von Henning Mankell stammt. Was aus der Feder des schwedischen Bestsellerautors kommt, verspricht Spannung. Der »Tatort« löst das Versprechen ein.

Sarah Brandt (dargestellt von Sibel Kekilli) und Klaus Borowski ermitteln zum zweiten Mal als Team. Was jahrelang getragen hat, wurde am Ende doch nichts. Frieda Jung verschwindet aus Borowskis Leben und macht der energiegeladenen Sarah Platz. Die fällt wie ein Tornado beim norddeutsch-trägen Kommissar ein.

Mankell liefert mit diesem »Tatort« bereits das zweite Buch für die Krimireihe. Unverwechselbar beklemmend und deswegen wie Borowski auf den Leib geschrieben.

Weil »Ernschd« Bienzle nicht nur schwäbische Kehrwochenherzen höher schlagen lässt

Der Mann mit Hut und Trenchcoat trat pünktlich zum Nikolaustag 1992 auf den Bildschirm – und blieb für 25 Folgen im Amt: Ernst Bienzle aus Stuttgart. Aus dem Kommissar wurde längst ein geflügeltes Wort – und das über die Grenzen des Schwabenländles hinaus: »Jawoll, Kommissar Bienzle!«

Kaum ein »Tatort«-Ermittler wird so mit dem Darsteller identifiziert wie Bienzle mit Dietz-Werner Steck. Steck ist Bienzle. Oder ist Bienzle Steck? Egal. Da ist auch noch seine Hannelore, die Malerin, die so gar nicht zum biederen Ermittler zu passen scheint: Rita Russek in einer Paraderolle. Und auch hier gilt: Russek ist Hannelore. Oder ist es umgekehrt? Ach ja, und natürlich kommt kein Schwabenkrimi ohne Kehrwochenwächter aus. Nachbar Rominger linst immer just dann aus seiner Wohnungstür, wenn Bienzle oder Hannelore durchs Treppenhaus gehen. Walter Schultheiß spielt den knurrigen Vermieter. Und zwar so gekonnt, dass es schon wieder jenseits der Persiflage ist.

Bienzle schwätzt nicht viel. Wozu auch, wenn er sich beinahe behäbig durch Stuttgart und das Schwabenland ermittelt. Und er hat starke Charaktere an seiner Seite. Er ist eben ein Charakterkopf. Das beweist er gleich in seinem ersten Fall. Die Schwaben gelten gemeinhin als die »deutschen Schotten« und so passt es wunderbar, dass sich Bienzles Ermittlungen um die Themen Geld und »Vetterleswirtschaft« drehen. Im Fadenkreuz hat der Stuttgarter Columbo einen Anwalt. Der soll mittels Subventionsbetrug die Taschen seiner Klienten (und seine eigenen) füllen. Günter Gächter (Rüdiger Wandel), Bienzles rechte Hand, erschießt in Notwehr einen Lkw-Fahrer. Geladen hatte der Mann Fleisch, das mit gefälschten Papieren über die Grenze nach Österreich geschafft werden sollte.