17 Briefe oder der Tag, an dem ich verschwinden wollte - Karolin Kolbe - E-Book

17 Briefe oder der Tag, an dem ich verschwinden wollte E-Book

Karolin Kolbe

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Beschreibung

Jetzt hat sich Line entschieden – morgen ist der Tag, an dem sie verschwinden wird! Raus aus ihrem alten Leben, weg von den Problemen mit ihrem Vater! Noch einen letzten Brief verfasst sie und versteckt ihn am Flussufer. Dass dieser Brief gefunden wird, daran hätte Line niemals geglaubt. Doch der Finder schreibt ihr zurück, berührt von ihren Worten. Es entwickelt sich eine zarte Brieffreundschaft – und nie hätte Line gedacht, wer sich hinter diesen gefühlvollen Zeilen verbirgt ...

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Buchinfo

Jetzt hat sich Line entschieden – morgen ist der Tag, an dem sie verschwinden wird! Raus aus ihrem alten Leben, weg von den Problemen mit ihrem Vater! Noch einen letzten Brief verfasst sie und versteckt ihn am Flussufer. Dass dieser Brief gefunden wird, daran hätte Line niemals geglaubt. Doch der Finder schreibt ihr zurück, berührt von ihren Worten. Es entwickelt sich eine zarte Brieffreundschaft – und nie hätte Line gedacht, wer sich hinter diesen gefühlvollen Zeilen verbirgt …

Autorenvita

© Tabita Rudek

Karolin Kolbe, 1993 in Kassel geboren, denkt sich Geschichten aus, seitdem sie Kassetten aufnehmen und Buntstifte halten kann. Mit der Grundschulzeit begann das Aufschreiben und lässt sie nun nicht mehr los. Nach ihrem Abitur zog sie für ein Freiwilliges Ökologisches Jahr nach Berlin, wo sie nun studiert. Die Autorin liebt interessante Menschen, gute Gespräche, spannende Bücher und Filme, bunte Farben, blühende Natur und die Sonne.

www.karolin-kolbe.de

Noch 17 Tage

Es begann an dem Tag, an dem sie verschwinden wollte.

Der Tag war nicht besonders, er war nicht anders als die davor oder die, die noch kommen sollten. Das Wetter war grau, die Heizungen kalt und er schien noch nicht einmal gut genug zu sein, ihrem alten Leben auf ewig den Rücken zu kehren, keiner, der in Erinnerung bleiben würde.

Es war einfach nötig.

Bitter nötig.

Line schob ihr Fahrrad langsamer, als sie in ihre Straße einbog. Der Bürgersteig unter ihren Schuhen schien wie mit Pech bestrichen, so sehr klebten ihre Sohlen auf dem grauen Asphalt und wollten sich nicht lösen, wollten nicht mehr vorangehen. Wieso auch? Sie war jetzt achtzehn Jahre alt. Und sie würde sich endlich trauen zu tun, was sie wollte. Schließlich war sie erwachsen.

Der Herbstwind fegte durch die kleinen Vorgärten und hob die Blätter der pingelig gepflegten Beete in die Luft, wirbelte sie einen Moment umher, ehe er sie in einer fast ironischen Unordnung wieder losließ. Als wolle er die Bewohner der schmalen Reihenhäuser ärgern.

Line lief weiter. Das kleine Gartentor mit dem blauen Schild schwang quietschend auf, als sie es mit ihrem Fuß anstieß und auf das ungemähte Gras trat. Es roch nach Essen. Schon hier konnte sie das brutzelnde Fett riechen, mit dem ihre Mutter das Mittagessen zubereitete. Und das, obwohl es noch einige Meter bis zu der schmutzigen Haustür waren, hinter der sich der Ort verbarg, den sie am meisten hasste. Und der sie am meisten schützte.

Heute war Dienstag, Fleischtag.

Line lehnte das Rad an die graue Hauswand und stützte sich mit der Hand einen Moment ab, als sie spürte, wie der Kloß in ihrem Hals aufstieg.

Dann hob sie den Kopf, richtete ihren Blick auf das Küchenfenster. Sie konnte den Schatten ihrer Mutter sehen, die am Herd herumhantierte, spürte schon jetzt deren Sorge, einen Fehler zu machen.

Sie atmete tief durch und verkroch sich in der dicken Jacke, als wolle sie darin einsinken, unsichtbar werden und sich weit weg träumen.

Doch es half nichts. Sie trat zur Haustür und drückte auf den kleinen goldenen Klingelknopf. Ein lautes Rasseln ertönte von innen, Fußgetrappel.

Die Tür schwang auf.

»Line!«, rief das blonde Mädchen und schlang ihre kleinen Ärmchen um ihre Knie. Anna grinste breit und ergriff ihre vom Herbstwind eiskalte Hand. »Komm, komm.« Einen kurzen Moment geriet Lines Entschluss ins Wanken.

Hatte das Orakel vielleicht gelogen?

Nein, sie hatte ihre Entscheidung getroffen. Heute war der Tag. Endlich.

Und doch hatte sie ein leichtes Ziehen in der Magengegend, als sie auf den Scheitel zwischen den dünnen Rattenschwänzen blickte, der sich wie ein weißer Strich über Annas runden Kopf zog.

Line zwang sich, die Tür hinter ihrem eigenen Rücken zu schließen. Je schmaler der Lichtspalt nach draußen wurde, desto beklemmender wurde das Gefühl.

Zu.

Der Geruch von zu Hause strömte ihr entgegen. Eine Mischung aus schmutzigem Teppich und den alten Jacken, die an der Garderobe hingen. Mühsam schälte sie sich aus dem Anorak und hängte ihn an einen der völlig überladenen Haken. Heute war es noch dunkler als sonst in dem engen Flur. Die Schuhe, die sich auf dem Boden stapelten, versperrten fast den ganzen kurzen Weg zur winzigen Küche. Der rare Platz wurde von einem monströsen Schrank gefressen, ein abartiger Holzkasten, den ihr Vater geerbt hatte, als seine Eltern in eine spießige Altenresidenz gezogen waren und nicht alle Möbel hatten mitnehmen können.

»Line …«, rief die Kleine ungeduldig und wartete bereits an der Küchentür auf sie. Line stellte die Stiefel ordentlich zur Seite und bahnte sich dann einen Weg zu ihrer kleinen Schwester.

Allein diese Enge machte sie krank.

Anna zupfte an ihrem Pullover, ein hässliches Strickteil, das ihre Großmutter ihr zu Weihnachten geschenkt hatte. Orange-braun gestreift. Wahrscheinlich hatte sie ihn mit Absicht so klobig gestrickt, um ihrer Enkelin zu zeigen, was sie von ihr hielt.

Line beugte sich runter zu Anna. Dabei fiel ihr strähniges Haar wie ein brauner Vorhang auf die Schultern der Jüngeren. Anna formte mit ihren kleinen dicken Händen einen Trichter an Lines Ohr und setzte ihre Lippen daran.

»Papa ist schon da«, flüsterte sie. »Ich will nicht allein reingehen.« Lines Herz zog sich bei diesen Worten zusammen.

Ein bisschen Gefühl steckte also doch noch in ihrem sonst so tauben Körper. Was würde Anna ohne sie tun?

Schnell verdrängte sie diesen einzigen Gedanken, der ihr Vorhaben noch gefährdete.

Dann schubste sie das moppelige Mädchen nach vorne in die Küche, um den Moment hinter sich zu bringen.

Wie jeden Dienstag.

»Hast du das Salz vergessen, Olga?«, raunzte er und strich sich genervt über den Schnurrbart. Line hatte dieses Ungetüm über der Oberlippe ihres Vaters noch nie leiden können. Wie ein gerupfter Vogel thronte er dort und zitterte bedrohlich, wenn er sprach.

Eigentlich hatte sie auch ihn nie gemocht.

»Aber ja, Schatz«, piepste ihre Mutter und sprang von dem kleinen Esstisch auf, um das Salz aus dem Gewürzschränkchen zu holen. Obwohl es erst Mittag war, mussten sie in dem dunklen Zimmerchen die Lampe einschalten. Doch auch das Licht des braunen Glaslampenschirms konnte den mit Holzimitat verkleideten Raum nicht aufhellen.

Er griff nach dem Glasfässchen und würzte ordentlich nach.

Line senkte den Kopf und ließ ihr Haar nach vorne fallen. Bat einfach darum, dass diese Mahlzeit bald vorbei sein würde.

»Gibt’s keinen Senf?«, fuhr ihr Vater seine Frau an und Line duckte sich noch tiefer, wollte sich am liebsten die Ohren zuhalten und die Augen schließen.

Sofort erhob sich Olga wieder und trat zum Kühlschrank. Ihre kurzen Locken lagen unordentlich auf ihrem Kopf und ihr hageres Gesicht zierten bereits die ersten roten Hektikflecken. Line registrierte das Zittern ihrer dürren Finger, als sie den Senf vor ihrem Mann abstellte.

Heute ging es besonders schnell.

»Na dann«, brummte er und schnitt sich ein großes Stück von seinem Schnitzel ab. Die glänzenden Zwiebeln fielen auf dem Weg zu seinem Mund zurück auf den Teller und blieben in dem dichten Schnurrbart hängen. Er kaute eine Weile geräuschvoll und Line spürte die Anspannung ihrer Mutter, die selbst nichts zu sich nehmen konnte, ehe sie nicht abgewartet hatte, ob er etwas beanstandete.

Doch heute schwieg er. Und Olga atmete auf, aber so lautlos, dass er es nicht hören konnte.

»Die wollen unsere Löhne schon wieder kürzen, diese Halsabschneider«, brummte er zu niemand Bestimmtem im Raum.

»Aber Jens, das geht doch nicht«, reagierte seine Frau sofort, auch wenn ihre Stimme leise klang. Sie hätte ihm auch bei jeder anderen Aussage zugestimmt. Er beachtete sie nicht.

»Ihr zwei da«, sagte er dann. Jetzt sah er doch auf und deutete mit der fettigen Gabel auf seine Töchter, »ihr müsst anständig lernen, damit ihr später genug Geld verdient. Ich wollte ja immer studieren, aber dann wurde eure Mutter schwanger.«

Sofort schoss dieser die Röte in die Wangen. Er hatte sein leidiges Thema gefunden und sie begann an der Tischdecke zu zupfen, fasste sich reflexartig an den Bauch.

»Ja, wenn du nicht vor achtzehn Jahren gewesen wärst, Line«, nuschelte er zwischen zwei weiteren Bissen, »dann hätte ich erst eine Weltreise gemacht und wäre dann zur Uni gegangen. Aber so, wie es kam, blieb mir ja nichts anderes übrig, als eure Mutter zu heiraten. Eure Großeltern hätten mich sonst zum Teufel gejagt.«

Es herrschte eine Weile Schweigen, nur das Gekratze von Besteck auf Porzellan füllte den engen Raum. Line wusste nicht, das wievielte Mal diese Worte aus dem Mund ihres Vaters tönten. Und obwohl ihre Mutter Olga ihr mehr als einmal versichert hatte, dass sie keine Schuld an seinem Frust trug, hatte sich genau dieses Gefühl in ihr festgenagt. Sie pickte ein Stück Kartoffel auf und schob es eine Ewigkeit im Mund herum, ehe sie schlucken konnte.

»Und Kinder sind teuer, da musste ich nun mal gleich arbeiten. Da war kein Geld da fürs Studieren.«

Der Zeiger der Küchenuhr tickte.

Tick. Tack. Tick. Tack.

Bei beinahe jedem Ticken wanderten Lines Augen hastig nach oben. Jedes Ticken brachte sie dem Ende dieser Mahlzeit näher, mit jedem Ticken konnte sie eher in ihr Zimmer flüchten, in ihre Höhle.

Doch heute hatte das Geräusch noch eine schwerwiegendere Bedeutung.

Line lächelte.

Der Gedanke erleichterte sie und durchströmte sie mit plötzlicher Euphorie. Es war egal, ob Jens ihr heute wieder die Schuld für seine Enttäuschungen zuschob. Heute Abend würde er keine Schuldige mehr haben.

»Jetzt iss doch endlich mal«, sagte er plötzlich und blickte sie aus seinen schlammbraunen Augen vorwurfsvoll an.

Sie senkte den Kopf, versteckte sich erneut hinter ihrem strähnigen Haar.

»Meinst du, deine Mutter hat sich umsonst in die Küche gestellt? Hätte ich es mir aussuchen können, hätte ich mich gegen Kinder entschieden.« So war es immer.

Der Einzige, der die Arbeit ihrer Mutter nicht registrierte und beinahe niemals guthieß, war er.

Und der Einzige, der seinen Kindern genau das zum Vorwurf machte, war ebenfalls er.

Er schnitt erneut grob in sein Schnitzel, sodass das Fett über den Tisch spritzte. »Und du«, jetzt sah er hinüber zu Anna, die bereits zum dritten Mal nach der Soße griff, »du solltest lieber die Finger davon lassen. Wirst ja auch immer dicker.« Er kaute, hielt dann erneut inne.

»Jetzt iss endlich dein Schnitzel!«, verlangte er erneut von Line und legte sein Besteck nieder. Mit zusammengekniffenen Augen fixierte er seine Tochter.

»Ich … ich kann nicht«, flüsterte Line hinter ihrem Vorhang hervor. Sie hörte, wie Olga neben ihr die Luft anhielt und dann mit einer hektischen Bewegung ein winziges Stück von ihrem eigenen Fleisch sägte.

Line dachte an später.

An den Ausweg, das gab ihr Kraft.

Sie hob den Kopf und blickte in die dunklen Augen.

»Ich bin Vegetarierin.«

Als sie die Tür hinter sich zuschlug, war sie allein.

Endlich allein. Sie blieb einen Moment stehen, dann sank sie an der Zimmertür nieder und kauerte sich auf dem Boden zusammen, ganz klein.

Ihre Höhle, wie sie ihr Zimmer als kleines Kind getauft hatte, war gelb gestrichen, ein warmes Sonnengelb, das sie sich als Zehnjährige ausgesucht hatte. »Gelb wie Mais«, hatte sie gesagt und nach der Farbe gegriffen. Ihr Vater hatte den Bottich genommen und aufs Preisschild gesehen.

»Na gut«, hatte er gesagt und dann war ihre Höhle zu einer Sonnenhöhle geworden.

Jetzt strahlte es zu sehr, tat fast in den Augen weh. Das schmale Bett unterm Fenster war zerwühlt, doch Line war froh darum. Es bewies, dass niemand ihr Zimmer betreten hatte, seitdem sie es vor der Schule verlassen hatte. Sie fühlte sich in ihrer Höhle zwar nicht mehr wohl, doch sie gehörte immer noch ihr.

Line schluckte und spürte wieder die Schwerelosigkeit in sich aufsteigen, die der Gedanke an das Verschwinden in ihr auslöste.

Sie hatte schon lange über die Flucht nachgedacht. Über die Flucht und die besten Verstecke, die diese Welt bieten konnte. Eigentlich schon, seit sie sich erinnern konnte. Nicht unbedingt an ihr eigenes Verstecken, das nicht, aber irgendwie hatte der Gedanke sie seit jeher fasziniert, dass Menschen einfach gingen und dann nicht mehr da waren. Dass andere sie suchten und dass sich niemand finden lassen musste.

Dass unwichtig wurde, was sie erreicht hatten und was nicht. Denn die Enttäuschung der anderen musste niemand ertragen, der sich versteckte und nie wieder hervorkroch.

Jeder Fehler, jede Angst, jedes Missgeschick und Versagen konnte vergessen werden, wenn man sich vor dem Rest der Welt versteckte.

Und dass es so immer einen Ausweg gab.

Sie hatte den Gedanken in sich getragen, wie einen kleinen Samen, doch wann er zu keimen begonnen hatte, ernsthaft zu keimen, daran erinnerte sie sich nicht mehr so genau.

Vielleicht an dem Tag, an dem drei Mädchen aus ihrer Klasse ihr nach dem Schwimmunterricht die Kleidung gestohlen hatten.

Vielleicht auch an jenem, als ihr Vater zum hundertsten Mal gesagt hatte, dass sie eine Strafe für ihn war. Als er sie angeschrien hatte, ihre Geburt habe all seine Freiheit und seine Zukunft zerstört.

Oder vielleicht in einem der Momente, als er seine Unzufriedenheit an ihrer Mutter ausließ.

Line hatte sie beschützen wollen, diese zarte Frau mit den kurzen Locken, die das Pech gehabt hatte, einen so cholerischen und fordernden Mann zu finden, der ihr die letzte Stabilität raubte. Ein Grund mehr, den Ausweg zu wählen.

Denn sie, Line, hatte versagt.

Weder ihrer Mutter geholfen noch ihrer kleinen Schwester, die den harten Worten des Vaters ebenso ausgesetzt war wie sie selbst. Und heute war Dienstag. Der einzige Tag unter der Woche, an dem ihr Vater bereits am Mittag zu Hause war. Der einzige Tag, an dem ein deftiges Fleischgericht auf dem Küchentisch stehen musste. Und der einzige Tag, an dem beim Essen nicht nur diese furchtbare Gleichgültigkeit herrschte, mit der ihre Mutter sich so oft umgab, sondern beinahe greifbare Angst. Vor den Launen, den schmerzenden Worten ihres Vaters. Was auch immer ihm einfallen würde.

Line schüttelte den Kopf. Sie wollte nicht mehr denken müssen, dieses ewige Kopfkarussell, das sich drehte und drehte und sie nie zur Ruhe kommen ließ.

Der kleine Spiegel, der ihr graues Gesicht hinter dem dünnen Haar kaum erfassen konnte, hing direkt neben ihrem Orakel.

Ja, denn dem war es zu verdanken, dass sie sich endlich getraut hatte. Das Orakel log nie. Niemals.

So wenig Ruhe Line für die Dinge fand, die ihr Freude bereiteten, ihre Bücherliebe hatte sie schon immer gepflegt. Die Bücher waren ihre Freunde, ihre Familie und vor allem ihre Ratgeber. Ihr Orakel eben.

An dem Tag, an dem sie entschieden hatte, dass etwas passieren musste, war sie mit geschlossenen Augen an das Regalbrett getreten, das Brett, auf dem fein säuberlich ihre Reclam-Heftchen standen, eines neben dem anderen. Sie wusste nicht wieso, aber sie vertraute den gelben Lektüren mehr als irgendeinem Menschen.

Ihre Finger waren, wie immer wenn sie einen Rat brauchte, über die glatten Papierrücken gestrichen, bis es irgendwann so in den Fingerspitzen gekitzelt hatte, dass sie zugriff.

Nietzsche. Also sprach Zarathustra.

Line war überrascht gewesen und dann aber auch irgendwie erfreut. Das Orakel kannte eben doch immer eine Lösung. Der erste Schritt war geschafft.

Als Nächstes hatte sie geblättert, erneut mit geschlossenen Lidern, durch die raschelnden Seiten, auf der Suche nach dem Impuls, der Führung. Und dann hatte sie gestoppt, den Finger auf die Seite gelegt und den Satz gelesen.

Als Zarathustra dreißig Jahre alt war, verließ er seine Heimat und den See seiner Heimat und ging in das Gebirge.

Fasziniert, verblüfft und erleichtert, das war sie gewesen, als ihre Augen die Zeile Mal für Mal abtasteten.

Wieso war sie nicht selbst darauf gekommen? Das war doch die Lösung! Sie hatte das Reclam-Heftchen geküsst und zum allerersten Mal diese kleine Leichtigkeit in sich gespürt, die sie seitdem in ihrem Herzen hervorrufen konnte, wann immer es um sie herum zu dunkel wurde. Nur durch den fantastischen, zauberhaften Gedanken, bald nicht mehr da zu sein. Einfach zu gehen, alles zurückzulassen und niemandem zu verraten, dass sie nicht mehr zurückkehren würde. Wie Zarathustra einen Ort der Einöde zu finden, an den außer ihr kein Mensch hinkam. An dem es nur sie selbst gab.

Auch jetzt stahl sich auf Lines Lippen wieder ein kleines Lächeln, ein Anflug nur, doch nicht zu leugnen.

Heute war ihr letzter Tag in diesem Haus und zugleich der letzte Tag des Orakels. Und einen letzten Rat würde sie sich noch holen wollen, einen letzten Abschiedsgruß, ehe sie ihr altes Leben hinter sich ließ.

Mit geschlossenen Augen zog sie ein Heftchen heraus.

Kleist. Das Erdbeben in Chili.

Sie schluckte. Ihr Entschluss stand fest. Doch der letzte Satz des Orakels war ihr wichtig, ihn würde sie in ihrem Herzen tragen, wenn sie gleich ging. Die letzten Worte von einem ihrer besten Freunde.

Sie schlug das Papier auf, der besondere Duft zerlesener Lektüre stieg in ihre Nase und sie legte den Finger nieder.

Der Satz war lang, länger als der, mit dem Zarathustra sie zum Weglaufen ermutigt hatte. Ihr Kopf drehte sich, als sie ihn las. Sie überflog ihn wieder und wieder. Ihr Herz begann zu rasen, sie spürte, wie Blut in ihr Gesicht schoss.

Das Orakel log nie!

Nachdem sie die Lektüre auf den Boden hatte fallen lassen, setzte sie sich an den Schreibtisch, griff nach einem Kuli und verfasste den ersten Brief.

Ließ alles aus ihrem Kopf durch den Stift strömen und schrieb.

Noch 16 Tage

Seine Augen flogen über das Papier, wie ein Zugvogel, der immer und immer an den Anfang zurückgeworfen wurde und sein Ziel nie erreichte. Die Sonne wärmte seinen sommersprossigen Nacken und stahl sich einen Weg durch seinen groben Schal hindurch, während er sich zu den fein geschwungenen Buchstaben hinabbeugte.

War das hier ein dummer Scherz, hatten irgendwelche Kinder Spaß daran, Zettel mit solchen Botschaften zu schreiben und sie unter Steine zu legen? Doch dafür klangen die Worte zu schwer, zu dunkel und ernst.

Er kratzte sich verwirrt am Kopf, sodass sein blondes Haar in alle Richtungen abstand.

Der Bach plätscherte gemächlich vor sich hin an einem dieser letzten schönen Herbsttage und glitzerte im nachmittäglichen Schein, wand sich schillernd durchs hohe Gras.

»Anton? Hast du ihn?«, rief eine Stimme und er fuhr aus der Hocke auf.

»Ja, Moment«, gab er zurück und bückte sich erneut, um nach dem roten Strickschal zu greifen, der sich unter dem Stein verfangen hatte. Dem Stein, unter dem er auch diesen merkwürdigen Zettel gefunden hatte, den er nicht verstand.

»Ist er sehr dreckig? Ich hab keine Lust, einen matschigen Schal anzuziehen«, rief sie wieder und er griff mit spitzen Fingern nach der feuchten Wolle.

»Na ja«, sagte er und stapfte über das hohe Gras zu ihr hinüber. Sie blinzelte, als sie entgegen der Sonne zu ihm hochsah und sich eine blonde Haarsträhne hinter das Ohr strich. Dann blickte sie auf den Schal.

»Igitt!«, kreischte sie, als Anton ihn ihr mit einem schiefen Grinsen entgegenhielt, »bist du denn völlig bescheuert?« Sie sprang von der Bank auf und machte einen Satz zurück. Mit gerümpfter Nase deutete sie auf die Holzlatten. »Leg ihn einfach dort hin, vielleicht trocknet er ja noch.« Antons Grinsen verschwand und er bettete das nasse Bündel auf den Platz, auf dem er bis eben gesessen hatte, ehe der Wind den Schal von ihren Schultern gerissen hatte und er hinterhergesprungen war.

Dann sah sie ihn aus etwas sanfteren Augen an und ergriff einen Moment seine kühlen Finger, lächelte ihn ganz kurz an. »Aber trotzdem danke.«

Seine Hand ließ sie los und er setzte sich auf dem verbleibenden freien Stück der Bank nieder. Sie schloss die Augen, das Gesicht der Sonne entgegengestreckt. Verlegen stand Anton neben der Bank und wusste nicht, was er jetzt tun sollte. Nachdem sie sich eine Weile gesonnt hatte und nicht gewillt schien, die Stille zu unterbrechen, räusperte er sich.

»Nadine«, begann er und fischte den Zettel aus seiner Jackentasche. »Guck mal, der lag unten am Bach, dort, wo ich deinen Schal gefunden habe.«

Nadine öffnete die Augen und blickte fast missbilligend auf das weiße Papier in seiner Handfläche. »Zeig mal!« Er reichte ihr den Papierfetzen. Sie überflog die Schrift und zuckte dann mit den Schultern. »Aha«, meinte sie und schloss dann wieder die Augen.

War es schon immer so gewesen?

Ein wenig Ärger stieg in Anton auf, keine wirkliche Wut, aber doch genug, um seine Laune zu trüben.

Er schwänzte schon wieder das Training für sie, er hatte sie mit dem Auto abgeholt, weil sie keine Lust gehabt hatte durch die Pfützen, die der Herbstregen auf den Wegen hinterlassen hatte, zu radeln. »Komm schon, die Sonne scheint grad so schön. Wer weiß, wie oft wir noch Gelegenheit haben werden, dieses Jahr zu unserem Platz zu fahren«, hatte sie gesagt, als sie spontan angerufen hatte. Gerade als er dabei war, seine Sportsachen zu packen. Und er hatte sich so gefreut, dass Nadine sich meldete, von sich aus Zeit hatte, ein bisschen Zeit, nur ein bisschen Zeit für ihn.

Natürlich war er sofort aufgebrochen, nachdem er seine Eltern angefleht hatte, ihm das Auto zu leihen, und hatte sie abgeholt, raus aus ihrer piekfeinen Reihenhausgegend, in der kein Grashalm zu lang war und kein Hundehaufen den gefegten Bürgersteig zierte.

Und jetzt waren sie da.

Nadine, die Sonnenanbeterin auf der Bank. Und er – ersetzt durch einen nassen Schal.

Er seufzte und Nadine öffnete die Augen. »Hast du irgendwie schlechte Laune?«, fragte sie unschuldig und er schüttelte reflexartig den Kopf, doch er blieb weiter beharrlich neben ihr stehen. »Klar hast du das!«, fuhr sie ihn an und runzelte die Stirn. »Ich dachte, wir machen uns endlich mal wieder einen netten Nachmittag. Jetzt, wo ich so viel im Abiballkomitee zu tun habe.« Dann lehnte sie sich wieder zurück und schloss die Augen, doch ihre Mundwinkel zuckten, wie immer, wenn sie schlechte Laune bekam.

Anton betrachtete sie. Ihr gerades Profil, die wenigen Sommersprossen auf ihrer zierlichen Nase. Die vollen Lippen, die jetzt ärgerlich verkniffen waren, das zarte Wangenrot, von dem er nicht genau wusste, ob es von der beißenden Herbstkälte rührte oder doch eher ihrem Make-up-Kasten entsprang. Die schnittlauchglatten Strähnen umrahmten ihr Gesicht und fielen blond und ordentlich knapp über die Schultern.

Sie war ein schönes Mädchen.

Und er hatte solch ein Glück, mit ihr zusammen sein zu dürfen.

Anton wuschelte sich erneut durch sein eigenes halblanges Haar, eine Angewohnheit, die Nadine an ihm sofort gemocht hatte, als sie vor über einem halben Jahr zusammengekommen waren. Nachdem er so viele schlaflose Nächte wegen ihr verbracht hatte. Seine Freunde waren nicht ganz ohne Neid gewesen, sogar die Jungs vom Training kannten Nadine, obwohl nicht alle die gleiche Schule besuchten.

Er sollte aufhören, sich zu beschweren. »Hey«, raunte er und versuchte sich auf die kleine Ecke zu schieben, die auf der schmalen Bank noch frei war, »ich hab’s nicht so gemeint.« Er vergrub sein Gesicht an ihrer Schulter und roch das fruchtige Shampoo, das sie so liebte. Sie seufzte und kraulte seinen Nacken.

»Das will ich aber auch schwer hoffen«, erwiderte sie schnippisch, doch immerhin stieß sie ihn nicht beiseite. Einen Moment saßen sie noch nebeneinander und blickten auf den kleinen Bach. Hier war es gewesen, bei einem Picknick, hier hatte er ihr den ersten Kuss gegeben, hauchzart und schüchtern.

Die letzten Sonnenstrahlen verzogen sich langsam hinter dichten Wolken und er fühlte, wie Nadine in seinen Armen zu frösteln begann. »Lass uns gehen!«, unterbrach sie seine Erinnerung und sprang auf. »Ich muss noch telefonieren, wir haben den Ballsaal nicht bekommen, den wir wollten. Irgendeine Firmenfeier, was weiß ich …« Sie wand sich aus seinen Armen und stapfte, ohne sich weiter nach ihm umzusehen, Richtung Parkplatz.

Überrascht blieb er noch einen Moment sitzen. Das war Nadine. Heiß und kalt, Feuer und Eis.

Er hob den Zettel auf, den sie achtlos hatte fallen lassen, und knüllte ihn in seiner Hand zusammen, als er zu seinem eigenen Ärger innerlich wieder die leicht köchelnde Wut spürte.

Lass sie, beruhigte er sich, du weißt doch, wie viel sie zu tun hat. Trotzdem konnte er die Enttäuschung nicht unterdrücken, die das Hochgefühl trübte, das er vorhin noch gehabt hatte, als sie telefonierten.

»Kommst du endlich?!«, rief sie ungeduldig und verdrehte die Augen. »Ich friere, du nicht auch?«

Und er folgte ihr.

Wie immer.

Er schloss die Tür leise hinter sich, um seine Mutter nicht zu wecken. Nach einer Nachtschicht im Krankenhaus, wo sie trotz eigener Praxis ab und an arbeitete, wurde sie unerträglich, wenn sie erwachte, bevor ihr Wecker klingelte.

Anton schlich auf Zehenspitzen den hellen Hausflur entlang und trat hinter die Glastür, die ins Wohnzimmer führte. Der Fernseher lief, irgendjemand, wahrscheinlich seine Schwester, hatte vergessen, ihn auszustellen.

KiKA.

Und das, obwohl Vera schon vierzehn war. Doch seit sie krank war, seit sie so anders war, hatte sie sich immer mehr, immer öfter in ihre eigene Kinderwelt zurückgezogen. Die Zeiten, in denen sie ihn freudestrahlend begrüßt hatte, ihre Gitarre noch vom Üben in der Hand, um ihm ihr neuestes Stück vorzuspielen, waren seitdem vorbei.

Anton verscheuchte den Gedanken. Er dachte eh zu viel nach. Und das bedrückende Gefühl, das ihn zu Hause so rasch überkam, nahm schon wieder Überhand. Doch heute würde er das nicht zulassen.

Er schlüpfte aus der Jacke und ließ sich auf dem schwarzen Ledersofa nieder. Dann griff er nach der Fernbedienung und zappte eine Weile durch die Programme, doch am frühen Abend lief einfach noch nichts, was ihn interessierte. Wie gelähmt blieb er liegen, konnte und wollte sich nicht erheben, als lägen ihm Steine auf der Brust.

Wieso war Nadine so, wie sie war?

Wieso konnte sie nicht mehr so warmherzig sein wie am Anfang? Er hatte ja gewusst, worauf er sich einließ, wenn eines der beliebtesten Mädchen des Jahrgangs seine Freundin wurde. Und doch zweifelte er manchmal.

Ganz selten, aber immer öfter. Inzwischen eigentlich jeden Tag.

Er lag bereits eine Weile im Wohnzimmer als ebenso leise wie er eingetreten war die Tür aufschwang.

Anton drehte seinen blonden Kopf und strich sich durchs Gesicht. Seine Mutter konnte es noch nicht sein, normalerweise stand sie nicht vor dem Abendbrot auf.

»Na, mein Großer?«, ertönte eine leise Stimme hinter ihm und es war sein Vater, der mit Mantel und einer Zeitung unterm Arm hereinkam. »Bist du schön am Fernsehen?«

Anton schluckte. »Ja«, antwortete er dann auf diese sinnlose Frage. Er drückte den Knopf der Fernbedienung und das bunte Bild von irgendwelchen Zeichentrickfiguren, die Anton in einem hinteren Winkel seines Kopfes noch als eigene Kindheitserinnerungen identifizieren konnte, verschwand. Zurück blieb die graue Leere der Mattscheibe.

»Was machen wir uns denn heute Schönes zu essen?«, fragte sein Vater und ließ sich neben ihm auf dem knarzenden Ledersofa nieder.

»Weiß nicht«, sagte Anton und spielte mit der Katze, die sich auf dem Sofa eingerollt hatte. Eigentlich war es Veras Katze, aber im Moment kümmerte er sich mehr um das Tier als seine Schwester.

Anton bekam das Gefühl, dass heute nicht sein Tag war. Gefangen, allein und trotzdem unerträglich bedrängt.

»Wie wäre es mit Pizza? Oder ich könnte Döner holen«, schlug sein Vater vor und kratzte sich den lichter werdenden Haarschopf, als wäre ihm diese Unterhaltung selbst unangenehm.

»Vera ist heute zum Abendessen da. Das isst sie nicht«, gab Anton nur zurück und folgte dem plötzlichen Impuls, sich zu erheben. »Ich …«, begann er und ließ die Katze los, um seinem Vater kurz ins Gesicht zu blicken, »ich muss jetzt noch Hausaufgaben machen.«

Dann verließ er beinahe fluchtartig den Raum und stieg die Treppe hinauf in sein Zimmer. Wie der Zurückgelassene das Gesicht in der Hand vergrub, sah er nicht mehr.

Der kleine Zettel wog schwer in seiner Hand, schwerer, als man es bei normalem Papier erwarten würde. Er hatte sich ein wenig mit Wasser vollgesogen, war aber durchaus noch lesbar. Die kleinen Buchstaben mit dem schönen Schwung schienen in die Breite zu laufen, doch das nahm ihnen nicht die Anmut.

Was Anton aber viel faszinierender fand als die Schrift, waren die Zahlen in der rechten Ecke. Der Zettel war am heutigen Tag datiert worden.

Er knipste die Schreibtischlampe an. Die Herbstsonne, die kaum noch in sein Zimmer schien, zog sich langsam hinter den Nachbarhäusern zurück und das Lesen fiel ihm schon ein wenig schwer. Er glättete das Stück Papier, den Müll, den er normalerweise weggeworfen hätte, und betrachtete noch einmal den Text.

Ein Scherz? Oder bitterer Ernst? Eine seltsame Unruhe stieg in ihm auf, ein krampfartiges Gefühl in der Magengegend, als lägen diese Worte schwer in ihm.

Er las.

»Er nahm sich fest vor, nicht zu wanken, wenn auch jetzt die Eichen entwurzelt werden.«

Jeronimo wollte gehen.

Wie ich.

Jeronimo will nicht mehr gehen, will bleiben, will lieben.

Doch was will ich?

Orakel, du zeigst mir Widersprüche. Soll ich gehen, soll ich wanken, soll ich es tun, gegen diesen Rat von dir? Ohne dass ich weiß, wohin und wie? Oder soll ich trotz der ewigen Entwurzelung bleiben, wie Jeronimo es tut? Ich weiß nicht. Morgen komme ich noch einmal zum Bach.

Morgen entscheide ich. Bitte gib mir einen Hinweis.

Morgen gehe oder bleibe ich.

Entwurzeln oder nicht wanken.

Morgen.

Noch 15 Tage

Solltest du das hier lesen; sollte dieser Zettel, den ich gestern Abend an dem kleinen Bach gefunden habe, an dem du offensichtlich auch gewesen bist, von dir sein und sollte die Botschaft darin ernst gemeint sein, dann hör mir zu:

Jeronimo will bleiben, weil er seine Liebe zurückerlangen kann. Ich kenne das Erdbeben in Chili zufälligerweise.

Verschwinden ist kein Ausweg, denn damit verlierst du die Chance, alles zu verbessern. Ich weiß nicht, an welches Orakel du dich da hältst, ich weiß auch nicht, wieso du weglaufen willst. Aber hör nur darauf, wenn du wirklich nachgedacht hast. Darüber, wohin du gehen kannst, was du machen wirst und mit wem zusammen du diesen Weg gehen willst. Und wenn du das nicht weißt, dann bleib!

Line wurde schwindelig, sie trat einen Schritt auf dem unebenen Gras zurück und stolperte über ein Loch im Erdboden, fiel rückwärts. Heiße und kalte Wellen durchfuhren ihren Körper und beruhigten sich nicht. Der Nebel waberte über der Wiese, der Boden war von der letzten Nacht noch immer durchgefroren und fühlte sich hart und steif unter ihr an.

Line riss ihre Mütze vom Kopf.

Sie hatte das Gefühl, die einzelnen Äderchen in ihren Augen pulsierten, hatte den Eindruck, jeden Grashalm in seiner schneidenden Schärfe haargenau wahrzunehmen.

Sie roch das brackige Wasser des Baches, fühlte die feuchte Erde, die sich zwischen ihren Fingern nach oben quetschte, die einzelnen Steinchen, die sich in ihre Handteller bohrten.

Sie fühlte intensiv, hatte zum ersten Mal seit Monaten den Eindruck, die Welt wieder wahrzunehmen. Vorher war ihr gar nicht aufgefallen, dass sie, wie in eine dicke Schicht Watte gepackt, weder gespürt noch gerochen oder gesehen hatte. Vollkommen zurückgezogen in sich, in ihrer eigenen Welt hinter den Brillengläsern und dem Vorhang aus Haar.

Doch diese Worte, dieser Zettel, diese wenigen Buchstaben hatten in ihr eine Saite zum Klingen gebracht, von der sie schon lange nicht mehr wusste, dass es sie gab.

Line fröstelte, aber das war gut.

Bleib!

Endlich spürte sie die schneidende Kälte des Herbstwindes, nahm das Rascheln der Blätter wahr, die um ihre Füße tanzten wie kleine Ballerinas, und blinzelte, als die Sonne des frühen Morgens ihr in die Augen stach.

War wirklich schon Herbst?

Sie blickte auf die Uhr und erschrak. Fünf vor acht. Pünktlich zur ersten Stunde würde Line nicht mehr in der Schule ankommen.

Sie rannte zurück zu dem Spazierweg, wo sie ihr Fahrrad hatte stehen lassen, um einen Abschiedsgruß bei ihrem gestrigen Brief zu hinterlassen. Nur für den Fall, dass irgendjemand einmal von ihrem Verschwinden erfahren sollte. Doch da hatte Line noch nicht gewusst, dass in der Zwischenzeit etwas geschehen war.

Sie war gehört worden, jemand wusste davon.

Sie teilte ihr Geheimnis nun mit einer zweiten Person, einem unbekannten Menschen. Ein Brief in einem geheimen Briefkasten.

Und obwohl sie diese Zweisamkeit von sich schieben wollte, fühlte sie sich gut an.

Wie ein geheimer Freund, mit dem sie einen unsichtbaren Bund einging.

Kolbe, Karolin:

17 Briefe oder der Tag, an dem ich verschwinden wollte (Leseprobe)

ISBN 978 3 522 68021 9

Einbandgestaltung: Lowlypaper, Marion Blomeyer

Innentypografie: Judith Schumann

E-Book-Konvertierung: le-tex publishing services GmbH, Leipzig

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E-Book

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ISBN 978 3 522 65251 3

Planet Girl

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Planet Girl

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