Wenn aus Jugendlichen Erwachsene werden - Claus Koch - E-Book

Wenn aus Jugendlichen Erwachsene werden E-Book

Claus Koch

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Beschreibung

Freiheit oder die Suche nach Identität und Sinn - Erwachsenwerden aus bindungstheoretischer Perspektive - Thematisch konkurrenzlos im deutschen Sprachraum - Die »Odysseusjahre« als eigenständige Entwicklungsphase Wenn junge Menschen von ihrer Kindheit endgültig Abschied nehmen müssen, beginnt für sie eine neue Zeitrechnung. Wichtige Leitplanken wie Elternhaus und Schule fallen weg, und plötzlich stehen bislang unbekannte Entwicklungsaufgaben an, die weitreichende Folgen für das ganze Leben haben. Aus bindungstheoretischer Sicht beschreibt der Autor das Erwachsenwerden als eigenständige Entwicklungsphase, in der sich alles noch einmal radikal verändert. Die »Odysseusjahre«, wie Claus Koch sie nennt, sind gekennzeichnet von einer Suche nach Autonomie, begleitet von Identitätskrisen, in denen sich erneut frühkindlich erworbene Bindungsmuster zeigen. Der Autor beschreibt das Leben und die Gefühle junger Erwachsener von heute. Da ist ein Freiheitsversprechen, das gelebt werden will und gleichzeitig Angst machen kann. Er zeigt, wie Eltern und andere Bezugspersonen sie in dieser Zeit unterstützen können.

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Seitenzahl: 249

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Dies ist der Umschlag des Buches »Wenn aus Jugendlichen Erwachsene werden« von Claus Koch

Claus Koch

Wenn aus Jugendlichen Erwachsene werden

Leben und Bindung junger Menschen zwischen 18 und 30 Jahren

Klett-Cotta

Impressum

Dieses Werk wurde vermittelt durch Aenne Glienke/Agentur für Autoren und Verlage, http://www.aenneglienkeagentur.de

Dieses E-Book basiert auf der aktuellen Auflage der Printausgabe.

Klett-Cotta

www.klett-cotta.de

© 2024 by J. G. Cotta’sche Buchhandlung Nachfolger GmbH, gegr. 1659, Stuttgart

Alle Rechte vorbehalten

Cover: Bettina Herrmann, Stuttgart

unter Verwendung einer Abbildung von auremar/Adobe Stock

Gesetzt von Dörlemann Satz, Lemförde

Gedruckt und gebunden von CPI – Clausen & Bosse, Leck

Lektorat: Susanne Klein, www.kleinebrise.net

ISBN 978-3-608-98730-0

E-Book ISBN 978-3-608-12277-0

PDF-E-Book ISBN 978-3-608-20665-4

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Inhalt

Einleitung

TEIL 1

Erwachsenwerden

Kapitel 1

Pubertät – die Brücke zum Erwachsenwerden

Jugendliche auf der Suche nach sich selbst

Identitätssuche und sexuelles Begehren

Identitätskrisen

Kapitel 2

Aufbruch ins Erwachsenwerden

Das Ende der Pubertät

Erwachsenwerden braucht Zeit

Einsamkeit

Kapitel 3

Erwachsenwerden als eigenständige Entwicklungsetappe

Wann ist man überhaupt erwachsen?

Coming of Age: Erwachsenwerden in Literatur, Film und Popkultur

Erwachsenwerden in Bildungsromanen und Coming-of-Age-Erzählungen

»Those were the days« – Erwachsenwerden in der Popmusik

Erwachsenwerden in den sozialen Medien

Vorsicht, G-Wort! Die Generation Z

Was weiß die Psychologie?

Jeffrey Arnett: »Emerging Adulthood«

Kapitel 4

Ein Leben im »Dazwischen«

Erwachsenwerden? Mal sehen!

Odysseusjahre

Abschied von Eltern und Schule

Wohin? Dem Leben eine Richtung geben

Liebe und Arbeit

Entwicklungsaufgaben

Psychische Probleme und Lebenskrisen

»Gemeinsam einsam im Lockdown« – die Pandemie

»Im Hauptfach Dauerkrise, im Nebenfach Existenzangst« – Leben in unsicheren Zeiten

Erwachsenwerden – die härteste Zeit des Lebens?

TEIL 2

Bindung und Erwachsenwerden

Kapitel 5

Das Kind auf der Suche nach Nähe und Bindung

Kinder sind von Geburt an Beziehungswesen

Resonanz: Kinder wollen, dass die Welt ihnen antwortet

Urvertrauen und Einsamkeit

Kinder haben existenzielle Bedürfnisse

Verschiedene Bindungsmuster und ihre Entstehung

Frühkindliche Bindung und Identität

Kapitel 6

Bindung und Weltoffenheit

Nähe und Erkundungslust

Das unheimliche Draußen

In der Fremde verloren gehen

Weltoffenheit

Kapitel 7

Bindungsmuster und Weltaneignung

Sich der Welt öffnen: Die sichere Bindung

Immer auf Abstand: Die unsicher-vermeidende Bindung

Niemals sicher sein: Die unsicher-ambivalente Bindung

In der Falle: Die desorganisierte Bindung

Kapitel 8

Krisen im jungen Erwachsenenalter

Auf der Suche nach der eigenen Identität

Ganzheitliche Identität versus Identitätskonfusion

Identitätskonfusion, innere Leere und der fehlende Kompass

Anpassungsstörungen: Ängste, Depressionen, dissoziatives Empfinden

Kapitel 9

In den Odysseusjahren verloren gehen

Fallbeispiel 1: Nele hat Panikattacken und fühlt sich fremd in ihrer Welt

Fallbeispiel 2: Micha sucht den Tod

TEIL 3

Wie Erwachsenwerden gelingen kann

Kapitel 10

Loslassen oder festhalten? Die Rolle der Eltern

Abschied nehmen vom »Kind«

Drei Missverständnisse

Eltern sind keine Freunde

Das Loslassen müssen auch die jungen Erwachsenen lernen

Tritt zurück und bleibe verbunden!

Wenn das Bindungssystem wieder aktiv wird

Elternsein braucht einen langen Atem

Kapitel 11

Sechs Bausteine, damit Erwachsenwerden gelingt

Authentizität: »So, wie ich bin, bin ich gut.«

Selbstwertgefühl: »Ich fühle mich wertvoll.«

Selbstwirksamkeit und Lebensoptimismus: »Ich schaffe es!«

Kommunikationsfähigkeit: »Ich kann mich mitteilen.«

Selbstkontrolle: »Ich weiß, was ich tue.«

Sinnfindung: »Ich will mein Leben sinnvoll gestalten.«

Kapitel 12

Was sonst noch wichtig ist

Empathie empfinden

Verantwortung für sich und andere übernehmen

Die Freiheit, man selbst zu sein

Das Recht, Nein sagen zu dürfen

Das Recht, Fehler machen zu dürfen

Das Recht, Zeit zu haben

Das Recht, traurig und unglücklich zu sein

Das Recht, glücklich zu sein

Dank

Anmerkungen

Einleitung

1 Pubertät – die Brücke zum Erwachsenwerden

2 Aufbruch ins Erwachsenwerden

3 Erwachsenwerden als eigenständige Entwicklungsetappe

4 Ein Leben im »Dazwischen«

5 Das Kind auf der Suche nach Nähe und Bindung

6 Bindung und Weltoffenheit

8 Krisen im jungen Erwachsenenalter

9 In den Odysseusjahren verloren gehen

10 Loslassen oder festhalten? Die Rolle der Eltern

11 Sechs Bausteine, damit Erwachsenwerden gelingt

12 Was sonst noch wichtig ist

Literatur

Einleitung

Es waren wohl auch eigene Erfahrungen, die mein Interesse für die Entwicklungsphase des Erwachsenwerdens geweckt haben. Für einen Zeitraum, der mit dem Ende der Pubertätszeit beginnt und bis zum Alter von 25 Jahren oder auch länger andauert. Da gab es auf der einen Seite diese sich unendlich ausdehnenden Freiheitsspielräume nach dem Verlassen des Elternhauses und der Schule und andererseits das Gefühl, einsam und verwundbar zu sein wie nie zuvor im Leben. Und so, wie es mir damals ging, geht es offensichtlich auch heute noch vielen jungen Menschen. Die US-amerikanische Sängerin Taylor Swift, inzwischen ein Megastar, die mit ihren Texten Millionen von Jugendlichen und jungen Erwachsenen in der ganzen Welt erreicht, hat es vor einigen Jahren, damals selbst erst 23 Jahre alt, in ihrem Song »22« treffend auf den Punkt gebracht: »We’re happy, free, confused, and lonely at the same time. It’s miserable and magical.«

Viele Jahre später, nach gängigen Kriterien nun selbst erwachsen geworden, fing ich an, mich als Psychologe mit dieser Entwicklungsphase erneut zu beschäftigen. Bei meinen eigenen Kindern und in vielen Begegnungen und Interviews mit jungen Menschen entdeckte ich ein ähnliches Auf und Ab dieser in der Literatur und ebenso in der modernen Popkultur viel beschworenen Empfindungen meiner eigenen Zeit des Erwachsenwerdens: Magisch und elendig zugleich, wenn es nach überstandener Pubertät ernst damit wird, selbstständig zu werden und immer mehr Verantwortung für sich und andere übernehmen zu müssen. Und auch viele Erwachsene, mit denen ich über dieses Thema sprach, berichteten in der Rückschau auf ihr eigenes Leben immer wieder von dem Gefühl, sich in keiner Lebensphase oft so unendlich glücklich und gleichzeitig auch traurig und einsam gefühlt zu haben. Ebenso wie ich konnten sie sich gut in eine Zeit zurückversetzen, die sie als so intensiv wie nie wieder danach in ihrem Leben empfunden hatten, wohl auch deswegen, weil diese Phase ihr späteres Leben so maßgeblich beeinflusst und geprägt hat.

Erwachsenwerden bedeutet, noch einmal ganz von vorne zu beginnen in der Beschäftigung mit sich selbst und der eigenen Identitätsfindung. Denn mit zunehmendem räumlichen wie zeitlichen Abstand von den Eltern stellt sich die Frage, wie man mit der neu gewonnenen Freiheit und Selbstständigkeit umgehen will. Jetzt ist die Zeit gekommen, in der sich zurückliegende Entwicklungsschritte in der Kindheit und Pubertät zu einem einzigen und existenziell bedeutsamen Fragenkomplex bündeln: »Woher komme ich?« – »Wer bin ich?« – »Wohin will ich?« – »Warum bin ich hier?« – »Was will ich?« – und: »Wie geht es jetzt mit mir weiter?« In dieser Zeit der Selbstfindung werden Brücken zum Elternhaus abgebrochen und manche Weichen neu gestellt, die oft ein Leben lang bestimmend bleiben. Fehler, die einem in dieser Phase des Übergangs unterlaufen, und persönliche Krisen hinterlassen Spuren und Narben, die lange und für manche sogar ein Leben lang sichtbar bleiben.

Je länger ich mich mit diesem Lebensabschnitt, der einer Transitzone gleicht, beschäftigt habe, desto häufiger kam mir die Beschreibung der Odyssee im gleichnamigen Epos von Homer in den Sinn. Denn tatsächlich hat die Lebensphase des Erwachsenwerdens mit all ihrem Hin und Her, der ihr innewohnenden Ambivalenz von Gelingen und Versagen, etwas von einer Irrfahrt an sich, einer im Leben in dieser Form nur einmal vorkommenden Odyssee. Dem eigenen Leben muss nun, einem Balanceakt gleich, nach und nach eine Richtung gegeben und der Anker, der Halt und Sicherheit verleiht, muss immer wieder von Neuem ausgeworfen werden. Man bewegt sich auf ein bestimmtes Ziel zu, aber das Meer ist noch unruhig, und die Gefahren, die lauern, und die Abenteuer, die zu überstehen sind, bleiben unvorhersehbar. Wie für Odysseus, den Helden des Epos von Homer, kann das ziemlich anstrengend werden. So wie er überlässt sich der junge Mensch immer wieder dem oft Unerwarteten und probiert sich dabei wie ein Schauspieler in verschiedenen Rollen aus.

Aufgrund dieser und anderer Ähnlichkeiten fiel mir für die Zeit des Erwachsenwerdens kein besserer Begriff ein, als sie die »Odysseusjahre« in unserem Leben zu nennen.[1] Wobei mir von Anfang an bewusst war, dass diesem Vergleich ein Schönheitsfehler anhaftet, denn das Ziel von Odysseus war es schließlich, in den Heimathafen und zu seiner Familie zurückzukehren, wohingegen die jungen Leute sich heute aufmachen, um für sich einen neuen und ihnen anfangs fremden Ort zu finden, an dem sie sich, später vielleicht endgültig, einmal niederlassen. Ob sie sich dabei wirklich immer weiter von ihrem eigenen Zuhause entfernen und nicht doch, zumindest hinsichtlich bestimmter Verhaltensweisen, wieder dort landen, wo sie hergekommen sind, ist eine andere Frage, die in diesem Buch unter bindungstheoretischen Gesichtspunkten ebenso zu klären sein wird.

Natürlich erleben jede junge Frau und jeder junge Mann die Zeit des Erwachsenwerdens anders; dies gilt für sämtliche psychologischen Entwicklungsetappen, die jede und jeder unter unterschiedlichen Bedingungen und mit ganz unterschiedlichen Voraussetzungen der eigenen Biografie ausfüllen. Was aber lässt die Zeit des Erwachsenwerdens dann zu einer eigenständigen und authentischen Entwicklungsetappe mit besonderen Herausforderungen werden?

Genau diese Frage und auch das Nachdenken darüber, ob sich mein eigenes Interesse an dieser Lebensphase und meine eigenen Beobachtungen dahingehend bündeln und verallgemeinern lassen, Erwachsenwerden als eine eigenständige Entwicklungsetappe begreifen zu können, haben mich veranlasst, mich auf die Suche nach dem zu machen, was die Psychologie und andere Wissenschaften zu diesem Zeitabschnitt und seinen Besonderheiten bislang zu sagen hatten.

Die Recherche zum Stand der aktuellen Forschung zeigte mir, dass sich im deutschsprachigen Raum bisher so gut wie niemand und auch sonst nur wenige mit dieser entwicklungspsychologisch so bedeutenden wie auch spannenden Lebensphase fachlich auseinandergesetzt haben. In den wenigen, hauptsächlich US-amerikanischen Forschungsansätzen zum Thema Erwachsenwerden, die seit den 1960er-Jahren dort von einigen Sozial- und Entwicklungspsychologen in Angriff genommen worden waren, fand ich jedoch die Stimmungen und Empfindungen noch einmal bestätigt, die ich nicht nur bei mir, sondern viel später in Gesprächen auch bei vielen anderen jungen Menschen feststellen konnte. Die Rede war von einem »Moratorium«, einem »Dazwischen«, einem Umherirren im »Noch-nicht« oder auch von einer besonders vulnerablen Phase, geprägt von »Einsamkeit und Vereinzelung«. Einig waren sich die Psychologen, die sich mit dieser Lebensphase ausführlich beschäftigt hatten, darin, dass es sich bei dieser Zeit des »heraufziehenden Erwachsenwerdens«, wie sie der Psychologe und Jugendforscher Jeffrey Arnett in einem 2015 veröffentlichen Buch »Emerging Adulthood« genannt hat, um einen von besonderen Entwicklungsaufgaben geprägten, in sich geschlossenen Entwicklungsabschnitt handelt.[2]

Für mich stellte sich darüber hinaus die Frage, ob es sich bei diesem Lebensabschnitt mit all seinen Unwägbarkeiten und Ambivalenzen nicht auch um die vielleicht »härteste Zeit« in unserem Leben handelt. Mit dieser Frage hat sich auch die Philosophin Susan Neiman in ihrem 2015 erschienenen Buch »Warum erwachsen werden?« beschäftigt, wenn es darum geht, wie schwierig es für junge Menschen ist, Autonomie zu erlangen und dabei zu moralisch vernünftigen Maßstäben zu finden.[3]

Derart in meinen eigenen Beobachtungen bestätigt, habe ich vor zehn Jahren beschlossen, ein erstes Buch über diesen besonderen Entwicklungsabschnitt zu schreiben.[4] Vornehmlich als ein Elternratgeber konzipiert, war es bei seiner Veröffentlichung 2016 das erste und einzige Buch im deutschsprachigen Raum, das sich überhaupt mit dem Altersabschnitt zwischen 18 und 30 Jahren als eine eigenständige Entwicklungsetappe ausführlich auseinandersetzte. Das ist, bis auf wenige Ausnahmen, bis heute so geblieben.

So greift die Gesundheitsforscherin Birgit Ulrika Keller 2019 in ihrer wissenschaftlichen Ausarbeitung »›Emerging Adulthood‹ – eine Lebensphase zwischen Instabilität und maximaler Freiheit« die von mir 2016 in einem Interview mit der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung geäußerte Ansicht auf, dass es sich bei der »Transitphase« zwischen Jugend und Erwachsensein um einen besonderen Zeitabschnitt handelt. Dazu fasst sie Forschungsergebnisse zusammen und fügt ihnen eine Reihe eigener Beobachtungen und Erkenntnisse hinzu. Auch sie bemängelt die eher dürftige wissenschaftliche Datenlage, was die Erforschung dieses Zeitabschnitts angeht.[5] Die Herausgeberinnen Anne Berngruber und Nora Gaupp bemühen sich in ihrem 2022 erschienenen Sammelband »Erwachsenwerden heute. Lebenslagen und Lebensführung junger Menschen« um einen soziologisch begründeten und kompakten Einblick in diese Lebensphase und berücksichtigen dabei besonders die Auswirkungen von Einkommen und sozialer Herkunft auf den Zeitraum, in dem junge Leute erwachsen werden.[6] Auch diese beiden neuen Veröffentlichungen unterstützen die Kernaussage meines ersten Buches, dass es sich hinsichtlich der Zeit des Erwachsenwerdens um einen eigenen Lebensabschnitt mit einer Reihe von neuen Entwicklungsaufgaben handelt.

Acht Jahre nach Erscheinen meines ersten Buches zu diesem Thema sehe ich jetzt die Zeit gekommen, auf seiner Grundlage über diese »Transitphase« hin zum Erwachsenwerden ein neues Buch zu schreiben. Denn auch wenn sich an den Kernaussagen seines Vorgängers nur wenig geändert hat, ist das Leben und Erleben der jungen Leute heute in mancher Hinsicht bereits ein anderes. Damals, vor 10 Jahren, als ich anfing, über dieses Thema zu schreiben, schien die Welt für viele junge Leute zumindest äußerlich noch in Ordnung zu sein. Doch die dann einige Jahre später folgende Coronapandemie mit all ihren unmittelbaren Erfahrungen, Folgen und Spätfolgen für die jungen Menschen, dazu der Ukrainekrieg und die sich immer weiter verschärfende Umweltkrise haben viele in der Kindheit und Jugend erworbene Gewohnheiten und Gewissheiten durcheinandergebracht und bei vielen jungen Menschen mehr als je zuvor zu neuen Problemen mit sich selbst und ihrem »Wohin« geführt. Zukunftsängste machen sich im Übergang von der Kindheit hin zum Erwachsenwerden ebenso bemerkbar wie eine Reihe von neuen Herausforderungen, die diese Phase – neben all den ihr immer noch innewohnenden Träumen und Glücksvorstellungen – jetzt für viele noch verletzlicher dastehen lässt.

Hinzukommt der rasante Fortschritt im Bereich der künstlichen Intelligenz, der das Leben junger Leute schon jetzt verändert und in den kommenden Jahren immer stärker beeinflussen wird. Wozu noch etwas lernen, wenn Programme wie ChatGPT demnächst auch das Schreiben dieses Buches übernehmen könnten? Wozu sich noch auf einen künftigen Beruf vorbereiten, wenn ganze Berufsfelder sich dahingehend verändern, dass einmal erworbenes Wissen überflüssig wird?

Auch andere Fragen als die, die diesen Lebensabschnitt bisher so begehrenswert gemacht haben, stellen sich. Wozu noch jemanden kennenlernen und ihm oder ihr begegnen, wenn dies am Handy ebenso gut dazu passende Algorithmen für mich erledigen können? Wozu noch in die Ferne reisen, wenn virtuell das Meta-Universum lockt? Der Zauber, der von der Lebensphase des Erwachsenwerdens immer noch ausgeht und der in der oben genannten Liedzeile des Songs von Taylor Swift anklingt, wird bleiben. Manches liegt noch in weiter Zukunft, aber anderes, was ihnen im Netz geboten wird, kommt dem Lebensgefühl junger Erwachsener zum Teil schon sehr nahe. Aus der damaligen Generation Y ist die Generation Z mit neuen Lebenseinstellungen und neuen Denk- und Verhaltensgewohnheiten geworden, weil die Gegenwart und Zukunft sie vor neue und andere Herausforderungen stellt.

Neben der Berücksichtigung all dieser Faktoren geht es mir in meinem neuen Buch aber auch darum, die Zeit des Erwachsenwerdens als eigenen Entwicklungsabschnitt besonders unter dem Einfluss frühkindlicher Bindung zu betrachten. Was wird in dieser Lebensphase aus den in der frühen Kindheit erworbenen Bindungsmustern? Welchen Einfluss haben sie, wenn es darum geht, sich später als junger Mensch seine eigene Welt zu erobern? Wie wirken sie sich jeweils vorteilhaft oder hinderlich aus in dieser Phase, wenn junge Menschen die Welt immer selbstständiger für sich entdecken?

Die besten Voraussetzungen für solche Weltoffenheit, wie ich sie im Rahmen eines anderen Buches vorgestellt habe[7], finden sich in einer als sicher und vertrauensvoll erlebten Beziehung zu den Eltern als die dem Kind nächsten Bezugspersonen. Solcherart versetzt eine sichere Bindung schon das Kind zunehmend in die Lage, seine Umgebung neugierig und ohne Angst vor dem Fremden und Unerwarteten zu erobern, und spielt auch, wie sich zeigen wird, beim Aufbruch ins Erwachsenwerden noch immer eine bedeutende Rolle.

Das vorliegende Buch gliedert sich in drei große Teile. Zunächst geht es um die Beschreibung des Erwachsenwerdens als eine eigenständige Lebensetappe mit unterschiedlichen Entwicklungsaufgaben. Es geht um eine Art Transitzone, um den Übergang in eine neue Erfahrungswelt, die in der Pubertätszeit ihren Ausgangspunkt findet. Ein Aufbruch ins Ungewisse findet statt, wenn den jungen Menschen der Verlust von Leitplanken wie Elternhaus und Schule immer offensichtlicher wird. Jetzt beginnt für sie ein neuer Lebensabschnitt, begleitet von Aufbruch, Träumen, intensivem Glückserleben und oft gleichzeitig empfundener Trauer und Einsamkeit. Es geht darum, von vielen Gewohnheiten Abschied zu nehmen, und es geht um die vielleicht »härteste Zeit im Leben« und das Risiko, in dem »Dazwischen« dieser Lebensetappe verloren zu gehen. Hinzukommt, dass die jungen Menschen in zunehmend unsicheren Zeiten leben und sich mit den Folgen von Pandemie, Krieg und Klimakrise und deren Auswirkungen auf ihr psychisches Empfinden auseinandersetzen müssen.

Im zweiten Teil des Buches stehen die Folgen frühkindlicher Bindung auf das Erwachsenwerden im Vordergrund. Wie wirken sich unterschiedliche Bindungsmuster darauf aus, diese Lebensphase mutig und selbstbewusst in Angriff zu nehmen? Welche Ressourcen sind nötig, die das Erwachsenwerden und die damit einhergehende Identitätssuche junger Menschen erleichtern können, um nicht in einer Art Niemandsland verloren zu gehen?

An diese Überlegungen schließt sich dann der dritte Teil des Buches an. Hier gehe ich den Fragen nach, wie Eltern die oft abenteuerliche Reise ihrer Kinder in deren »Odysseusjahren« feinfühlig und angemessen begleiten können und welchen Platz sie mit ihrer Präsenz weiterhin für die jungen Leute einnehmen. Am Ende des Buches stelle ich als eine Art Resümee meiner Ausführungen sechs Bausteine vor, die dabei helfen können, dass Erwachsenwerden gelingt.

TEIL 1

Erwachsenwerden

Wie soll man denn wissen,

was es bedeutet,

erwachsen zu sein,

bevor man es geworden ist?

Kapitel 1

Pubertät – die Brücke zum Erwachsenwerden

Jugendliche auf der Suche nach sich selbst

Alle Eltern wissen, dass ihre Kinder einmal älter werden und dass sie irgendwann nicht mehr vor ihnen im Sandkasten sitzen und sich immer wieder nach ihnen umsehen, um sicherzustellen, dass sie noch »da sind«. Sie wissen, dass ihre Kinder irgendwann anfangen werden, sich von ihnen fortzubewegen, um immer selbstständiger und neugieriger die Welt um sich herum zu erkunden, die dann zu ihrer Welt wird, und dass sie schon früh damit anfangen, Nein zu sagen und es auch so meinen. Und alle Eltern wissen, dass sie dann, gemeinsam mit ihren Kindern, noch einen langen Weg zurücklegen werden, bis sie sie allmählich aus den Augen verlieren, nämlich dann, wenn ihre Kinder in einer noch unbestimmten Zukunft beschließen, selbst zu Erwachsenen zu werden.

Noch sind sie aber als Eltern für ihre Kinder da und sorgen dafür, dass sie geborgen und sicher aufwachsen. Ohne sie würden ihre Kinder, solange sie noch klein sind, nicht überleben können, und sie brauchen noch lange die Unterstützung der Eltern, um sich in der Welt der Erwachsenen immer besser zurechtzufinden. Für ihre Zuwendung und Fürsorge werden Eltern von ihren Kindern über alles geliebt. Sie sind Vorbilder und dienen ihnen als sicherer Hafen und Rückzugsort, wenn sie krank, unglücklich oder traurig sind oder den vielfältigen Anforderungen, die schon bald an sie gestellt werden, nicht immer nachkommen können. Dann brauchen sie Hilfe, Feinfühligkeit und Unterstützung, sonst werden sie einsam und bekommen das Gefühl, sich auf niemanden in der Welt verlassen zu können. Kinder brauchen ihre Eltern lange als eine Ressource, um an sich und ihre eigenen Fähigkeiten zu glauben und immer unabhängiger zu werden.

Spätestens mit der Pubertät aber fangen alle Kinder an, sich langsam aus der Abhängigkeit von ihren Eltern zu befreien. Das wird gut sichtbar, wenn sie auf Spaziergängen und Wanderungen zwischen sich und ihnen eine Art »Sicherheitsabstand« herstellen, wenn sie, statt wie früher die Hand ihrer Eltern zu suchen, in weitem Abstand hinter ihnen hertrotten, meistens mürrisch und unwillig. Dabei ist es nicht so, dass sie sich für ihre Eltern nur noch schämen würden, aber sie wollen sich von ihnen doch auch deutlich sichtbar unterscheiden.

Genau hier hat die »Transitphase« hin zum Erwachsenwerden ihren Ausgangspunkt, wenn Kinder sich bemühen, zunehmend auf Abstand zu ihren Eltern zu gehen, mit dem Ziel, sich immer mehr von ihnen abzugrenzen. Sie tun dies, weil sie wissen, dass sie sich nur so auf die Suche nach ihrer eigenen Identität begeben können.

Die Pubertät ist die Brücke zum Erwachsenwerden, auch wenn sie sich noch in vielem von dem Lebensabschnitt unterscheidet, der das eigentliche Erwachsenwerden zum Ziel hat. Vieles von dem, was in der Pubertätszeit Thema ist, ändert sich noch einmal mit dem wirklichen Abschied vom Elternhaus, wenn für die jungen Leute neue Entwicklungsaufgaben dazukommen. Aber die Pubertät, mit der ihr eigenen Suche nach Identität, ist der Ausgangsort. »Wer bin ich?« Um diese Frage dreht sich jetzt alles. Unschwer zu erkennen, handelt es sich um einen eigenen und in sich geschlossenen Entwicklungsabschnitt, auch wenn die Altersgrenzen fließend sind und jede und jeder diese Zeit unterschiedlich erlebt.

Im Vordergrund stehen zunächst die körperlichen Veränderungen, die sie begleitenden Gefühle um das Erwachen sexuellen Begehrens und gleichzeitig auch die vorsichtige Annäherung an das andere Geschlecht, bei manchen bereits verbunden mit der Frage nach der eigenen sexuellen Orientierung. Darüber hinaus werden Zukunftspläne gemacht, aber sie bleiben, was diesen Lebensabschnitt betrifft, noch vage, wechseln einander ab, sind flüchtig und beziehen sich auf das gegenwärtige Erleben. Weniger die Frage nach dem »Wohin« markiert diesen Lebensabschnitt. Im Vordergrund steht eher die Suche danach, wer man, im Unterschied zu allen anderen, wirklich ist. Dabei handelt es sich um eine Suchbewegung, bei der die Jugendlichen ihr Ziel noch nicht genau kennen. Zunächst gehen sie auf Distanz zu ihren Eltern, um sich von ihnen abzugrenzen und endlich zu sich selbst zu finden. Dies macht schließlich den Sinn ihrer ganzen pubertären Entwicklung aus, auch wenn dieser Prozess bis zum Ende der Pubertätszeit keineswegs abgeschlossen sein wird. Immer mehr entziehen sie sich der Kontrolle durch die Eltern und stecken sich ein neues, eigenes Terrain ab. Dem dient auch die zunehmende Hinwendung zu der Gruppe Gleichaltriger, die diese Entwicklungszeit hauptsächlich prägt. Cliquen bilden sich, in denen sich eigene Vorstellungen, Wünsche und Verhaltensweisen spiegeln und zurückgespiegelt werden. Gemeinsam mit anderen zieht man los, und oft bleiben Jungen und Mädchen dabei noch jeweils unter sich. Ihr Aktionsradius entfernt die Jugendlichen immer mehr vom Bereich der Eltern, die einen gehörigen Machtverlust erleiden und lernen müssen, damit angemessen umzugehen. Ihre Kinder geraten nun allmählich und bewusst aus ihrem Blickfeld, aber noch bleiben die Eltern »vor Ort« präsent.

Nichts ist den Jugendlichen in diesem Lebensabschnitt, in dem es gilt, manche Geheimnisse vor ihren Eltern zu bewahren, so verhasst wie Kontrolle. Zeugen dafür sind ihre ständig verschlossenen Türen, die helfen, den Rückzug ins eigene Domizil abzusichern, ihr erschrockener Blick, wenn die Eltern unaufgefordert dennoch »ihr« Zimmer betreten, oder wenn das Notebook zugeklappt wird und das Handy schnell unter dem Kopfkissen verschwindet. Und in Zeiten ständig möglicher digitaler Überwachung via Smartphone erklingt den Eltern bei ihren verzweifelten Anrufen mit der Frage, wo sie gerade stecken, häufig die sanfte Stimme der jeweiligen Telefongesellschaft, dass ihr Kind den Anruf im Moment leider nicht entgegennehmen kann.

Das Leben in der Pubertätszeit findet fast immer nur im Augenblick statt, ein Vorher und ein Nachher soll es nicht geben. Ständig kommt den Jugendlichen etwas anderes in den Sinn, erfindet man sich neu. Mit dieser Spontaneität und dem ständigen Wechsel der Gefühle ähnelt dieser Entwicklungsabschnitt noch manchmal der vorangegangenen Phase der Kindheit. Und auch darin, dass auf der Suche nach neuen Erfahrungen immer noch die Eltern und ein festes Zuhause den beruhigenden und verlässlichen Hintergrund bilden, ein sicherer Hafen sind, in den man sich bei Bedarf vor den Gefahren des Alltags zurückziehen kann, gleicht die Zeit der Pubertät noch der Kindheit. In der übergroßen Mehrzahl leben die Jugendlichen zum Ende ihrer Pubertätszeit weiterhin mit ihren Eltern unter einem Dach zusammen. Selbst Kinder zu haben und einen Beruf zu ergreifen scheinen Lichtjahre entfernt, immer geht es nur um das Hier und Jetzt. Vom Gesetz her sind sie noch nicht volljährig und damit auch nur bedingt verantwortlich für das, was sie so anstellen.

Identitätssuche und sexuelles Begehren

Fragt man ein fünf- oder siebenjähriges Kind danach, wer es ist, wird es nach kurzem Zögern seinen Namen nennen. »Ich heiße Sophie.« »Ich bin der Max!« Noch ist das Kind ganz mit sich eins und nur es selbst. »Ich bin, wer ich bin« – das ist für Kinder in diesem Alter ganz selbstverständlich. Wenn man dem Kind die Frage stellen würde: »Aber wer bist du noch?«, würde es einen erstaunt ansehen und die Frage nicht verstehen. »Ich bin ich – wer denn sonst?« Der Blick des Kindes ruht noch ganz auf ihm selbst. Natürlich können Fünf- oder Siebenjährige uns mitteilen, wie es ihnen gerade geht, oder sich vorstellen, was sie später einmal werden wollen – Rennfahrer, Fußballerin, Balletttänzerin, Kranführer, Arzt oder Ärztin –, aber noch beharren sie darauf, so zu sein, wie sie sind und nicht anders.

Stellt man einem 15-Jährigen oder einer 14-Jährigen die Frage »Wer bist du?«, wird kein Name mehr aufgesagt. Der Blick richtet sich nach innen, und die Antwort würde nach kurzem Nachdenken eher lauten: »Wer ich bin? Hm, so genau weiß ich es im Moment auch nicht.« Schulterzucken eben. Etwaige Vorstellungen seiner selbst, Wünsche und Träume behält man gerne für sich oder teilt sie mit Gleichaltrigen, aber gewiss nicht mit den eigenen Eltern.

Was genau ist da passiert? Woher kommt diese Verunsicherung, wenn man doch in früheren Jahren keine Probleme damit hatte zu sagen, wer man ist, bzw. felsenfest davon überzeugt war, der oder die zu sein, der oder die man ist? Woran zerbricht dieses Gefühl, ein für alle Mal der- oder dieselbe zu sein, eine offensichtlich einmalig festgezurrte Identität zu besitzen?

Der Grund hat mit all jenen Veränderungen zu tun, die der oder die Pubertierende gerade durchmacht. In gewisser Hinsicht könnte man sogar davon sprechen, dass mit dem Eintritt in die Pubertät die Uhr noch einmal zurück auf Anfang gestellt wird. Ganz so, als käme man noch einmal neu zur Welt. Natürlich nicht im wörtlichen Sinn, denn man ist ja schon da. Und genau hier liegt das Problem begraben: Man ist schon da – aber als wer?

Die wohl bedeutendste Rolle im Rahmen der Verwandlung vom Kind hin zum Erwachsenen spielt in der Pubertät der plötzliche – und für die meisten zumindest von seinem Zeitpunkt her immer noch überraschende – Eintritt der Geschlechtsreife. Die erste Regel und der erste Samenerguss kommen oft spürbar aus dem Nichts. Nicht, dass man sie nicht erwartet und darüber Bescheid gewusst hätte. Freundinnen und Freunde haben ganz offen darüber gesprochen, als es bei ihnen so weit war, und den Rest, den man an Informationen braucht, holt man sich aus Foren im Netz und nur selten von den Eltern, die man bei Fragen dieser Art eher versucht, auf Distanz zu halten. Wobei das Verunsichernde beim Eintritt in die Geschlechtsreife nicht die Tatsache ist, jetzt theoretisch ein Kind bekommen oder ein solches »machen« zu können. Dagegen helfen schließlich Verhütungsmittel. Diese Frage stellt sich den jungen Leuten erst viel später, vielleicht dann, wenn sie wirklich erwachsen geworden sind. Was die Jugendlichen jetzt verunsichert und ihr ganzes Dasein erschüttert, ist vielmehr ihre Furcht, mit dem Eintritt in die Geschlechtsreife ihre kindliche Identität zu verlieren, ohne genau zu wissen, womit sie diese ersetzen können, was viel mit dem körperlichen Wandel vom Kind hin zu einem Mann oder einer Frau zu tun hat. Der eigene Körper beginnt sich zunächst unmerklich, dann immer deutlicher, zu verändern. Haare tauchen an Stellen auf, wo bislang keine waren, Brüste entwickeln sich, der Penis gewinnt buchstäblich an Größe. »Wer bin ich? Und wer werde ich sein, wenn diese körperliche Entwicklung bei mir abgeschlossen ist?« Noch ist alles neu, unbekanntes Terrain. Und alles scheint in Veränderung begriffen und wie im Fluss zu sein. Pubertierende erinnern an eine Raupe, aus der nach einer Zeit vorübergehender Ruhe im Leben ein Schmetterling schlüpft: Man empfindet sich anders als vorher, leichter, schöner, aber auch noch unsicher, weniger geschützt, taumeliger.

Begleitend zu den körperlichen Veränderungen stellen sich nun Gefühle ein, die neu sind. Wesen, von denen man sich bislang lieber ferngehalten und auch meilenweit entfernt gefühlt hatte, gewinnen magisch an Anziehungskraft. Wie mit ihnen umgehen? Wie die eigenen Gefühle, auch das sexuelle Begehren, in Schach halten? Wann ist der richtige Zeitpunkt, »es zu tun«? Und gibt es einen solchen überhaupt? Was ist erlaubt, was nicht? »Wer bin ich, wenn ich anfange zu lieben? Bin ich noch ich selbst, wenn der oder die andere alle meine Gefühle bestimmt und ausmacht? Wenn ich in meinen Gedanken drohe, buchstäblich in ihm oder ihr zu verschwinden?« Und für manche stellt sich zusätzlich die Frage, auf wen sich ihre sexuelle Orientierung bezieht – auf das eigene oder das andere Geschlecht? Oder ob sie sich in ihrem Körper überhaupt wohlfühlen oder sich vorstellen können, auch in dieser Hinsicht ein anderer oder eine andere zu sein?

Inmitten all dieser Fragen wird das eigene Gehirn unbemerkt zur Großbaustelle, auf der alte Verbindungen gecancelt, neue gebahnt und geschaffen werden und manche dabei angelegte Kontrollmechanismen vorübergehend ihre Wirkung verlieren. Das limbische System, das unsere Gefühlswelt steuert, übernimmt in dieser Zeit, wie Neurowissenschaftler zeigen konnten, gerne das Kommando, was sowohl in den bereits erwähnten heftigen Gefühlsausbrüchen als auch in dem intensiven Genuss von Gefühlen, zum Beispiel der »ersten Liebe«, deutlich zum Ausdruck kommt. Dieser »Gefühlsüberschuss« verläuft später, im Übergang zur Phase des Erwachsenwerdens, allmählich wieder in geordneten Bahnen, wenn das Vorderhirn mehr und mehr Kontrollfunktionen übernimmt.[1]

»Wie komme ich als Jugendliche oder Jugendlicher aus dieser Lebensphase heraus? Wer werde ich sein, wenn das alles abgeschlossen ist? Noch dieselbe, noch derselbe? Muss ich alles noch einmal von vorne lernen?« Ein entschiedenes Nein. Denn auch, wenn sich manche im Laufe ihrer Pubertät fühlen, als würde ihr Leben jetzt noch einmal ganz von vorne anfangen, stimmt es so nicht. Die Festplatte mit all den auf ihr gespeicherten Erfahrungen aus der frühen Kindheit bleibt, wenn auch nicht immer bewusst, intakt. Ein Kind, das sich schon lange vor der Pubertät mit seinen Bedürfnissen angenommen fühlte, das seine Umgebung in der Gewissheit erkundete, einen sicheren Zufluchtsort zu haben, das auf die Fragen, die es gestellt hat, eine ehrliche Antwort bekam, ein solches Kind verfügt über genügend gute Ressourcen, um auch diese Zeit trotz handfester Krisen unbeschadet zu überstehen.