1813 - Kriegsfeuer - Sabine Ebert - E-Book
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1813 - Kriegsfeuer E-Book

Sabine Ebert

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Beschreibung

"1813 - Kriegsfeuer" von Sabine Ebert ist ein enhanced eBook und enthält viele attraktive Zusatzmaterialien. Durch das umfangreiche, eigens für das eBook aufbereitete Kartenmaterial lassen sich die Orte des Geschehens komfortabel lokalisieren. Zudem werden spannende Fakten und Hintergründe zum historischen Roman mittels Kurzbiografien ausgewählter Persönlichkeiten, Informationen und Illustrationen zu den Uniformen um 1813, Wissenswerten zum Lazarettwesen und der Mode in der napoleonischen Zeit sowie Originalzeitungsdokumenten näher beleuchtet. Frühjahr 1813: Europa stöhnt unter Napoleons Herrschaft. Nach der dramatischen Niederlage der Grande Armée gehen Preußen und das Zarenreich zum Gegenangriff über. Im ausgebluteten Sachsen müssen die Menschen Entscheidungen treffen, die ihr Leben unwiderruflich verändern werden: eine Mutter, die verzweifelt auf die Rückkehr ihrer Söhne hofft, ein General, der seinen Kopf riskiert, damit sich Sachsen den Alliierten anschließt, eine Gräfin, die aus Liebe zur Spionin Napoleons wird, zwei Studenten, die zu den Lützowern wollen, die junge Henriette auf der Flucht vor Plünderern. Die Menschen ersehnen den Frieden, während die Herrscher insgeheim Europa längst unter sich aufgeteilt haben und so eine gewaltige Schlacht heraufbeschwören …

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Seitenzahl: 1272

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Sabine Ebert

1813 - Kriegsfeuer

Roman

Knaur e-books

Inhaltsübersicht

[Karte Europa][Karte Feldzüge]WidmungPrologERSTER TEILUnerwarteter BesuchGespräche bei TischIn Blüchers HauptquartierDas SchlachtfeldDisput bei NachtGehen und KommenDie FestungGewissensentscheidungDer Fall der StadtVor brennenden LuntenAppell an den KönigDie Einnahme DresdensDer Befehl zur ÜbergabeDie Rückkehr des KönigsEinquartierungEin Gespräch über PreußenSchreckmomenteEin Gespräch über FrankreichAuf der anderen SeiteEin Abschied und noch einerVorwürfe und FragenSchlacht bei BautzenRückzugsgefechteZWEITER TEILHusarenstreichRheinbündlerEin Geständnis und zwei KleiderGewagtes ManöverEin Streit, ein Segen und eine unerwartete BegegnungDer Krieg und die MusenGemeinsame PläneSchlechte NachrichtenWaffenstillstand?SchießbefehlHoffnung und SchreckenDer Plan des KaisersGefährlicher DankOhne jede ChanceDie GefangenenStrafmaßnahmenSchlechte NachrichtenGejagtDemarkationslinieGute Freunde aus ParisDer Feldherr und der DiplomatHöhere DiplomatieDer öffentliche Frieden und der heimliche KriegAuerbachs KellerFrühstück bei NapoleonDer Preis des RuhmsZahltagDer erste BallTotentanzVorgeplänkelLebewohlDRITTER TEILUnterwegs mit der Grande ArméeSchlechte Nachrichten für den KaiserDie Schlacht um die HauptstadtEin schwarzer Tag für die VerbündetenDer Krieg vor den Toren der StadtLandsleuteDer König von NeapelBitterer SiegKleiner KriegAlte BekanntschaftenUnruhige ZeitenDer Aufruf des KönigsDer Feind Nummer 1AnzeichenBlutige EhreSühneDie EntscheidungDas Inferno beginntFlucht in die NachtDer Tag vor der SchlachtWieder ein AbschiedVorbereitungenTruppenrevueTödlicher FehlerSiegesgeläutDie letzte ReservePreußen vor MöckernGeheime MissionLeipzig, 17. Oktober 1813AufmarschpläneAm EndePetit angeSchicksalsstundenÜberläuferDes Königs SchlafSieger und VerliererEin Laib BrotDie FluchtBarmherzigkeitDie Brücke über die ElsterSiegesparadeNachwortDanksagungKleine Auswahl weiterführender LiteraturempfehlungenDramatis PersonaeGrande ArméeSachsenPreußenRusslandÖsterreichSchwedenGlossarBonusKurzbiografien ausgewählter PersönlichkeitenGrande ArméeSachsenPreußenRusslandÖsterreichSchwedenUniformen zur Zeit NapoleonsFrankreichSachsenPreußenÖsterreichWestfalenBayernPolenGroßbritannienSchwedenRusslandBaschkiren, Kalmücken, Tataren, MameluckenDas Lazarettwesen um 1813Die Mode in der napoleonischen ZeitKurz gefasst: Die Kleidung der Frauen im EmpireKurz gefasst: Die Kleidung der Männer im EmpireOriginaldokumente der »Leipziger Zeitung« und der »Freyberger Gemeinnützigen Nachrichten«Leipziger Zeitung vom 14. Juni 1813Leipziger Zeitung vom 14. Juni 1813Leipziger Zeitung vom 14. Juni 1813Leipziger Zeitung vom 14. Juni 1813Leipziger Zeitung vom 14. Juni 1813Leipziger Zeitung vom 14. Juni 1813Leipziger Zeitung vom 14. Juni 1813Leipziger Zeitung vom 14. Juni 1813Freyberger Gemeinnützige Nachrichten vom 13. Mai 1813Freyberger Gemeinnützige Nachrichten vom 20. Mai 1813Freyberger Gemeinnützige Nachrichten vom 15. Juli 1813Freyberger Gemeinnützige Nachrichten vom 15. Juli 1813Freyberger Gemeinnützige Nachrichten vom 15. Juli 1813Freyberger Gemeinnützige Nachrichten vom 12. August 1813Literatur
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Europa unter Napoleon

 

Diese Karte finden Sie auch unter: http://ebooks.droemer-knaur.de/1813/map

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Frühjahrs- und Herbstfeldzug 1813 bis zur Völkerschlacht

Eine interaktive Karte mit allen wichtigen historischen Geschehnissen aus 1813 sowie zahlreichen Schlachtverläufen finden Sie unter: http://ebooks.droemer-knaur.de/1813/map

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»Das ist ja eine wahre Völkerschlacht«, soll ein preußischer Offizier während des mörderischen Kampfes im Oktober 1813 bei Leipzig geäußert haben.

Der Name hielt sich bis heute. Doch der Offizier irrte.

Nicht die Völker kämpften hier gegeneinander. Dies war ein Krieg skrupelloser Herrscher um Macht und Land. Einig waren sie sich nur darin, dass keines der Ideale Wirklichkeit werden durfte, für die ihre Bürger kämpften und starben.

So ist dieser Roman kein Urteil über Nationen.

Er soll an die Menschen aus vielen Völkern erinnern, die aus blanker Gier verraten und geopfert wurden.

 

#

 

 

 

 

In memoriam Thomas Friedrich

Wir vermissen dich so.

 

 

 

 

 

 

 

Fast alle Personen, die in diesem Buch vorkommen, haben tatsächlich gelebt. Und obwohl dies ein Roman ist und kein Sachbuch, hält sich meine Geschichte so genau wie nur möglich an ihre Lebensläufe und Lebenszeugnisse. Auch sämtliche Zeitungsberichte, Proklamationen und Briefe historischer Persönlichkeiten sind Originaltexte.

Ein Personenverzeichnis befindet sich im Anhang.

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Prolog

Blücher überschreiten die Oder?«, brachte Friedrich Wilhelm III., König von Preußen, fassungslos in seiner eigentümlichen Sprechweise heraus.

Sofort begann sein rechtes Lid nervös zu zucken. Schon wieder zwang ihn einer seiner Generäle durch unerhörte Eigenmächtigkeit zum Handeln!

Erst Yorck, der ohne Erlaubnis im Dezember 1812 einfach Neutralität zwischen Russland und Preußen vereinbarte. Was ihn, den König, dazu nötigte, vom erzwungenen Militärbündnis mit Frankreich abzufallen und Napoleon Bonaparte den Krieg zu erklären. Ausgerechnet Bonaparte, der Preußen 1806 fast völlig vernichtet und nahezu ganz Europa unterworfen hatte!

Er hätte diesen Yorck wegen Insubordination in Festungshaft schicken sollen. Wäre nicht das erste Mal für ihn gewesen …

Und nun gab dieser verrückte alte Blücher die befohlene Wartestellung in Schlesien auf, marschierte mit seiner Armee über die Oder und würde damit auch die Österreicher und Schweden zum Vorrücken bringen!

Jetzt ließ sich die Entscheidungsschlacht um Europa nicht mehr aufhalten. Er musste achtgeben, dass die ganze Sache nicht in einen Volksaufstand mündete. Am Ende gar in eine Republik mit einer Verfassung, wie es vom Stein und noch ein paar Hitzköpfe forderten! Niemals!

Doch wenn er schon Krieg führen musste, konnte er sich wenigstens für die jahrelangen Demütigungen rächen und Preußen wieder zu einer respektierten Macht in Europa werden lassen. Und sich bei der Gelegenheit Sachsen einverleiben. Ein Stück von Polen sollte auch bei diesem Handel herausspringen – so viel, wie ihm der russische Zar überließ.

Milde beruhigt und getröstet durch diesen Gedanken, straffte sich Friedrich Wilhelm und fing an, eine Melodie zu summen. Ja, er würde wohl heute noch einen Marsch komponieren.

 

»Genug des Wartens, wir schlagen gemeinsam mit den Preußen los!«, befahl der Kaiser von Russland, Zar Alexander. »Wir haben Bonaparte und seine Grande Armée aus Russland verjagt, und wir werden sie noch viel weiter zurücktreiben, bis an die Gestade des Atlantiks.«

Ein triumphierendes Lächeln zog über sein junges Gesicht, als er daran dachte, wie sich die Überreste des napoleonischen Heeres durch die eisigen Weiten Russlands schleppten. Als schon alles verloren schien, hatten seine Truppen den Mythos von der Unbesiegbarkeit der Grande Armée zerstört.

Er hatte sein Volk zum Vaterländischen Krieg gegen den leibhaftigen Antichristen gerufen. Und der ließ sich täuschen, hielt ihn immer noch für einen verspielten Welpen. Doch jetzt stand ihm der russische Bär gegenüber, die Tatzen zum Angriff erhoben.

Wenn er, der Zar, als Sieger in Paris Einzug hielt, würde er nicht nur der mächtigste Herrscher Europas sein, man würde ihn auch als den Retter Europas feiern. Und die schönsten Frauen lägen ihm zu Füßen.

Kutusow war tot, also würde er diesmal selbst seine Truppen anführen. Deshalb schob der Zar den Gedanken an die polnische Geliebte für den Moment beiseite und rief seinen Generalstab zusammen.

 

»Mein lieber Metternich!«, sagte Kaiser Franz von Österreich mit strahlendem Lächeln und löste den Blick von seinen neuesten Herbarien. »Sie haben mir nun genug Zeit herausdiplomatiert, damit wir weitere Soldaten ausheben und die Kavallerie verstärken konnten. Jetzt sollten wir sie ins Feld führen und diesem korsischen Emporkömmling Paroli bieten. Aber der Schwarzenberg soll den Oberbefehl über alle drei Armeen haben: unsere, die Schlesische und die Nordarmee. Sonst machen wir nicht mit.«

Ihm selbst war nach der furchtbaren Niederlage von Austerlitz im Dezember 1805 die Lust auf Schlachten vergangen.

Schwarzenberg taugt nicht zum Heerführer, dachte der Graf von Metternich ganz nüchtern. Doch nur mit einem eigenen Mann an der Spitze können wir den Ausgang dieses Krieges bestimmen und dafür sorgen, dass die monarchische Ordnung Europas wiederhergestellt wird. Russland und Preußen dürfen nicht zu stark werden, Frankreich nicht zu schwach, damit es sich gegen beide behaupten kann. Sonst verliert Österreich seinen Einfluss und Europa das Gleichgewicht der Kräfte. Doch er sprach diese Gedanken nicht aus, die dem Kaiser ohnehin vertraut waren, sondern verneigte sich tief.

Franz I. lächelte immer noch. »Meine braven Böhmen und Ungarn schicken wir zuerst in den Angriff.«

 

»Wir vereinigen uns mit Blüchers Schlesischer Armee!«, befahl Kronprinz Karl Johann von Schweden, mit bürgerlichem Namen Bernadotte, ehemaliger Marschall der Grande Armée.

Nun war Blücher also nicht mehr sein Gegner, sondern sein Verbündeter. Und sein einstiger Freund und Kaiser der Feind. Wie ein Stachel im Fleisch wühlten in Bernadotte immer noch die beleidigenden Worte, mit denen Napoleon ihm die Schuld an den Verlusten in den Schlachten bei Aspern und Wagram im Mai und Juni 1809 gegeben hatte. Und abermals lebte die Erinnerung auf, mit wie viel Sturheit und Stolz der alte Haudegen Blücher noch nach der preußischen Niederlage bei Jena und Auerstedt Widerstand geleistet und für seine Truppen Kapitulationsbedingungen erzwungen hatte. Das nötigte ihm, Bernadotte, damals so viel Respekt ab, dass er dem Besiegten den Degen zurückgab.

Doch als Adoptivsohn des Königs von Schweden hatte er zuallererst schwedische Interessen zu wahren. Also mitzukämpfen, wofür Schweden Norwegen bekommen würde, das noch zum napoleonischen Dänemark gehörte, und dafür zu sorgen, dass möglichst viele seiner Soldaten überlebten. Mit zusammengezogenen Augenbrauen wies er deshalb seinen Stabschef an: »Unsere Truppen sollen nicht zu schnell marschieren. Wir lassen die Preußen, Österreicher und Russen den ersten Angriff führen.«

 

Napoleon Bonaparte, Kaiser der Franzosen und Herrscher über nahezu ganz Europa, zeigte sich nicht im Geringsten beunruhigt, als ihm sein Generalstab von den Truppenbewegungen der feindlichen Armeen berichtete.

»Der König von Preußen ist ein Holzkopf und Schwächling, selbst seine Luise hatte mehr Schneid!«, rief er und schnaubte verächtlich. »Der Zar ist ein Weiberheld und ein Träumer, dessen einzig tauglicher Marschall begraben liegt, und der Kaiser von Österreich mein Schwiegervater. Der wird nicht gegen mich kämpfen. Und was Bernadotte angeht – der Verräter hat nicht die Courage, gegen mich anzutreten. Keiner von denen hat sie. Niemand bezwingt Napoleon!«

Wütend hieb er mit der Faust auf den Kartentisch, dann streckte er das Kreuz durch und verschränkte die Hände hinter dem Rücken.

»Wir ziehen alle Truppen zusammen, die wir aufbieten können. Diesmal schicken wir auch die Garden ins Feuer. Und bringt mir umgehend den sächsischen König! Ich muss dem ängstlichen alten Mann noch einmal einschärfen, dass uns der Sieg sicher ist, damit er treu bei Fuß bleibt.«

 

Ohne zu ahnen, dass die anderen Herrscher gerade Gleiches taten, schritten der Kaiser von Frankreich, der König von Preußen, der Zar von Russland, der Kaiser von Österreich und der Thronerbe von Schweden an einen Tisch mit ausgebreiteten Karten. Unabhängig voneinander suchte jeder von ihnen den Ort, an dem die entscheidende Schlacht stattfinden würde. Fast zur gleichen Zeit stießen sie mit dem Zeigefinger auf einen Punkt, der die logische Wahl für den Austragungsort dieser Schlacht war – die Tiefebene um Leipzig, flussreich und mit guten Straßen in alle Richtungen.

Unabhängig voneinander berechneten sie auch den wahrscheinlichsten Tag für den Beginn der Schlacht: den 16. Oktober 1813.

Mehr als eine halbe Million Männer würden sich dort gegenüberstehen und kämpfen, mehr als je zuvor in der Geschichte der Menschheit. Diese Schlacht sollte vier Tage andauern und hunderttausend Leben kosten.

Eine neue, schreckliche Dimension des Tötens.

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ERSTER TEIL

FRÜHLING DES KRIEGES – ZEIT DER ENTSCHEIDUNGEN

Unerwarteter Besuch

Freiberg, 3. Mai 1813, Haus des Buchdruckers Gerlach am Untermarkt

Das war ein merkwürdiges Klopfen an der Tür. Beharrlich und dennoch viel zu schwach, als dass dort Militärs Einlass fordern könnten. Aber so aufdringlich würde auch kein Bettler klopfen.

Von dem leisen Hämmern mit jäher Sorge erfüllt, entschied die etwas füllige Hausherrin, selbst nachzuschauen, wer dort vor der Tür stand, obwohl sie schon auf halbem Weg nach oben war und ihr die Füße in den zu engen Schuhen schmerzten. Johanna Christiana Charisius, jung verwitwete Barthel und seit zweiundzwanzig Jahren Ehefrau des angesehenen Buchdruckers Friedrich Gerlach, rückte die mit Spitzen verzierte Haube zurecht, raffte den Rock des blau-weiß gestreiften Kleides und hastete die Treppe wieder hinab.

Auch wenn die Sonne noch so strahlte und alles friedlich schien an diesem Montagmorgen – dies waren unruhige, gefährliche Zeiten, Zeiten des Krieges, und man tat gut daran, sich zu vergewissern, wem man die Tür mehr als nur einen Spalt weit öffnete.

Doch als Johanna die Besucher erkannte, ließ sie vor Schreck die Maiglöckchen fallen, die sie von der Nachbarin mitgebracht hatte.

»Jette! Franz! Was macht ihr denn hier?«, rief sie entgeistert. Die siebzehnjährige Nichte und ihr kleiner Bruder sollten jetzt eigentlich hundert Kilometer von hier entfernt in Weißenfels sein, in ihrem Zuhause.

Und wie die beiden aussahen – völlig erschöpft und abgemagert! Henriette wirkte geradezu verzweifelt, der zehnjährige Franz, den sie fest an der Hand hielt, schien vor Müdigkeit fast umzufallen. Jettes Gesicht war staubbedeckt, ihr braunes Haar lugte statt unter einem Hut mit hübscher Schleife zerzaust unter einem Wollschal hervor, ihr blauer Mantel war verschmutzt. Wie überhaupt die Kleidung der Geschwister den Eindruck erweckte, als hätten die beiden seit Tagen unter freiem Himmel kampiert.

»Seid ihr etwa den ganzen Weg von Weißenfels hierhergelaufen?«, begriff Johanna fassungslos. »Allein durch Kriegsgebiet? Bist du denn von allen guten Geistern verlassen?!«

Henriette schob ihren Bruder durch den schmalen Türspalt ins Haus, sah ängstlich nach links und rechts und flüsterte dann: »Es ist etwas Schreckliches geschehen, Tante.«

Sie atmete tief durch und sagte noch leiser: »Ich glaube, ich habe jemanden getötet. Einen französischen Soldaten.«

»Kind! Sag doch nicht so etwas!«, hauchte Johanna entsetzt und schlug die Hände vor den Mund.

»Vielleicht war es auch ein Italiener oder Wallone, ich weiß es nicht … Ich hab kein Wort verstanden, als er auf mich einschrie«, wehklagte Jette, während ihr Tränen über die Wangen liefen. »Die kamen aus aller Herren Länder, die in Weißenfels einfielen.«

Hastig zog Johanna Gerlach die vollkommen aufgelöste Nichte ins Haus und schaute ebenfalls rasch noch einmal prüfend nach links und rechts.

Auch wenn die Stadt seit kurzem von Russen und Preußen besetzt war und nicht mehr von den Franzosen, so konnte doch überall die Geheime Polizei lauschen. Mit zittrigen Händen klaubte die Hausherrin die Maiglöckchen vom Treppenabsatz und schloss die Tür hinter sich.

In der Diele rief sie nach der Köchin – so dringend, dass Lisbeth Tröger gleich mit ihrem schweren, watschelnden Gang angelaufen kam, Mehlspuren auf der Schürze und Teigreste an den Händen.

»Nehmen Sie den Franz mit in die Küche und geben Sie ihm etwas zu essen!«, wies Johanna die Köchin an. »Er soll sich waschen und dann erst einmal schlafen. Und schauen Sie, dass sich auch für Fräulein Henriette auf die Schnelle etwas Heißes findet. Oder wenigstens ein paar Butterbrote.«

Die resolute Lisbeth war nicht weniger bestürzt über das verwahrloste Aussehen der Besucher als Johanna. Mütterlich legte sie ihren Arm um die Schulter des Jungen und brummte ihm beruhigend zu: »Wir werden schon etwas für den jungen Herrn finden.«

Trotz aller Müdigkeit huschte ein Lächeln über Franz’ staubverschmiertes Gesicht. Wenn sie hier zu Besuch gewesen waren, hatte Lisbeth ihn und seine Schwester immer vom Kuchenteig naschen lassen oder sie mit anderen Leckereien verwöhnt.

Doch bevor die Köchin den Jungen in die Küche schob, drehte sie sich noch einmal um.

»Darf ich das Fräulein etwas fragen?«, brachte sie ungewohnt verzagt heraus.

Johanna erriet sofort, was nun kommen würde, und sah Lisbeth voller Mitleid an.

»Es heißt, dass Leipzig wegen der Seuchengefahr seine Lazarette nach Weißenfels verlegt hat und nun dort die Verwundeten gepflegt werden, die aus Russland zurückgekommen sind«, begann Lisbeth, die Augen flehend auf Jette gerichtet. »Haben Sie vielleicht einen meiner Söhne gesehen, Fräulein? Der Fritz, der Paul, der Claus und der Wilhelm … Die kennen Sie doch von früher. Sie sind alle bei der Reitenden Artillerie, Batterie Hiller …«

Henriette schüttelte traurig den Kopf. »Nein. Es waren überhaupt keine Sachsen unter denen, die kamen.«

Niedergeschlagen schlurfte die Köchin hinaus.

 

Johanna führte ihre Nichte in den Salon, auch wenn sie normalerweise niemanden in so staubigen und abgerissenen Sachen auf den guten Möbeln sitzen lassen würde. Sie drückte sie auf das Chaiselongue und gab ihr eine Schale mit Gebäck, eine wahre Kostbarkeit in diesen Zeiten. Doch bevor sie sich selbst hinsetzte, lief sie noch einmal zur Tür und rief dem neuen Dienstmädchen zu: »Nelli, hol den Meister aus dem Kontor, rasch! Sag, es ist ein Notfall.«

Dann schloss sie sorgfältig die Tür, ließ sich neben Henriette sinken, die – nur auf der Sofakante sitzend – ausgehungert Biskuitgebäck in sich hineinstopfte, und drängte: »Nun sag endlich, was ist geschehen? Wo ist dein Vater? Weiß er überhaupt, wo ihr beiden steckt?«

Mit einer energischen Bewegung streifte sie die drückenden Schuhe ab, ließ sie auf den Boden poltern und redete weiter, ohne zwischendurch richtig Luft zu holen. »Euer guter Onkel und ich, wir haben uns solche Sorgen um euch gemacht! Man munkelt, es habe gestern Kämpfe südlich von Leipzig gegeben, in eurer Gegend. Eine riesige Schlacht, Preußen unter General Blücher und Russen gegen Napoleon. Deshalb sind auch die Truppen abgezogen, die wir hier als Einquartierung hatten. Doch es gibt noch keinerlei Nachricht, wie die Sache ausgegangen ist.«

Henriette ließ die Schale mit dem Gebäck in den Schoß sinken.

»Die Schlacht hab ich von weitem gehört, den Kanonendonner«, sagte sie mit brüchiger Stimme. »Es war schrecklich. Aber da waren wir schon auf der Flucht, der Franz und ich – seit Freitag.«

»Seit vier Tagen?!« Johanna fiel erneut aus allen Wolken.

»Am Freitag und Samstag wurde schon ganz nah bei Weißenfels gekämpft. Napoleon selbst soll seine Truppen dorthin geführt haben«, berichtete Henriette leise. »Unmengen Soldaten lagerten um die Stadt und mittendrin. Sogar auf dem Marktplatz biwakierten welche.«

Sie holte tief Luft und blickte starr geradeaus, ein paar Tränen wegblinzelnd. »Vater ist tot. Er starb am Dienstag.«

»Das Lazarettfieber?«, rief Johanna erschrocken und rückte instinktiv ein wenig ab, wofür sie sich im nächsten Augenblick schämte. Der Schrecken darüber, die Nichte könnte die gefährliche Krankheit mitgebracht haben, ließ die Nachricht kaum in ihr Bewusstsein eindringen, dass der Schwager gestorben war – ein Buchbinder, dessen Werkstatt in den letzten Jahren gerade das Nötigste für seine Familie einbrachte, weil sich nur noch wenige Kunden die prachtvollen Ausstattungen leisten konnten, auf die er sich so gut verstand.

»Seit wir hörten, dass Leipzig seine Lazarette wegen Überfüllung nach Weißenfels auslagert, fragten wir uns andauernd, wie es euch nun gehen mag«, beteuerte Johanna.

»Es war sein Herz. Der Arzt sagte, es wollte einfach nicht mehr schlagen.« Jette wischte sich die Tränen aus den Augenwinkeln, öffnete den Mund und streckte zum Beweis kurz die Zunge heraus.

»Sieh, keine roten Ränder an der Zunge! Franz und ich, wir wären längst auch krank, wenn es das Lazarettfieber gewesen wäre. Wegen des Krieges und der Seuchen mussten wir Vater schnell beerdigen, ohne euch eine Nachricht schicken zu können. Alles ist anders geworden durch den Krieg. Nichts ist mehr, wie es war.«

Sie stockte, stellte das Gebäck beiseite und senkte den Kopf.

»Da stand ich nun ganz allein und wusste nicht, wie ich den Franz durchkriegen sollte. Ich hatte Angst, ich war verzweifelt. Und dann kam dieser Soldat ins Haus und fing an, alles auf der Suche nach Geld oder irgendetwas Wertvollem zu durchwühlen. Dabei hatten wir gar nichts mehr. Die Stadt ist seit Wochen mit Verwundeten überfüllt – alles Männer, die vom Feldzug aus Russland zurückkehrten. Das waren auch Franzosen, aber wenn man sah, in welch elendem Zustand sie waren, blutete einem das Herz. Wir gaben ihnen von dem wenigen, das wir noch besaßen, damit sie nicht verhungerten, zerrissen Betttücher zu Verbänden. Doch der, der am Freitag in unser Haus kam, der war gesund und wollte nur plündern. Ich flehte ihn auf Französisch an, so viel mir in meiner Angst einfiel, uns zu verschonen, weil wir Waisen waren. Doch das kümmerte ihn nicht.«

Unwillkürlich legte sie eine Hand an den Hals und schluckte mühsam. »Er riss mir das Medaillon mit dem Bild meiner Mutter ab – das Einzige, was mir von ihr geblieben ist … Und dann nahm er unser letztes Brot. Er hielt es mir drohend vors Gesicht und verlangte mehr. Er schrie und drückte mich gegen die Wand … Ich tastete um mich und hielt plötzlich den Schürhaken in der Hand … und damit habe ich zugeschlagen. Er fiel zu Boden, und Blut lief über sein Gesicht. Das … hab ich nicht gewollt.«

Sie spreizte ihre Finger ab und betrachtete sie wie einen fremden Gegenstand. »An meinen Händen klebt nun Blut. Wie soll ich damit leben?«, fragte sie und fiel ihrer Tante schluchzend um den Hals.

»Was macht der Krieg nur aus uns allen?«, murmelte Johanna bedrückt, während sie der Nichte den Rücken tätschelte. Aus der Nähe hatte sie die Würgespuren am Hals des Mädchens gesehen. Dass jener Eindringling am Ende mehr als nur Geld und Brot von Jette verlangt haben könnte, schien dieser gar nicht bewusst zu sein.

Doch dann riss sich die Frau des Buchdruckers zusammen. »Denk nicht mehr daran! Vielleicht war er ja auch nur ohnmächtig und lebt noch. Hier bist du in Sicherheit.«

Sie behielt den Gedanken bei sich, dass es Sicherheit in diesen Zeiten nicht gab. Noch wusste niemand in der Stadt, wie die gestrige Schlacht ausgegangen war. Ob die Verbündeten Napoleon zurück über den Rhein treiben konnten, wie die meisten Menschen hofften, damit endlich Frieden wurde, oder ob der Usurpator die Russen und Preußen erneut besiegt hatte.

Doch ihre Worte erreichten Henriette nicht.

»Wenn ihn seine Leute gefunden hätten, dann hätten sie mich und Franz auf der Stelle umgebracht …«, wehklagte das Mädchen. »Also nahm ich meinen Bruder, dieses letzte Brot und das Medaillon, und wir schlichen uns aus der Stadt hinaus. In meiner Angst konnte ich nicht einmal daran denken, noch ein paar Sachen zusammenzupacken, etwas Kleidung. Wir mussten schnellstens fort. So rannten wir los, einfach nur Richtung Süden, weil es hieß, die französische Armee würde nordwärts nach Leipzig ziehen. Es waren viele Leute auf der Flucht, manchmal hat uns jemand aus Barmherzigkeit auf einem Fuhrwerk ein Stück mitgenommen. Die Preußen, wenn wir auf welche gestoßen sind, ließen uns durch die Linien …«

Sie griff nach der Tasse mit heißer Milch, die Lisbeth mit einem aufmunternden Lächeln gebracht hatte, und umklammerte sie, als könnte sie so die innere Kälte aus sich vertreiben. Dann trank sie hastig aus, sonst würde sie noch anfangen, mit den Zähnen zu klappern. Am liebsten wollte sie weinen und schreien, mit den Füßen aufstampfen und in die Welt hinausschreien, was für ein Irrsinn dieser Krieg war, in dem sich Menschen töteten, die einander nicht einmal kannten – um eines Brotes willen!

Noch vor gar nicht langer Zeit schien ihr Leben geordnet. Der Krieg war weit entfernt, ihrem Vater ging es gut, sie hatte Gedichte geschrieben, Bücher gelesen und davon geträumt, dass einmal ein junger Mann ihr Herz erobern würde. Doch nichts würde jemals wieder so sein. Sie hatte durch ihre Bluttat die Unschuld der Seele verloren und würde nie wieder ein unbeschwertes Leben führen. Und statt Gedichten würden jetzt Kriegsproklamationen gedruckt und gelesen.

»Tante«, bat sie leise und sah Johanna ins Gesicht. »Könnt ihr mich und Franz aufnehmen? Ich werde mich in der Werkstatt nützlich machen. In der Buchhandlung. Oder in der Küche … Ich kann Lettern sortieren oder Korrektur lesen. Der Oheim druckt doch noch seine Gemeinnützigen Nachrichten?«

Johanna seufzte. Sie vergrub die Hände in ihren braunen Locken, zwischen denen erste graue Strähnen schimmerten, ohne zu bemerken, dass dabei das gerüschte Häubchen verrutschte. Dann tätschelte sie die Hände ihrer Nichte, lächelte ihr mühsam zu und sagte: »Kind, begreifst du, wie viel Glück du hattest, lebend hierhergekommen zu sein? Ihr seid direkt vor dem Krieg hergezogen! Es muss gestern Tausende Tote auf beiden Seiten in dieser Schlacht gegeben haben, von der wir noch nicht einmal wissen, wo genau sie stattfand und wie sie ausgegangen ist. Vielleicht ist euer Haus zerstört. Aber mach dir keine Sorgen! Ihr bleibt natürlich hier.«

Sie stemmte sich hoch, rückte die Haube zurecht und trippelte auf Strümpfen zur Tür. »Wo steckt denn nun der Meister?«, rief sie ungeduldig hinaus.

Nelli, das junge Dienstmädchen mit den leuchtend roten Haaren, kam und knickste. »Er ist immer noch im Rathaus, Meisterin. Beim Zensor, die Seiten für die nächste Ausgabe vorlegen.«

Warum muss das ausgerechnet heute so lange dauern?, dachte die Frau des Buchdruckers voller Ungeduld. Aber jetzt muss ich erst einmal dafür sorgen, dass das Mädchen zur Ruhe und auf andere Gedanken kommt. Was für schreckliche Zeiten, wenn schon solche zarten jungen Dinger mit Schürhaken auf bewaffnete Männer losgehen! Ich hoffe, sie vergisst das Ganze. Und dass sie nicht doch noch das Lazarettfieber ins Haus bringt. Gott steh uns allen bei!

Mit einem gespielt munteren Lächeln forderte sie ihre Nichte auf nachzusehen, was ihr Bruder inzwischen mache und was es noch zu essen gebe.

»Dann kannst du dich erst einmal waschen und ausschlafen. Eure Sachen bringen wir schon wieder in Ordnung. Für Franz finde ich etwas in den Truhen, aus dem mein Eduard herausgewachsen ist. Und dir werde ich eines meiner Kleider passend machen.«

Sie musterte Henriette und lächelte erneut. »Ich werde es kürzen müssen. Aber bei deiner schmalen Taille kann ich vermutlich so viel Stoff abnähen, dass wir noch ein Schultertuch herausbekommen.«

 

In Gedanken versunken und ohne die geringste Ahnung, welch unerwarteter Besuch in seinem Haushalt eingetroffen war, spazierte Friedrich Gerlach nach dem Pflichtbesuch beim königlichen Zensor wieder zu seinem Heim am Untermarkt. Kurz bevor der Buchdrucker die Tür erreichte, entdeckte er den schmächtigen Doktor Bursian, den Aufseher der Freiberger Militärhospitäler, der, heftig mit dem Arm winkend, auf sich aufmerksam machte und mit wehenden Rockschößen quer über den Marktplatz auf ihn zuhastete, mitten durch eine Pfütze hindurch.

Johann Christoph Friedrich Gerlach, ein nicht allzu großer, etwas beleibter Mann von siebenundfünfzig Jahren mit freundlichen Gesichtszügen und schütterem weißem Haar, blieb stehen und blickte dem Arzt entgegen.

Dr. Bursians Kleidung war zerdrückt, sein rechtes Brillenglas zerkratzt, die Halsbinde saß schief, die Augen waren tief umschattet, und angesichts der Bartstoppeln auf den Wangen musste seine letzte Rasur wohl schon zwei Tage zurückliegen.

»Hätten Sie die Güte, dies in Ihrer nächsten Ausgabe zu veröffentlichen?«, fragte er und zog ein zerknittertes, eng beschriebenes Blatt aus seiner Weste.

»Ein Dank an all die Frauen, die uns Leinen und Charpie für die Verwundeten gespendet haben – und der Aufruf, mit ihrer Mildtätigkeit nicht nachzulassen«, erklärte der Lazarettverwalter, während der Buchdrucker die wenigen Zeilen mit der Überschrift »Dank und Bitte« überflog.

»Es kommen immer mehr Verletzte, wir wissen einfach nicht mehr, wie wir sie noch versorgen sollen.«

Bursian räusperte sich verlegen. »Und wenn Sie als Ihren Beitrag diese Annonce …«

»Natürlich berechne ich Ihnen keine Kosten«, fiel Friedrich Gerlach ihm ins Wort. Sonst hätte Bursian einen Gehilfen geschickt und wäre angesichts der vielen Arbeit, die auf ihn wartete, nicht persönlich gekommen. »In solchen Zeiten muss jeder beitragen, was er kann. Möchten Sie mit mir auf eine Tasse Tee ins Kontor?«

Einladend wies er zur Tür.

Doch der schmächtige Lazarettverwalter winkte ab. »Bin in Eile. Es gibt so viel zu tun! Und uns fehlt es an Personal, nicht nur an Leinen und Medikamenten …«

Er neigte sich Gerlach ein wenig entgegen und raunte bedeutungsschwer: »In der gestrigen Schlacht soll es so viele Tote und Verwundete gegeben haben, dass wir uns hier auf das Schlimmste gefasst machen müssen.«

»Weiß man denn schon, wo sie stattfand? Und vor allem, wer gesiegt hat, die Franzosen oder die Alliierten?«, fragte der Buchdrucker aufgeregt. »Es ist noch kein offizielles Bulletin eingetroffen.«

»Gekämpft wurde südwestlich von Leipzig, vor allem in Großgörschen, Kleingörschen, Kaja und Rahna«, berichtete Carl Friedrich Bursian und verzog den Mundwinkel zu einem grimmigen Lächeln. »Auf das Bulletin bin ich wirklich gespannt, denn jede Seite behauptet, gewonnen zu haben. Aber es heißt, die Alliierten ziehen sich in großer Eile zurück. Das sieht nicht gerade nach einem Sieg aus, oder? Jedenfalls habe ich Order, alles für die Aufnahme weiterer Verwundeter vorzubereiten.«

Er tippte an die Krempe seines Hutes, machte auf dem Absatz kehrt und lief mit hastigen Schritten Richtung Kreuzgasse davon. Im Dom setzte das anmutige Spiel der Silbermannorgel ein, das jäh abbrach und abermals aufgenommen wurde. Der Organist übte wohl wieder.

Der Buchdrucker sah Bursian kurz nach, bevor er das geräumige Eckhaus an Untermarkt und Bäckergässchen betrat, in dem seine Werkstatt, seine Buchhandlung und seine Wohnung untergebracht waren.

Er wunderte sich, dass ihn seine Frau nicht mit dem üblichen »Wie lief es heute?« empfing, wenn er vom Zensor heimkehrte. Dies waren stets heikle Besuche, aber doppelt schwierig in Kriegszeiten!

Manchmal war er es leid, in seinen Freiberger gemeinnützigen Nachrichten für das Königlich-Sächsische Erzgebirge, die er nunmehr im vierzehnten Jahr herausgab, über Belanglosigkeiten zu berichten, während in diesem Krieg die schrecklichsten Dinge geschahen.

Hatten nun gestern die Franzosen oder die Alliierten gesiegt? Und wenn sich die verbündeten Russen und Preußen tatsächlich zurückzogen – wie weit und für wie lange? Waren sie vernichtend geschlagen, oder sammelten sie nur ihre Reserven und neue Munition? Davon hing das Schicksal Sachsens, Deutschlands, Europas ab. Die Menschen sehnten sich nach Frieden und waren es leid, unter französischer Besatzung zu leben. Reformen, eine Ständeverfassung, mehr Rechte für die Bürgerschaft – das war es, wovon er träumte und seine Logenbrüder auch.

Doch er hatte die Konzession nur mit der Auflage erteilt bekommen, keinerlei politische Abhandlungen zu veröffentlichen. Das durfte lediglich die Leipziger Zeitung, die neulich sogar einen Aufruf des Universitätsrektors Krug veröffentlicht hatte, das sächsische Volk solle sich bewaffnen und zum Kampf für die Freiheit und ein einiges Vaterland erheben, so wie die Preußen es taten.

Dergleichen war in Freiberg natürlich undenkbar, auch wenn einige Professoren der hiesigen Königlich-Sächsischen Bergakademie durchaus die Ansichten Krugs teilten.

Mittlerweile musste man sich Zeitungen aus Preußen kommen lassen, um zu erfahren, was in deutschen Landen vonstattenging.

Selbst die harmlosesten stadtgeschichtlichen Aufsätze hatte er sich Zeile für Zeile vom Zensor genehmigen zu lassen und musste stets auf der Hut sein. Etwaiges Missfallen würde ihn viel Geld kosten, womöglich sogar die Konzession und im schlimmsten Fall eine Haftstrafe oder den Tod einbringen.

Kein Wort durfte im ganzen Land über die Niederlage und die schrecklichen Verluste der Grande Armée in Russland veröffentlicht werden, bevor das amtliche Bulletin dazu erschien, und das wurde erst herausgegeben, als die Truppen schon wochenlang auf dem Rückzug waren. Dabei betraf das viele Sachsen ganz direkt: Über zweiundzwanzigtausend Mann musste Sachsen Napoleon für diesen Feldzug stellen. Auch Bayern, Westphalen, Preußen, Österreich und Württemberg hatten große Korps zu entsenden.

Von den meisten Sachsen gab es keinerlei Lebenszeichen aus Russland, während ihre Angehörigen immer verzweifelter auf Nachricht warteten. Lisbeth zum Beispiel, seine Köchin, hatte vier von ihren sechs Söhnen dort und wollte einfach die Hoffnung nicht aufgeben, dass sie noch zurückkehrten. Aber es gab keine Listen von Toten, Gefangenen und Verwundeten.

Mitunter fragte er sich, was wohl einst die Nachgeborenen von dieser Zeit denken würden, wenn sie in seinen Gemeinnützigen Nachrichten blätterten. Ob sie wohl zwischen den Zeilen herauslasen, was wirklich in der Stadt vor sich ging? Zum Beispiel aus jener Danksagung und Bitte des Hospitalaufsehers, die in der Ausgabe der nächsten Woche stehen würde? Oder aus den amtlichen Bekanntmachungen über die Einquartierungsbedingungen der Militärs? Drei Pfund Brot und ein Pfund Fleisch täglich für jeden Offizier – wie sollten die Familien das nach den langen Kriegen und der katastrophalen Missernte im vergangenen Jahr aufbringen? Zumal es keine Entschädigungen mehr für die Quartierbilletts gab wie früher!

Und würden einst die Nachgeborenen aus den wiederholten Aufrufen an die Rekruten, sich endlich zum Dienst einzufinden, den richtigen Schluss ziehen, dass den jungen Männern die Kriegsbegeisterung abhandengekommen war und sie lieber das Weite suchten, statt sich zu den Truppen zu melden?

Wohlweislich hatte er seinen ältesten Sohn, der zwanzig Jahre zählte, schon vor längerer Zeit auf Bildungsreise ins Ausland geschickt. Und sein Zweitgeborener, Eduard, war mit fünfzehn noch zu jung, um ins Feld zu ziehen.

Das alles ging Friedrich Gerlach wieder einmal durch den Kopf, während er das Haus betrat, den grauen Hut auf den Haken hing, den Gehstock ablegte und den Frack gegen einen bequemen Hausrock tauschte – immer noch verwundert, dass ihm weder seine Frau noch das Dienstmädchen entgegenkamen.

Weil es ihm zu albern erschien, nach ihnen zu rufen, räusperte er sich erst, dann trat er noch einmal zur Tür, öffnete sie und ließ sie etwas lauter als gewohnt zuschlagen.

Das endlich zeigte Wirkung. Ein paar Augenblicke später stand Johanna in der Diele, und schon an ihrer Miene erkannte er, dass etwas Außergewöhnliches, Besorgniserregendes geschehen sein musste.

Sein erster Gedanke: Sie hatte noch vor ihm etwas über den Ausgang der gestrigen Schlacht erfahren, obwohl das äußerst unwahrscheinlich war. Kehrten etwa die Franzosen zurück? Doch was er stattdessen zu hören bekam, traf ihn wie ein Blitzschlag aus heiterem Himmel.

 

In ein viel zu langes Nachthemd ihrer Tante aus rüschenbesetztem Musselin gehüllt, lag Henriette im großen Bett des Gästezimmers, nachdem sie etwas gegessen und sich den Schmutz der Landstraße vom Leib gewaschen hatte. So erschöpft sie auch war, sie konnte nicht schlafen.

Die Erinnerungen an das in den letzten Tagen Durchlittene loderten in ihrem Kopf, der Donner der Kanonen hallte ihr noch in den Ohren … und dazwischen die Worte, die ihr Bruder irgendwann während ihrer viertägigen Flucht gemurmelt hatte: »Er lebt noch. Dieser Franzose. Er hat noch geatmet, ich hab’s genau gesehen.«

Henriette wusste nicht, ob das stimmte. Aber sie wünschte, es wäre so. Und hier war sie hoffentlich weit genug fort von ihrem Haus in Weißenfels, um nicht gefunden und bestraft zu werden.

Als ihr Vater noch lebte, da hatte sie begeistert die patriotischen Schriften Ernst Moritz Arndts und die Gedichte Theodor Körners gelesen, den sie in jugendlicher Schwärmerei verehrte und der vor drei Jahren, als er noch in Freiberg studierte, gegenüber dem Haus ihres Onkels am Untermarkt wohnte. Alle Mädchen der Stadt hatten dem gutaussehenden jungen Mann mit den dunklen Locken und den schönen Augen nachgeschaut. Doch der Student aus Dresden schien nur Spott für sie übrig zu haben.

Sie hatte etwas tun wollen, so wie die preußischen Frauen ihrem Land halfen, sich gegen den Unterdrücker zu wehren. Oder die Aufständischen in Lübeck und Hamburg. Und sie fand die Vorstellung atemberaubend, dass sich alle Deutschen gemeinsam erheben könnten, um die Besatzer aus dem Land zu jagen und sich zu einer geeinten Nation zusammenzuschließen. Weshalb Preußen oder Württemberger in Sachsen als Ausländer galten, obwohl sie alle eine Sprache sprachen, das war für sie nicht einzusehen.

Doch als sie die verwundeten Franzosen pflegte, die aus Russland heimgekehrt waren, diese ausgemergelten Gestalten mit ihren Erfrierungen und furchtbaren Wunden, da konnte sie nichts anderes als Mitleid mit ihnen empfinden.

Und dann hatte sie vielleicht getötet und war bis ins Mark entsetzt über sich selbst.

Ob jener Fremde wohl freiwillig in den Krieg gezogen war, um andere Menschen umzubringen? Oder hatte er sich nach Hause gesehnt, sich genauso wie sie gefürchtet und wollte einfach nur überleben?

Was wäre geschehen, wenn dieser Mann ihren Angriff abgewehrt hätte? Schaudernd bei der Erinnerung an die Szene starrte sie auf ihren Bruder, der in dem schmaleren Bett unter dem Fenster schlief.

Sie machte sich Gedanken um einen Toten, während gestern vermutlich Tausende gestorben waren.

»Scht! Wir reden nicht mehr davon. Schau nach vorn!«, hatte die Tante gesagt.

Wie sollte sie jemals vergessen, was sie getan hatte?

Sie würde nie wieder eine Zeile schreiben oder ein Gedicht lesen können. Das Recht dazu hatte sie durch ihre Bluttat verwirkt.

Henriette krümmte sich noch mehr zusammen, zog die Knie an und umschlang sie mit den Armen.

Ihr Bruder murmelte etwas im Schlaf, wurde unruhig und schlug laut stöhnend um sich. Rasch ging sie zu ihm und berührte ihn erst sanft an der Schulter, dann rüttelte sie ihn, bis er die Augen aufschlug und sie verständnislos anstarrte.

»Du hast schlecht geträumt, Franz«, sagte sie, umschloss ihren Bruder mit den Armen und wiegte ihn. Ohne Protest duldete er, was er sonst verwehrte, seit er fünf geworden war.

»Wir sind in Freiberg. In Sicherheit. Du musst keine Angst mehr haben«, flüsterte sie. Wortlos ließ sich Franz wieder auf das Laken sinken, drehte sich zur Seite, zog die Decke über das Gesicht und schien einzuschlafen.

Fröstelnd ging Henriette zurück ins Bett. Die Arme um die Knie geschlungen, lag sie da und dachte nach, bis sie unten die Haustür zuschlagen hörte. Das musste wohl der Onkel sein.

Sie wartete so lange ab, wie Tante Johanna wohl brauchen würde, um ihrem Mann zu erzählen, was vorgefallen war. Dann schlüpfte sie in den viel zu langen und zu weiten cremefarbenen Morgenmantel mit rosa Rüschen, der neben der Tür hing, und ging die Treppe hinab, um den Oheim zu begrüßen. Das gehörte sich wohl, wenn er sie und Franz bei sich aufnehmen sollte.

Gespräche bei Tisch

Freiberg, 3. Mai 1813

Mitfühlend sah Friedrich Gerlach durch die ovalen Brillengläser auf seine Nichte, die barfuß und mit ängstlichem Blick im ihr viel zu großen Morgenmantel seiner Frau auf der Treppe stand. Sie war schon immer zart für ihr Alter gewesen, aber nun wirkte sie auf ihn wie der Inbegriff von Zerbrechlichkeit.

»Jette, Liebes, natürlich seid ihr hier willkommen«, sagte er warmherzig, ging ihr entgegen und schloss sie in seine Arme.

Unendlich erleichtert ließ sich Henriette gegen ihn sinken, und nun schossen ihr die Tränen in die Augen.

»Komm, setz dich!«, forderte der Oheim sie auf und führte sie behutsam zum Tisch.

Johanna tätschelte erneut tröstend den Rücken ihrer Nichte, während ihr Mann wortlos nach einem Taschentuch suchte und es dem Mädchen reichte.

Friedrich Gerlach war ein zutiefst friedliebender Mensch, der mit seinen Druckwerken Bildung und humanistische Ideale verbreiten wollte. Dass das Leben seiner Nichte in den letzten Tagen so gewaltsam aus den Fugen geraten war, schmerzte ihn über alle Maßen und machte ihn hilflos.

Er würde mit ihr reden müssen, damit ihre Seele nicht noch mehr Schaden nahm. Aber nicht jetzt. Er wollte sie nicht bedrängen. Jette kannte ihn gut genug, um zu wissen, dass sie ihn jederzeit um Rat fragen konnte. Sollte sie entscheiden, wann sie dazu bereit war. Im Moment hatte er ja selbst noch keine Antworten, sondern war einfach nur erleichtert, dass sie und Franz überlebt hatten.

Henriette brauchte eine Weile, bis sie sich gesammelt hatte. Dann schneuzte sie sich kräftig und sah mit verquollenen Augen auf.

»Ich weiß, ihr habt es schwer in diesen Zeiten«, schniefte sie. »Aber ich kann mir mein Brot verdienen. Ihr habt jetzt bestimmt nicht mehr genug Leute in der Druckerei. Ich kann dort arbeiten … oder Bücher verkaufen …«

»Das kommt überhaupt nicht in Frage!«, protestierte die Tante sofort. »Was sollen denn die Leute von uns denken? Dass wir deine Notlage ausnutzen und dich wie eine Magd hier schuften lassen?«

»Wieso nicht?«, widersprach ihr Mann mit beschwichtigender Stimme. »Vielleicht wird ihr ein bisschen Ablenkung guttun. Du weißt doch, wie gern sie die Zeit in der Setzerei verbracht hat, wenn ihre Familie bei uns zu Besuch war.«

Die Begeisterung, mit der sich seine Nichte schon als Kind immer wieder zeigen ließ, wie aus einzelnen Lettern Wörter, Zeilen und ganze Seiten wurden, ihre Ehrfurcht und Leidenschaft für Bücher hatten ihn schon lange für sie eingenommen. Sie war genauso eine Bücherverrückte wie er, viel mehr als seine Söhne, die einmal das Geschäft übernehmen sollten. Deshalb mochte er sie so.

Sie erinnerte ihn an seine Mutter, die auch Bücher geliebt hatte. Aber ihr Vater hatte sie als Elfjährige von der Schule genommen, weil jener meinte, es gehe zu weit, wenn nun auch noch die Mädchen lesen und schreiben lernten. Henriette sollte es besser haben und lesen und schreiben dürfen, so viel sie wollte! Er wusste, sie besaß Talent dazu, denn mit Freude verfolgte er ihre ersten zaghaften Versuche. Und wenn in den nächsten Tagen – was Gott und Blücher verhindern mögen! – Freiberg wieder in französische Hände fiel, dann waren sicher jede Menge Extrabulletins und Tagesbefehle zu drucken.

Tatsächlich brachten seine Worte ein wenig Hoffnung in die Augen des Mädchens.

»Aber nicht gleich morgen!«, schränkte er ein. »Erst einmal wirst du deiner Tante helfen müssen, ein paar Kleider für dich umzuarbeiten, damit du nicht darin versinkst wie in diesem.«

Mit einem gutmütigen Lächeln wies er auf das Ungetüm von einem Morgenmantel. »Und du wirst dich nach den Strapazen ein paar Tage ausruhen. Lange schlafen und dich satt essen.«

»Aber ja!«, stimmte Johanna ihrem Mann aus vollstem Herzen zu. »Und einen Hut brauchst du und neue Schuhe!«

Vor allem, so dachte Johanna, sprach es aber nicht aus, brauchten die Kinder jetzt ein bisschen normales Leben nach dem Grauen der letzten Tage. Etwas Schönes, etwas zur Ablenkung. Schon stand sie auf, lief zur Tür und rief mit durchdringender Stimme nach Lisbeth.

»Wir nehmen das gute Service und das Silberbesteck heute Mittag«, beschied sie der Köchin, und beide Frauen dachten dabei in stiller Übereinkunft den Satz schon weiter: Bevor wir es morgen verstecken müssen, weil die nächste Einquartierung kommt. Wenn wirklich die Franzosen zurückkehren, werden sie sich bestimmt dafür rächen wollen, wie wir hier den Preußen und Russen zugejubelt haben. Gott steh uns bei!

»Natürlich«, brummte Lisbeth zustimmend. »Dass das Fräulein und der junge Herr erst einmal richtig aufgepäppelt werden müssen, sieht ja ein Blinder.«

Die zwei lagen ihr ehrlich am Herzen. Was sie durchgemacht haben mussten, die armen Dinger!

»Ich konnte ein Huhn auftreiben, davon koche ich ein feines Ragout, und als Dessert gibt es Grießpudding mit Apfelmus«, stellte sie in Aussicht. »Für ein Parfait, wie es das Fräulein so liebt, habe ich leider nicht die Zutaten. Sie wissen ja, die Handelssperre …«

Was sind das nur für Zeiten!, dachte die Köchin voller Grimm und zog sich energisch die weiße Haube zurecht. Eher geeignet für Totengräber als für unsereinen. Zuckerersatz aus Stärke und Runkelrüben, Kaffeeersatz aus Kastanien, pfui Teufel! Und jetzt wird auch noch das Salz knapp …

 

Lisbeth konnte kaum bis zum ersten Treppenabsatz gekommen sein, als die Gerlachs und ihre Nichte jemanden heraufpoltern hörten. Augenblicke später wurde die Tür aufgerissen.

Eduard, der jüngere Sohn des Druckerpaares, mit zerzaustem blondem Haar und Sommersprossen, erschrak ein wenig, als er seinen Vater sah. Er hatte sich bei den Botengängen beeilt, um heimlich noch ein wenig Zeit bei Lisbeths jüngsten Söhnen und den Pferden zu verbringen, denn er träumte davon, hoch zu Ross durch die Stadt zu reiten und von den Mädchen bewundert zu werden. Aber er war der Sohn eines Buchdruckers und würde also auch Buchdrucker werden. Dabei wäre er viel lieber ein stolzer Husar in prächtiger Uniform!

Mit Blick auf seine derangierte Kleidung entschuldigte er sich eiligst für seinen unangemessenen Auftritt und platzte dann heraus: »Jette, ich hab gehört, dass du da bist! Was für eine schöne Überraschung!«

Eduard strahlte seine Cousine mit großen blauen Augen an, und es war nicht zu übersehen, dass er sie am liebsten umarmt hätte. »Ich bin gewachsen, siehst du? Jede Wette, dass ich jetzt größer bin als du. Vielleicht ziehe ich bald in den Krieg!«

»Du ziehst nirgendwohin als in dein Zimmer, um dich zu waschen und die Kleider zu wechseln«, wies ihn die Mutter streng zurecht. »Wo bist du nur wieder herumgestreunt? Wie ein Landstreicher siehst du aus! Wir essen in einer halben Stunde.«

Offensichtlich hatte sich der Junge wieder einmal bei Karl und Anton im Stall herumgetrieben und glaubte, seine Mutter wüsste nichts davon. Als ob ihr so etwas entgehen könnte! Ihr graute schon bei dem Gedanken, was wohl dabei herauskommen würde, wenn die drei auch noch den kleinen Franz in ihre wilde Runde aufnahmen.

Dass er vor seiner Cousine zurechtgewiesen wurde, die er doch beeindrucken wollte, war Eduard höchst peinlich. Verräterische Röte schoss ihm ins Gesicht. Um sich nicht noch mehr zu blamieren, wollte er rasch verschwinden, aber dann fiel ihm etwas Wichtiges ein.

»Vater, unten wartet der Ludwig. Er sagt, er könne mit dem Setzen beginnen, wenn die Texte vom Zensor genehmigt sind.«

»Die Seiten!« Unwirsch schlug sich Friedrich Gerlach an die Stirn. »Wie konnte ich das vergessen! Die liegen immer noch in der Diele, glaube ich. Ich gehe schon …«

Auch wenn kriegsähnliche Zustände herrschten – die Zeitung musste erscheinen. Er hatte noch nie eine Ausgabe ausfallen lassen.

In seiner Eile entging Meister Gerlach und auch seiner sonst so scharfäugigen Frau, dass über Jettes Gesicht ein zartes Rot huschte, als sie den Namen des besten Schriftsetzers hörte, den die Gerlachsche Druckerei je hatte. Am liebsten wäre sie unter einem Vorwand hinuntergegangen, um ihn zu sehen. Er war noch jung, sah gut aus mit seinen dunklen Haaren, und er war stets auf eine Art freundlich zu ihr, die ihr das Herz wärmte, weil sie ohne Falschheit und ohne Unterwürfigkeit war. Aber da sie nur einen Morgenmantel trug, noch dazu einen viel zu großen, kam das leider nicht in Frage.

»Komm, Liebes, wir decken inzwischen den Tisch!«, meinte Johanna geschäftig und rückte die Vase mit den Maiglöckchen zurecht. Krieg hin oder her – es war Frühling, das bedeutete immer auch Hoffnung.

Das Eindecken würde sonst natürlich das Dienstmädchen übernehmen, aber Nelli flickte und wusch die arg mitgenommenen Kleider der beiden Neuankömmlinge, damit sie morgen wieder trocken waren. Und außerdem wollte sie Jette ablenken. Etwas Schönes! Etwas Alltägliches! Nur nichts von Krieg und all diesen schlimmen Dingen.

»Hier, schau, diese silberne Schale war ein Geschenk zu meiner ersten Hochzeit, Gott hab meinen guten Barthel selig«, fing sie zu plaudern an, während sie und Henriette die Messer, Gabeln und Löffel auf dem Tisch verteilten. »Wie unglücklich war ich, als er starb. Da stand ich nun da mit meinen jungen Jahren – und was sollte aus der Druckerei werden? Aber dann hat Gott alles so wunderbar gefügt. Ich heiratete deinen Onkel, und jetzt ist Graz und Gerlach nicht nur eine Druckerei und verlegt sogar die Schriften der berühmtesten Freiberger Gelehrten, sondern führt auch eine respektable Buchhandlung. Siehst du, Liebes, man darf nur die Hoffnung nicht verlieren! Ganz gleich, wie schlimm es kommt.«

 

Wenig später saßen die drei Gerlachs gemeinsam mit Henriette am Tisch. Sie hatten beschlossen, Franz schlafen zu lassen, das sei das Beste für ihn.

»Wenn er aufwacht, ist die Welt wieder in Ordnung«, prophezeite Johanna sehr bestimmt.

»Was ist hier in den letzten Wochen geschehen?«, fragte Jette, während die Familie Hühnerbrühe mit Mehlklößchen löffelte, die es als Vorspeise gab.

Johanna antwortete sofort, um ihren Mann gar nicht erst zu Wort kommen zu lassen. Hier sollte heute nicht vom Krieg geredet werden!

»Stell dir vor, wir hatten am Donnerstag sogar zwei Majestäten auf einmal in der Stadt!«, berichtete sie aufgeregt, wobei sie die Augenbrauen hochzog und sich nach vorn über den Tisch beugte, ihrer Nichte entgegen. »Den russischen Kaiser Alexander und den preußischen König Friedrich Wilhelm. Unser sächsischer König ist ja in Prag … des Krieges wegen, weil doch nun die Alliierten in Dresden eingerückt sind … Gott schütze ihn, auch wenn er ein Katholik ist in diesem lutherischen Land!«

Sie richtete die Augen kurz gen Himmel und fuhr dann im Plauderton fort: »Was für einen Jubel es gab! Und dein Onkel hat schönes Geld verdient an den Bildern der beiden Majestäten, die er drucken ließ. Obwohl die Porträts des Zaren – ich muss schon sagen, ein stattlicher Mann! – deutlich besser gingen als die des preußischen Königs. Der zeigte ja nicht das geringste Lächeln.«

Ein überdeutliches Stirnrunzeln drückte Johannas Missbilligung für solche Unhöflichkeit aus. »Wenn ich dagegen an den Besuch Napoleons in der Stadt denke, letztes Jahr im Mai … Meine Güte, es goss in Strömen, die Menschenmassen standen trotzdem von Mittag an auf dem Obermarkt und warteten. Hunderte Bergleute zur Parade, die tagelang geprobt hatten – und dann kam der Kaiser erst gegen fünf und blieb nur eine Stunde«, fuhr sie entrüstet fort.

»Außerdem hielt er die Bergleute mit ihrer Parade für die Bürgerwehr, für eine Miliz«, warf Eduard ein und kicherte. »Die Leute sollten die Bilder vom Zaren und vom Preußenkönig lieber abnehmen und verstecken, wenn in ein paar Tagen die Franzosen erneut in der Stadt einrücken«, stichelte er weiter, »und stattdessen das alte Napoleon-Porträt wieder aufhängen.«

Mit einem überdeutlichen Klirren legte Johanna den Löffel auf den Rand des Suppentellers.

»Wie kannst du nur?«, entrüstete sie sich. Erstens wusste der Junge nur zu genau, dass man nicht über die Kundschaft herzog, und außerdem sollte bei Tisch nicht von Krieg und Politik gesprochen werden. Nun hatte dummerweise ihr Nichtsnutz von einem Sohn die Sprache direkt auf das heikle Thema gebracht, das sie so dringend vermeiden wollte.

»Du solltest wie wir alle dankbar sein, dass wir das Geschäft mit solchen Sonderdrucken über Wasser halten können«, rügte sie ihn streng. »Jedermann weiß, wie schwer es geworden ist, Bücher zu drucken – und sie vor allem auch noch zu verkaufen. Wer kann sich heutzutage noch ein Buch leisten? Und wer will eines lesen in dieser schrecklichen Zeit?«

Eduard sah seine Mutter schicksalsergeben an und atmete insgeheim auf, dass die Strafpredigt vorbei war. Zu früh.

»Falls sich tatsächlich die Russen und Preußen weiter zurückziehen und die Franzosen wiederkommen, werden wir das schon irgendwie überstehen«, fuhr Johanna energisch fort. »Schließlich sind Franzosen und Sachsen Verbündete. Jedenfalls auf dem Papier. Es wird schon nicht so schlimm werden. Bete lieber, dass sie in der Stadt keines dieser Flugblätter mit Spottbildern von Napoleon finden, die überall kursieren! Dann wird man nämlich uns verdächtigen, sie gedruckt zu haben. Denk nur an den armen Buchdrucker Palm!«

Das war ein Nürnberger gewesen, der wegen der Veröffentlichung der franzosenfeindlichen Schrift Deutschland in seiner tiefen Erniedrigung zum Tode verurteilt und exekutiert worden war. Jeder – zumindest jeder in diesem Gewerbe – kannte seinen Namen.

Voller Sorge blickte Johanna auf ihren Mann, bevor sie die Suppe betont langsam zu Ende löffelte. Irgendwie hatte es ihr nicht nur den Appetit verschlagen, sondern auch die Sprache, was äußerst selten vorkam.

»Und, hast du sie gedruckt?«, fragte Henriette hingegen voller Neugier den Onkel.

»Jedes Wort, jede Zeile aus meiner Druckerei sind vom Zensor genehmigt«, versicherte Friedrich Gerlach. Dann lächelte er. »Aber manchmal, mit etwas Glück, kann ich ihm ein Schnippchen schlagen.«

Begierig auf Einzelheiten, schob Henriette den leeren Teller von sich und sah ihren Onkel an.

»Du kannst dir nicht vorstellen, welcher Aufruhr in Dresden und bis hierher herrschte, als Napoleon vor sechs Wochen die schöne steinerne Augustusbrücke sprengen ließ, die der berühmte Baumeister Pöppelmann zu einem Prachtwerk umgestaltet hatte«, erzählte dieser. »Wenn Sachsen je zu einem Aufstand bereit wäre – das hätte das Fanal werden können! Darüber durfte ich natürlich nichts veröffentlichen, obwohl jedermann es wusste. Aber dass der Künstler Veith ein Bildnis der Ruine zur Erinnerung an die Schönheit des Bauwerkes in Kupfer stechen will und wir dieses Bild sowie eine Abhandlung über die Geschichte der Brücke drucken werden, das waren natürlich Neuigkeiten aus dem kulturellen Leben, und die habe ich durchbekommen.«

Er lächelte noch etwas breiter und zwinkerte Henriette verschwörerisch zu. »Es gibt jede Menge Vorbestellungen für diesen Sonderdruck.«

»Wir können durchaus einiges tun, um den Menschen zu helfen«, fiel Johanna ein, die gern das Gespräch in harmlosere Bahnen lenken würde. »Beiträge zur Stadtgeschichte dienen der Erbauung und dem patriotischen Gedanken. Und wir bieten den Lesern nicht nur Bildung, sondern auch Ratschläge, die ihr Leben erleichtern. Zum Beispiel die neuesten Erkenntnisse des Herrn Professor Lampadius über die Herstellung von Zucker aus Kartoffelstärke und Kaffeeersatz aus Esskastanien.«

Zucker und Kaffee waren infolge der von Napoleon verhängten Kontinentalsperre nicht mehr legal zu bekommen, und wie Jette schon von einem früheren Besuch her wusste, hatte der Freiberger Chemiegelehrte Ersatz dafür entwickelt und die Anleitung dazu in den Gemeinnützigen Nachrichten veröffentlicht.

»Der Herr Professor veranstaltet jetzt sogar Kurse für die hiesigen Hausfrauen, damit sie selbst Zucker herstellen können«, berichtete Johanna ehrfürchtig. »Und als abzusehen war, dass wir hier russische Einquartierung bekommen, brachte mein kluger Gerlach mehrere Extradrucke heraus, zum Beispiel kleine Sprachführer für Russisch oder Abhandlungen über die Gepflogenheiten der Kosaken, Baschkiren und Kalmücken – sehr hilfreich, um Missverständnisse zu vermeiden.«

»Wie lief es denn hier mit der Einquartierung?«, fragte Henriette beklommen. Das Lächeln verschwand aus ihrem Gesicht.

»Besser als erwartet«, berichtete die Tante überschwenglich. »Vor einem Monat kamen Preußen und Russen in die Stadt, der berühmte Blücher selbst und über eintausend Kosaken unter Oberst Prendel, der ja eigentlich ein Tiroler ist. Was für ein verwegenes Volk, diese Kosaken! Welche Kunststückchen sie im Sattel fertigbringen, das glaubt man nicht, wenn man es nicht mit eigenen Augen gesehen hat. Sie waren auch gar nicht so wild, wie wir befürchtet hatten; im Gegenteil, sehr höflich. Man hatte sie wohl angewiesen, die Sachsen freundlich und nicht als Feinde zu behandeln.«

»Obwohl Sachsen als Mitglied des Rheinbundes aufseiten Napoleons steht und damit Gegner der preußisch-russischen Alliierten ist«, dozierte Friedrich Gerlach mit erhobenem Löffel. »Es soll vor allem Blücher gewesen sein, der sich dafür einsetzte. Er rief die Sachsen sogar auf, sich mit den Preußen zu vereinen und gemeinsam gegen die fremden Unterdrücker zu kämpfen.«

Henriette stockte der Atem. »Und? Werden sie folgen?«

»Sosehr ich mir das wünschte – ich glaube nicht, dass sie es tun werden. Es gibt zwar auch hier Leute, die den König von Reformen und einem Seitenwechsel überzeugen wollen. Aber deren Stimme besitzt nicht genug Gewicht. Wir haben hier eine gänzlich andere Lage als in Preußen. Du warst damals noch zu klein, um das zu verstehen. Nach den Schlachten bei Jena und Auerstedt war Preußen 1806 beinahe vollständig vernichtet. Der König und seine Königin flüchteten in den hintersten Zipfel ihres Landes, nach Memel, und mussten Schmuck und Tafelsilber versetzen, damit noch etwas zu essen auf den Tisch kam.«

»Es heißt, Königin Luise – Gott hab sie selig! – soll sogar selbst gekocht haben. Erbsensuppe«, warf Johanna rasch ein.

Einen Moment lang versuchte sich Jette vorzustellen, wie die Königin das Herdfeuer schürte, doch dabei versagte ihre sonst oft überbordende Phantasie. Wenn auch Luise von Preußen sicher sehr anders als die meisten Königinnen gewesen war, als »Kochen« ließ man bei ihr vermutlich schon gelten, wenn sie zweimal mit dem Löffel durch den Topf gerührt hatte. Und wie diese lebensprühende junge Frau wohl mit ihrem hölzernen Mann zurechtgekommen war, der so abgehackt sprach und das genaue Gegenteil von ihr zu sein schien?

»Napoleon plünderte Berlin, ließ die Kunstsammlungen leer räumen, die Quadriga vom Brandenburger Tor montieren und nach Paris schaffen, besetzte das Land und forderte gewaltige Kontributionen«, fuhr unterdessen der Onkel fort. »Er säte Wind und erntet nun Sturm, wenn die Preußen sich gegen ihn erheben. Oder die Hamburger, denen Davout, der ›Eiserne Marschall‹, so übel mitspielte. Den Sachsen dagegen, obwohl auch wir zu den Besiegten zählten, bot Napoleon Bonaparte ein Bündnis und die Erhebung zum Königreich an. Und unser Herrscher tat damals gut daran, dies anzunehmen. So blieb das Land erhalten, die Kunstsammlungen in Dresden blieben es auch, und bei den Kriegszahlungen ließ der Kaiser Milde walten.«

»Fast dreihunderttausend Taler Kontributionen allein für Leipzig würde ich nicht gerade milde nennen«, krittelte Johanna spitz.

»Tja, die Franzosen nennen Leipzig eine ›gefährliche Feindin‹ – wegen seines Reichtums und der Handelsverbindungen zu England«, meinte der Buchdrucker. »Jetzt ist die Lage auch hier kaum noch erträglich. Viele hoffen, dass uns ein Bündnis mit Preußen und Russland Frieden und Freiheit bringt. Trotzdem glaube ich nicht, dass es in Sachsen zu einer Volkserhebung kommt, solange der König die Allianz mit Frankreich aufrechterhält. Er hat Bonaparte sein Wort gegeben, und die Sachsen stehen treu zu ihrem König.«

Seine Frau warf einen scharfen Blick auf Eduard, der das Gespräch mit äußerstem Interesse verfolgte.

»Das hier ist eigentlich nichts für deine Ohren«, beanstandete sie. Aber da der Junge noch nicht aufgegessen hatte, konnte sie ihn schlecht hinausschicken. Zum Glück saß nicht auch noch der kleine Franz hier, sondern schlief oben selig!

»Dir ist doch klar, dass wir Ärger mit der Geheimen Polizei bekommen, solltest du draußen davon erzählen?«

»Natürlich, Mutter, was denkst du von mir?«, protestierte der Fünfzehnjährige gegen die Unterstellung, er könne etwas an falscher Stelle ausplaudern.

Jette wirkte enttäuscht. »In Preußen hat der König an sein Volk appelliert, sich gegen die Unterdrücker zu wehren! Und es heißt, alle kamen, als der König rief. Männer traten in die Landwehr ein oder in die Freikorps, und Frauen opferten ihren Schmuck, damit die Truppen aus dem Erlös bewaffnet werden konnten. Warum nicht auch hier?«

»Der König rief, und alle kamen?«, wiederholte Friedrich Gerlach mit spöttischem Lächeln. »Die Berliner haben das etwas zutreffender umgedichtet in: Alle waren schon da, als der König endlich rief. Friedrich Wilhelm von Preußen musste durch Leute wie Scharnhorst, Gneisenau und vom Stein geradezu genötigt werden, sich mit diesem Aufruf an die Spitze der Erhebung zu stellen, sonst wäre sie über ihn hinweggerollt.«

Verärgert stemmte sich Johanna hoch und begann, den Hauptgang mit der großen Kelle auszuteilen. »Mein lieber Herr Gerlach!«, kritisierte sie ihn, während sie mit etwas zu viel Schwung Ragout auf die Teller klatschte. »Genau genommen ist das schon fast eine Majestätsbeleidigung! Auch wenn der König von Preußen kein sehr umgänglicher Mensch zu sein scheint.«

Sein unfreundlicher Auftritt in Freiberg – ganz das Gegenstück zur leutseligen Haltung des Zaren, der sich mit sichtlicher Genugtuung von den Einheimischen feiern ließ – hatte die Frau des Buchdruckers gegen den Hohenzollernkönig eingenommen.

»Also keine Volkserhebung in Sachsen?«, fragte Jette enttäuscht den Oheim.

»Dazu wird unser König nicht aufrufen«, erklärte Friedrich Gerlach, während er seine Brille mit der Serviette zu putzen begann und die Zeichen seiner Frau ignorierte, das Thema zu wechseln. »Deshalb haben sich viele Freiwillige aus Sachsen zu den preußischen Freikorps gemeldet. Der junge Körner, der Carl Theodor, der einmal gegenüber gewohnt hat, ist zu den Lützower Jägern gegangen.«

Henriettes Herz schien für einen Augenblick stillzustehen, als sie das hörte.

»In Leipzig hat man ihn ja von der Universität geworfen – wegen Raufhändels«, warf die Tante tadelnd ein. »Aber dann bekam er sogar eine Anstellung in Wien, als kaiserlich-königlicher Hofdichter – und gibt so eine Chance auf!«

»Auch ein Sohn des Buchhändlers Göschen aus Leipzig, der Georg, und der Junge vom Buchhändler Anton aus Görlitz meldeten sich zu den Lützowern«, fuhr der Buchdrucker fort, der den Einwurf seiner Frau überging. »Du kennst sie, wir waren einmal während der Messe bei Göschens zum Tee eingeladen. Göschen musste übrigens letztes Jahr Wohnung und Geschäft in Leipzig ganz aufgeben und hat beides nach Grimma verlegt, weil die Geschäfte in Leipzig so schlecht gingen. Und Brockhaus zog nach Altenburg! Es steht nicht gut um die Buchstadt Leipzig.«

Henriette erinnerte sich vage an die beiden jungen Männer. Ihr Onkel nahm sie gern zu den Buchmessen nach Leipzig mit, weil er wusste, wie sehr sie Bücher liebte. Und welch aufregenderen Ort konnte man sich da vorstellen als die Leipziger Messe, wo die neuesten Erscheinungen der literarischen Welt vorgestellt wurden? Jedes Mal waren sie mit Kisten voller spannender Entdeckungen zurückgereist.

Einer von Göschens Söhnen hatte ihr damals ein wenig den Hof gemacht, was sie in große Verlegenheit brachte.

Doch klar stand ihr wieder Theodor Körners Bild vor Augen. Ob er sie jetzt wohl beachten würde, da sie etwas erwachsener und vielleicht auch hübscher geworden war? In Gedanken betete sie darum, dass den jungen Männern nichts geschah, die in den Krieg gezogen waren.

Wie stets, wenn Jette zu Besuch war, schob ihr Friedrich Gerlach sein unangerührtes Dessert hinüber. Sie liebte Süßes. Er selbst ließ sich noch etwas Kräutertee einschenken. An den Kaffeeersatz aus Kastanien mochte er sich einfach nicht gewöhnen.