Und plötzlich steht dein Leben auf null - Karolin Kolbe - E-Book

Und plötzlich steht dein Leben auf null E-Book

Karolin Kolbe

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Beschreibung

Emotionales Jugendbuch ab 14 Jahren – basierend auf einer wahren Begebenheit.

Diagnose Krebs! Dieses Schicksal vereint Ella, Luise und Sina, auch wenn sie sonst grundverschieden sind und sich gerade in unterschiedlichen Lebensphasen befinden. Sie kämpfen gemeinsam gegen ihr Schicksal, trösten sich und geben sich gegenseitig Halt während der Therapie. Mit Netflix-Abenden im Krankenhaus, heimlichen Ausflügen und einer Überraschungsparty auf Station versuchen sie, das Beste aus der bedrückenden Lage zu machen. Und für Ella birgt diese schwere Zeit sogar eine ganz besondere Chance: Sie hat Schmetterlinge im Bauch – trotz Port unter dem Herzen …

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Das Buch

Diagnose Krebs! Dieses Schicksal vereint Ella, Luise und Sina, auch wenn sie sonst grundverschieden sind und sich gerade in unterschiedlichen Lebensphasen befinden. Sie kämpfen gemeinsam gegen ihr Schicksal, trösten sich und geben sich gegenseitig Halt während der Therapie. Mit Netflix-Abenden im Krankenhaus, heimlichen Ausflügen und einer Überraschungsparty auf Station versuchen sie, das Beste aus der bedrückenden Lage zu machen. Und für Ella birgt diese schwere Zeit sogar eine ganz besondere Chance: Sie hat Schmetterlinge im Bauch – trotz Port unter dem Herzen …

Ein lebensbejahendes Buch mit viel Gefühl

Die Autorin

© Studio Monbijou

Karolin Kolbe wurde 1993 in Kassel geboren und zog 2013 für ein Freiwilliges Ökologisches Jahr nach Berlin. Hier studierte sie Literatur- und Filmwissenschaft. Im Jahr 2017 erkrankte sie selbst an Krebs und verbrachte ein Jahr lang viel Zeit im Krankenhaus. Die Autorin wohnt in einer großen WG mit Katze und Garten und trifft in ihrer Freizeit am liebsten tolle Menschen, liest und schreibt Bücher und mag Sport.

Mehr über Karolin Kolbe: www.karolin-kolbe.de

Karolin Kolbe auf Facebook: www.facebook.com/Karolin-Kolbe

Karolin Kolbe auf Instagram: www.instagram.com/karolin.kolbe/

Der Verlag

Du liebst Geschichten? Wir bei Planet! in der Thienemann-Esslinger Verlag GmbH auch! Wir wählen unsere Geschichten sorgfältig aus, überarbeiten sie gründlich mit Autoren und Übersetzern, gestalten sie gemeinsam mit Illustratoren und produzieren sie als Bücher in bester Qualität für euch.

Deshalb sind alle Inhalte dieses E-Books urheberrechtlich geschützt. Du als Käufer erwirbst eine Lizenz für den persönlichen Gebrauch auf deinen Lesegeräten. Unsere E-Books haben eine nicht direkt sichtbare technische Markierung, die die Bestellnummer enthält (digitales Wasserzeichen). Im Falle einer illegalen Verwendung kann diese zurückverfolgt werden.

Mehr über unsere Bücher, Autoren und Illustratoren: www.planet-verlag.de

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Viel Spaß beim Lesen!

Einige medizinische Details stimmen in dieser Geschichte sicherlich nicht. Was aber stimmt, ist, dass der große Rückhalt, den Sina, Ella und Luise erfahren, nicht annährend so groß ist, wie der, den ich selbst von meiner Familie, meinen Freund*innen, meinem Partner und meiner WG bekommen habe, als ich mit gerade vierundzwanzig selbst eine Krebsdiagnose erhielt. Eine größere Unterstützung als die von Elke, Klaus, Christoph, Florian, Insa, Manon, Lena, Suse, Miri, Bastie, Rebecca, Nathalie, Jonas, Annika, meiner ganzen großen Familie und noch so vielen Freund*innen, kann ich mir gar nicht vorstellen.

Das ist er also, mein neunzehnter Geburtstag. Ich schließe die Augen und halte mein Gesicht in die warme Februarsonne. Was für ein Glück wir mit dem Wetter haben, wer kann zu dieser Jahreszeit schon Geburtstag auf der Dachterrasse feiern? Dicke Jacken tragen wir natürlich trotzdem. Alle sind hier, alle Kinder, Hatice, Sven, meine WG, meine Eltern, sogar Sonja ist kurz hochgekommen.

Jakob pustet noch ein paar letzte Luftballons auf und kommt dann zu mir, legt einen Arm um meine Schultern und drückt mich an sich.

»Es ist schön geworden, oder?«, fragt er und sein dunkles Haar weht im Wind.

Ich lächle ihn an und kneife die Augen im grellen Licht der Sonne zusammen. »Superschön.«

Aufgeregt stehen Luise und Sina vor dem riesigen Kuchenbüffet, das sie auf einem Klapptisch aufgebaut haben.

»Wenn es zu kalt wird, gehen wir einfach rein«, erklärt Sina und hält mir ein großes Messer hin. »Du darfst gleich anschneiden!«

»Ihr seid so verrückt«, murmle ich und bin ganz gerührt. Es gibt fünf große Kuchen: Apfel, Schoko, Kirsche, Nuss und Marmor, einer von Sina, einer von Ayla, einer von meinem Papa und einer von Jakob.

»Und von wem ist der?«, frage ich und deute auf den Marmorkuchen.

Hatice kommt näher. »Der ist von mir. Alles Gute, Ella«, sagt sie und drückt mich an ihren weißen Schwestern-anzug. Sie sieht mich aus dunklen Augen an. »Besonders Gesundheit. Das wünschen wir dir alle am meisten.«

Ich schlucke. »Ich mir auch.«

»Dann puste doch endlich die Kerzen aus!«, ruft Sina aufgeregt und rückt ihre Mütze zurecht. »Sonst erledigt das der Wind für dich und der muss sich ja wirklich nichts wünschen.«

»Außerdem will ich Kuchen«, verlangt ein kleiner Junge, der im Rollstuhl neben dem Büfett sitzt. Auch die anderen klatschen jetzt, um mich zum Ausblasen zu animieren.

Ich gebe Sina das Messer zurück, humple auf meinen Gehstützen noch näher und Jakob schiebt den quietschenden Infusionsständer hinter mir her. Bislang läuft nur Wasser.

Ich hole tief Luft und puste die neunzehn Kerzen auf dem Apfelkuchen mit einem Mal aus. Dann kneife ich die Augen zusammen, kurz ist es still, bis der Rauch Richtung blauen Himmel verflogen ist. Es wissen eh alle, was ich mir gewünscht habe.

Jetzt brechen sie in Jubel aus, und plötzlich steht Frau Dr. Fenn neben mir. Sie ist zwar nicht meine Ärztin, sondern die von Luise und Sina, aber trotzdem ist sie mir in den vergangenen Monaten ans Herz gewachsen.

»Alles Gute«, sagt sie und schüttelt mir die Hand. Sie sieht fast ein bisschen gerührt aus. »Das ist schon eine besondere Geburtstagsparty hier, weißt du? Das haben wir auf der Station nicht so oft.«

»Sina und Luise haben alles organisiert«, erkläre ich. »Ich wusste von nichts, bis sie mich eben auf die Dachterrasse gebracht haben.«

Frau Dr. Fenn nickt den beiden zu. »Ich weiß. Ihr seid wirklich gute Freundinnen, ihr drei.«

Sina hebt den Daumen, aber Luise hört es nicht, sie steht am Geländer, hat die Mütze vom Kopf gezogen und blickt die fünf Stockwerke nach unten. Eine lange Narbe glänzt an ihrem Hinterkopf. Diese Stelle ist noch immer kahl, aber weiter vorne wächst bereits ein feiner rötlicher Haarflaum. Ich betrachte die Narbe zum ersten Mal ganz genau, doch Sina knufft mich in die Seite.

Sie erledigt das mit dem Anschneiden dann doch selbst und tut mir von jedem Kuchen ein kleines Stück auf. Entschlossen drückt sie mir den überfüllten Teller in die Hand. »Hier, du musst alle probieren. Morgen ist dir eh wieder schlecht, also nutz die Chance!«

Sie hat recht, deshalb fange ich direkt an zu essen. Meine Eltern unterhalten sich jetzt mit Pfleger Sven, Hatice geht wieder rein, sie muss sich um die kleinen Patienten kümmern, und auch Frau Dr. Fenn verabschiedet sich. Alle Kinder, die fit sind, stehen jetzt auch mit Kuchen in der Hand herum. Später wollen wir noch mal über die Station gehen und die Leute in den Zimmern fragen, ob sie auch etwas davon haben möchten.

Es ist der verrückteste Geburtstag, den ich je hatte. Im Angesicht von Angst, Tod und Verlust feiern wir, dass ich neunzehn Jahre alt geworden bin. Hoffentlich nicht mein letzter Geburtstag. Nächsten Monat werden wir mehr wissen, doch schnell verdränge ich den Gedanken.

Meine Eltern kommen rüber und nehmen mich ganz fest in den Arm.

»Alles wird gut«, murmelt mein Vater. Das sagt er öfter.

Wir sind noch etwa eine Viertelstunde draußen, dann ruft Sina: »Brr, mir wird kalt, lasst uns reingehen.«

Meine Eltern balancieren den vollen Tisch durch den Pflegestützpunkt auf den Flur bis in den Gemeinschaftsraum. Jakob schnappt sich die Ballons, und Svea hat die Porzellanteller vorsichtshalber vom Büfett genommen und trägt sie hinterher.

Nach zwei Minuten ist nicht mehr zu erkennen, dass wir gerade hier draußen waren und gefeiert haben, die ganze Kinderonkologie an einem sonnigen Tag im Februar.

Da ist er wieder, der fiese helle Fleck, der alles bedeuten kann. Ich kneife meine Augen zusammen und halte mir den Papierausdruck dicht vor die Augen. Graue Schlieren mit dunklen und hellen Schattierungen. Viele Male habe ich diese CT-Bilder schon gesehen, erkennen kann ich trotzdem nichts. Ich muss völlig darauf vertrauen, dass die mir gegenübersitzende Ärztin recht hat. Sie sieht mich ernst aus grünen Augen an.

Am liebsten würde ich von dem unbequemen Stuhl im fensterlosen Büro aufspringen und den Raum verlassen. Doch das geht nicht. Mama hält meine Hand so fest, dass ich mich nicht losreißen könnte, so schlapp wie ich gerade bin.

»Sina, ich wünschte, ich könnte dir etwas anderes sagen, aber leider hast du ein Rezidiv. Der Krebs ist zurück.«

Mein Blick verschwimmt, ich beginne heftig zu atmen, in meinen Ohren nur noch lautes Rauschen. Ich sehe die wie auf stumm gestellten Mundbewegungen der Ärztin, will etwas sagen, doch meine Kehle ist so trocken, dass nur ein heiseres Husten rauskommt. Dann steigen mir die Tränen in die Augen, eindeutig Wuttränen, ich kann das unterscheiden. Das habe ich gelernt. Instinktiv greife ich mir an den dicken Knubbel am Hals und ziehe meine Finger schnell wieder zurück. Meine Ohren beruhigen sich, ich kann wieder hören.

Mama neben mir schluchzt laut auf und krallt ihre Hand in meiner fest, sodass es wehtut. Geahnt haben wir es schon, doch jetzt ist daraus Gewissheit geworden.

»Hör auf«, fahre ich sie mit viel zu hoher Stimme an, und sie beginnt, noch lauter zu heulen. Das ist immer das Schlimmste daran. Meine leidenden Eltern.

Ich löse ihre Finger einzeln von meinen und starre die Ärztin böse an.

»Sina, willst du einen Moment rausgehen?«, fragt sie mit weichen Augen, doch ich schüttle den Kopf.

»Bloß nicht«, zische ich mit Blick auf meine zusammengesunkene Mutter und wische mir eine Träne aus dem Auge. Ich setze mich wieder und versuche, Mama zu ignorieren. Ich muss mich jetzt einfach durchbeißen.

»Was heißt das für mich?«, frage ich und ich klinge wieder erstaunlich gefasst, das höre ich selbst.

Meine neue Ärztin seufzt. Dr. Lara Fenn lese ich auf ihrem weißen Kittel. »Das heißt, dass wir über neue Chemotherapien reden müssen. Und zwar möglichst bald.«

Ich starre in die helle Schreibtischlampe, bis vor meinen Augen blaue Flecken tanzen. »Okay«, sage ich.

Ein Jahr ging alles gut. Und jetzt das.

Wir verbringen noch eine weitere Stunde bei der Ärztin im Sprechzimmer.

Meine Mutter ist irgendwann so weit, sich wieder in das Gespräch einzuklinken. Immerhin bin ich erst vierzehn und kann das nicht allein regeln.

Ein Jahr lang dachte ich, der Horror sei vorbei. Eine neue Schule, eine Klasse wiederholen, aber immerhin zurück ins normale Leben. Meine blonden Haare reichen mir inzwischen bis auf die Ohren und ich kann sie schon fast zu einem Zopf binden.

Die Worte der Ärztin strömen an mir vorbei, ich fühle mich wie in einem übertrieben dramatischen Film. Warum schon wieder ich?

Alles, was ich verstehe, ist, dass wir eine andere Therapie ausprobieren werden als das letzte Mal. Ich bin ein Sonderfall. Ein ungewöhnliches Lymphom, das normalerweise typisch für alte Leute ist. Schon bei der ersten Diagnose waren alle überfordert. Immerhin ist dieses Krankenhaus größer als das letzte und sie hatten schon ähnliche Fälle wie meinen.

Wir verabschieden uns. Frau Fenn sieht mir mit festem Blick ins Gesicht und nickt mir aufmunternd zu. Ihr Lid zuckt. Sie ist kaum größer als ich.

Obwohl ich mich schlapp fühle und allein das Blut schon gezeigt hat, dass mein Tumormarker wieder ordentlich gestiegen ist, steuere ich mit verkniffenem Gesicht auf die Krankenhaus-Cafeteria zu. Meine Schritte hallen auf dem glatten Marmorboden. Draußen scheint die Sonne voll böser Ironie. Meine Mutter trottet weinend hinter mir her.

Ich setze mich in der großen Halle an einen runden Tisch und warte, bis sie ebenfalls ankommt.

»Wir schaffen das noch mal«, sagt sie und blickt mich aus kleinen roten Augen an.

Ich zucke die Schultern. »Wir überhaupt nicht. Wenn dann ich.« Ich weiß, dass die Worte sie treffen und ich lege es darauf an. Weil ich in diesem Moment fies und gemein bin. Aber so ist es doch. Alle sagen wir, aber eigentlich geht es um mich, Sina, 14 Jahre alt, achte Klasse, Lymphom mit Rückfall.

Mama zückt ihr Handy. »Wir rufen jetzt Papa an«, entscheidet sie mit gepresster Stimme.

In der Cafeteria riecht es nach Pommes, die Patienten und ihre Gäste murmeln durcheinander, neben uns sitzt eine fröhliche Familie, die Tochter trägt einen Arm in Gips. Ich schaue mir diese glücklichen Leute an. Es ist, als würde ich durch ein Bilderbuch blättern. So viel Freude. Ich ertrage das nicht und schließe kurz die Augen. Die Worte meiner Mutter dringen zu mir durch.

»Ja, hat sich bestätigt … genau … nächste Woche wahrscheinlich … nein, ich kann nicht fahren. Wir kommen mit dem Zug und holen das Auto ein andermal ab … bis später.« Sie legt auf, strafft die Schultern und hat endlich aufgehört zu weinen. »Wir fahren heim und besprechen alles. Komm jetzt.«

Sie gefällt mir besser, wenn sie einfach die Entscheidungen trifft. Schließlich ist sie die Mutter, nicht ich.

Wir verbringen den Abend zu dritt. Auch Papa weint, aber nur kurz, dann wird er wieder pragmatisch und zückt seinen Terminkalender. Damit kann ich umgehen. Wir setzen uns um den niedrigen Wohnzimmertisch auf die weiße Couch und beginnen zu planen.

»Die Ärztin hat vorgeschlagen, dass die Therapie möglichst Anfang nächster Woche startet und der Lymphknoten vorher rauskommt. Sina muss stationär bleiben, mindestens eine Woche. Es gibt ein Gästehaus für Eltern. Eine Person sollte immer mitfahren.«

Ich höre nur zu. Meine Aufgabe ist mal wieder, alles auszuhalten. Um den Rest sollen sich die Erwachsenen kümmern. Auf meiner neuen Schule habe ich eh noch keine richtigen Freundinnen gefunden, da ist es auch nicht so schlimm, dass mein Krankenhaus etwa zwei Autostunden weit weg ist. Lisa, meine beste Freundin, macht ein Auslandsjahr in den USA. Ihr muss ich es sagen, sonst niemandem. Mit dem Turnen konnte ich in den letzten Monaten noch nicht wieder anfangen, weil ich zu schlapp war.

Ich spiele an den Bändern meiner gemütlichen Hose. Diese Hosen, denke ich, die werde ich jetzt wieder öfter anziehen. Eine einzelne Träne steigt mir ins linke Auge und ich zwinge mich, sie nicht wegzuwischen. Ansonsten werden meine Eltern darauf aufmerksam, die gerade heiß darüber diskutieren, wie sie meine Betreuung am besten aufteilen und wie sie das mit den Jobs klären. Ich streiche mir über mein nachgewachsenes Haar, das mir bald ausfallen wird. Nicht so schlimm, denke ich bitter. Alles nicht so schlimm.

Jakob zieht den Rollkoffer hinter sich her in das Doppelzimmer. Die Sonne scheint und weil die Kinderkrebsstation im vierten Stock liegt, ist es hier oben überall unerträglich heiß. Ich schwitze. Die Stelle unter meinem Schlüsselbein, wo gestern der Port eingesetzt wurde, schmerzt. Ein großes Pflaster klebt darüber. Hinter meinem Bruder mit dem Koffer laufen meine Eltern, und Mama beginnt, überschwänglich das Zimmer zu loben.

»Schau mal, Luise, was für eine schöne Aussicht du hast!« Sie tritt zum Fenster und schüttelt die roten Locken, tut so, als ginge es um einen Hotelbesuch und um eine besonders gelungene Ausstattung.

Aber ich sage nichts. Meine Eltern hatten es die letzten Wochen schwer genug.

Jakob grinst mich an. »Fensterseite«, sagt er und knufft mich.

»Au!«, rufe ich und boxe zurück.

»Jakob! Vorsicht!«, mahnt mein Vater. Seit der Krebsdiagnose vor einigen Wochen behandeln mich alle, als wäre ich aus Porzellan. Und seit vor zwei Wochen die erste Chemo lief, sowieso.

»Schon okay«, winke ich ab und lasse mich auf das Bett an der Fensterseite fallen. Sonne fällt in meine Augen und ich kneife sie rasch zusammen. Das andere Bett, auf der Seite mit den geschmacklos braunen Einbauschränken, ist im Moment weg. Meine Mitbewohnerin ist demnach irgendwo im Haus unterwegs. An den Fenstern kleben alte Window-Color-Bilder, wohl so fest, dass niemand sie jemals entfernen wird. Ein kläglicher Versuch, die Kinderstation bunt zu gestalten, aufgesetzte gute Laune auch an den Fensterscheiben.

Meine Eltern lassen sich auf den beiden Stühlen nieder, die um einen Tisch stehen.

Jakob fläzt sich zu mir aufs Bett. »Und jetzt?«, fragt er.

»Warten«, sage ich und streiche mir gedankenverloren durch die roten Locken. Einzelne Haare bleiben zwischen meinen Fingern hängen. Mein Haaransatz ist seit den ersten Chemo-Medikamenten ein Stück nach oben gerutscht. Schnell ziehe ich die Hand zurück.

Meine Mutter guckt sich verständnislos um. Sie war bei meiner ersten Chemo vor zwei Wochen nicht dabei, insgesamt sind mindestens sechs Chemo-Zyklen geplant. Jetzt bin ich erst beim zweiten.

Dass meine Eltern gemeinsam hier sind, an einem Ort, in einem Raum, ist ein Wunder. Seit der Trennung vor zwei Jahren vermeiden sie jede Begegnung. Und ausgerechnet jetzt hat sich herausgestellt, dass der angeblich gutartige Hirntumor in meinem Kopf bösartig war. Sie versuchen wirklich, sich zusammenzureißen, aber ich sehe, wie schwer es meinem Vater fällt, Mama in diesem Moment nicht zurechtzuweisen.

»Es dauert eine Weile, weil sie mir noch Blut abnehmen müssen, um verschiedene Werte zu checken.«

»Ah …«, sagt meine Mutter etwas verwundert.

»Weil die Therapien diese Organe belasten und die weißen Blutkörperchen wichtig für das Immunsystem sind«, fährt mein Vater dazwischen und schiebt seine Brille nervös nach oben. Er hat sich gut eingelesen.

»Und sogar wenn die Werte da sind, dann muss die Therapie frisch herbestellt werden und letztes Mal waren es drei Tage, bis es hier überhaupt losging.«

»Ach ja.« Sie nickt und zieht die blasse Stirn kraus. »Das hat gedauert, bis du den Termin hattest, richtig.«

»Genau. Aber jetzt habe ich ja den Port«, ich deute auf das Pflaster unter meinem Schlüsselbein, »der sitzt unter der Haut und ab sofort bekomme ich die Therapie immer darüber.«

Mutter aufgeklärt, alle sind jetzt auf demselben Stand.

Jakob nickt bekräftigend. Er ist zwei Jahre älter als ich, und als nach der OP vor wenigen Wochen bei der Biopsie rauskam, dass es entgegen der Erwartungen ein bösartiger Tumor ist, hat er sich durch das ganze Internet gegoogelt, um mir zu helfen. Krebsdiagnose mit sechzehn. So habe ich mir mein Teenagerleben bestimmt nicht vorgestellt.

Ich selbst verbiete mir Google. Ich will keine Prognosen und Chancen sehen. Die Ärztin hat mir gesagt, dass ich gute Chancen habe, auch wenn mein Alter für diesen Hirntumor ungewöhnlich ist. Die meisten anderen Patienten sind deutlich jünger. Diese Infos reichen mir. Jakob erzählt mir nichts von seinen Google-Ergebnissen, sondern nur, was gegen Übelkeit besser helfen kann und wie ich meine Mundschleimhaut pflegen soll, damit sie durch die Medikamente nicht kaputt geht.

Ich stehe wieder vom Bett auf und beginne, meinen Koffer auszupacken.

Sofort drängt sich Mama dazwischen und will das übernehmen.

»Christiane!«, zischt mein Vater. »Lass sie …«

»Aber hör mal …«, beginnt sie, doch Jakob ist es, der dazwischengeht.

»Alle beide, stopp jetzt!« Sein Ton ist durchdringend. »Gebt euch Mühe!« Er funkelt sie aus seinen dunklen Augen böse an.

Schuldbewusst blicken sich meine Eltern kurz ins Gesicht. Sie wollen das nicht, aber immer wieder geraten sie in Streit.

In dem Moment kommt zum Glück eine Schwester rein, die ich noch nicht kenne.

»Hallo, Luise«, begrüßt sie mich und zwinkert mir zu. »Ich bin Hatice und ich bin bis heute Abend da. Brauchst du etwas?« Sie stellt eine Mundspülung auf den kleinen Tisch.

»Nee, danke«, sage ich. »Wann starten wir denn?«

Hatice seufzt. »Im Moment ist viel los auf der Station, und Frau Dr. Fenn sitzt unten in der Ambulanz. Der Port sollte besser von einer Ärztin angestochen werden.«

Das klingt tatsächlich nach Warten. Vielleicht geht es wieder erst morgen los.

»Kann ich mich denn unten in die Ambulanz setzen und den Port anstechen lassen?«

Meine Eltern starren mich an. »Schatz, willst du es nicht etwas ruhiger …« Meine Mutter beendet den Satz nicht.

»Ich bin doch fit. Wenn es schneller geht, setze ich mich in die Ambulanz, Frau Fenn soll die Portnadel reinstechen und dann geht es weiter mit Blut abnehmen und hoffentlich bald Chemo.«

Hatice lächelt und nickt meinen Eltern zu. »Sie hat es kapiert.«

»Dann geh ich runter. Ich werde die nächsten Tage eh so viel an Schläuchen hängen, noch kann ich selbst rumlaufen.«

Meine Mutter seufzt, mein Vater schaut sie böse an, und Jakob rollt mit den Augen. Und dann trotten alle drei hinter mir her zum Aufzug.

Ich habe es noch immer nicht geschafft aufzustehen. Leute verschiedenen Alters hetzten an mir vorbei oder humpeln, Ärztinnen in Kitteln und Pfleger in blauen Anzügen. Die Luft hier im Flur ist schlecht, zum Schneiden dick, aber jetzt weiterzugehen würde alles nur real machen. Ich habe meinen dunkelbraunen Zopf geöffnet, damit ich mein Gesicht hinter dem langen Haar verstecken kann.

Eben habe ich meine Onkologin Frau Dr. Kowalski kennengelernt. Groß, blonde Haare, ruhig und nicht sehr alt. Sie wirkt kompetent auf mich, auf jeden Fall im Gegensatz zu dem Chirurgen, der mir gestern die Nachricht verkündet hat.

»Werfen Sie die Flinte nicht ins Korn, Frau Bauer, das kann schon wieder werden. Achtzig Prozent in Ihrem Alter schaffen es.«

Seitdem geistert die Zahl durch meinen Kopf. Zwanzig Prozent schaffen es nicht. Was, wenn ich zu diesen zwanzig Prozent gehöre?

Die Onkologin im fensterlosen Sprechzimmer hat nicht über Zahlen gesprochen, sondern über Therapien. Die Wachstumsquote ist nicht sehr hoch und wir müssen erst in zwei, drei Wochen starten. Sie hat mir einen Termin im Kinderwunschzentrum gemacht, ich soll Eizellen einfrieren. Chemotherapie macht oft unfruchtbar. Das wusste ich nicht. Morgen gehe ich hin, in diese besondere Klinik.