19.521 Schritte - Guido Maria Kretschmer - E-Book

19.521 Schritte E-Book

Guido Maria Kretschmer

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Beschreibung

Ein Tag mit Guido – nahbar, empathisch und so persönlich wie nie

Guido Maria Kretschmer beschreibt einen besonderen Tag in seinem Leben: einen Spätsommertag in Berlin, an dem er beschließt, die Menschen auf sich zukommen zu lassen – ohne Maske, ohne Sonnenbrille, mit offenem Blick.
Sein Weg durch die Großstadt schenkt ihm die ungewöhnlichsten Begegnungen. Menschen lassen ihn an ihren Geschichten teilhaben, weil sie ihm vertrauen, da sie glauben, ihn zu kennen. Da ist zum Beispiel Chanti, die bald nach Indien fliegt, um das erste Mal ihre große Internet-Liebe zu treffen, oder Petra, die mit Mitte fünfzig ihr ganzes Leben infrage stellt, weil sie eine Frau kennen und lieben gelernt hat. Jede dieser Geschichten gibt Guido die Möglichkeit, sich auch an Erfahrungen und Erlebnisse aus seinem eigenen Leben zu erinnern. Denn wir nehmen uns mit, egal, wohin die Reise geht – und gleichzeitig hat jede Begegnung die Kraft, eine bleibende Erinnerung zu hinterlassen. Durch jede Begegnung mit einem anderen Menschen erfahren wir auch etwas über uns selbst, indem sie eine neue Perspektive eröffnet.
An diesem Tag macht Guido 19.521 Schritte. Durch die Stadt, die ihm so viel bedeutet und sich doch noch einmal von einer ganz neuen Seite zeigt. Es soll einer der schönsten Tage in seinem Leben werden. Ein Tag, der verdeutlicht, was für ein großes Geschenk es ist, offen und wertschätzend durch das Leben zu gehen – weil es uns so viel zurückgibt.

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Seitenzahl: 190

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Über dieses Buch:

An einem Spätsommertag macht Guido Maria Kretschmer sich auf zu einem Spaziergang durch Berlin. Er geht 19 521 Schritte, die ihm die ungewöhnlichsten Begegnungen schenken. Denn er lässt die Menschen auf sich zukommen und sie lassen ihn an ihren Geschichten teilhaben – Geschichten, die ihn an Erlebnisse aus seinem eigenen Leben erinnern und selbst zu bleibenden Erinnerungen werden. Es ist einer der schönsten Tage in seinem Leben. Ein Tag, der verdeutlicht, was für ein großes Geschenk es ist, offen und wertschätzend durch das Leben zu gehen – weil es uns so viel zurückgibt. Warmherzig, berührend und so persönlich wie nie!

Über den Autor:

Guido Maria Kretschmer gehört zu den renommiertesten deutschen Modedesignern. Seit 2012 begeistert er ein Millionenpublikum in diversen TV-Sendungen, allen voran dem Kultformat »Shopping Queen«. Er wurde u.a. mit der »Goldenen Kamera«, dem »Deutschen Fernsehpreis« und dem österreichischen Film- und Fernsehpreis »Romy« ausgezeichnet. Aber auch als Autor ist Guido erfolgreich: Seine beiden Stilratgeber standen monatelang auf den obersten Rängen der Spiegel-Bestsellerliste. Zuletzt erschien 2018 der Roman »Das rote Kleid«. Nach mehreren Jahren in Berlin lebt Guido Maria Kretschmer heute in Hamburg.

Guido Maria Kretschmer

19 521 Schritte

Vom Glück der unerwarteten Begegnung

Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

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Zum Schutz Einzelner, die nicht Personen des öffentlichen Lebens sind, wurden einige Namen anonymisiert.

Originalausgabe 2023

Copyright © 2023 by Wilhelm Heyne Verlag, München,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

Covergestaltung: Nele Schütz

Coverfoto: GABO Photos

Coverillustration: Atelier Guido Maria Kretschmer

Alle Fotos im Innenteil stammen vom Autor. Einige Bilder wurden nachträglich aufgenommen.

Abbildung Fußspuren: © shutterstock/Viktorija Reuta

Karte: © Christl Glatz, Guter Punkt, München

Satz und E-Book Produktion: Satzwerk Huber, Germering

ISBN 978-3-641-31343-2V003

www.heyne.de

Für meine lieben Eltern …

… für Marianne aus Baden-Baden

Lucie aus Mallorca

Maria aus Wien

Meine liebe Schwester Gudrun

… und für Dich, lieber wunderbarer Bertram, der schon vorausgegangen ist.

Prolog

Jede Strecke hat ihre eigene Herausforderung, und zu jedem Weg wird es eine Geschichte geben.

Wer sich aufmacht, wird unweigerlich erfahren, dass Aufmachen nicht immer Ankommen bedeutet.

Jeder geht so weit, bis er glaubt, seinen Platz gefunden zu haben.

Der Weg an sich ist nicht die Last, es sind die Erinnerungen, die wir, ohne es gemerkt zu haben, immer mit uns tragen.

Wir sind unser eigenes Gepäck, wir nehmen uns mit, egal wohin die Reise geht.

Es ist völlig unerheblich, wohin wir unterwegs sind. Wir werden immer wieder den einen treffen, der uns in Erinnerung bleiben wird, bleiben muss.

Die Fähigkeit zur Zuneigung ist die einzige Herausforderung, die sich problemlos allein bewältigen lässt.

Wer losgeht, wird unweigerlich loslassen müssen. Wer sich aufmacht, darf sich nicht wundern. Alles ist möglich, und jede Begegnung hat die Kraft, eine anhaltende Erinnerung zu hinterlassen.

Wer nie losgeht, kann auch nie ankommen, und wer nicht stehen bleibt, kann nicht erwarten, verweilen zu können.

Eine Pause einzulegen, bedeutet, eine Unterbrechung zuzulassen, innezuhalten, einen Augenblick offen zu sein für eine unbekannte Ausrichtung.

Jede neue Begegnung hat immer auch die Kraft, unseren Weg zu verändern. Die Richtung zu wechseln.

Der Weg ist nicht jedes Mal das Ziel, nein, das Ziel sind die Menschen, die uns fühlen lassen, nicht allein unterwegs zu sein.

Es war Samstag, der 10. September 2022. Ein warmer und sonniger Tag wurde erwartet, ein Tag, der sich im Nachhinein noch als ein erinnerungswürdiger herausstellen sollte. Aber am Morgen um 6:00 Uhr war es selbst in einer Großstadt wie Berlin ruhig, denn ein morgendlicher Samstag bedeutet im günstigsten Fall Wochenende, bedeutet, länger schlafen zu können.

Ich weiß nicht, ob es eine innere Uhr gibt oder ob ich einfach schon zu oft in meinem Leben zeitig aufstehen musste, ich werde ausnahmslos zehn Minuten früher wach, egal wo ich bin, wann ich aufstehen muss oder wie viele Stunden ich vorher überhaupt schlafen konnte.

Eine gelegentlich aufkommende Müdigkeit zu spüren, ist eigentlich etwas Wunderbares. Ich mag es, wenn meine Physis Pause ruft. Ach, der Körper, denke ich dann, wie er sich um mich sorgt! Müde zu erwachen, ist allerdings weniger ein Glücksmoment. Und an diesem Samstagmorgen fiel es mir schwer aufzustehen.

Ausnahmslos schaue ich immer als Erstes aus dem Fenster, ich mag diesen verschlafenen Blick in die Welt.

Und auch jetzt blieb ich gedankenverloren einen Moment stehen, der Bebelplatz lag menschenleer und in ein sanftes Licht getaucht vor mir; einige Taubenmännchen versuchten mit kreisenden Bewegungen eine Taubendame zu beeindrucken.

Schlagartig flogen sie davon, als eine junge Frau mit lauter Stimme »Das ist doch eine Scheißidee« brüllte.

Ja, dachte ich, auch ich wäre lieber zu Hause, aber am vergangen Mittwoch war die Queen gestorben, und so war ich am gestrigen Abend noch schnell nach Berlin gefahren.

Der Tod kommt immer ungelegen, wie eine unerwartete Nachzahlung oder ein Auffahrunfall, der uns in eine andere Welt schleudert. Vielleicht ist es überhaupt nicht möglich, im richtigen Augenblick zu verschwinden, nicht einmal als Queen. Und wenn ich ehrlich bin, hätte ich mich auch nicht gewundert, wenn sie ewig gelebt hätte.

Sie war immer da, wie eine Konstante, die mein Leben aber in keinerlei Hinsicht persönlich beeinflusst hat. Sie hat mich nie angerufen, nicht eingeladen, ich habe nicht mit ihr über Hunde und Pferde geplaudert, habe nie gesagt: »Ach, Elisabeth, was ist denn da los bei euch?«

Und doch bin ich ein Teil ihres Lebens gewesen, da ich immer das Gefühl hatte, dass sie mir einmal zugewunken hat.

Damals fuhr sie im Rolls-Royce an mir vorbei und hatte die Hand zum Gruße erhoben. Gut, es waren wirklich viele Menschen da, aber ich hatte das unmissverständliche Gefühl, dass sie mir in die Augen schaute und in diesem Moment zu ihrem Mann Philip sagte: »Schau mal, da ist ja der Guido.«

Sondersendung, schoss es mir durch den Kopf, und ich musste mich beeilen, denn wenn auch die Queen sich niemals direkt an mich gewandt hatte, mein Senderchef allerdings schon!

Als ich mein Hotelzimmer in Richtung Frühstücksraum verließ, wurde ich von einem amerikanischen Ehepaar im Aufzug gebeten, ihr Gepäck doch bitte beim Concierge zu deponieren. So ein Trauer-Outfit verschiebt eben auch die textile Grenze zwischen Personal und Gast.

»Heartfelt condolences«, sagte die Ami-Gattin, nachdem ich erklärt hatte, dass die Queen gestorben sei. Und im Weggehen hauchte sie noch so etwas wie »So sorry« und erinnerte ein weiteres Mal an die Koffer.

Die beiden sollten nicht die Letzten sein, die mir an diesem 10. September ein herzliches Beileid wünschten.

Ich fühle mich wohl in Hotels, das mag an dieser Stelle einmal angemerkt sein, und werde ich in einer dieser Herbergen herzlich willkommen geheißen, ist es schon um mich geschehen.

Ich bin der Typ treuer Stammgast, und es gibt einige Hotels, die fest mit meinem Reiseleben verbunden sind.

Wohnen in einem Hotel ist im günstigsten Fall wie ein Zuhause ohne die unsäglichen Unzulänglichkeiten. Was würde ich hin und wieder für eine Rezeption geben, die sich im Eingangsbereich meiner Wohnung ein kleines Plätzchen eingerichtet hat.

»Schönen guten Abend, Herr Kretschmer, ist ja wieder spät geworden. Hatten Sie eine gute Anreise?«

»Alles bestens«, würde ich sagen und so etwas wie: »Machen Sie sich keine Umstände mit dem Gepäck, ach, ist ja schon oben.«

Ich bin ein Ankommer. Abreiser war ich noch nie so richtig gern. Habe ich mich einmal eingerichtet, schlage ich gern Wurzeln. So ungern packe ich Koffer wieder ein, um sie mit dem gleichen Unsinn zu füllen, mit dem ich angereist bin.

Ich nehme grundsätzlich etwas zu viel mit. Eine lästige Angewohnheit, die nicht in den Griff zu bekommen ist.

Es ist, wie so vieles, auf meine Mutter zurückzuführen – ich bin ihr sehr ähnlich.

Wer weiß, vermutlich hat mein Vater mich besonders gern, weil ich meiner Mutter so ähnlich bin.

Das erste Hotel meines Lebens war eine Pension im Harz. Sie gehörte einer Organisation, die kinderreichen Familien die Möglichkeit bot, trotz reichlich Nachwuchs erwünscht zu sein.

Ich erinnere mich noch gut daran, dass meine Mutter und ich vom ersten Tag der Reiseplanung an eine falsche Vorstellung davon hatten, was uns erwartete. Wir träumten von einem richtigen Hotel mit einer großen Sonnenterrasse und einem Schwimmbad. Um es kurz zu machen: Der Familienverband, der vorher der Bund der Kinderreichen genannt wurde, hatte uns von unserem Dorf in Westfalen in ein noch kleineres Kuhdorf in den Harz geschickt. Die gebuchte Pension mit Bergpanorama war leider nicht verfügbar, und so mussten wir ein Ausweichquartier beziehen. Diese Urlaubsform war eigentlich das Ursprungsformat vom Couchsurfing, da private Menschen ihre Häuser für etwas Geld an Familien vermieteten.

Wir bezogen zwei Zimmer mit fünf Kindern, meiner Mutter, meinem Vater und für die erste Nacht noch einem guten Freund meines Vaters. Aus Platzmangel in der eigenen Familienkutsche, vor allem durch das immer wieder von meinem Vater thematisierte Übergepäck von Mutter und Guido, gab es keine andere Lösung. Wir brauchten ein zweites Auto, und der Freund hatte netterweise angeboten, uns in den Harz zu bringen. Er fuhr einen silbergrauen Manta mit roten Ledersitzen, und dieses Gefährt war das angesagteste im ganzen Dorf. Es erübrigt sich zu erwähnen, dass meine Mutter und ich im Sportwagen dem Opel Kadett meines Vaters folgten.

Jetzt ist der Harz auch nicht gerade weit entfernt, aber auf der Fahrt in meine erste Urlaubsreise auf roten Ledersitzen träumten wir von einem Grandhotel. Im Grunde hätte meine Mutter unsere Buchungsform etwas realistischer darstellen müssen. Aber so ist Mutter eben! Erst einmal vom Besten ausgehen, enttäuscht werden kann man dann immer noch. Und in unserem Fall hätte die Enttäuschung nicht größer sein können. Unser Grandhotel war ein heruntergekommener Bauernhof, der nur aus wenigen Gebäuden bestand, die um einen enorm stinkenden Misthaufen angeordnet waren. Meine Mutter und ich jammerten herzzerreißend, und es war klar, dass wir hier nicht bleiben konnten.

Meinem lieben Vater sei Dank – oder der Tatsache, dass er ursprünglich aus Schlesien kam –, fand sich eine Familie, die uns aufnehmen konnte.

Das Ehepaar Lukasewitz, das wie unsere Vorfahren mit dem Handwagen aus der verlorenen Heimat angereist war, wurde unsere Rettung! Dieses herzensgute Paar ist in meiner Erinnerung immer noch lebendig. Die beiden lebten in einem beschaulichen Haus am Dorfrand weit genug entfernt von besagtem Misthaufen. Frau Lukasewitz kochte von früh bis spät, während ihr sanftmütiger Mann uns fünf Kinder mit dem alten Ackergaul durch den Garten reiten ließ. Mein Vater las Zeitung und half im Garten mit. Es gab Fruchtkaltschalen mit Sago, weiße Eischneetupfen sollten an die Berge in Annaberg in Schlesien erinnern.

Meine Großmutter Othilie hatte mir immer von der schönen schlesischen Heimat erzählt, von den Bergen, den Menschen, dem verlorenen Gut und von dem wenigen, was mitgenommen werden konnte. Sie erzählte die spannendsten Geschichten, und ich habe nie wieder einen Menschen getroffen, der so viele große Balladen auswendig rezitieren konnte. Sie liebte die Literatur und hat mir diese Begeisterung und wohl auch das Talent für Poesie hinterlassen.

Das bescheidene Haus des Ehepaars Lukasewitz war geprägt von einer großen Warmherzigkeit, und letztlich war es genauso wie zu Hause. Gleich am ersten Tag hatten meine Eltern den Garten inspiziert, und am nächsten Tag suchte ich mit meinen Geschwistern die Kartoffelkäfer von den jungen Kartoffelpflanzen ab.

Wer weiß, vielleicht habe ich schon in diesen Ferien gelernt, dass jeder Mensch sich und seine Geschichte mitnimmt, egal wo er ist. Hier habe ich verstanden, dass mein Vater die überschwängliche Herzlichkeit aus dem Osten mitgebracht hatte.

Seit diesen Ferien wurde ich schlesenisiert, und da ich ein großes Talent für Akzente habe, sprach ich nach zwei Wochen wie Frau Lukasewitz, so, als hätte ich den Bollerwagen mit ihr zusammen gen Westen geschoben.

Weil es fast wie zu Hause war und Herr und Frau Lukasewitz wie mein Vater agierten, schafften es sogar meine zum Teil standorttreuen Familienmitglieder nach einigen Tagen, die Zeit dort zu genießen.

In diesen Ferien lernte ich in einem eiskalten Bergbach schwimmen. Noch heute fühle ich die sicheren Hände meines Vaters, und hätte mich an diesem Tag jemand gefragt, was das Schönste sei, das ich je erlebt habe, wäre es genau dieser Moment gewesen! Manchmal glaube ich, dass ich noch heute, viele Jahre später, seine Hände spüre, wenn ich versuche, mutig zu sein.

Ich saß in täglich wechselnden Outfits mit meiner Mutter in einer Hollywoodschaukel, und wir hätten es in einem Grandhotel nicht besser haben können. Wir trugen unsere Sonnenbrillen und stellten uns vor, wir wären an der Côte d’Azur, und ich höre sie noch immer mit ihren amüsierten, aber etwas ermahnenden Worten sagen: »Ach, Guido, was du alles träumst, sag es lieber nicht den anderen.«

Wahnsinnig gern hätte ich meine Eltern für mich allein gehabt, ich wäre das perfekte Einzelkind geworden.

Manchmal habe ich meine Mutter leise gefragt: »Mama, hast du mich am liebsten von all den Kindern?«

Sie lachte dann jedes Mal und sagte: »So etwas sagt man nicht, nicht einmal, wenn es so wäre.«

Eine Woche nachdem wir zurück in Westfalen waren, kaufte mein Vater eine Hollywoodschaukel. So hatten wir ein bisschen was vom Urlaub zu Hause. Andersherum mag ich es nicht so sehr, das habe ich mit meinem Vater gemeinsam. Wir mögen keine Wohnwagen. Wir freuen uns für jeden, der durch die Welt rollt, aber wir sind lieber im Hotel. Auch im Zelt ist es für mich eher schwierig, ein Urlaubsgefühl zu entwickeln. Der Gedanke, dass ich schon alles eingekauft habe, um dann irgendwo in Holland die Produkte aus der Heimat selbst zuzubereiten, ist mir ein Graus. 

Seit den Urlauben meiner Kindheit verreise ich gerne mit meinen Eltern, und ich mag es sehr, ihnen die Welt zu zeigen. Die Reisen mit ihnen gehören für mich zu den schönsten Erinnerungen.

Wenn meine Eltern irgendwo einchecken, sind sie bereits nach dreißig Minuten mit irgendeinem Menschen in Kontakt. Sie sind grenzenlos offen, und nach einer vierzehntägigen Kreuzfahrt kennen sie die Hälfte der Mitreisenden und werden vom Bordpersonal geliebt.

Ich habe ihnen viel zu verdanken, denn ich bin von beiden die exakte Hälfte. Was der eine Teil nicht hatte, konnte der andere verstehen, und ich kann mich nicht entsinnen, dass sie jemals unterschiedlicher Meinung waren.

Eher ungewöhnlich ist zudem, dass auch ich mit ihnen nie Probleme hatte. Ich hätte sie beide heiraten können, und die vielen Monate, die sie in meinem erwachsenen Leben bei mir verbracht haben, waren von äußerster Harmonie geprägt.

Sie hätten auch gut ein Hotel führen können, Gäste hatten sie genug in ihrem Leben.

Meine Mutter hatte immer davon geträumt, ein eigenes Café zu führen. »Marianne« sollte es heißen. Sie hat die besten Torten gebacken, und heute isst sie lieber Tiefkühlgebäck. Das Leben verändert vieles, wenn es lange dauert. Was bleibt, ist die Erinnerung, aber auch die kann uns abhandenkommen.

Ich mag es gern, wenn in Hotels die Freundlichkeit schon am Empfang spürbar ist. Mag Sätze wie: »Haben Sie bitte eine gute Zeit in unserem Haus« oder: »Wir haben selbstverständlich die 202 für Sie vorbereitet, Nachrichten sind keine gekommen« oder: »Wie schön, dass Sie drei Tage bleiben.«

Ich beziehe, wenn möglich, immer dasselbe Zimmer. Sollte es hin und wieder nicht verfügbar sein, stelle ich mir vor, wer von den Gästen wohl in »meinem« Bett schläft? Eine ebenfalls unnötige und völlig überflüssige Angewohnheit, die ich mir zu einem späteren Zeitpunkt einmal abgewöhnen sollte.

Es kann nur damit zusammenhängen, dass ich, sobald ich mich wohlfühle, ein Heimatgefühl entwickele.

Tief in mir angelegt ist da die Freude an Beständigkeit, ich sage nur Kibitka, so nannten wir den Bollerwagen, mit dem unser Vater nach Westfalen kam.

Ebenso lässt sich meine Leidenschaft für Immobilienangebote in jedweden Städten und Landstrichen nicht anders erklären.

Es besteht so theoretisch immer die Möglichkeit umzuziehen. Warum ich dann allerdings in Hotelzimmern gern beständig bin – wer weiß, die Kibitka steht irgendwie ständig mit allem in Verbindung.

Nachdem ich dem Concierge die Nachricht überbracht hatte, dass die Amerikaner es sich wünschten, dass man ihr Gepäck abholt, betrat ich den Frühstücksraum in meinem Berliner Lieblingshotel, dem Hotel de Rome. Dieser war in meiner Abwesenheit von einem prominenten TV-Koch umgestaltet worden.

Mein so geschätzter Frühstücksraum hatte sich seit meinem letzten Besuch optisch etwas verwandelt.

Ein kleiner Junge versuchte ohne Unterlass, eine aufgebügelte Stickarbeit von seinem gepolsterten Rückenteil zu entfernen. Er war mir augenblicklich sympathisch, ein aufmunternder Blick ließ ihn sogleich weiter an der Ablösung arbeiten.

Sicherlich dachte er, wenn dieser Mann im schwarzen Anzug die Entfernung gutheißt, wird entfernt, was nicht da hingehört!

Seine Mutter war damit beschäftigt, sich einen komplizierten Kaffee zu bestellen. Vanilla Cream Latte mit laktosefreier Milch und Doubleshot Espresso ohne Topping.

Die aufmerksame Servicekraft schaffte es nicht, ihr zu folgen, und ich dachte, ich bringe es manchmal nicht einmal fertig, einen Decaf mit Hafermilch zu bestellen, um nicht zu viele Umstände zu machen.

An diesem Morgen verließ ich um 8:00 Uhr das Hotel.

»Sie werden doch nicht an einem Samstag arbeiten müssen?«, fragte der freundliche Portier, als ich durch die breite Eingangstür auf die Straße trat. Dann sagte er noch so etwas wie: »Warten Sie einen kleinen Moment, ich gebe Ihnen ein Fläschchen Wasser mit.« Hotelgäste der besseren Kategorie werden stets mit Wasser versorgt, damit sie auch im realen Leben, außerhalb des Hotels, zurechtkommen.

Ich antwortete: »Danke, aber das ist nicht nötig«, da ich nur einige Hundert Meter weiter in das Hauptstadtstudio gehen wollte und nach einem kurzen Dreh für die Fernsehsendung GalaTV wieder zurück im Hotel wäre.

Während der Portier dabei half, eine junge Familie nebst immensem Gepäck in ihren bereits vor dem Hotel geparkten Wagen zu verstauen, atmete ich tief ein und roch diese Stadt. Berlin.

Vor mir lag der Bebelplatz. Hier hatten die Nationalsozialisten 1933 die Bücher unliebsamer Autoren verbrannt, weshalb er heute oft Touristen gezeigt wird. Genau auf der gegenüberliegenden Straßenseite, der Prachtstraße Unter den Linden, bauten nun die Buchhändler ihre mobilen Antiquariate auf. Vor den Toren der Humboldt-Universität bringen sie jeden Tag die Bücher zurück – dabei muss ich an den Spruch denken: »Dort, wo man Bücher verbrennt, verbrennt man am Ende auch Menschen.«

Ich bin eng verbunden mit dem Bebelplatz, denn auf ihm fand jahrelang die Berliner Fashion Week statt. Auf seinem Pflaster stolzierten meine Models über den Laufsteg, und ich wurde von ihm aus immer erfolgreicher. Danke, Bebelplatz!

Nachdem die Familie noch ein Fläschchen Wasser durch die Autoscheibe gereicht bekommen hatte, mit großer Geste die Wagentüren geschlossen wurden und vorher noch etwas Bares in der Hosentasche des Portiers verschwunden war, kümmerte er sich erneut um mich.

»Der liebe Herr Kretschmer ist doch ständig im Einsatz«, sagte er und riss mich aus meinen Gedanken. Er versicherte mir, keinen anderen prominenten Gast zu kennen, der morgens immer der Erste wäre und abends leider oft einer der Letzten.

Dumm gelaufen, dachte ich noch, und wie aus dem Nichts fasste er mich freundschaftlich am Arm und äußerte den Satz, der mich den ganzen Tag begleiten sollte: »Lieber Herr Kretschmer, Sie brauchen einen wunderschönen Tag. Gehen Sie doch einfach mal unter Leute, treffen Sie Menschen und genießen Sie diesen Spätsommertag.«

Ich musste lächeln und erwiderte: »Schauen wir mal, wie lange der Dreh dauert.« Und als ich gerade im Begriff war loszugehen, meinte er noch: »Sie haben es sich verdient, Berlin liebt Sie …«

Ich drehte mich noch einmal um. »Und Sie sind der größte Schatz, der je vor einer Tür stand, bis später.«

Im Weggehen hörte ich ihn lachen und so etwas wie »Ach, der Herr Kretschmer« murmeln.

Ich musste schmunzeln und sah an mir herunter: schwarzer Anzug, feine schwarze Lackschuhe, Sonnenbrille, etwas Bargeld, eine Kreditkarte, Handy und eine kleine Flasche Wasser.

»Etwas unvorbereitet für einen aufregenden Tag im Sommer«, sagte ich laut vor mich hin und setzte meinen Weg fort, ohne zu wissen, wohin es mich an diesem Tag noch führen sollte.

Auf dem Bordstein lag ein Zettel. Ich hatte keine Ahnung, warum ich ihn aufhob. Aber vielleicht war das nach den Worten des Portiers das Zeichen, auf das ich gewartet hatte. Eine Empfehlung, einfach einmal meine ausgetretenen Pfade zu verlassen. In einer schönen Schrift hatte jemand auf das Stück Papier eine eigenwillige Erinnerungshilfe geschrieben: »Reinigung, Post, Lotto, Paris Bar.« Jedes dieser Wörter löste eine ganz eigene Erinnerung in mir aus.

Wie lange war ich nicht mehr in einer Reinigung gewesen – Tagesfreizeit ist eine Grundvoraussetzung für chemische Abgabestellen. Ich roch in meiner Erinnerung diesen charakteristischen Duft. Eine Reinigung ist mit keinem anderen Ort vergleichbar. Nur Gutes und Delikates findet den Weg in die Chemische. Ich hörte das Rattern der Laufbänder und die, die verzweifelt nach dem Reinigungszettel suchten. Nein, wo ist er denn nur? Ich hatte ihn doch gerade eben noch. Wie ärgerlich, es ist der graue Mantel mit den Paspeln, ach bitte, es ist wirklich meiner.

Post, Lotto, Paris Bar. Wie lange hatte ich keinen Lottoschein mehr ausgefüllt. Sechs Richtige mit Zusatzzahl waren immer der Traum meiner Mutter gewesen. Jedes Mal, wenn sie einen Lottoschein abgegeben hatte, verteilte sie mit großem Pathos etwas von dem imaginären gewonnenen Geld. Es waren stets genau eine Million und zweihunderttausend Mark, und bei der Auszahlung gingen zehn Prozent an mich und meine Geschwister, etwas an Tante Elli, ihre Lieblingsschwester, und der Rest sollte auf ihrem blauen Sparbuch eingezahlt werden.

Manchmal liefen ihr die Tränen herunter, so sehr war sie gerührt von ihrer eigenen Großzügigkeit. »Was wohl der Herr Schappmann von der Sparkasse sagen würde?«

Ich mochte diese Momente und weiß noch, wie stolz ich auf sie war. Ich habe in meinem Leben mehrmals den imaginären Lottogewinn von meiner Mutter erhalten. Leider hatten wir nie die richtigen Zahlen, und was der Herr Schappmann von der Bank dazu gesagt hätte, bleibt leider auch unbeantwortet.

Die Paris Bar kenne ich gut. Ich habe dort viele wunderbare Abende mit illustren Menschen verbracht. Eigentlich könnte ich wieder einmal dort zu Mittag essen. Das wäre doch eine gute Idee für so einen schönen Tag.

Gerade in dem Augenblick, in dem ich versuchte, mir vorzustellen, wie die Zettelschreiberin oder der Zettelschreiber wohl aussehen könnte, tauchte auf der rechten Seite ein Zeitungsladen auf.

Da war es, das Zeichen! Glücksspiele und andere Träumereien sind immer mit unmissverständlichen Zeichen verbunden.

Sätze wie »Heute ist der Tag« oder »Wenn dann noch so ein Zettel vor die Füße flattert, ja, dann ist alles möglich, jetzt oder nie!« werden dann bedeutsam.

Bevor ich den Lottoschein ausfüllte, betrachtete ich die gefundene Notiz etwas genauer und überlegte, ob darin eine bestimmte Sinnhaftigkeit zu erkennen sei, sodass die Wörter bestimmten Zahlen zuzuordnen wären. Je länger ich mir das Stück Papier anschaute, umso sicherer war ich, dass das nur eine Frau geschrieben haben konnte.

Am 8.