1968 - Claus Koch - E-Book

1968 E-Book

Claus Koch

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Beschreibung

»Es ist nun an unseren Kindern, die Kämpfe für eine gerechtere Welt auszutragen.« (Claus Koch)

»Die Eltern legten das Land in Schutt und Asche. Dann bauten sie es wieder auf, bis ihre Kinder 1968 in Berlin und anderswo es noch einmal anzünden wollten. Um damit die Vergangenheit endlich zum Schweigen zu bringen. Und ihre Kinder? Können sie, jenseits von Stillstand und trügerischer Ruhe das Land noch einmal zu neuem Leben erwecken?«
Revolte mit Langzeitwirkung: »1968« ist die Geschichte dreier Generationen, die sich in allem unterscheiden und doch so ähnlich sind. Rasant erzählt wie ein Roadmovie, das in den 1950er-Jahren seinen Ausgangspunkt findet. Claus Koch, selbst 68er, nimmt seine Leser mit durch die wilden 60er-Jahre bis zu den Kindern und Enkeln der 68er.

  • Der Mythos 68 und seine Folgen
  • Das Erbe der 68er verstehen
  • Das politische Projekt des Aufbegehrens – und was das heute bedeutet
  • Was 1968 und 2018 generationsübergreifend miteinander zu tun haben

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Seitenzahl: 353

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Claus Koch

1968

Drei Generationen –

eine Geschichte

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://portal.dnb.de abrufbar.

Copyright © 2018 Gütersloher Verlagshaus, Gütersloh,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

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Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Umsetzung eBook: Greiner & Reichel, Köln

Redaktion: Dr. Peter Schäfer, Gütersloh (www.schaefer-lektorat.de)

Umschlaggestaltung: Gute Botschafter GmbH, Haltern am See

Umschlagmotiv: © H. Armstrong Roberts / ClassicStock

ISBN 978-3-641-22541-4V001

www.gtvh.de

INHALT

Einleitung

TEIL I: UNSERE ELTERN – WOHER WIR KAMEN

Kapitel 1: Täter in Trümmern

Schuld, Schweigen, Wiederaufbau

Ungeschehenmachen

Bindung brechen: Das Programm der NS-Ratgeberikone Johanna Haarer

Bindungslosigkeit als politisches Instrument

Kapitel 2: Aufwachsen im Feindesland

Das Kind als Feind

Familie und Vaterland

Vom Versuch, einen Drachen zu umarmen

Im Nazinebel

Vom Leben draußen

TEIL II: WIR KINDER – WOHIN WIR WOLLTEN

Kapitel 3: Das große Aufbegehren

Die hellen Jahre

»The times they are a changing«

»Catch the wind«: Gammler und Hippies

Wenn das Meer anfängt zu leuchten

Kapitel 4: Der Einbruch des Politischen ins Teenageralter

Paul Nizan: »Auf dem Meer ist die Freiheit einfach nur Abwesenheit«

Theodor W. Adorno: »Das Ganze ist das Unwahre«14

Herbert Marcuse: »Freiheit ist nur denkbar als Realisierung von Utopie«

Reimut Reiche: »Sexualität und Klassenkampf«

Schüleraufstand: »Gegen Arschkriecherei und Duckmäusertum«

Schatten an der Wand: 2. Juni 1967

Kapitel 5: Alles nur geträumt? 1968 und das Ende der Utopie

Das Attentat auf Rudi Dutschke

Berlin brennt

Der Kampf geht weiter

Mythos Mai 68

»Schon zehn Tage Glück« – Frankreich im Aufstand

Kapitel 6: In der Denkfalle

Neue Väter braucht das Land (Marx, Lenin, Mao)

Wir sind die anderen: Die Entdeckung des Proletariats

Proletarische Revolution

Die Unterwerfung

TEIL III: WIR ERWACHSENEN – WAS BLEIBT

Kapitel 7: Die Revolution entlässt ihr Kinder

Der Abschied von der Revolution

Befreiung aus dem Irrgarten des Marxismus-Leninismus

Aufbruch zu neuen Ufern

Kapitel 8: Neue Kinder braucht das Land

»Antiautoritäre Erziehung« – Vorstellung und Wirklichkeit

Der »autoritäre Charakter«

Kommune 2

Bindung und Autonomie

Kapitel 9: Zeitenwende

DDR: Terra incognita

1989: »Das Ende der Geschichte«

Die Revolte des Kapitals

Neoliberalismus – das vergiftete Freiheitsversprechen

TEIL IV: UNSERE KINDER UND ENKEL – WAS WIRD?

Kapitel 10: Rückkehr der Vergangenheit

Alte und neue Lügenpropheten

Neue Rechte: Alte Parolen

Trumpismus

Regressive Utopie – die rechte deutsche Revolte

Das Versagen der Linken

»Ultrahumanismus« – der Aufstand der Gefühllosen

Jedwede Bedeutung entsteht mit dem Blick – Bindung und Empathie

Kapitel 11: Aufrecht in die Nacht? Die Kinder und Kindeskinder der 68er

»Gesellschaftliche Veränderung fängt dort an, wo man wirklich etwas bewirken kann: im eigenen Leben.«

Leben in der Komfortzone

Eine neue »skeptische« Generation?

»Kommt heraus aus euren Köpfen«: Neue Proteste, neue Protestformen

»Generation Snowflake«?

»Generation K«?

Die Rückkehr der Revolte

Epilog

Zeittafel

Literatur

Personenregister

Anmerkungen

Danksagung

EINLEITUNG

Rückblick – 1968: Als ich das Zimmer nach 50 Jahren wiedersehe, bin ich überrascht, wie klein es ist, zwei mal drei Meter vielleicht. Liegt es daran, dass einem die Räume weiter und ihre Begrenzungen weniger eng vorkommen, wenn man jung ist? Auch Kinder sehen die Welt und ihre Gegenstände schließlich größer als später die Erwachsenen. Aber 1968 waren wir keine Kinder mehr. Wir waren 18, 20 oder 25 Jahre alt und gerade dabei, die Welt um uns herum gründlich zu verändern.

Das Zimmer. Ein schmales Sofa, auf dem wir schliefen, wenn wir zu zweit waren und J. nicht in Paris. An der gegenüberliegenden Wand, neben der Tür, eine Gasheizung, in die wir Münzen einwerfen mussten, wenn uns kalt wurde. Über dem Sofa ein Brett, auf dem ein kleines Radio stand und ein Plattenspieler. Das Radio gehörte J., der Plattenspieler mir. Der Plattenspieler war eines der wenigen Dinge, die ich von zu Hause mitgebracht hatte. Das Radio von J. empfing keine Sender mehr, aber die Platten konnten wir damit hören. John Coltrane, Albert Ayler, Stones, Velvet Underground, Doors. Die Stimmen von Bob Dylan, Joan Baez, Donovan und den anderen Folk- und Protestsängern waren leiser geworden. Man hörte ihre Lieder nur noch, wenn man allein war. Die helle Zeit, als das Meer zu leuchten anfing und sich das Leben so weich anfühlte, dass manhineinfiel, dieses Leben, das schon hinter uns lag und doch immer noch greifbar schien, war dabei, sich langsam von uns zurückzuziehen.

Das Zimmer war immer stockdunkel, obwohl es ein sehr großes Fenster hatte, in dem man sogar stehen konnte. Aber im Abstand von knapp einem Meter befand sich schon die Wand des Nachbarhauses. Vor diesem großen dunklen Fenster stand ein kleiner Tisch. Darauf eine winzige selbstgemachte Blumenvase von J., in die sie aber nie Blumen steckte. Daneben ein Becher mit Tee oder Kaffee, dazu Zigarettenpackungen, aus Frankreich mitgebracht, weil sie dort billig waren, ein selbstgemaltes Bild mit einem silbernen Mond über einem Berg vor einem nachtblauen Himmel von der Schwester von J., die hier auch manchmal wohnte. Auf dem Tisch lagen unsere Bücher, die wir gerade lasen. Die von Paul Nizan, den Sartre uns empfohlen hatte, »Aden Arabie«, »Das trojanische Pferd« und »Antoine Bloyé«, über den Vater, der seine Herkunft verriet. »Die sexuelle Revolution« und »Massenpsychologie des Faschismus« von Wilhelm Reich. Dazwischen, ein wenig verstreut, »Nadja« von André Breton, »Minima Moralia« von Adorno, »Le dieu caché« von Lucien Goldmann, Gedichte von Dylan Thomas, übersetzt von Erich Fried. Und dann waren da noch »Das Kapital« von Marx, »Was tun?« von Lenin und ein bisschen Mao, Vorboten der »dunklen Jahre«.

Wenn man das Zimmer nach draußen in die Gassen der Altstadt verließ, brauchte man einige Zeit, die Welt in ihrer Helligkeit wiederzuerkennen. Menschen, die so taten, als wäre nichts, gingen an einem vorbei. Sie lachten und freuten sich über die Sonne, als sähen sie nicht die roten Fahnen, die aus unseren Fenstern hingen, entzifferten nicht unsere Parolen an den Wänden, hörten nicht unsere Rufe, sie zu befreien. Das gleißende Licht schmerzte dann noch lange in den Augen, wenn wir später ins Zimmer zurückkamen, und eines Tages meinte N., sie fahre morgen nach Paris, da ist es anders als hier, ich werde dir schreiben. J. änderte oft ihren Vornamen. Sie fand in der Welt für sich kein Zuhause mehr, und der Marxismus-Leninismus konnte ihr dabei auch nicht weiterhelfen.

.....

Was hat uns die Chiffre 68 über diese und ähnliche Erinnerungen hinaus heute noch zu sagen, das ist eine der Fragen, mit denen sich dieses Buch beschäftigt. Sie stellt sich weniger uns, den Akteuren von einst, sondern den jungen Leuten heute. Denn auch ihr Leben hat mit unserer verlorenen Schlacht vor 50 Jahren zu tun. Weil seitdem die Allianz utopischen Denkens mit einem revolutionären Projekt zerbrochen ist. Weil unsere Kinder, wenn auch anders als wir bei unseren eigenen Eltern, an uns das süße Gift einer totalitären Ideologie kennengelernt haben. Manche von ihnen hat das hoffnungslos gemacht. Dabei ist die Welt heute keinesfalls besser als die vor 50 Jahren. Niemand behaupte, sie habe ihr Antlitz seitdem einer schöneren Zukunft zugewandt, von der wir damals träumten und manchmal glaubten, sie schon fast in unseren Händen zu halten.

Aber das revolutionäre Experiment unserer Generation ist gescheitert. Und sein Scheitern empfanden viele von uns als ebenso grandios wie vorher die hochfliegenden Träume. Und so hinterließ unser späterer Rückzug eine Lücke in der Geschichte, einen Spalt, den unsere Kinder immer noch dabei sind aufzufüllen, um den Blick wieder freizubekommen. Wie werden sie sich von der herrschenden Apologetik vollendeter Tatsachen befreien, die alles so glatt und vollendet erscheinen lassen, wie können sie aus dem »Alternativlosen« herausfinden, sich der werbelärmenden Belästigung im postfaktischen Zeitalter widersetzen, um eine Welt zu schaffen, die sie freundlich aufnimmt, die ihre Träume respektiert und annimmt, die sie, ihre Kinder und Enkel überleben lässt? Damit sie nicht länger blind wie Fledermäuse hin und her fliegen müssen?1 Sich an Dystopien und apokalyptischen Perspektiven zu berauschen, ist keine so gute Idee. Den resignierten, aber vor Armut geschützten Clochard zu spielen, ebenso wenig,2 wie eine Schneeflocke zu sein, die in der warmen Frühlingsluft sanft dahinschmilzt3.

Dieses Buch betrachtet die mitunter zum Mythos geronnene Chiffre 1968 aus der Perspektive von mindestens drei Generationen, unseren Eltern, uns selbst und der unserer erwachsenen Kinder bzw. der Generation, die ihnen gerade folgt.

Was unsere eigenen Eltern betrifft, waren sie an den Geschehnissen von damals mitbeteiligt. Sie waren es, die uns ihre unheimlichen Visionen, endgültig zerbrochen und inmitten einer Trümmerlandschaft gigantischen Ausmaßes als bittere Mitgift unserer Revolte beigaben. Aber das verstanden sie nicht und wollten es auch nicht verstehen. Gaben sich nach außen wie uneinsichtige Kinder, die mit den Füßen auf dem Boden aufstampfen, erst toben und dann trotzig schweigen. Sicherlich: Unser Aufstand war politisch motiviert, zumindest haben das später viele von uns behauptet. Unseren Feind glaubten wir genau zu kennen. Aber als unser Protest in den 60er Jahren begann, waren wir mit unseren Gedanken und unserem Herzen näher an Paul Nizan, dem französischen Schriftsteller der 1930er Jahre, als an der proletarischen Revolution. Hatte der doch in seinem Fluchtroman »Aden« geschrieben: »Wir wissen ja, wie unsere Eltern lebten. Ungeschickt, unglücklich wie Katzen, die Fieber haben, wie Ziegen, die seekrank sind.«4 Und: »Ich war zwanzig. Niemand soll sagen, das sei die schönste Zeit des Lebens. Alles droht einen zu vernichten: die Liebe, die Ideen, der Verlust der Familie, der Eintritt in die Welt der Erwachsenen. Es ist schwer, seinen Part in der Welt zu finden.«5

Um das, was uns die Generation unserer Mütter und Väter mit auf den Weg gab, und die Folgen geht es am Anfang des Buches. Um etwas, das uns, die wir während oder nach dem Krieg geboren wurden, wie ein Stein um den Hals hing und unter Wasser zog, sodass wir kaum Luft zum Atmen bekamen. Ein Erbe, das abscheulicher nicht hätte sein können, außerhalb unserer Vorstellung liegend, ein Menschheitsverbrechen, von der Elterngeneration gemeinschaftlich begangen und uns nach dem Krieg in ihrem störrischen Schweigen zugeschoben. Und als wir anfingen, uns dagegen zur Wehr zu setzen und ihnen mit einigen Versprengten aus ihrer eigenen Generation die Frage stellten, wie das alles denn hatte geschehen können, gaben sie uns zur Antwort: »Macht aus unseren Verbrechen, was ihr wollt, aber lasst uns endlich damit in Ruhe.« Und so liefen wir in diese Welt hinein: Noch mit Nazimethoden erzogen, ohne Bindung, ohne Vorbilder, aus einer unendlichen Leere hinaus ins eigene Leben.

Wohin sollten wir gehen, womit diese innere Leere füllen, ohne gültigen Kompass, ohne Orientierung? Was anfangen mit unseren Bedürfnissen nach Liebe und Anerkennung in einer Welt, die uns feindlich gesonnen war? Also fingen wir, älter geworden, an, uns gegen das, was man uns aufgebürdet hatte, zu wehren und aufzulehnen. Probten den Aufstand gegen die, die uns so übel mitgespielt hatten. Entdeckten dabei Schönheit und Wildes inmitten dieser tödlichen Erstarrung, auch mitten in uns selbst. Und kamen schließlich auf die Idee, den morschen Ast, auf den man uns gesetzt hatte, einfach abzusägen! Suchten uns neue Vorbilder, neue Väter, zunächst in Frank­reich, dann die, die aus dem Exil zu uns zurückgekommen waren. Wir lasen und lasen und unterstrichen jeden ihrer Sätze zweimal. Das Leben gefiel uns, mit einem Bein in den Büchern, mit dem anderen draußen, wo es von den Protesten gegen den Vietnamkrieg und gleichzeitig vom Kampf für die Befreiung unserer Sexualität bestimmt war. Und dann fielen die ersten Schüsse.

Aus Berlin ereilte uns zuerst die Nachricht und kurz darauf folgend die dringende Botschaft, erst den Aufstand und dann die Revolution zu wagen. Jetzt müsse der Feind mit allen Mitteln besiegt werden. Der Feind, das waren immer die anderen. Die Verbündeten waren wir selbst. Militanz und Offensive! Ein Jahr später, nach dem Attentat auf Rudi Dutschke, loderten schließlich die Feuer von Barrikaden und an die Wände geschleuderten Brandsätzen. Sechs Monate später sangen die Rolling Stones aus dem Off »Street Fighting Man« für uns. Für einen Augenblick fühlten wir uns tatsächlich mächtig. Wie die Aufständischen der Französischen Revolution schossen wir unsere Salven auf die Kirchturmuhren, die uns umgaben, um die Zeit zum Stillstand zu bringen: Unter den Pflastersteinen der Strand!10 Tage Glück! Unsere Auflehnung, unsere Sprache, unsere Gesten, unsere Blicke, unsere Musik, die Liebe in den Kampfpausen – das waren tatsächlich wir. Für kurze Zeit spürten wir in uns die jugendliche Kraft, die alles, was sich in den Weg stellt, zur Seite räumen kann. Lebten im Zentrum der Revolte, nur im Augenblick. Um dann diese Einheit von Wollen und Tun mit abstrakten Worthülsen zu betäuben und unser neues Lebensgefühl auf dem Altar des Marxismus-Leninismus zu opfern. Um uns in einem Irrgarten zu verlaufen, aus dem zu befreien wir Jahre brauchten.

Wie war es möglich, dass eine Jugend, die angetreten war, von elterlicher und gesellschaftlicher Autorität loszukommen, sich einige Jahre später eine Ideologie zur zweiten Natur machte, die ihr empfahl, das selbstständige Denken einzustellen? Sich in Kaderorganisationen einem gestrengen Regiment unterwarf, von dem sie geglaubt hatte, ihm in den hellen Jahren ihres Lebens längst entkommen zu sein? Welches Gift wirkte weiter in uns, wo wir doch dachten, es mit unserer persönlichen Revolte aus den Gliedern herausgeschüttelt zu haben? Von heute aus gesehen: Warum musste unser Erwachsenwerden so lange dauern? Ein Erwachsenwerden, das ja auch damit zu tun hat, nicht nur für andere, wie wir immer meinten, sondern auch für uns selbst Verantwortung zu übernehmen? Statt immer nur nach einem gelingenden Leben für alle zu fragen, wo sich die kommunistischen Utopien doch längst vor uns schon als schreckliche Monster herausgestellt hatten? Was war da los mit uns? Und wenn ich immer von »uns«, von den »68ern« oder eben auch, wie bis heute üblich, der 68er-Generation spreche – von wem ist hier eigentlich die Rede? Lassen sich die »68er« denn überhaupt in das gewohnte Schema nachfolgender Generationen einordnen – so, wie man von einer »Vorkriegsgeneration« spricht, von einer »Nachkriegsgeneration«, einer Generation X, Y oder Z?

Zweifellos gehörten die meisten von uns 68ern, ordnet man sie in das gewohnte Generationenschema ein, der Nachkriegsgeneration und damit den Jahrgängen nach 1945 an, auch wenn auffallend viele unserer etwa ein Dutzend Wortführer bereits kurz vor Ausbruch oder während des Zweiten Weltkriegs geboren wurden. Spricht man von uns von den »68ern« oder auch der »68er-Generation«, ist also eher das politische Projekt gemeint, dem wir uns gemeinsam verschrieben hatten, als die altersmäßige Zuordnung in eine klassische Generationenfolge. Und spreche ich in diesem Buch von »uns« und »wir«, sind auch nicht alle gemeint, die während oder nach dem Krieg geboren wurden, sondern nur ein zahlenmäßig kleiner Teil, der der Nachkriegsgeneration dennoch ihren bis heute am häufigsten verwendeten politischen Stempel aufgedrückt hat.

In gewisser Hinsicht erfüllten also wir, »die 68er«, in unserer Generation eine Avantgardefunktion, indem wir, wie noch auszuführen sein wird, eine latent vorhandene Stimmung und politische Strömung mit unserem Kampf um Emanzipation und Revolution am radikalsten auf den Begriff brachten, nämlich den gesellschaftlichen Aufbruch aus den spießigen und immer noch von faschistischen Idealen und Narrativen geprägten 50er Jahren. Dabei waren wir längst nicht so viele, wie es der immer wieder verwendete Generationenbegriff für uns nahelegt. Aktiv beteiligte sich an den lautstarken Aktionen und Demonstrationen höchstens ein Drittel »unserer Generation«, was nicht bedeutet, dass nicht auch andere mit einigen unserer Ziele in dieser Zeit sympathisierten und im Kielwasser hinter unseren Aktivitäten hersegelten. Und auch innerhalb der so näher bezeichneten Minderheit der »68er« gab es hinsichtlich ihrer biografischen Merkmale, politischen Vorstellungen und der Radikalität, mit der sie ihre Ziele verfolgten, zweifellos Unterschiede. Dennoch aber zeichnete sich dieser politisch aktive Kern durch ein gemeinsames Ziel aus, nämlich die bestehenden Verhältnisse der 1960er und 1970er Jahre radikal zu verändern und dazu aufzurufen, die in unseren Augen »herrschende Klasse«, d. h. die Bourgeoisie mitsamt ihrem von uns so verhassten Kapi­talismus, zu stürzen. Was im Übrigen auch ein Grund dafür ist, dass die Chiffre 68 bis heute noch immer als politischer Kampfbegriff taugt, übrigens weniger in einem positiven Sinne als in denunziatorischer Absicht.

Als wir dann unseren revolutionären Kampf Ende der 1970er Jahre aufgaben, fehlten unseren Vorstellungen von einer gelingenden Zukunft zunächst die neuen Bewohner. Was hatte Bestand? Was konnte aussortiert werden? Nach dem ersten Schock stellten wir fest, dass wir trotz unseres grandiosen Scheiterns immer noch einiges zu bieten hatten. Zwar war uns das revolutionäre Subjekt, an das wir lange geglaubt hatten, abhandengekommen und damit auch das Ziel, der Gesellschaft, in der wir lebten, endgültig den Garaus zu machen. Aber es blieb doch immer noch genug, wofür es sich weiter zu kämpfen lohnte. Und viele von uns lebten jetzt ganz gut, immer noch mit dem Elan ihres revolutionären Erbes, das jetzt der Vergangenheit angehörte. Marschierten gegen Atomkraft und bauten sich Häuser im Wendland.

Und dann kam die Zeit, in der alles einfror. Ein von allen Fesseln befreiter globalisierter Kapitalismus siegte, das Reich des realen Sozialismus, das zumindest noch zur Antithese getaugt hatte, zerfiel, lag am Boden, war ein für alle Mal erledigt. Die Geschichte sei an ihrem Ende angelangt, triumphierten die Reichen und Mächtigen und gaben dem Kadaver des Sozialismus einen letzten Tritt. Der Einzelne habe gesiegt, es liegt an ihm, was er aus seinem Leben macht oder nicht. Das neue Zeitalter lud alle ein, mitzumachen oder die Klappe zu halten. Alternative sinn- und zwecklos.

Da war etwas passiert, das so nicht in unseren Büchern gestanden hatte. Schließlich hatten wir doch alles versucht, waren unseren Eltern davongelaufen, hatten, was sie uns überließen, abgestoßen wie einen Krankheitserreger, hatten den Aufstand geprobt, messianischen Glaubens, dass das Gute siegen würde – und jetzt? Manche haben diesen Rückschlag nicht verkraftet, andere wiederum waren insgeheim froh und landeten guten Gewissens dort, wovon sie einst weggelaufen waren. Lebten das Leben ihrer Eltern, nur anders. Besser.

Und heute: Wieder erwachte Gespenster der Vergangenheit kratzen am Stillstand der Geschichte – aber aus entgegengesetzter Richtung, als wir gedacht hatten. Ein Aufstand Gestriger und Gefühlloser spült das politische Gestern wieder ins Heute. An die Stelle unserer Zukunfts­träume setzen sie ihre regressive Utopie. Internationale Konzerne und Banken greifen mit ihren allgegenwärtigen Tentakeln weltweit und lautlos ins politische Geschehen ein.

Jetzt aber sind nicht mehr wir, sondern unsere Kinder gefragt. Die Geschichte, die sie zu erzählen haben, ist nicht mehr unsere, aber sie hat auch mit unserem verlorenen Kampf zu tun. Denn unsere Niederlage hat sich in ihr Denken eingeschlichen. Sie sind skeptisch, und manche von ihnen haben schon resigniert, bevor sie wirklich erwachsen werden. Nicht frei von Splittern, die wir ihnen zugefügt haben und die ihnen immer noch unter der Haut sitzen und von Zeit zu Zeit schmerzen.

So, wie wir uns das Recht erkämpft haben, gegen das Erbe anzutreten, das auf uns lastete, haben sie das Recht, sich von uns loszusagen. Es ist jetzt an uns, in die Kulisse zurückzutreten und ihnen die Bühne zu überlassen, die Welt zu verändern. Schließlich ist es ihr Leben, in das die Schrecken globaler Ungerechtigkeit, die Flüchtlingsströme, die Zerstörung des Planeten und die alten Parolen zurückgekehrt sind. Dabei geht es um nicht mehr oder weniger als um die Vorstellung einer gerechteren Gegenwart. Darum, vom Gedanken an eine gelingende Zukunft wieder ins Jetzt zurückzufinden. Es geht um einen Sieg über die Dystopie, in der die Welt, in der sie leben, von Flucht, Zerstörung und Terror heimgesucht wird. Eine Welt, die unsere Kinder außerhalb von Grenzmauern und Stacheldrahtzäunen bereits ausmachen können. Einige von ihnen haben den Kampf schon aufgenommen und ihnen ist egal, wie man ihre Generation nennt, X, Y oder Z. Andere von ihnen, und es sind nicht wenige, sind schweigsam, manche schon ohne Hoffnung. Andere sehen nur zu, so, als ginge sie das Weltgeschehen nichts an. Sie wissen, dass sie einiges zu verlieren haben und leben nur den Augenblick.

»Schwimmt, sonst werden ihr untergehen wie ein Stein«, sang Bob Dylan vor 65 Jahren, als alles anfing. Was können wir, die damals Aufständischen, ihnen heute noch raten? Seid wachsam, die Zeiten ändern sich! Passt auf das auf, was wir euch an Gutem hinterlassen haben! Das ist mehr, als ihr denkt. Verzichtet auf unsere gestrandeten Träume, aber behaltet den Glauben daran, dass nichts auf dieser Welt unumstößlich ist! Wehrt euch gegen das, was man euch zumutet! Traut nicht dem falschen Propheten! Lernt aus unserem Scheitern! Menschenrechte sind entweder universell oder gar nicht. Hört auf die Unterdrückten und Schwachen. Seid verliebt in eure Ideen! Seid realistisch, aber verlangt immer wieder aufs Neue das Unmögliche!

TEIL I

UNSERE ELTERN – WOHER WIR KAMEN

»Wir haben aus dem Dasein unserer Eltern zu erwachen.«

Walter Benjamin

KAPITEL 1: TÄTER IN TRÜMMERN

Rückblick – 1950: Als ich geboren wurde, waren meine Eltern dabei, die letzten Trümmer des Krieges zu beseitigen. Glaubten sie. Der Vater aus dem Krieg zurückgekommen, halbtot, aber lebendig. Und ich in einem Raum zusammen mit 40 anderen Säuglingen. Für die ersten 24 Stunden von der Mutter getrennt, um genügend Hunger zu bekommen, damit das Stillen auf Anhieb klappt. Und ich schrie die ganze Zeit, weil es meine Lungen stärken würde. So zumindest stand es in einem Buch, das vor und nach dem Krieg viele unserer Mütter lasen. Und: Hunger ist der beste Koch – oder auch die beste Bestrafung. Nach 24 Stunden ertönte, ähnlich einer Kriegssirene und darauf folgend immer wieder in gleichem Zeitabstand von vier Stunden, ein lautes Geräusch, und wir wurden aus unseren Betten geholt und zu unseren Müttern gebracht. Nach 20 Minuten, die Zeit war genau bemessen, fischte, oder besser: riss man uns aus ihren Armen, und wir wurden zurück in den Raum zu den anderen 40 getragen, den unsere Mütter nicht betreten durften. Wegen der Hygiene. Auch das stand in dem Buch, dass man Kinder bei ihrer Aufzucht von ihren Müttern möglichst getrennt halten solle. Um sie nicht zu verwöhnen. Manche von uns schrien dann weiter. Man nannte das zu der Zeit, als ich geboren wurde, immer nur »schreien« und nie weinen. Babys sind schmerzunempfindlich und haben noch keine Gefühle, sagten die Kinderärzte. Andere von uns wiederum verstummten frühzeitig.

.....

Schuld, Schweigen, Wiederaufbau

1950, in dem Jahr, in dem ich geboren wurde, besuchte Hannah Arendt Deutschland. Dort schrieb sie ihren »Bericht aus Deutschland«1, der ein Jahr später, 1951, in den USA und erst 42 Jahre später, nämlich 1993, in deutscher Sprache unter dem nichtssagenden Titel »Besuch in Deutschland« veröffentlicht wurde. Jahre vor Alexander und Margarete Mitscherlichs Buch über die Unfähigkeit der Kriegsgeneration, einmal gründlich über das, was sie da angerichtet hatte, nachzudenken und gegebenenfalls zu trauern (auch über sich selbst!), und mit geradezu prophetischer Klarheit hinsichtlich einer Erfahrung, die wir, die Nachkriegsgeneration später überall, wo wir uns in diesem Land aufhielten, machen sollten, schildert sie ihre ersten Eindrücke von einem Land, das sie 1933 hatte verlassen müssen. Sie berichtet darüber, wie die Menschen dort als »lebende Gespenster« herumlaufen, Menschen, die man »mit Worten, mit Argumenten, mit dem Blick menschlicher Augen und der Trauer menschlicher Herzen nicht mehr rühren kann«.2 Über eine Generation von Tätern und Mitläufern, die zwischen »Gefühlsmangel, Herzlosigkeit und billiger Rührseligkeit«3 hin und her larviert, sie schildert ihr Entsetzen über die Stimmung der bundesrepublikanischen Gründerjahre, wo man es sich zwischen »Was haben wir doch gelitten« und »Wir haben von nichts gewusst« wieder anfing, gemütlich zu machen. »Der Durchschnittdeutsche«, so schreibt Hannah Arendt spöttisch, »sucht die Ursachen des letzten Krieges nicht in den Taten des Naziregimes, sondern in den Ereignissen, die zur Vertreibung von Adam und Eva aus dem Paradies geführt haben.«4

Das alles, auch das selbstmitleidige und zur Rechtfertigung dienende Statement »Warum muss die Menschheit immer nur Krieg führen«5, beschreibt die damalige Stimmung, in die wir Nachgeborenen hineinwuchsen, recht gut, und wir sollten genügend davon abbekommen. Schuld haben immer die anderen und wenn nicht sie, dann, weil das Leben nun einmal ist, wie es ist, und der Mensch böse. Die dieser Einstellung zugrundeliegende Taubheit, ihre stillschweigende Solidarität mit den Tätern und das Verschweigen ihrer Opfer, das sie noch einmal ins Nichts verbannte, führte, wie Hannah Arendt es weiter beschreibt, zu totaler Amnesie: »Nirgends wird dieser Alptraum von Zerstörung und Schrecken weniger verspürt und nirgendwo wird weniger darüber gesprochen als in Deutschland. Überall fällt einem auf, dass es keine Reaktion auf das Geschehene gibt, aber es ist schwer zu sagen, ob es sich dabei um eine irgendwie absichtliche Weigerung zu trauern oder um den Ausdruck einer echten Gefühlsunfähigkeit handelt. Inmitten der Ruinen schreiben die Deutschen einander Ansichtskarten von Kirchen und Marktplätzen, den öffentlichen Gebäuden und Brücken, die es gar nicht mehr gibt. Und die Gleichgültigkeit, mit der sie sich durch die Trümmer bewegen, findet ihre Entsprechung darin, dass niemand um die Toten trauert. (…) Dieser allgemeine Gefühlsmangel, auf jeden Fall aber die offensichtliche Herzlosigkeit, die manchmal mit billiger Rührseligkeit kaschiert wird, ist jedoch nur das äußerliche Symptom einer tief verwurzelten, hartnäckigen und gelegentlich brutalen Weigerung, sich dem tatsächlich Geschehenen zu stellen und damit abzufinden.«6 Nach und nach wurde so eine Mauer des Schweigens errichtet, die sich zwischen die Generationen schob. Eine ganze Generation, wenigstens ihre übergroße Mehrheit, erblindete plötzlich vor dem, was sich noch nicht allzu lange vor ihren Augen abgespielt hatte. Anfangs liefen sie nur ziellos durchs Leben, wollten wieder Mensch sein, denn neben ihren Lügen hatten sie ja auch noch ihre Träume. Ein paar Jahre später aber sagten sie, es ginge ihnen schon wieder ganz gut. Als probates Mittel, das ihnen dabei zu Hilfe kam, nutzten sie die ungeheure Arbeitswut, die noch immer in ihnen steckte und mit der sich verdrängen ließ, was manchmal doch in den Vorhof ihres Bewusstseins drang: »Beobachtet man die Deutschen«, so Hannah Arendt 1950, »wie sie geschäftig durch die Ruinen ihrer tausendjährigen Geschichte stolpern und für die zerstörten Wahrzeichen ein Achselzucken übrig haben oder wie sie es einem verübeln, wenn man sie an die Schreckenstaten erinnert, welche die ganze Welt nicht loslassen, dann begreift man, dass die Geschäftigkeit ihre Hauptwaffe bei der Abwehr der Wirklichkeit geworden ist.«7 Dass »Arbeit frei macht«, hatte diese Generation bereits über die Tore ihrer Vernichtungslager schreiben lassen, und sie sollte uns, als wir Jugendliche waren und sich ihrer Arbeitswut und ihrem Leistungswillen verweigerten, 15 Jahre später noch einmal mit diesem Spruch kommen. Die aber, die hinter den Toren und dem Stacheldraht systematisch ermordet worden waren, wollten sie uns unterschlagen, deren Schicksal keinesfalls zur Kenntnis nehmen und wenn, nur als Zeugen dafür, fernab dieser Tore und unter ihrer Inschrift gelebt und von nichts gewusst zu haben. »Das einfachste Experiment«, so beschreibt Hannah Arendt den Umgang der Deutschen mit der »Judenfrage«, »besteht darin, expressis verbis festzustellen, was der Gesprächspartner schon von Beginn der Unterhaltung an bemerkt hat, nämlich dass man Jude sei. Hierauf folgt in der Regel eine kurze Verlegenheitspause, und danach kommt keine persönliche Frage (…), sondern es folgt eine Flut von Geschichten, wie die Deutschen gelitten hätten (…) und wenn die Versuchsperson dieses kleinen Experiments zufällig gebildet und intelligent ist, dann geht sie dazu über, die Leiden der Deutschen gegen die Leiden der anderen aufzurechnen, womit sie stillschweigend zu verstehen gibt, dass die Lebensbilanz ausgeglichen ist.«8 Hinzu kommt eine Haltung, die Hannah Arendt als den wohl »hervorstechendsten und auch erschreckendsten Aspekt der deutschen Realitätsflucht« bezeichnet, nämlich »mit Tatsachen so umzugehen, als handle es sich nur um Meinungen«9, was jede rationale Diskussion unmöglich mache, ein Erbe der Nazizeit, das keine Unterscheidung von Richtig und Falsch mehr zuließ und dessen sich auch heute wieder, im Zeitalter des »Postfaktischen«, die extreme Rechte bedient.

Es wäre zweifellos erleichternd, diesen Bericht einer vor den Nazis Geflohenen als späte Rache an ihren Verfolgern und potenziellen Mördern abzutun. Aber nicht nur, dass Hannah Arendt zeitlebens eine allen Sentimentalitäten und Hassgefühlen gegenüber abgeneigte Professorin war, wovon ihr Buch über Adolf Eichmann und im Übrigen auch ihre zeitlebens aufrechterhaltene persönliche Beziehung mit Martin Heidegger zeugt, sondern wir, die Nachgeborenen, machten mit unseren Eltern, Nachbarn, Lehrern genau dieselbe Erfahrung, bekamen von ihnen genau die gleichen (oder ähnliche) Antworten auf unsere Fragen wie sie. Noch Jahre später, als die Trümmer beseitigt waren und der Westen Deutschlands im Wirtschaftswunder wieder anfing zu glänzen, glaubten sie allen Ernstes, uns auf diese Weise an der Nase herumführen zu können. Aber wir passten auf und waren schlauer als sie, wir ließen uns nicht so schnell von ihnen wieder einfangen, was sie uns im Übrigen nicht so schnell vergessen sollten.

Ungeschehenmachen

Die in den 1960er Jahren erschienenen Bücher von Alexander und Margarete Mitscherlich »Auf dem Weg zur vaterlosen Gesellschaft«10 und besonders »Die Unfähigkeit zu trauern«11 wiederholen Jahre später aus psychoanalytischer Sicht noch einmal den Befund, den Hannah Arendt in ihrem »Bericht aus Deutschland« 1950 abgegeben hatte. Beide Bücher ziehen darüber hinaus weitere Schlussfolgerungen aus dem Umstand, dass hier eine Elterngeneration entstanden war, die ihren Kindern kaum Identifikationsmöglichkeiten mehr bot – worauf ich im weiteren Verlauf dieses Buches noch zu sprechen komme.

Zunächst aber konstatieren auch sie für ihre Generation diese immer wieder »auffallende Gefühlsstarre«12 und das Fehlen jedweder Auseinandersetzung mit den Verbrechen des Nationalsozialismus bis weit in die 1960er Jahre hinein: »Der Krieg ging verloren. So gewaltig der Berg der Trümmer war, den er hinterließ, es lässt sich nicht verleugnen, dass wir diese Tatsache nicht voll ins Bewusstsein dringen ließen.«13 Vier Jahre früher, in »Auf dem Weg zur vaterlosen Gesellschaft« heißt es zu solcherart Erinnerungslücken: »Man kann hier nicht schlichtweg von simuliertem Schwachsinn sprechen. Mit dem Verlust der Massenidentität wurde ein Stück Erinnerung verloren. (…) Die Analogie zur Amnesie für die Jahre der Kindheit, aus der nur Erinnerungsbruchstücke ragen, ist deutlich.«14 Und in »Die Unfähigkeit zu trauern« äußern beide Autoren ihr Erschrecken über die »Anwendung kindlicher Entlastungstechnik auf die Konsequenzen aus gescheiterten gewaltigen Eroberungsfeldzügen und Ausrottungsprogrammen, die ohne den begeisterten Einsatz dieses Kollektivs gar nicht hätten begonnen, geschweige denn bis ›fünf nach zwölf‹ hätten durchgehalten werden können«.15 »Die Nazivergangenheit wird derealisiert, entwirklicht.«16

Über Jahre hinweg hatten die meisten nur durch die Identifikation mit dem »Führer« existiert: »Der Verlust des ›Führers‹ war für Millionen Deutsche nicht der Verlust irgendeiner Person (…), sondern mit seiner Person verbanden sich Identifikationen, die im Leben der Anhänger zentrale Funktionen erfüllt hatten. Denn er war (…) zur Verkörperung des eigenen Ich-Ideals geworden.«17 Er war sie, und sie waren er. Und als er weg war, verloren sie sich selbst und ihre Erinnerung: »… da die meisten mit den Ideen des Rassismus und der Herrschaftsideologie des Nationalsozialismus einverstanden waren (…) haben (sie) in der Tat mit dem Untergang der Naziherrschaft die Grundlage ihrer Orientierung verloren.«18 Als probates Mittel, diese zumindest partiell wiederzufinden, bot sich ihnen, wie Hannah Arendt schon fünf Jahre nach Kriegsende beobachtet hatte, vor allem die Arbeit an: »Alle unsere Energie haben wir vielmehr mit einem Bewunderung und Neid erweckenden Unternehmungsgeist auf die Wiederherstellung des Zerstörten, auf Ausbau und Modernisierung unseres industriellen Potenzials bis zur Kücheneinrichtung hin konzentriert.«19

Die Psychoanalyse nennt diesen Vorgang passend »Ungeschehenmachen«, und darin war diese Generation, getrieben von Schuld- und Schamgefühlen, Weltmeister. So fand die »Unfähigkeit zu trauern« ihren Ausgangspunkt in genau dieser monströsen Verleugnungs- und Verdrängungsarbeit. Den Verlust »ihres« Führers konnten sie nicht realitätsangemessen verarbeiten, der Verzicht von Hitlergruß und das Verbrennen von schriftlichen Zeugnissen wie Tagebüchern oder Feldpost reichte für eine ehrliche und authentische Konfrontation mit dem, was geschehen war, nicht aus. Die Mitscherlichs fassen zusammen: »Die große Majorität der Deutschen erlebt heute die Periode der nationalsozialistischen Herrschaft retrospektiv wie die Dazwischenkunft einer Infektionskrankheit in Kinderjahren, wenn auch die Regression, die man unter der Obhut ›des Führers‹ kollektiv vollzogen hatte, zunächst lustvoll war – es war herrlich, ein Volk der Auserwählten zu sein.«20 Und sie stellen – Mitte der 1960er Jahre – nüchtern fest: »Die Gruppe derer, die eine aktive Auseinandersetzung mit unserer Vergangenheit leisten, ist klein, ihrerseits ziemlich isoliert und einflusslos auf den Gang der Dinge.«21 Empathieverlust: Aufwachsen im Kaiserreich

Was Hannah Arendt 1950 in ihrem »Bericht aus Deutschland« als Empathieverlust bis an die Grenze völliger Gefühllosigkeit beschreibt und seinen Nachhall Jahre später in den Büchern der Mitscherlichs findet, fand seinen Ausgangspunkt aber weniger in den politischen Umwälzungen nach 1933, sondern lag tiefer in der Persönlichkeit dieser Generation verborgen und sollte uns, die nachfolgende Generation, maßgeblich prägen.

Kaum ein anderer Film beschreibt das Erziehungsmilieu, in dem unsere Eltern aufgewachsen waren, mit so eindringlichen Bildern wie »Das weiße Band – Eine deutsche Kindergeschichte« des österreichischen Regisseurs Michael Haneke aus dem Jahr 2009. Hier schildert er das düstere, von völliger Beziehungsarmut gezeichnete und das sich bis hin zu sadistischen Straforgien steigernde Erziehungsklima in der Zeit, in der unsere Eltern ihre Kindheit verbracht haben. Geprägt vom Bild eines anarchisch-triebhaften Kindes als »natürlichem Feind«, wurden die Kinder mit brutalen Einschüchterungsmethoden, häufig begleitet von körperlicher Gewaltanwendung bis hin zu planmäßig betriebener Züchtigung, den Vorstellungen der Eltern gefügig gemacht. Schon minimale Vergehen führen zur Bestrafung bei völliger Ignoranz für die Beweggründe des Kindes und zu massiver Einschüchterung durch Liebesentzug. Hauptakteure waren, wie der Film zeigt, vor allem die Väter, die meinten, Gottes (oder des Kaisers als dessen Stellvertreter) Willen an den Kindern vollstrecken zu müssen, aber ebenso Pfarrer und Lehrer. Als einzige Schwachstelle in diesem System permanenter Bestrafung und Einschüchterung sind nur noch die Mütter erkennbar, die sich ihren Männern zwar unterordnen, aber mit den vom Vater verprügelten Kindern litten und sie anschließend damit »trösteten«, der Vater meine es doch nur gut mit ihnen. Die Kinder selbst wehren sich auf ihre Weise, wenn sie versuchen, sich in gemeinsamen Spielen dem elterlichen Einfluss zu entziehen und dabei auch, wie der Film nahelegt, Rache zu üben an ihresgleichen und den Erwachsenen, die für ihre schlimme Situation verantwortlich waren, sie quälten und drangsalierten.

Sicherlich gab es auch in dieser Zeit elterliche Milieus, in denen Erziehungsgrundsätze dieser Art nicht in ihrer ganzen Brutalität zum Ausdruck gebracht wurden und ein wärmerer und beziehungsfreundlicherer Ton herrschte. Man findet sie häufig in den Familien späterer Widerstandskämpfer, aber sie waren die Ausnahme. In den meisten Fällen, das zeigen Aufzeichnungen in der für diese Zeit typischen »Elterntagebücher« – heute würde so etwas in Mama-Blogs online festgehalten –, war das Verhältnis zwischen Kindern und Erwachsenen entlang der damals gängigen Rollenzuschreibungen von tiefgreifender emotionaler Distanz geprägt, wie es die Eltern ja auch von ihren Eltern gewohnt waren. Auf diese Weise wurde im Mikrokosmos der Familie eingeübt, was den späteren Machthabern des »Dritten Reiches« zugutekommen sollte. Die Überzeugung, dass Unterwerfung unter die elterliche Autorität und das Einüben bedingungslosen Gehorsams, also ein Höchstmaß an Disziplin, den Kindern später zugutekämen, war Common Sense.

Diesen Eltern aus heutiger Perspektive mangelnde Liebe zu ihren Kindern zu unterstellen, würde jedoch zu kurz greifen. Denn auch dies zeigt der Film von Michael Haneke eindrucksvoll: Die Eltern, vor allem die Väter, waren überzeugt davon, dass sie für ihre Kinder, wenn auch häufig auf brachiale Weise, nur »das Beste taten«, indem sie sich der von den gesellschaftlichen Autoritäten geforderten Erziehungsmaximen bedienten, damit aus ihren Kindern »später einmal etwas werden würde«. Das ist in puncto Erziehung auch heute noch so, wenn auch unter anderen Vorzeichen.22

Hinzu kam, dass derlei Erziehungsmethoden, gerade auch dann, wenn sie den spontanen Regungen der Mütter für ihre Kinder oft widersprachen, wissenschaftlich legitimiert wurden. Nicht die noch junge Psychologie und die Entdeckungen der Psychoanalyse, sondern die Medizin und mit ihr anerkannte »ärztliche Autoritäten« gaben zur Kaiserzeit den Ton in der Erziehungsdebatte an. Sie waren sich darin einig, dass das Neugeborene noch keinen Schmerz empfindet und psychische Empfindungen im Kleinkindalter keine Rolle spielen würden. Eine besondere Rolle spielte hierbei der Kinderarzt Adalbert Czerny, Lehrstuhlinhaber an der Berliner Charité, und dessen 1922 erschienenes Buch »Der Arzt als Erzieher des Kindes«. Alles, was das Neugeborene und Kleinkind tat und an Gefühlsäußerungen zeigte, wurde als Ausdruck von mehr oder weniger automatisch ablaufenden biologischen Prozessen ohne jede Sinnhaftigkeit gedeutet, die, würde man ihnen stattgeben, nur Chaos stiften würden. Auf diese Weise wurde elterliche Autorität und die mit ihr zu erreichende Selbstbeherrschung des Kindes von Czerny mit der Fähigkeit zur »Subordination unter einen Vorgesetzten«23 verglichen, die man Kindern in ihrem Elternhaus am besten dadurch beibringt, dass man ihre Autonomiebedürfnisse von Beginn nicht nur ignoriert, sondern sie bekämpft.

Zu dieser unter Kinderärzten in der Zeit vor und nach dem Ersten Weltkrieg gängigen Auffassung kam eine sich immer stärker ausbreitende nationalistische und militaristische Einstellung hinzu, mit der sich auch der Kinderarzt nicht mehr nur als Arzt, sondern ebenso als Pädagoge und Vertreter patriotischer Ansprüche an seine kleinen Patienten sah. Soldatische »Tugenden« wie körperliche Stärke und Überlegenheit, Leistungsbereitschaft, die sich im Befolgen von Befehlen ausdrückt, aber auch das Ertragen von Schmerz wurden zu erstrebenswerten Erziehungszielen, wie sie sich in zunehmender Kriegsbereitschaft fast einer gesamten jungen Generation vor dem Ersten Weltkrieg und Jahre später erneut zeigte. Das Erziehungspersonal war schließlich vor und nach dem verlorenen Ersten Weltkrieg dasselbe geblieben, aber jetzt, mit dem Aufstieg des Nationalsozialismus, kam noch etwas anderes, gänzlich Neues hinzu.

Bindung brechen: Das Programm der NS-Ratgeberikone Johanna Haarer

Die Erziehungsziele aus dem Kaiserreich, die in der Weimarer Republik mehrheitlich von den Eltern geteilt wurden, konnten sich die Nationalsozialisten zunutze machen, um Kinder und die heranwachsende Jugend mit einer schon in der frühen Kindheit beginnenden, systematischen Desensibilisierung von Empathie und Mitgefühl auf die von ihnen lange im Voraus geplanten Verbrechen vorzubereiten. Um dieses Ziel zu erreichen, propagierten sie eine über die bloße Unterwerfung des Kindes unter Macht und Autorität hinausreichende Erziehung zur Bindungslosigkeit, die darauf beruhte, eine frühkindliche, auf Resonanz und Wechsel­seitigkeit beruhende Beziehung zwischen Mutter und Kind erst gar nicht entstehen zu lassen. Zur Wortführerin dieses Erziehungsprogramms »zu Kaltherzigkeit und Beziehungsarmut«24, zur »Heranzüchtung des an kein Gewissen, an keine Werte oder Moral, des an keinen Menschen, auch keine Heimat wirklich gebundenen, für jedes Ziel einsetzbaren ›Typus‹, der allerdings auch jederzeit ersetzbar ist«25, machte sich die 1900 geborene Ärztin und Mutter von fünf Kindern, Johanna Haarer.26 Beides, der Bezug auf ihre Tätigkeit als »Lungenfachärztin«, als die sie qua Amt hohes Ansehen genoss, aber auch ihre Rolle als Mutter von fünf Kindern, prädestinierten sie für ihre Aufgabe, für die Nationalsozialisten in puncto Kindererziehung als »Expertin« aufzutreten. Ihr Buch zur Säuglingspflege »Die deutsche Mutter und ihr erstes Kind« erschien 1934 in erster Auflage im renommierten und schon vor 1933 begeistert für die Ziele das Nationalsozialismus werbenden Münchner Medizinverlag Julius F. Lehmann. Es wurde zu dem Ratgeber-Bestseller der Nazi-Zeit und erreichte bis Kriegsende eine Auflage von 690 000 Exemplaren. Millionen Leserinnen kamen durch Weitergabe und auf Empfehlung der NS-Frauenschaft an ihre Schulungsleiterinnen noch dazu, und ebenso durch die Erziehungskolumnen der Autorin in weitverbreiteten Nazipublikationen. Weitere Bücher von ihr folgten, unter anderem 1939 ein im gleichen Verlag erschienenes offen antisemitisches Machwerk »Mutter – erzähl’ von Adolf Hitler«, ein »Märchen«, das Kindern vor dem Einschlafen die Vernichtung der Juden ans Herz legte. Nach dem verlorenen Krieg setzte Haarer ihre Karriere als Ratgeberautorin in der Bundesrepublik mehr oder weniger unbeschadet fort (ihre Bücher blieben nur in der DDR verboten), und weitere Auflagen von »Die Mutter und ihr erstes Kind«, wie das Buch jetzt hieß, erschienen mit ein paar Retuschen von 1949 an noch bis ins Jahr 1987.

Gegenüber entsprechenden Empfehlungen aus der Kaiserzeit fällt in dem Buch »Die deutsche Mutter und ihr erstes Kind« zunächst die häufig in Befehlston gehaltene Ansprache an die Mütter auf, die es jetzt für dieses Erziehungsprogramm der Nationalsozialisten zu gewinnen galt und denen man offensichtlich noch nicht ganz über den Weg traute, die Prinzipien des »Führers« in puncto Kindererziehung strikt umzusetzen. Insbesondere ging es also darum, jetzt auch die Mütter für die von den Nationalsozialisten propagierte Weltanschauung zu gewinnen, keine »mitleidige Seele« zu sein, sondern sich mit Härte und Unnachgiebigkeit gegenüber dem Kind durchzusetzen, womit einerseits das Kind selbst gemeint war, andererseits aber auch die, die sich das NS-Regime als seine »natürliche Feinde« auserkoren hatte. Neben der Agitation der Mütter wird zudem ohne Umschweife eine direkte Verbindung zwischen den propagierten Erziehungsgrundsätzen, das Kind in die Beziehungslosigkeit zu seinen Eltern zu zwingen, und die dadurch erleichterte Aufgabe, das Kind in die nationalsozialistische Volksgemeinschaft einzugliedern, hergestellt: »Keine Nachgiebigkeit! Nicht zu viel Beachtung! Nicht zu viel Bedeutung! (…) Vorüber sind die Zeiten, wo es erstes und oberstes Ziel aller Erziehung und Aufzucht war, nur die Eigenpersönlichkeit im Kind und Menschen zu vervollkommnen und zu fördern. Eins ist heute vor allem not, nämlich dass jeder junge Staatsbürger und Deutsche zum nützlichen Gliede der Volksgemeinschaft werde, dass er neben der höchstmöglichen Entwicklung all seiner guten Anlagen und Fähigkeiten lerne, sich einzuordnen in eine Gemeinschaft und um ihretwillen eigene Wünsche und eigene Bestrebungen zurückzustellen.«27

Mit diesem Gesamtprogramm ging es den Nazis und ihrer Erziehungsikone nicht mehr nur um die Unterwerfung unter elterliche Autoritäten, sondern ihr Programm zielte ganz auf Auslöschung des Subjekts bzw. darauf, es zum willkürlichen Werkzeug bei der Vorbereitung und Durchführung der von den Nationalsozialisten durchgeführten Verbrechen zu machen. Sich der Gemeinschaft und der nationalsozialistischen Ideologie gerne und bereitwillig unterzuordnen, war oberstes Ziel – und viele Mütter identifizierten sich damit: »Groß ist die Zeit«, so die Passage aus einem Elterntagebuch aus dem Jahre 1939, »in der Du das Licht der Welt erblickt hast. Sechs Jahre ist Adolf Hitler an der Macht. Er hat Deutschland aus tiefster Not empor geführt zu neuer Blüte. Er hat das tausendjährige Sehnen nach einem Großdeutschland erfüllt und nun standen die Neider um unsere Einigkeit und unseren Emporstieg auf und brachen einen Krieg vom Zaun. (…) Jede große Zeit erfordert große und harte Menschen, groß im Können, im Charakter und im Glauben.«28

Wie aber dieses Programm in Angriff nehmen und erfolgreich abschließen? Wie den eigenen Willen eines Kindes brechen, damit es für seinen zukünftigen Gebrauch in der Nazizeit entsprechend geformt werden kann, um nicht nur das, was man von ihm verlangt, auszuführen, sondern, selbst wenn es seinen eigenen Interessen und Gefühlen widerspricht, dafür einzustehen?

Das Neue, um das es jetzt gehen musste, bestand darin, das natürliche Bindungsbedürfnis des Säuglings und Kleinkindes an seine ersten Bezugspersonen und den dieses Bedürfnis begleitenden wohlwollenden Zugang zur Welt, von Geburt an zu brechen. Anknüpfend an entsprechende »Vorarbeiten« aus der Kaiserzeit und Befunde aus der Entwicklungspsychologie, wie sie auch die damalige Star-Entwicklungspsychologin Hildegard Hetzer vertrat 29, nahm Johanna Haarer dieses entmenschlichende Programm bereitwillig und mit deutscher Gründlichkeit in Angriff.

Ausgangspunkt für ihr Konzept einer Erziehung im Dienste des Nationalsozialismus war ein klares Feindbild vom Kind, das schon in der Kaiserzeit existiert hatte und somit anschlussfähig war. »Babys und Kleinkinder wollen sich nicht fügen, wollen nicht so, wie die ›Großen‹ wollen, sie erproben diese, widersetzen sich und tyrannisieren. Von Natur aus sind sie unrein, unsauber, schmuddelig, schmieren mit allem herum, was sich anbietet.«30 Um die Kraftprobe mit solchen Wesen zu bestehen, braucht die Mutter »Strenge«, »Beharrlichkeit« und vor allem immer wieder »Unerbittlichkeit«.31