Der Silberbaum. Die siebente Tugend - Sabine Ebert - E-Book
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Der Silberbaum. Die siebente Tugend E-Book

Sabine Ebert

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Beschreibung

Die Erben der Hebamme – und der außergewöhnlichste Fürst des deutschen Mittelalters: Mit ihrem historischen Roman »Der Silberbaum« startet Bestseller-Autorin Sabine Ebert ihre Reihe um die Erben der Hebamme Marthe und das Schicksal der Mark Meißen im Hochmittelalter. Für Jutta von Thüringen steht alles auf dem Spiel, als ihr Mann, der Markgraf Dietrich von Meißen, überraschend stirbt: Ihr Sohn Heinrich ist erst drei Jahre alt, und ausgerechnet ihr Halbbruder Ludwig, dem sie nicht über den Weg traut, wird zu seinem Vormund ernannt. In größter Sorge um das Leben ihres Sohnes ruft Jutta Lukas, den zweiten Ehemann der Hebamme Marthe, aus Freiberg zurück an den Hof. Lukas scharrt Getreue um sich, unter ihnen auch seinen Stiefsohn Thomas, der mit seinem jüngsten Sohn Christian aus dem Heiligen Land nach Meißen eilt. Als sich der Konflikt zwischen Jutta und Ludwig zu einem offenen Krieg verschärft, müssen sie alle das Schlimmste befürchten. Währenddessen hat Marthes Enkelin Änne eine verstörende Begegnung mit Ludwigs Frau, der ungarischen Königstochter Elisabeth, und mit deren erbarmungslosem Beichtvater, dem fanatischen Kreuzzugsprediger und Ketzerverfolger Konrad von Marburg … Die Hebamme Marthe ist die Hauptfigur der fünf historischen Bestseller der »Hebammen-Saga«. Aus der Sicht von Marthes Kindern und Enkeln lässt uns Sabine Ebert die faszinierendste Epoche des Mittelalters erleben: die große Zeit der Minne, den Mongolensturm und den Kampf des Kaisers Friedrich II. gegen den Papst. Neben den Erben Marthes nimmt in der historischen Roman-Reihe vor allem Heinrich der Erlauchte, Markgraf von Meißen, eine bedeutende Rolle ein – der vielleicht strahlendste Fürst seiner Zeit, der als Förderer der Städte, der Minne-Dichter und als Ausrichter glänzender Turniere in die Geschichte eingegangen ist.

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Seitenzahl: 629

Veröffentlichungsjahr: 2023

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Sabine Ebert

Der Silberbaum. Die siebente Tugend

Roman

Verlagsgruppe Droemer Knaur GmbH & Co. KG.

Über dieses Buch

Er war der vielleicht strahlendste Fürst seiner Zeit, ein Förderer der Städte, Minnedichter und Ausrichter glänzender Turniere: Heinrich der Erlauchte, Markgraf von Meißen und Landgraf von Thüringen. Doch zu Beginn der Geschichte ist ungewiss, ob er die Herrschaft je antreten wird. Sein Vater stirbt, als Heinrich drei Jahre ist. Sein Oheim Ludwig von Thüringen, der gerade die ungarische Königstochter Elisabeth geheiratet hat, wird sein Vormund. Bewahrt er dem Neffen das Erbe oder will er es an sich reißen? In ihrer Not ruft die Markgräfinwitwe Jutta Lukas aus Freiberg zu sich. Ihn hatte sie einst vom Hof geschickt, denn seine Stieftochter Clara war die große Liebe ihres Mannes. Lukas schart Getreue um sich und ruft Marthes ältesten Sohn Thomas aus dem Heiligen Land nach Meißen. Marthes Enkelin Änne verschlägt es derweil nach Thüringen, wo sie verstörende Begegnungen mit der später heiliggesprochene Elisabeth und deren erbarmungslosem Beichtvater hat, dem fanatischen Kreuzzugsprediger und Ketzerverfolger Konrad von Marburg.

 

Weitere Informationen finden Sie unter: www.droemer-knaur.de

Inhaltsübersicht

Karte: Mitteldeutschland 1221

Dramatis Personae

Motto

Erster Teil

Wolfsjagd

Der Unglücksbote

Unterwegs nach Meißen

Unter vier Augen

Slawenblut

Gezänk im Rat

Totenwache

Kein Ort der Liebe

Bohrende Zweifel

Zweiter Teil

Zwischen zwei Welten

In memoriam

Schlechte Nachricht in Meißen

Jugendlicher Übermut

Blutspur

Die Wallburg

Sakrileg

Schimpf und Schande

Freude, Häme, Zorn

Das Urteil

Streit und Feuer

Schnelle Entscheidungen

Noch mehr Zerwürfnisse

Leipzig, Januar 1223

Kriegserklärung

Dritter Teil

Das Geschenk der Berggeister

Abschied

Letzte Heimkehr

Unerwarteter Besuch

Geschichten schürfen

Schönheit, Elend, Hoffnung

Geschenke

Neue Zeiten

Die Heimführung der Braut

Vierter Teil

Ankunft in Eisenach

Hunger und Kälte

Verkündigungen

Entfesselung

Formen von Barmherzigkeit

Außergewöhnliche Maßnahmen

Konsequenzen

Kreuzzugsvorbereitungen in Meißen

Kreuzzugsvorbereitungen in Thüringen

Ein langer Abschied

Im Lager des Kaisers

Schlechte Nachrichten

Liebe und Tod

Fünfter Teil

Der ewige Streit

Wiedersehen nach sieben Jahren

Glückliche Heimkehr

Kühne Pläne

Abschied

Recht und Gesetz

Hochzeitsfieber

Ein großer Tag für Dresden

Epilog

Nachwort

Danksagung

Anhang

Stammtafeln

Die Staufer

Die Wettiner

Die Ludowinger

Glossar

Zeittafel

Mitteldeutschland 1221

Diese Landkarte finden Sie auch im Internet unter folgendem Link: Mitteldeutschland 1221

Dramatis Personae

Historisch belegte Personen sind mit * gekennzeichnet.

 

Meißen

Dietrich*, Markgraf von Meißen und der Lausitz

Jutta* von Thüringen, seine Gemahlin

Heinrich*, beider einziger legitimer Sohn

Lukas, ehemals Burgkommandant von Freiberg, dann Erzieher und Ratgeber des jungen Heinrich

Thomas, Sohn des Begründers von Freiberg, Christian* und dessen Frau Marthe, Stiefsohn von Lukas, Kreuzfahrer und ehemals Ritter in Akkon, dann Erzieher und Ratgeber des jungen Heinrich

Christian, Knappe, sein Sohn

Meinher* von Werben, Burggraf

Heinrich* von Buchheim, Truchsess

Ida, seine Frau

Heinrich* von Schladebach, Marschall (später von Gnandstein)

Alwina, seine Frau

Konrad* von Schladebach, Kämmerer (später von Gnandstein, Bruder des Marschalls)

von Gestewitz*, Schenk

Hildebrand*, Kaplan

Milena, Mädchen slawischer Herkunft am Meißner Hof

Margarethe von Munichendorf, Hofdame

Arnold*, Heinrich* und Richard* von Mildenstein, Fehde führende meißnische Ritter

Bruno* von Porstendorf, Bischof

Heinrich*, Geistlicher, unehelicher Sohn Markgraf Dietrichs, später Dompropst von Meißen

Tammo* von Schönfeld, meißnischer Ritter

Sophia, seine Frau

Matej von Zbor, Hartmann von Eichenbrück, Jakob von Grünquell, Jurij von Kwetritzsch; meißnische Ritter und wie Tammo Vertraute des Lukas von Freiberg

Freiberg

Boris* von Zbor, slawischer Ritter, Schwiegersohn von Lukas von Freiberg

Marek, Knappe von Lukas von Freiberg

Änne, junge Witwe und Stieftochter von Boris

Mattheus, Pfarrer von St. Marien

 

Thüringen

Landgraf Ludwig IV.* von Thüringen

Elisabeth* von Ungarn, seine Gemahlin, später Heilige Elisabeth

Heinrich* Raspe, Bruder Ludwigs

Berthold*, Kaplan

Hermann* von Schlotheim, Truchsess

Rudolf* von Vargula, Schenk

Guda*, Hofdame und Freundin von Elisabeth

Isentrud* von Hörselgau, Hofdame und Freundin von Elisabeth

Graf Poppo* von Henneberg, Freund und Vertrauter des Landgrafen

Konrad* von Marburg, Beichtvater Elisabeths, Kreuzzugsprediger und Inquisitor

Hildegund*, junges Mädchen, das im Marburger Hospital arbeitet

Irmengard* und Hedwig* von Seebach, Hospitalschwestern, die Elisabeth in Marburg von Konrad an Stelle ihrer Freundinnen als Dienerinnen aufgezwungen wurden

Hochadel und Geistlichkeit

Kaiser Friedrich II. von Staufen*

König Heinrich VII.*, sein Sohn (später abgesetzt und eingekerkert)

Honorius III.*, Papst (bis 1227)

Kardinalbischof Hugolinus* de Segni, als Papst ab 1227 Gregor IX.*

Hermann* von Salza, Hochmeister des Deutschen Ordens

Herzog Albrecht* von Sachsen

Bischof Ekbert* von Bamberg

König Andreas II.* von Ungarn, Elisabeths Vater

König Wenzel* von Böhmen

Konstanze* von Babenberg, Tochter des Herzogs Leopold V.* von Österreich, Herzog der Steiermark, und Braut Heinrichs von Meißen

Friedrich* der Streitbare, Herzog von Österreich und Herzog der Steiermark, Bruder Konstanzes

Graf Heinrich III.* von Sayn

Heinrich*, Burggraf von Dohna

Otto*, sein Sohn

Ludeger*, Abt des Klosters Marienzell (heute: Altzella)

Mechthild* von Andechs, Äbtissin des Klosters Kitzingen, Tante von Elisabeth

Heiliges Land (Akkon und Jerusalem)

Ruzanna, Jolanda, Sofya; Thomas’ Töchter

Mariam, Bäckerstochter

Notker, Mönch

Gerold* von Lausanne, Patriarch von Jerusalem

Al-Malik al-Kamil*, Sultan von Ägypten

Hermann* von Salza, Hochmeister des Deutschen Ordens

Pedro* de Montaigne, Großmeister der Templer

Bertrand* de Thessy, Großmeister der Johanniter

Als glanzvollen Herrscher über große Ländereien sollte man diesen Fürsten dereinst preisen. Statt Krieg zu führen, schrieb er lieber Minnelieder, förderte die Städte und die Künste, beschützte die Juden. Mehr als fünfzig Jahre währte seine Herrschaft in einer Zeit voller Umbrüche. Und noch Jahrhunderte später erzählen Menschen staunend von dem prächtigen Turnier, bei dem er jedem Sieger ein silbernes oder gar goldenes Blatt von einem eigens dafür erschaffenen Baum schenkte.

Doch als diese Geschichte beginnt, ist er ein Kind von kaum drei Jahren, dessen Vater starb und dessen ratlose Mutter darüber verzweifelte, wie sie ihrem Sohn Leben und Titel bewahren und das Land vor einem blutigen Krieg retten sollte.

Erster Teil

Ungewisse Zeiten

Wolfsjagd

Burgberg Meißen, 17. Februar 1221

Der Lärm einer ankommenden Reitergruppe schreckte Markgräfin Jutta aus ihren Gedanken. Die Hundemeute kläffte, Pferde stampften, der Stallmeister rief lautstark nach seinen Gehilfen. Doch so zeitig wurde die Jagdgesellschaft nicht zurückerwartet. Jäh wurde die Fürstin – eine oft schwermütige Frau Mitte dreißig – von bösen Vorahnungen überfallen. Hatte sich etwa ein Unglück ereignet? Mit kälteklammen Fingern legte sie ihre Stickarbeit beiseite und lief zum Fenster, während die Hofdamen in der Kemenate ihr unverhohlen neugierig nachstarrten. Eisiger Wind blies Jutta ins Gesicht und ließ den Schleier flattern, während sie Ausschau hielt.

Ihr Gemahl, der Markgraf von Meißen und der Lausitz, war an diesem klirrend kalten Morgen mit einem Dutzend Männer fortgeritten, um ein Wolfsrudel aufzuspüren, das in den Dörfern um Meißen Schafe riss und die Bewohner in Angst und Schrecken versetzte. Die Bauern hatten deshalb ihren Fürsten um Hilfe angefleht.

Doch der Blick aus dem Fenster offenbarte weder Verletzte noch Jagdbeute.

Erleichtert, wenngleich immer noch verwundert, orderte Jutta einen Begrüßungstrunk für ihren Gemahl.

»Bringt mir meinen Umhang!«, befahl sie einer ihrer Hofdamen, ließ sich das mit Eichhörnchenfellen gefütterte Stück über die Schultern legen und hastete hinunter auf den Burghof. Die Damen folgten ihr schnatternd wie ein Schwarm Gänse.

Fürst Dietrich, ein hochgewachsener, muskulöser Mann von etwa sechzig Jahren, entdeckte seine Gemahlin sofort und las die Sorge auf ihrem Gesicht.

»Wir haben genug Lärm veranstaltet, um das Rudel für eine Weile aus der Gegend zu vertreiben«, erklärte er mit einem schiefen Lächeln, um sie zu beruhigen.

Dass er die vorzeitige Rückkehr befohlen hatte, weil er sich unwohl fühlte, verschwieg er. Ebenso die Stiche in der Brust. Es sollte weder Aufhebens noch Gerüchte geben. Doch als er sich aus dem Sattel schwingen wollte, durchfuhr ihn ein jäher, gewaltiger Schmerz. Totenbleich griff er sich an den linken Arm und sackte auf dem Pferderücken zusammen.

Jemand kreischte entsetzt, und Jutta zuckte so heftig zusammen, dass der Inhalt des Willkommenspokals dampfend auf den gefrorenen Burghof schwappte. Ein paar Männer rannten herbei, um den Fürsten vorsichtig aus dem Sattel zu ziehen.

»Bringt ihn nach oben und ruft den Medicus, sofort!«, schrie die Markgräfin. Dann hastete sie voraus. Dünne Schichten von Eis auf den Pfützen barsten krachend unter ihren Schritten.

Der Kellermeister blieb mit dem Pokal, den sie ihm hastig übergeben hatte, wie versteinert stehen und sah ihnen nach, wobei kleine Atemwolken aus seinem vor Schreck geöffneten Mund schwebten.

 

Vorsichtig wurde Dietrich auf das Bett gehievt.

Jutta blieb neben seinem Lager stehen und blickte ihn an. Nach seiner Hand zu greifen, wagte sie nicht.

Es hatte nie solch eine innige Liebe zwischen ihnen gegeben, wie die Spielleute sie schwärmerisch besangen. Vor fast dreißig Jahren war sie ihm im Kindesalter anverlobt worden; eine dynastische Verbindung, durch die Jutta als Tochter des Landgrafen von Thüringen dem damals in einer verzweifelten Lage steckenden Dietrich den militärischen Beistand Thüringens einbrachte. Das rettete ihm Titel, Land und Leben. Nur dafür war sie gut genug gewesen, nur deshalb hatte er nach langem Zögern dem Ehebund zugestimmt, den ihr Vater vorgeschlagen hatte. Gewollt hatte ihr Gemahl sie nie, geschweige denn begehrt.

Zitternd von der Anstrengung beim Treppensteigen trat der Medicus ein, ein spindeldürrer Greis, der seinen Kopf vorstreckte wie eine Schildkröte, weil er nur noch schlecht sah. Er beugte sich ganz dicht über den Patienten, und sobald er zu einem Untersuchungsergebnis gelangt war, herrschte er seinen Gehilfen an, sofort sämtliche Gerätschaften für einen Aderlass aus der Medizintruhe zu holen.

Hastig kramte der Helfer nach allem Benötigten, schob zögernd den reich bestickten Ärmel von Dietrichs Gewand hoch und klemmte ihm eine Schüssel zum Auffangen des Bluts unter den Arm.

Der Medicus krümmte sich vornüber, bis sein Gesicht eine Handbreit über der Stelle schwebte, an der er schließlich nach einigem Tasten die Fliete ansetzte. Dann starrte er auf das strömende Rot, als könne er daraus eine Antwort lesen, und murmelte ein Gebet. Das hätte eigentlich vor dem Eingriff geschehen müssen. Die Angst um seinen fürstlichen Patienten hatte es ihn vergessen lassen.

Bang starrte Jutta auf ihren Gemahl, der röchelnd atmete und vergeblich zu sprechen versuchte. Seine linke Gesichtshälfte wirkte grotesk verzogen.

»Ihr solltet einen Geistlichen rufen lassen, Durchlaucht«, krächzte der Medicus nach einem Hüsteln in die entsetzte Stille.

Seine Worte bestätigten, was sich Jutta bis eben nicht hatte eingestehen wollen: Ihr Gemahl würde sterben, vielleicht sogar schon in dieser Stunde.

Furcht überkam sie wie ein Schwall eiskalten Wassers. Am liebsten hätte sie Dietrich angeschrien: Ihr könnt uns noch nicht verlassen! Euer einziger legitimer Erbe ist kaum drei Jahre alt! Wie soll ich allein ihm bis zu seiner Volljährigkeit zwei Markgrafschaften bewahren? Zwei Fahnenlehen des Kaisers? Aus allen Himmelsrichtungen werden sich die Aasgeier auf uns stürzen …

Die Mark Meißen war reich mit Silbervorkommen gesegnet, die als Beute lockten, und die Lausitz war zwar längst nicht so dicht besiedelt wie die Gebiete am Rhein, aber hier gab es Land zu erschließen. Es lagen da draußen noch ganz andere Wölfe auf der Lauer, zweibeinige. Die Nachricht vom Tod des Fürsten ohne handlungsfähigen Nachfolger könnte in kürzester Zeit einen Krieg auslösen.

Schreckensvisionen von mordenden und plündernden Horden ließen Jutta erzittern. Sie fürchtete nicht nur stark gerüstete Heere gieriger Fürsten. Dietrich hatte sich in den letzten Jahren viele zusätzliche Feinde gemacht – im bewaffneten Streit mit den Leipziger Bürgern und auch in einem Teil seiner Ritterschaft, der sich gegen ihn erhoben hatte.

Während Jutta mit aller Kraft ihre Angst zu verbergen suchte, ließ sie ihre Blicke zwischen den Männern in der Kammer wandern. Keinem konnte sie trauen. Der eitle Truchsess war noch jung und in dem von seinem Vater ererbten Amt überfordert. Er würde sich im Handumdrehen dem Erstbesten anschließen, der die drohende Machtleere auszufüllen gedachte.

Der kampferprobte, aber starrköpfige Marschall würde keine Befehle von einer Frau entgegennehmen. Und der eilig herbeigerufene Kaplan namens Hildebrand war alt und inzwischen recht vergesslich.

Sorgenvoll wechselte der Kaplan ein paar leise Worte mit dem Medicus, dann verkündete er mit zittriger Stimme: »Durchlaucht, ich muss Euch und alle anderen Anwesenden hinausbitten.«

Voraussetzung für die Sterbesakramente war eine letzte Beichte. Würde ihr Gemahl sie noch ablegen können, um seines Seelenheils willen?

Jutta wich das letzte bisschen Farbe aus dem Gesicht. Sie ging mit den anderen vor die Tür und befahl, dass ihr Sohn geweckt und herbeigeholt wurde.

»Lasst uns für unseren Fürsten beten!«, forderte sie die anderen auf und faltete selbst die Hände.

Vielleicht genas ihr Gemahl ja wieder? Vielleicht geschah noch ein Wunder? Er darf uns nicht schutzlos zurücklassen, dachte sie erneut. Am Morgen hatte doch nichts auf eine Katastrophe gedeutet.

Nach einiger Zeit wurde die Tür vorsichtig geöffnet. Der Kaplan schlurfte zwei Schritte heraus, unterdrückte wenig erfolgreich einen Hustenanfall und sagte bekümmert: »Ihr könnt jetzt wieder hinein und Abschied nehmen.«

Wortlos folgte Jutta ihm. Hinter ihr führte die Kinderfrau den kleinen Markgrafensohn ans Sterbelager seines Vaters. Wie es ihm beigebracht worden war, verneigte er sich, wenn auch ein wenig wacklig, und schwieg dann, weil ihn sein Vater nicht zum Sprechen aufforderte. Er war zu jung, um zu verstehen, was vor sich ging. Und seiner Mutter fehlten die Worte, es ihm jetzt und hier zu erklären.

Dietrichs Augen flackerten hin und her, bis es ihm endlich gelang, den Blick auf seinen Erben zu richten. Seine Lippen versuchten ein Lächeln, doch es war nur ein hilfloses Zucken des Mundwinkels.

Verzweifelt hoffte Jutta darauf, auch ein letztes Lächeln von ihrem Mann zu erhaschen. Aber sie hoffte vergebens. Der Blick des Sterbenden ging an ihr vorbei und verweilte dann an einem Punkt in der Ferne, und selbst auf seinen vom Todeskampf verzerrten Gesichtszügen erkannte sie, an wen er dachte.

Sie. Jene Frau, die ihm zwei Bastarde geboren hatte, die er freudestrahlend als seine Söhne anerkannte und als Geistliche ausbilden ließ. An der er immer noch hing, obwohl sie längst begraben und zu Staub geworden war.

Nicht ein einziges Mal in ihrer langen Ehe hatte Dietrich seine Gemahlin so innig angesehen, auch wenn er es ihr gegenüber nie an Höflichkeit hatte fehlen lassen.

Dietrich hatte die Liebschaft mit jener Clara aus Christiansdorf am Tag seiner Vermählung mit Jutta beendet. Dennoch hatte er nie aufgehört, Clara zu lieben.

Dabei wollte ihm Jutta doch stets eine gute Gemahlin sein! Hatte ihm Söhne und Töchter geboren. Die beiden Mädchen waren schon verheiratet, die Söhne in der Wiege gestorben – bis auf den kleinen Heinrich, der nun verschlafen und verwirrt am Bett seines Vaters stand.

Ein gequälter Seufzer des Sterbenden riss Jutta aus ihren bitteren Gedanken.

Die Tür wurde geöffnet, und gebieterisch trat der mächtige Bischof von Meißen ein, begleitet von Dietrichs Bastard mit jener Frau, deren Namen sie tief in sich begraben wollte, ohne es jemals zu schaffen.

Bischof Bruno trat ans Sterbebett und schlug ein Kreuz. Nur Augenblicke später tat der Markgraf von Meißen und der Lausitz seinen letzten Atemzug. Augen und Wangen des Sterbenden sanken ein, die Haut um Mund und Nase verlor alle Farbe.

Jedermann im Raum bekreuzigte sich und sprach ein leises Gebet.

Doch kaum hatte Jutta die Seele ihres Mannes dem Allmächtigen anempfohlen, richtete sie sich auf und zeigte mit ausgestrecktem Arm auf den jungen Mann neben dem Bischof.

»Er soll gehen! Er hat hier nichts zu suchen!«, schrillte sie. Die überwältigende Angst in ihr war plötzlich in Zorn umgeschlagen. Zorn darüber, dass ihr Mann all die Jahre eine andere mehr geliebt hatte als sie, seine rechtmäßige Gemahlin.

Nun waren sie beide tot. Dietrich und seine Hure. Der Anblick ihres Bastards sollte diese Wunde nicht immer wieder in ihr aufreißen dürfen.

Der jüngere der beiden Geistlichen zuckte zusammen und trat einen halben Schritt zurück, ohne den Blick von seinem toten Vater zu lösen. Sein Gesicht versteinerte.

»Durchlaucht … Die Trauer überwältigt Euch«, redete der Bischof der Witwe ins Gewissen. »Ihr habt Euren geliebten Gemahl verloren – und er seinen Vater.«

»Ich dulde keine Bastarde am Totenbett des Fürsten von Meißen!«, fuhr sie ihn an.

»Er will am Sterbelager seines Vaters beten. Gewährt ihm diesen Moment des Abschieds!«, mahnte Bischof Bruno von Porstendorf, nun deutlich strenger. Er war ein äußerst ehrgeiziger Mann und nicht gewohnt, dass seine Worte missachtet wurden. Dietrich hatte sich fürsorglich um seine Bastarde gekümmert. Der ältere, der sogar den Namen seines Vaters trug, durfte hoffen, mit päpstlichem Dispens einmal Bischof von Naumburg zu werden. Dort wurde gerade über der alten Basilika ein überaus prachtvoller neuer Dom gebaut. Und den jüngeren Heinrich neben sich sah Bruno schon als künftigen Dompropst von Meißen.

»Er soll gehen!«, wiederholte Jutta schroff. Ihr Herz war zu Eis erstarrt. »Beten kann er im Dom. Oder irgendwo sonst, wie es seinesgleichen zusteht.«

»Der Glaube …«, widersprach Bruno, doch sein gemaßregelter Begleiter fiel ihm bedrückt ins Wort. »Verzeiht mir, Hochwürden. Dies ist keine Glaubensfrage, sondern eine Familienangelegenheit. Ich möchte nicht der Anlass für einen Streit am Totenbett sein.«

Der Bischof wollte erneut eingreifen, aber der Jüngere schüttelte den Kopf und ging wortlos hinaus. Es war nicht das erste Mal, dass er als Bastard auf seinen Platz verwiesen wurde. Auch wenn er der Sohn eines Markgrafen war.

 

Sobald sich die Tür hinter dem jungen Geistlichen geschlossen hatte, herrschte Grabesstille in der Kammer.

Schließlich raffte sich der greise Kaplan auf, das beklemmende Schweigen zu brechen. Erneut kämpfte er mit einem Hustenanfall, ehe er nach vorsichtigem Blick auf den Bischof krächzte: »Fürst Dietrich hatte einen guten Tod, im Kreise seiner Familie und Getreuen.«

»Der Verblichene benötigt eine Totenwäsche, dann muss er angemessen aufgebahrt werden, bis wir seine fleischliche Hülle ins Kloster Marienzell überführen und dort beisetzen«, beeilte sich der junge Truchsess zu erklären, der wie ein Pfau herausgeputzt war. Mehr Schmuck als er trug nur der dickleibige Bischof.

Jutta nickte. Das waren die naheliegenden Dinge. Was noch?

Mühsam sammelte sie sich.

»Die Domglocken sollen läuten. Messen sollen gelesen werden. Ein Bote muss ausgesandt werden … zu meinem Stiefbruder, Landgraf Ludwig von Thüringen.« Der Mund wurde ihr ganz trocken. »Ihn hat mein Gemahl zum Vormund unseres Sohnes bestimmt für den Fall, dass er vor Heinrichs Volljährigkeit stirbt.«

Landgraf Ludwig zählte erst zwanzig Jahre, doch er galt als Vorbild an Ritterlichkeit. Würde er seinem Neffen das Land bewahren – oder es an sich reißen? So gut konnte sie ihn nicht einschätzen. Er war erst geboren worden, als sie schon jungvermählt an Dietrichs Seite in Meißen lebte.

»Schickt einen Boten … zum Kaiser?«

Fragend sah sie zum Bischof, der zustimmend nickte. Der noch junge Kaiser – Friedrich von Staufen, der zweite dieses Namens, Enkel des legendären Friedrich Barbarossa – weilte wie fast immer in Italien. Sollte die meißnische Gesandtschaft zusehen, wie und wo sie ihn aufspürte, um ihm mitzuteilen, dass einer der bedeutendsten Fürsten seines Reichs dahingeschieden, aber die Nachfolge gesichert sei.

Doch das war sie mitnichten. Einem Kind von nicht einmal drei Jahren konnte nur zu leicht etwas zustoßen. Und das Erbe ihres Gemahls stellte eine große Verlockung dar: zwei Markgrafschaften und gewaltige Vorkommen von Silbererz.

Alle in der Kammer starrten sie an, warteten auf weitere Befehle.

»Wir sollten Boten ins ganze Land aussenden, damit sie die traurige Botschaft verkünden und überall die Glocken läuten, damit Messen für das Seelenheil unseres dahingegangenen Fürsten gelesen werden«, erinnerte der Truchsess diensteifrig.

»Nein, wartet noch!«, befahl Jutta schroff zum allseitigen Erstaunen.

Selbst falls ihr Stiefbruder nicht auf der Wartburg weilen sollte, sondern der Bote ihn schon in seinen weiter östlich gelegenen Besitzungen antraf, im besten Fall auf der Neuenburg, konnte er wegen der verschneiten Wege frühestens in sechs bis acht Tagen in Meißen sein. Und je länger sie am Totenbett ihres Gemahls stand, um so mehr fürchtete sie, dass bis dahin schon jemand Leben und Erbe ihres Sohnes angriff. Vielleicht bereits morgen. Oder sogar heute?

Sie zog ihren Sohn noch enger zu sich und legte die Hände auf seine schmalen Schultern.

Der kleine Heinrich brauchte einen Erzieher, wenn er älter wurde, doch jetzt zuallererst einen Beschützer. Und sie brauchte einen weisen Ratgeber. Bevor der nicht auf dem Burgberg eingetroffen war, sollte jenseits von Meißen niemand außer Ludwig und dem Kaiser vom Tod des Fürsten erfahren. Am liebsten hätte sie die Hiobsbotschaft bis zu Ludwigs Ankunft ganz und gar verheimlicht. Aber das war unmöglich.

Dieser Beschützer und Erzieher musste jemand sein, auf den sie bedingungslos zählen konnte, selbst wenn alle anderen die Seiten wechseln sollten.

Im Grunde ihres Herzens wusste sie, was sie als Nächstes sagen würde, sagen musste. Es riss eine nie verheilte Wunde noch tiefer auf, für diese Aufgabe ausgerechnet den Vater jener Frau zu bestimmen, die ihr Gemahl mehr geliebt hatte als jeden sonst, viel mehr als sie. Doch in dieser Notlage musste sie die Kränkung zurückstellen. Niemand war klüger und Dietrich gegenüber loyaler als er.

So nahm sie all ihre Kraft zusammen und befahl schroff: »Schickt nach Lukas von Freiberg!«

Der Unglücksbote

Ohne etwas von der Tragödie in Meißen zu ahnen, saß Lukas in seinem steinernen Haus in Freiberg beim Bier mit seinem Schwiegersohn Boris von Zbor, einem Ritter slawischer Herkunft.

Es war bereits dunkel. Unmengen von Schnee erdrückten die Stadt, Windböen fauchten um die Mauern, und Graupelschauer prasselten gegen die Fensterladen.

»Sieh uns an, zwei alte Männer, die sich am Feuer die Knochen wärmen und von längst vergangenen Zeiten träumen«, sagte er wehmütig und auch selbstironisch. »Ich zähle nun bald siebzig Jahre, mein Haar ist fast weiß … Du warst einmal ein Hüne …«

»Bin ich immer noch!«, protestierte der Slawe und hob den Becher. »Ich könnte dich mühelos über den Haufen rennen.«

Lukas zog die Augenbrauen hoch und grinste spöttisch. Es stimmte, Boris von Zbor war fast einen Kopf größer als die meisten Ritter. Doch er, Lukas, beherrschte trotz seiner Jahre das Schwert wie kaum jemand sonst in der Mark, auch wenn er vielleicht nicht mehr ganz so schnell war wie als junger Mann. Der poltrige Einspruch seines Schwiegersohns konnte ihn nicht aus seiner wehmütigen Stimmung reißen.

»Kein Mensch sollte so alt werden, dass er die meisten seiner Waffengefährten und sogar seine Kinder zu Grabe tragen muss. Selbst mein jüngster Enkel träumt schon von seiner Schwertleite …«

Den Namen seiner geliebten Frau Marthe nannte er nicht. Wenn er an sie dachte, überkam ihn jedes Mal eine Woge von Zärtlichkeit – die jäh in Schmerz über ihren Tod umschlug und ein schwarzes Loch in sein Herz riss.

Jeder wusste, dass er immer noch um sie trauerte.

So wie Boris seine Liebe betrauerte, Marthes Tochter Clara.

»Er ist jetzt vierzehn, der Kleine, oder?«, fragte der Slawe und kratzte sich am Kinn.

»Stimmt, aber als ich ihn zum ersten und einzigen Mal gesehen habe, reichte er mir kaum bis an den Gürtel«, erinnerte sich Lukas mit einem Lächeln.

Marthes Erstgeborener, sein Stiefsohn Thomas, lebte seit langem im Heiligen Land, in Akkon. Dort stand er in Diensten des Regenten von Jerusalem. Ein Jahr vor Marthes Tod hatte Lukas mit ihr eine Pilgerreise dorthin unternommen, um ihren Sohn wiederzusehen, die Schwiegertochter und die Enkel kennenzulernen.

»Ich bin froh, dass wir diese Wallfahrt noch gemeinsam erleben durften«, sagte er sehnsüchtig. »Marthe war so glücklich, sie alle in die Arme schließen zu können: Thomas, seine Frau Eschiva, beider Kinder … Sie hat die Reise trotz aller Beschwernisse so genossen.«

Seine Enkelin Änne, eine zierliche junge Frau mit Witwenschleier, legte die Spindel beiseite, die sie bis eben mit geschickten Fingern hatte tanzen lassen, griff wortlos nach dem Krug und ging in die Vorratskammer, um ihn neu zu füllen – aber nur zur Hälfte.

»Es ist schon spät«, mahnte sie.

Lukas griff sacht nach ihrem Arm. »Du bist nicht meine Magd, Liebes«, sagte er sanft.

»Irgendwer muss sich ja um dieses Haus kümmern, da du dich strikt weigerst, noch einmal zu heiraten«, hielt sie ihm schroff entgegen.

Natürlich hatte Lukas Gesinde, das ihm den Haushalt besorgte. Der Stallbursche schlief bei den Pferden, und in seinen Diensten standen eine alte Witwe und ihre zehnjährige Enkelin, die er mit dieser Anstellung vor dem Verhungern bewahrte. Doch heute halfen die beiden in der Burg aus, wo die Hälfte der Dienerschaft fiebernd und hustend darniederlag. Jetzt räumten sie gewiss zusammen mit dem Burggesinde die Küche nach dem abendlichen Mahl auf. Deshalb war Lukas mit Boris und Änne allein – abgesehen von den Knappen, die oben hoffentlich schliefen.

»Du willst doch auch nicht wieder heiraten, seit dein Mann von uns gegangen ist«, hielt er seiner Enkelin vor.

»Ich werde dich gewiss nicht zwingen«, hieb auch Boris in diese Kerbe. »Aber die Leute reden. Mit fünfundzwanzig ist dein Leben nicht vorbei. Außerdem brauchst du Schutz, wenn wir zwei Grauschöpfe eines Tages nicht mehr da sind.«

»Lass die Leute reden!«, schnaubte Änne. »Das Letzte, was ich brauche, ist ein Kerl, der am Bierkrug hängt und mir im Rausch das Geschirr kurz und klein schlägt.«

Die erste Zeit ihrer Ehe mit Konrad von Lichtenborn war glücklich gewesen, sonst hätten weder Lukas noch Boris von Zbor ihr Einverständnis dazu gegeben. Doch nachdem ihrem Mann bei einem Reitunfall ein Bein zerschmettert worden war, hatte er sich in seinen letzten Lebensmonaten aus Verbitterung dem Trunk ergeben.

Und dass Änne kein Kind lebend zur Welt bringen konnte, sondern jede Schwangerschaft vor der Zeit mit einem traurigen Verlust endete, schien alle etwaigen Bewerber abzuschrecken. Normalerweise würden sich die Männer von Stand darum reißen, in Lukas’ Familie einzuheiraten. Er war nicht nur ein in der Ritterschaft und beim Markgrafen geachteter Mann, er gehörte auch zu den Begründern dieses Ortes, der im Dunklen Wald aus wilder Wurzel entstanden war. Als sechzehnjähriger, tatendurstiger Knappe hatte er zusammen mit seinem Vorbild und Freund Christian die ersten Siedler aus Franken hierhergeführt. Dass bald darauf in dem entlegenen Weiler überaus reiche Silbervorkommen entdeckt worden waren und aus Christiansdorf rasch eine Stadt mit einer wehrhaften Burg wuchs, konnte damals niemand ahnen. Dafür vermochte wohl fast jeder Freiberger ein Dutzend Situationen aufzuzählen, in denen Lukas mit seinen Getreuen die Stadt aus einer Gefahr gerettet hatte.

Änne kam aus der Vorratskammer zurück und stellte den aufgefüllten Krug ab.

»Um Vater muss ich mich auch noch kümmern seit Mutters Tod! Wer tut es sonst, da auch er sich strikt weigert, sich eine neue Frau zu suchen? Das muss wohl in der Familie liegen«, sagte sie mit vorwurfsvollem Blick zu Boris von Zbor.

Der war zwar genau genommen nur ihr Stiefvater, aber er hatte nie einen Unterschied gemacht zwischen den Kindern, die die junge Witwe Clara in die Ehe mitbrachte, und ihren später geborenen gemeinsamen Sprösslingen. Nie hatte er Clara auch nur mit einer Silbe vorgeworfen, dass zwei ihrer vor der Heirat mit ihm geborenen Söhne Bastarde waren – Frucht ihrer Liebe zu Markgraf Dietrich, den Boris als aufrechten Mann schätzte.

»Marthe und deine Mutter waren ganz besondere Frauen. Diese Lücke kann niemand ausfüllen«, sagte der hünenhafte Slawe wehmütig.

»Also sitzt ihr hier beim Bier und trauert ihnen bis ans Ende eures Lebens nach?«, hielt Änne ihm und Lukas vor.

Zum Glück blieb den Männern eine Antwort erspart, denn Geräusche kündeten von der Ankunft eines Reiters. Sofort stellten sie die Becher ab und strafften sich, den Blick auf die Waffen gerichtet, die griffbereit neben der Tür standen.

Ein Reiter zu dieser Stunde bedeutete Gefahr – oder schlimme Nachrichten. Die Stadttore waren längst verschlossen, und bei solchem Wetter verließ kein vernünftiger Mensch ohne triftigen Grund sein Haus.

Jemand pochte energisch an die Tür.

»Lukas von Freiberg! Lasst mich ein, die Markgräfin schickt mich!«

Lukas und Boris tauschten einen verwunderten Blick.

Markgräfin Jutta hatte sie beide …. nun ja, nicht direkt vom Hof verbannt, das würde Dietrich nicht dulden. Doch um des ehelichen Friedens willen hatte der Markgraf dem Wunsch seiner Gemahlin entsprochen, die Anwesenheit dieser beiden Ritter in Meißen auf das Nötigste zu beschränken. Jutta wollte nicht ständig durch sie an Clara erinnert werden. Und schließlich brauchte Dietrich auch in seiner Silberstadt Freiberg zuverlässige und kampftüchtige Gefolgsleute. Die Gruben, die Schmelzhütten und die Burg samt Münzstätte und Silberkammer mussten geschützt werden.

Nicht länger als einen Wimpernschlag benötigte Lukas für all diese Überlegungen, während er zur Tür ging, sein Schwert in Reichweite. Auf schlechte Nachrichten gefasst, öffnete er. Ein Schwall eisiger Luft fuhr ins Haus, und winzige Hagelkörner prasselten ihm ins Gesicht. Als er den Boten erkannte, atmete er erleichtert – wenn auch nicht zur Gänze erleichtert – auf und ließ ihn ein.

»Hubert, was führt Euch so spät in der Nacht und im tiefsten Schnee nach Freiberg? Wie habt Ihr es überhaupt geschafft, Euch von Meißen hierher durchzuschlagen?«

Der Bote, ein junger rothaariger Ritter, trat ein, zog die mit Hagelkörnern übersäte Gugel vom Kopf und stampfte mehrfach mit den Füßen auf, um den Schnee von den Schuhen zu lösen.

Mit kälteklammen Fingern zerrte er sich die Handschuhe von den Fingern, stopfte sie in seinen Gürtel und sah die beiden Männer bedrückt an.

»Die Markgräfin erwartet Euch morgen dringend in Meißen, Lukas.«

Der Empfänger dieser Botschaft war erstaunt und alarmiert zugleich. Jutta wollte ihn sehen? Entweder hatte sie einen unliebsamen Auftrag für ihn, aber einen Racheakt, gleich welcher Art, würde ihr Dietrich nicht durchgehen lassen. Oder es war etwas wirklich Dramatisches geschehen. Doch wieso rief Jutta ihn und nicht der Markgraf?

»Aus welchem Grund wünscht Ihre Durchlaucht ausgerechnet mich am Hof?«

»Das ist allein für Eure Ohren bestimmt«, erklärte der junge Bote verlegen.

Änne ging zum Herd, füllte dem unerwarteten Besucher eine Schale mit Suppe und stellte sie ihm hin. »Das wird Euch bei der Kälte guttun.«

Dann stieg sie die steile Treppe hinauf, um dem Gast eine Schlafstatt herzurichten.

Auch Boris wollte sich erheben, doch Lukas hinderte ihn am Gehen.

»Wenn ich morgen früh nach Meißen reiten soll, muss sich mein Schwiegersohn um die Sicherheit von Burg, Münzstätte und Silberkammer kümmern. Also sollte er erfahren, was vor sich geht. Ich bürge für seine Verschwiegenheit.«

Verunsichert sah der Bote erneut von einem zum anderen. Dann holte er tief Luft und sagte leise und bedrückt: »Der Markgraf ist tot.«

Lukas und Boris erschraken und bekreuzigten sich.

Dann nötigte Lukas den jungen Ritter, sich zu setzen, schenkte ihm Bier ein und forderte Einzelheiten. Von einer Erkrankung des Fürsten war ihm nichts bekannt. Da kam schnell der Verdacht auf, dass Gift im Spiel war. Es wäre nicht der erste Giftmord in der markgräflichen Familie. Bei einem war er sogar Augenzeuge geworden.

»Alles ging so rasch«, begann Hubert sichtlich erschüttert. Die Finger hatte er zum Wärmen um die irdene Schale mit der Suppe gelegt, doch er aß nicht, ehe er seinen spärlichen Bericht beendet hatte.

»Wir reiten morgen in aller Frühe los und nehmen schnelle Pferde«, entschied Lukas. Nun hatte er es eilig. Durch die enormen Vorkommen von Silbererz in und um Freiberg war die Mark Meißen zu einem der einträglichsten Gebiete des Kaiserreichs geworden. Ohne kampferprobten und durchsetzungsstarken Herrscher auf dem Meißner Burgberg drohte blutiger Krieg.

Doch eine Frage lag ihm noch auf der Seele. »Wer außerhalb Meißens weiß vom Tod des Markgrafen?«

»In Meißen wird es sich schnell herumgesprochen haben«, gab der Bote Auskunft. »Aber jenseits des Burgbergs? Soweit ich weiß, sandte die Markgräfin gestern außer mir nur zwei Boten aus: einen zum Landgrafen von Thüringen und einen zum Kaiser.«

Diese Auskunft brachte Lukas sofort zu Schlussfolgerungen, die ihm nicht gefielen. Ein schneller Blickwechsel mit Boris sagte ihm, dass diese Nachricht auch den Slawen beunruhigte. Doch davon ließ er sich nichts anmerken.

»Seid mein Gast«, lud er Hubert ein. »Legt den nassen Umhang ab, stärkt Euch endlich und löscht Euren Durst.«

Lukas ging nach draußen, um sich zu vergewissern, dass der Stallbursche für das Pferd des Unglücksboten sorgte.

Dann lief er durch den Schnee zurück ins Haus und stieg die Treppe hoch zu der Kammer, in der sein und Boris’ Knappe steckten: Wilfried, Sohn eines Ritters im Burglehen, und der rothaarige Marek, jüngster Sohn einer mit Lukas befreundeten Familie slawischer Herkunft. Die beiden waren tüchtige angehende Männer, aber auch für jeden Schabernack zu haben, den junge Burschen nun mal trieben.

Er hörte sie reden, doch als er sich auf knarrenden Stufen näherte, verstummten sie jäh.

Schwungvoll riss Lukas die Tür auf. Der siebzehnjährige Wilfried und der erst vierzehnjährige Marek schraken zusammen und starrten ihn mit unverkennbar schlechtem Gewissen an. Mareks auffällig abstehende Ohren leuchteten feuerrot durch den Schein der Kerze auf dem Fenstersims, passend zu seiner Haarfarbe.

»Schlaft jetzt endlich, ihr müsst morgen sehr früh aufstehen. Wir reiten nach Meißen, und wir haben es dabei sehr eilig.«

Verblüfft starrten sie ihn an und warteten darauf, dass er den Grund für diese unerwartete Reise nannte.

Doch weitere Erklärungen gab Lukas nicht ab, denn er hatte noch keine Antworten. Die würde er wohl erst in Meißen bekommen.

Im Gehen hörte er die Burschen wispern.

»Das wird eine Plackerei morgen bei dem vielen Schnee«, murrte der Ältere.

»Ein Abenteuer! Es ist bestimmt etwas ganz Großes geschehen, wenn sie uns rufen«, widersprach der Rotschopf begeistert. »Ich sterbe fast vor Neugier.«

Kopfschüttelnd stieg Lukas die Treppe wieder hinab.

Nachdem Änne dem Gast einen Schlafplatz hergerichtet hatte, schickte er sie zu Bett und harrte nur noch auf den Moment, bis sich der vom langen Ritt erschöpfte Bote, aus dem nicht mehr an Auskünften herauszuholen war, zum Schlafen zurückzog.

Dann beugte er sich über den Tisch zu Boris.

»Wir könnten jetzt die halbe Nacht lang sitzen und in Erinnerungen an einen großen Mann schwelgen, mein Freund, an gemeinsam geschlagene Schlachten. Und irgendwann werden wir das auch«, sagte er mit gedämpfter Stimme. »Doch jetzt müssen wir alles tun, um die Erbfolge für den kleinen Heinrich zu sichern. Sonst droht Krieg. Ein Krieg, der viele Leben kosten wird und Jahre dauern kann.«

Aus Boris’ Zügen war schon längst jeder Hang zum Scherzen gewichen. Er nickte nur und murmelte: »Gott steh uns allen bei.«

Er stemmte sich hoch und klopfte dem Freund auf die Schulter.

»Es bringt nichts, zu grübeln. Reite morgen in aller Frühe los und sieh, was du bewirken kannst.«

»Du bist einverstanden, dass ich auch deinen Knappen mitnehme? Dann kann ich ihn zu dir schicken, falls eine vertrauliche Nachricht zu überbringen ist.«

Boris nickte, und Lukas trank im Stehen seinen Becher leer.

»Wenn Jutta ausgerechnet mich nach Meißen ruft, dann muss sie wahrlich verzweifelt sein.«

Unterwegs nach Meißen

Gleich im ersten Morgengrauen, nach einer Nacht mit wenig Schlaf und vielen schweren Gedanken, scheuchte Lukas alle im Haus an ihre Aufgaben.

Die Knappen ließ er die Pferde satteln und beladen, während er selbst den kurzen Weg zur Burg ging, um dort Boris für die Zeit seiner Abwesenheit offiziell das Kommando zu übergeben.

Änne hatte schon am Abend ein Bündel zusammengepackt, da niemand wusste, wie lange Lukas in Meißen bleiben würde.

Als er von der Burg zurückkehrte und sie ihm den Reiseproviant reichte, schlug er vor: »Vielleicht ziehst du besser mit der alten Bertha und ihrer Enkelin zu deinem Vater ins Burglehen, bis ich zurück bin. Und sollte die Stadt belagert oder angegriffen werden, geht sofort auf die Burg! Dort seid ihr sicher.«

Die sonst so schlagfertige Änne verkniff sich jegliche Antwort über die Unsicherheiten des Lebens. Doch als Lukas ihr zum Abschied die Stirn küsste, wurden ihre Gesichtszüge ganz sanft.

Von dem Weidenzaun um das Gehöft aus sah sie fröstelnd im eisigen Wind den Reitern nach: Lukas vorweg, der seine besten Waffen mit sich führte, Schwert und Dolch aus Damaszenerstahl, dann die beiden Knappen und zum Schluss Hubert, der junge Bote aus Meißen.

 

Eine Unmenge Schnee lag in und um Freiberg. Verharscht vom strengen Nachtfrost, knirschte er unter den vorsichtigen Schritten der Pferde. Die einst strahlend weiße Decke war von dem Qualm, der aus den Schmelzhütten aufstieg, längst grau und unansehnlich geworden.

Lukas und seine Begleiter ritten am Mühlbach entlang und konnten dabei die Gruben östlich der Stadt sehen: große und tiefe Löcher im Boden. In der Zeit der ersten Silberfunde in Christiansdorf hatten die eilig aus dem Harz herbeigeholten Bergleute das Erz nur vom Boden auflesen müssen. Doch das war mehr als ein halbes Jahrhundert her, und seitdem hatten sie sich mehrere Lachter tief ins Erdreich gegraben.

Lukas sah eine Gruppe Bergleute aus der hölzernen Kirche kommen, in der sie jeden Morgen um Gottes Segen und glückliche Heimkehr von ihrer gefährlichen Arbeit beteten, bevor sie in die Tiefe stiegen, um das Silbererz aus dem Felsgestein zu hauen. Die meisten Gruben lagen außerhalb der Mauern. Besorgt dachte er: Falls die Stadt angegriffen wird, können die Männer wie auch die Frauen und Kinder an den Scheidebänken nur hoffen, noch rechtzeitig Zuflucht zu finden.

 

Als die Reitergruppe das Meißnische Tor im Nordosten der Stadt passiert hatte, waren die Pferde hinreichend warmgelaufen, damit sie schneller vorankommen konnten – so gut es eben ging bei diesen Schneemengen.

Die Wege waren menschenleer. Wen nicht eine unaufschiebbare Angelegenheit trieb, der reiste nicht im Winter, wenn Wege und Dörfer im Schnee versanken. Mehrmals mussten die Reiter absteigen und mit vereinter Kraft Baumstämme beiseiteräumen, die unter der weißen Last abgeknickt waren. Am besten kamen sie in den Wäldern voran, auf schmalen Pfaden, wo nicht viel Schnee lag. Aber in den Ebenen türmte der Wind die Flocken zu Wehen, in denen die Pferde tief einsanken.

Auf halber Strecke, an einem Waldrand im Tal der Triebisch, legte die kleine Gruppe eine Rast ein. Die Pferde brauchten Futter.

Mit der behandschuhten Rechten fegte Lukas den Schnee von der Rinde einer umgestürzten Kiefer. Während die Knappen und Hubert die Tiere nacheinander zu dem Nebenarm der Elbe führten und die Futtersäcke mit Hafer füllten, setzte sich der Ritter auf den Baumstamm und zog ein Resümee dessen, worüber er die halbe Nacht lang und während des Ritts nachgegrübelt hatte.

Einen Boten zum Kaiser zu schicken war zwingend nötig. Doch es konnte Wochen dauern, bis sich ein meißnischer Reiter durch den Schnee über die Alpen gekämpft und den Herrscher in Sizilien ausfindig gemacht hatte.

Dass auf Juttas Befehl Landgraf Ludwig als Erster informiert wurde, ließ einige Schlüsse zu. Der engste Verwandte und damit naheliegende Vormund für den dreijährigen Heinrich wäre sein Oheim gewesen, Graf Friedrich von Brehna und Wettin. Doch der war nach dem kürzlichen Tod seiner Gemahlin ins Heilige Land gezogen, um sich dort den Tempelrittern anzuschließen. Außerdem war er nicht einflussreich und militärisch stark genug, um mögliche Angriffe auf die beiden nun führerlosen Markgrafschaften abzuwehren.

Also wollte Dietrich den Landgrafen – trotz seiner Jugend einer der mächtigsten und angesehensten Fürsten des Reiches und ein Verwandter des Kaisers – als Vormund für seinen einzigen legitimen Erben einsetzen. Den Stiefbruder seiner Gemahlin. Lukas glaubte nicht, dass Jutta Ludwig besonders nahestand. Doch wenn der junge Fürst das Land nicht durch seine Position schützen konnte, wer dann? Immerhin war Ludwig schon kurz nach seiner Machtübernahme mit nur siebzehn Jahren siegreich aus einer militärischen Konfrontation mit dem Erzbischof von Mainz hervorgegangen, der glaubte, mit einem so jungen Herrscher leichtes Spiel zu haben.

Lukas selbst hatte den vierten Ludwig von Thüringen noch nicht persönlich erlebt, obwohl er vor langer Zeit mit Marthe einige Jahre am Thüringer Hof in Eisenach verbracht hatte. Damals regierte noch Juttas Vater Hermann über die Landgrafschaft.

Über dessen gerade erst zwanzigjährigen Nachfolger kursierten wahre Lobgesänge: Er sei von edler Gestalt und schönem Antlitz, ein Bild von einem Ritter und nobel im Denken. Und gerade erst hatte er eine ungarische Königstochter geheiratet: Elisabeth, eine höchst fromme und tugendhafte Braut, die am thüringischen Hof aufgewachsen war, beinahe eine Heilige.

Nun, Lobgesänge war wörtlich zu nehmen, denn zu Landgraf Hermanns Zeiten galt der Eisenacher Hof als der Ort, wo sich die besten Spielleute und Minnesänger des Reiches diesseits der Alpen versammelten. Und die würden natürlich ihren Gönner ins beste Licht rücken.

Man konnte es den Thüringern nicht verdenken, dass sie alle Hoffnungen auf den jungen Ludwig richteten. Sein Vater hatte das Land mit Kriegen und allzu vielen Seitenwechseln zwischen staufischen und welfischen Thronanwärtern in den Ruin getrieben.

Doch Lukas ließ sich nicht von Ruhmgesängen beeindrucken. In seinem langen Leben war er etlichen Herrschern begegnet, während er den Meißner Markgrafen Otto auf Hoftage begleitete. Keiner von ihnen wurde dem Ritterideal gerecht. Sie waren hochfahrend und rücksichtslos, gierig nach Land und Silber, berauscht von der Macht und weit empfänglicher für Schmeicheleien als für die Wahrheit. Selbst der als strahlend verehrte Kaiser Friedrich Rotbart konnte zwar ausnehmend liebenswürdig sein. Doch wenn er herausgefordert wurde, war sein Zorn maßlos und schrecklich gewesen.

Andererseits: Ein milder, schwacher Herrscher würde sich nicht auf dem Thron halten und das Land in blutige Machtkämpfe stürzen.

Dass Dietrich, zumindest in jungen Jahren, dem Idealbild eines Ritters nahekam, lag an seiner Erziehung durch Christian und daran, dass ihm der Markgrafentitel nicht in die Wiege gelegt worden war. Er hatte ihn erkämpfen und sich dabei gegen seinen gewalttätigen Bruder Albrecht behaupten müssen.

 

Die Knappen kehrten mit rotgefrorenen Wangen vom Füttern der Pferde zurück. Also beendete Lukas seine Grübelei für den Moment. Falls sich Landgraf Ludwig auf der Wartburg in Eisenach aufhielt und nicht bei einem seiner Gefolgsleute weiter östlich, konnte es zehn Tage dauern, bis der Bote zurückkam, hoffentlich gleich mit dem jungen Fürsten.

Dann ist die Zeit, sich den thüringischen Wunderknaben einmal anzusehen, dachte Lukas sarkastisch.

Der Freiberger Burghauptmann zog sich die Handschuhe aus und öffnete den Proviantsack. Änne hatte einen Krug Bier eingepackt, dazu einen erst gestern gebackenen Laib Brot, den er in vier Teile brach.

Schließlich holte er aus den Tiefen des Behältnisses zu seiner Überraschung und Freude ein Töpfchen mit Honig hervor, um das Brot zu beträufeln. Er musste lächeln und dankte Änne im Stillen. Es war Fastenzeit, somit waren Fleisch, Käse, Butter und Eier verboten. Doch je länger das Fasten andauerte, umso größer wurde sein Widerwille gegen gedörrten oder in Salz eingelegten Fisch. Änne hatte ihm deshalb etwas von den knapp gewordenen Honigvorräten zugesteckt. In der Kälte war der goldene Sirup kristallisiert. Mit seinem Essmesser kratzte er ein wenig davon heraus und reichte das Töpfchen herum.

Wortlos stärkten sie sich, und Lukas tat so, als bemerkte er die fragenden Blicke der Knappen nicht.

Ein Schneebatzen fiel von einem der schwer beladenen Äste herunter und landete klatschend auf Wilfrieds Kopf und Schultern. Prompt begann Marek zu prusten.

Ein strenger Blick von Lukas brachte ihn zum Verstummen.

Als jeder sein Brot fast aufgegessen hatte, sah der Ritter die beiden Burschen an.

»Ich sage euch das jetzt nicht, weil mich eure Neugier auch nur im mindesten schert. Sondern damit ihr in Meißen angemessen auftretet, statt Possen zu reißen.«

In wenigen Worten informierte er sie über den Tod des Fürsten. Zeit zum Nachfragen ließ er ihnen nicht, sondern befahl, sofort wieder aufzusitzen.

Denn eine schon am Abend zuvor gezogene dritte Schlussfolgerung aus dem Verhalten der Markgräfinwitwe trieb ihn zur Eile: Wenn vorerst niemand außerhalb Meißens vom Tod des Fürsten erfahren sollte, dann wollte Jutta Zeit gewinnen, ehe sich die Neuigkeit unweigerlich herumsprach – Zeit, in der er, Lukas, etwas bewerkstelligen sollte. Zweifellos hoffte sie, dass er seinen Einfluss geltend machte, damit sich die meißnische Ritterschaft geschlossen zugunsten des jungen Erben erklärte. Fürchtete Jutta eine gewaltsame Machtübernahme? War diese vielleicht sogar schon über Nacht erfolgt?

Obwohl Lukas die letzten Jahre hauptsächlich in Freiberg verbracht hatte, kannte er die meisten Männer von Stand in der Mark Meißen. Er hätte sofort zwei Dutzend Namen von Edelleuten nennen können, die im Streitfall, ohne mit der Wimper zu zucken und ohne die geringsten Skrupel, auf die Seite potentieller Gegner wechseln würden.

 

Die Reiter waren noch keine Meile von ihrem Rastplatz entfernt, als ihnen eine Gruppe abgehärmter Bauern entgegenkam: mehrere Familien, darunter zwei hochschwangere Frauen und ein halbes Dutzend magerer Kinder. Beladen mit Körben, in denen sie offensichtlich ihre gesamte Habe mit sich führten. Sie traten zur Seite und knieten mit gesenkten Köpfen nieder, um nicht den Unmut der bewaffneten Edelleute hervorzurufen.

»Was treibt euch mitten im Winter auf die Straße?«, fragte Lukas den Anführer der Reisenden und bekam zu hören, was er schon befürchtet hatte, als er sah, dass der Mann eine eiserne Pflugschar trug, neben dem Ochsengespann der wertvollste Besitz eines jeden Dorfes.

»Die Not, edler Herr«, berichtete der Grauhaarige bedrückt und knetete seine Kopfbedeckung zwischen den Händen. »Zwei Missernten hintereinander …«

Im verregneten Vorjahr war ein beträchtlicher Teil der Ernte auf dem Halm verfault. Deshalb waren das Korn knapp und das Brot erheblich teurer geworden.

»Nur mit bitterem Eichelmehl kommen wir nicht mehr über den Winter«, klagte der Bauer. »Deshalb haben wir schweren Herzens unsere Heimstätten aufgegeben und wollen uns in Freiberg verdingen. Es heißt, dort könne man reichlich Arbeit finden und sich sein Brot verdienen.«

Die leidgeprüften Menschen sahen ihn in der Erwartung an, dass er sie in ihrer Hoffnung bestärkte. Immerhin war er ein Edelmann und kam aus der Richtung, in die sie zogen.

»Es ist noch ein gutes Stück Wegs bis Freiberg, aber wenn ihr zügig geht, erreicht ihr die Stadt vor der Dunkelheit«, versicherte Lukas. »Meldet euch auf der Burg und sagt, der Burgkommandant schickt euch. Das bin ich. Die ersten Nächte könnt ihr in der Halle schlafen. Gleich morgen früh geh zum Bergmeister. Er wird euch Arbeit zuweisen.«

Die Bergleute brauchten kräftige Männer in den Gruben, und die Frauen und Kinder konnten an den Scheidebänken arbeiten, wo das Erz zerkleinert und von taubem Gestein getrennt wurde.

»Gott segne und schütze Euch, Herr!«, stammelte der Älteste mit Tränen in den Augen.

Hungersnot und ein Land ohne Herrscher, dachte Lukas beklommen. Wir können wirklich den Beistand des Allmächtigen brauchen.

 

Kurz vor Meißen wurde der Schnee endlich weniger. Hier war das Klima deutlich milder als in Freiberg, das am Fuß eines Gebirges lag.

Gerade noch vor Einbruch der Dämmerung konnten sie endlich den Meißner Burgberg sehen. Der weiße Bergfried des Burggrafen und die Türme des Doms auf dem Felssporn ragten weithin ins Land.

Zu Lukas’ Erleichterung schien in der Stadt alles ruhig zu sein. Am zugefrorenen Elbhafen waren kaum noch Menschen zu sehen, im Marktviertel klappten die Händler gerade ihre Stände zusammen oder zogen die Verlaufsladen an ihren Häuserfronten hoch.

Auf dem Marktplatz predigte einer der Minderbrüder, so hießen die Bettelmönche, die seit kurzem allerorten durch die Lande zogen: barfuß trotz der Kälte, nur mit einer grob gewebten Kutte und einem Hanfseil als Gürtel. Sie nannten sich Franziskaner nach ihrem Ordensgründer, predigten Besitzlosigkeit und Fürsorge für die Notleidenden.

»Wer nach Christi Gebot leben will, der prasse nicht und horte nicht Silber und Edelsteine, sondern gebe alles den Armen, was er hat – so wie Jesus es tat und wie wir es tun!«, rief er.

»Ja, schaut euch nur an, mit wie viel Gold und Edelsteinen der Bischof sich behängt!«, grollte einer der zwei Dutzend Zuhörer, und die anderen nickten oder murmelten zustimmend. »Der fromme Bruder hat recht. Jesus ist nicht am Kreuz gestorben, damit fette Pfaffen sich mit feinsten Speisen den Wanst vollstopfen, Schätze raffen und sich Huren halten, während das Volk hungert!«

Jemand wollte dem Bettelmönch einen halben Pfennig schenken, doch der lehnte ab. Nur einen Kanten Brot und einen Schluck Wasser dürfe er annehmen.

Diese Franziskaner stoßen direkt in ein Wespennest, dachte Lukas. Ihr neuer Orden wird noch für viel Unruhe sorgen, weil er dem verschwenderischen Klerus, den die Not seiner Schäfchen nicht schert, den Spiegel vorhält.

An der Spitze seiner kleinen Gruppe trieb er sein Pferd den schmalen Pfad hinauf, der sich den Berg emporwand, vorbei an der Vorburg mit der Burgmannenkirche.

Sie passierten das mittlere und das innere Burgtor. Über beide wachten die Männer des Burggrafen Meinher von Werben. Er war für die Sicherheit des Burgbergs zuständig. Doch außerdem sollte er im Auftrag des Kaisers ein Auge auf den Markgrafen haben, damit dieser nicht über die Stränge schlug und gegen die Interessen des Kaisers handelte. Das sorgte traditionell für tiefes Misstrauen zwischen Markgraf und Burggraf. Der überaus ehrgeizige Bischof Bruno von Porstendorf war der Dritte im Kreis der Rivalen auf dem Felsensporn.

In der Mitte des Plateaus ragte der Dom zum Himmel. Erst dahinter befand sich der markgräfliche Bereich mit steinernem Palas, Stallungen, Schmiede, Backhaus und anderem mehr. Aus einem Fenster drangen die gequälten Schreie einer Frau in den Wehen.

Vor dem Gotteshaus brachte Lukas die kleine Gruppe zum Stehen und stieg aus dem Sattel.

»Kümmert euch darum, dass die Pferde versorgt werden. Ich will zuerst in den Dom«, befahl er den Knappen.

»Aber die Markgräfin …«, stammelte der junge Bote, der fürchtete, gescholten zu werden, wenn er den gesuchten Freiberger nicht sofort zu seiner Fürstin brachte.

»Es dauert nicht lange. Kündigt meine Ankunft schon an, Hubert. Ihr werdet mir wohl zubilligen, vor dem Altar ein Gebet für das Seelenheil unseres Herrschers zu sprechen. Vor Gott muss selbst eine Fürstin zurücktreten.«

Bei dem letzten Satz zeigte er ein schiefes Lächeln, um die Worte nicht zu brüsk klingen zu lassen. So dringend er auch vor Jutta erscheinen sollte und wollte – zuvor hatte er noch etwas zu erledigen. Nicht nur Gebete.

 

Lukas zog die schwere Tür des Doms hinter sich zu und schritt zum Altar. Wie er schon vermutet hatte, kniete dort eine vertraute Gestalt. Er erkannte sie nicht nur an den Konturen, sondern auch an dem rötlichen Schimmer im dunklen Haar um die Tonsur, den das Licht der Altarkerzen hervorrief.

In kleinen Wolken entwich der Atem aus dem Mund des Geistlichen, der lateinische Worte murmelte; ein monotoner Singsang, der vermuten ließ, dass er dies schon seit Stunden tat.

Lukas kniete neben dem jungen Mann nieder, faltete ebenfalls die Hände und hielt Zwiesprache mit Gott – im Gedenken an den Verstorbenen. Über Jahrzehnte hinweg hatte er zu Dietrich gestanden, in vielen Schlachten an seiner Seite gekämpft.

Ein leichtes Scharren und eine Bewegung rissen Lukas aus seinen Erinnerungen.

Der junge Geistliche neben ihm bekreuzigte sich, warf einen Blick auf den Nebenmann und erhob sich mit kälteklammen Gliedern, um hinauszugehen.

Auch Lukas bekreuzigte sich, stemmte sich hoch und folgte ihm hinaus aus dem Dom.

»Ich trauere mit dir um deinen Vater«, sagte er zu dem zweiten Sohn von Clara und Dietrich. Der trug unverkennbar die Züge seines Vaters, doch den rötlichen Schimmer im Haar und die graugrünen Augen hatte er von seiner Mutter und seiner Großmutter Marthe geerbt.

Heinrich, mit Mitte zwanzig als Domherr noch jung, sah seinen Freiberger Verwandten bedrückt an und murmelte eine Dankesformel.

»Er hat Vorsorge getroffen, damit deine Zukunft über seinen Tod hinaus gesichert ist«, beschwor Lukas den Enkel. Dietrich hatte seine beiden illegitimen Söhne mit Clara anerkannt und für ihre gute Ausbildung als Geistliche gesorgt. Eine andere Laufbahn blieb unehelich Geborenen dieses Standes verwehrt.

Heinrich nickte. Gern hätte er Lukas gesagt, wie sehr ihn die Verzweiflung darüber zerriss, dass er vom Sterbebett seines Vater verjagt worden war wie ein räudiger Hund. Zutiefst gekränkt hatte er Stunden im Gebet vor dem Altar zugebracht, um Groll und Hass niederzuringen, weil sie schwere Sünden waren. Deshalb schwieg er.

Doch Lukas las das alles aus den Gesichtszügen des blassen jungen Mannes.

»Die Markgräfin?«, fragte er leise.

Sein Enkel atmete tief durch, hob die Schultern und ließ sie wieder fallen.

Jäh verließ ihn die erstrebte Gelassenheit, und gegen seinen Willen platzte er heraus: »Er war mein Vater! Sie hat mich vom Totenbett meines Vaters vertrieben!«

Heinrich holte tief Atem und sagte dann voller Bitterkeit: »Niemand hat mich jemals gefragt, ob ich Geistlicher werden will. Ob ich nicht viel lieber als Ritter das Schwert schwingen, mir eine Frau nehmen und Kinder zeugen will. Ich bin sehr versucht, das zu tun, aber ich füge mich … Und trotzdem bin und bleibe ich der Bastard, den man davonjagen kann.«

Lukas wusste, dass Kleriker körperliche Berührungen meiden sollten. Dennoch legte er dem Verzweifelten kurz eine Hand auf die Schulter.

»Es ist auch für sie schwierig«, verteidigte er Jutta, obwohl ihn Heinrichs Aussage entsetzte. Aber wenn er das jetzt zugab, würde er für seinen Enkel alles nur noch schwerer machen.

»In ihrer Trauer tun Menschen manchmal Dinge, die sie nicht so meinen. Du hast inständig für das Seelenheil deines Vaters gebetet und wirst es weiter tun, das weiß ich. Wenn sein Leichnam ins Kloster nach Marienzell überführt wird, bist du im Gefolge des Bischofs dabei. Das kann dir keiner nehmen.«

Er sah ihm so lange ins Gesicht, bis Claras Sohn endlich den Blick hob.

»Denk an deine Mutter! Sie war furchtbar traurig, als sie deinen Vater aufgeben musste, aber nicht verbittert. Sie ist jetzt bei dir, in deinem Herzen. Wie dein Vater. Spürst du sie denn nicht? So, wie ich ihre Mutter spüre, meine innig geliebte Marthe?«

Er nickte dem jungen Mann aufmunternd zu, dann eilte er mit großen Schritten Richtung Palas. Er wurde erwartet.

Unter vier Augen

Die Ankunft des legendären Lukas von Freiberg hatte sich offenbar wie ein Leuchtfeuer auf dem Meißner Burgberg herumgesprochen.

Im Hof des markgräflichen Bezirks standen mehr Menschen, als bei dieser Kälte zu erwarten gewesen wäre, und verfolgten mit großen Augen die Schritte des Burgkommandanten. Der Gehilfe des Schmieds starrte ihn mit heruntergeklapptem Unterkiefer an, statt sich um den rotglühenden Rohling auf seinem Amboss zu kümmern, zwei Mägde lehnten gaffend mit mehlbestäubten Kleidern in der Tür des Backhauses und stießen sich in die Rippen, um einander auf den seltenen Besucher aufmerksam zu machen. Selbst aus den Fenstern des Palas schauten einige Damen mit unverhohlener Neugier auf ihn herab.

Die dürfen ja nicht fehlen!, dachte Lukas zynisch, als ihm hämisch grinsend drei nur zu gut bekannte Männer entgegenkamen, für die er tiefste Verachtung hegte – was auf Gegenseitigkeit beruhte. Die Reichsministerialen von Mildenstein hatten wegen strittiger Zehntforderungen eine blutige Fehde gegen das Meißner Bistum geführt. Das Familienoberhaupt, der Vater dieser drei Brüder, musste sich zähneknirschend dem Schiedsspruch gegen ihn unterwerfen. Wenn seine Söhne Arnold, Heinrich und Richard ausgerechnet jetzt in Meißen aufkreuzten, führten sie sicher nichts Gutes im Schilde.

Es wäre vernünftig, sie einfach zu ignorieren und weiterzugehen, erwog er einen Wimpernschlag lang. Doch wann war ich je vernünftig? Außerdem kann ich nicht zulassen, dass sie mir hier vor aller Augen frech kommen.

»Lukas von Freiberg, der Alte Fuchs – welch ungewohnter Anblick!«, höhnte der Mittlere, während die jüngeren Brüder zu seinen Seiten grinsten. »Dein Haar ist seit unserer letzten Begegnung fast weiß geworden.«

»Wenigstens habe ich noch Haare auf dem Kopf. Dir, Arnold, rutscht gleich die Kappe vom kahlen Schädel, wenn du die Nase weiter so in die Höhe reckst«, konterte Lukas. »Und wie konntest du nur in so jungen Jahren dermaßen fett werden? Gibt es irgendetwas, das du mir mitteilen willst? Nein? Also mach den Weg frei, ich bin in Eile.«

Die drei wichen keinen Schritt zur Seite.

»Wir kamen her, um etwas mit dem Bischof zu bereden, doch der blieb stur. Dann hörten wir Gerüchte, du seist wieder hier. Da wollten wir natürlich wissen, ob das stimmt und was dich aus deinem Fuchsbau treibt«, erklärte der Mildensteiner bedeutungsschwer grinsend.

»Und so nimmt der Tag doch noch ein vergnügliches Ende«, fuhr der Kahle fort. »Kannst es wohl nicht erwarten, in dein Verderben zu rennen? Dir stehen eisige Zeiten bevor.«

Verächtlich hakte Lukas die Daumen in den Gürtel. »Bist du neuerdings unter die Propheten gegangen, dass du das Wetter vorhersagen kannst?«

»Man muss kein Prophet sein, um zu wissen, dass deine Tage in der Mark Meißen endgültig gezählt sind – jetzt, da dein fürstlicher Gönner uns verlassen hat!«, triumphierte der nach seinem Vater benannte Arnold von Mildenstein.

So viel zur Absicht der Markgräfin, Dietrichs Tod geheim zu halten, dachte Lukas. Die Aasgeier sammeln sich schon.

»Wir wollten es nicht versäumen, dich ein letztes Mal zu sehen. Als alte … Freunde …«

Seine Brüder brachen in wieherndes Gelächter aus, während ihr Wortführer genüsslich fragte: »Wohin gehst du in die Verbannung? Wieder nach Thüringen? Dort wird nun auch kein Platz mehr für dich sein nach allem, was ich weiß.«

Lukas hob etwas die Stimme, weil ihr Streit inzwischen Neugierige herangelockt hatte, die sich Gesprächsstoff und eine Abwechslung vom grauen Alltag versprachen.

»Nach allem, was du weißt?«, wiederholte er laut und spöttisch. »Dann muss ich mir wirklich keine Gedanken machen. Denn das, was du weißt, ist bekanntermaßen weder viel noch irgendwie von Bedeutung.«

Hinter sich hörte er mehrere Zuschauer kichern und prusten.

Lukas fand, es war Zeit, der Posse ein Ende zu bereiten. Er hatte Wichtigeres vor.

»Ich weiß, wie sehr du dir wünschst, mich ganz aus dem Weg zu haben, Arnold. Aber den Tod unseres geliebten Fürsten zum Anlass für Freude zu nehmen … Das sollte sogar unter deiner armseligen Würde sein. Also scher dich samt deinen missratenen Brüdern beiseite und lass mich durch. Die Markgräfin wartet.«

Arnold, Heinrich und Richard von Mildenstein tauschten kurz Blicke miteinander.

»Den Moment, an dem du endgültig aus dem Land vertrieben wirst, will ich wirklich nicht hinauszögern«, höhnte der kahle Arnold und trat einen Schritt beiseite. Doch sein jüngster Bruder Richard konnte sich eine boshafte Bemerkung nicht verkneifen.

»Glaubst du etwa, die Markgräfin würde dir je vergessen, dass deine Stieftochter ihres Mannes Hu…«

Weiter kam er nicht, denn Lukas brachte ihn blitzschnell zu Fall, indem er seinen Fuß unter die Wade des Provokateurs hakte. Doch bevor dieser rücklings auf dem Boden aufschlug, hatte Lukas ihn schon am Surkot gepackt und hielt seinen Oberkörper kurz über dem Erdreich in der Schwebe.

»Du bist zu grün, um dich mit mir anzulegen, Kleiner. Also erweise meiner Familie gefälligst Respekt!«, tadelte er und ließ den anderen hart fallen. Nach einem Schmerzensschrei quälte sich der Gedemütigte unter dem Gelächter der Zuschauer hoch.

Ungerührt schritt Lukas auf den Eingang des Palas zu, obwohl er dutzende Augenpaare auf seinen Rücken gerichtet wusste.

Zwar könnte es durchaus geschehen, dass Jutta ihn aus der Mark Meißen verbannte. Doch mit welcher Begründung, ohne den Urteilsspruch eines Landdings? Außerdem war sie trotz ihrer Abneigung gegen ihn sicher klug genug, um zu wissen, dass sie jetzt Verbündete brauchte und nicht noch mehr Gegner.

 

Auf halbem Weg kam ihm der Truchsess entgegen, der für sein Amt noch junge Herr von Buchheim. Er hatte die Stellung als oberster Aufseher für die Hofhaltung erst vor wenigen Monaten von seinem verstorbenen Vater übernommen und trug übermäßig mit Zierrat und silbernen Beschlägen herausgeputzte Kleider. An seiner Kappe prangten sogar Pfauenfedern. Doch der erstrebte prachtvolle Auftritt litt beträchtlich durch das dicke Gerstenkorn unter seinem tränenden rechten Auge.

Lukas kannte ihn zu wenig, um einzuschätzen: War er einfach nur eitel? Versuchte er, unter diesem Aufputz seine Unsicherheit zu verbergen? Oder sollte das auffällige Äußere von geheimen Ambitionen ablenken? Er würde es bald herausfinden.

»Wo bleibt Ihr denn, Burgkommandant?«, beschwerte sich der junge Buchheim geziert und übereifrig und verdrehte die Augen. »Was denkt Ihr Euch dabei, Ihre Durchlaucht warten zu lassen? Beeilt Euch! Ich will keinen Ärger Euretwegen!«

Ungeduldig wies der Truchsess zum Eingang des Palas.

Vermutlich hat er einfach Angst um sein einträgliches Amt, dachte Lukas. Sein Vater war ein bewährter Mann gewesen, doch der Sohn fürchtete nun, da Jutta in ihrer Notlage zuverlässige Ratgeber brauchte, durch einen Erfahreneren ersetzt zu werden.

Buchheim winkte ihn in die Halle und schritt voran, um den Besucher anzukündigen.

Hinter und neben der Markgräfin warteten einige Edeldamen und Ritter, an den Seiten stand das Gesinde bereit, um alsbald die an die Wände gelehnten Böcke und Bretter zu Tischen aufzubauen, damit das abendliche Mahl aufgetragen werden konnte.

Als der Truchsess zusammen mit dem Burgkommandanten von Freiberg durch die Halle schritt, richteten sich alle Blicke auf den Neuankömmling. Doch rasch kam Bewegung in die Gruppe um die Markgräfin. Der Marschall, ein vierschrötiger, kampferfahrener Mann, stapfte los und schritt energisch auf Lukas zu. Als sie sich auf halber Höhe begegneten, streckte er dem Besucher Einhalt gebietend die erhobene Hand entgegen.

»Übergebt mir Eure Waffen!«, forderte Heinrich von Schladebach den Freiberger schroff auf, die buschigen Augenbrauen streng zusammengezogen. Seine Haltung und sein Tonfall ließen keinen Zweifel daran, dass er ihn sonst keinen Schritt weitergehen lassen würde.

»Ich bin froh und erleichtert, dass Ihr so entschlossen für den Schutz Ihrer Durchlaucht sorgt«, versicherte Lukas und übergab dem Schladebacher ohne Zögern sein Schwert. Er hatte es zutiefst beunruhigend gefunden, dass ihn die jungen Wachen am Eingang zur Halle mit Waffen eintreten ließen, obwohl sie ihn und seine Absichten nicht kennen konnten, auch wenn er in Begleitung des Truchsessen kam.

Der Marschall schien seine Gedanken zu erraten. »Nichts gegen Euch, Burgkommandant. Diese Tölpel an der Pforte werden ihre Nachlässigkeit bitter bereuen!«, grollte er, winkte einen Ritter herbei und reichte ihm die Waffen zur Verwahrung.

Lukas folgte dem Truchsess und kniete in fünfzehn Schritten Abstand vor der Fürstin nieder – etwas weiter weg, als es bei Vertrauten oder angesehenen Gästen üblich war. Er wollte nicht aufdringlich wirken, denn ihr bisheriges Verhältnis war bekanntermaßen eher frostig gewesen.

Jutta nickte ihm zu und machte mit dem Arm eine einladende Geste.

»Tretet näher, Lukas von Freiberg!«

Ihr Surkot war zerknittert, das Gebende saß schief und zu lose, ihre Augen waren tief umschattet – wohl nicht nur aus Trauer. Lukas, der kluge Menschenkenner, las quälende Sorge darin. Vermutlich genau die Sorgen, die auch ihn beschäftigten, seit er vom Tod des Markgrafen erfahren hatte.