299 Die Tragödie von Luisenthal - Bernhard Schäfer - E-Book

299 Die Tragödie von Luisenthal E-Book

Bernhard Schäfer

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Beschreibung

Ein Tag, der alles verändert. Am 7. Februar 1962 erschüttert eine Schlagwetterexplosion das saarländische Bergwerk Luisenthal. 299 Männer sterben – Väter, Brüder, Kollegen. Der 18-jährige Walter Schröder überlebt schwer verletzt. Für ihn beginnt eine mühsame Rückkehr ins Leben – zwischen Trauma, Verantwortung und familiärem Zusammenhalt. Der Roman folgt Walter über Jahrzehnte: von den Tagen nach dem Unglück über Trauerfeiern, Ermittlungen und den Wiederbeginn der Förderung – bis hin zu Ausbildung, beruflichem Aufstieg und persönlichen Verlusten. Ein eindringliches Stück saarländischer Zeitgeschichte – literarisch verdichtet, berührend erzählt, tief verwurzelt in der Realität.

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Seitenzahl: 203

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Prolog

1Frühschicht

2Grubenwarte des Bergwerks Luisenthal 6. Februar 1962, Nachtschicht

3Richtstrecke 77 Alsbachfeld

4Im Streb Flöz 3F

5Walter und Fritz

6Am Alsbachschacht über Tage

7Grubenwarte des Bergwerks Luisenthal 6. Februar 1962, Frühschicht, 7:45 Uhr

8Gersweiler, Haus der Familie von Walter Schröder

9Knappschaftskrankenhaus Völklingen, 8:47 Uhr

10Luise

11Vor dem Werkstor der Grube Luisenthal 7. Februar 1962, 9:15 Uhr

12Saarbrücken-Burbach, Am Alsbachschacht 8:30 Uhr

13Walter

14Erster Rettungseinsatz auf der zweiten Sohle

des Alsbachschachts

15Tageslicht

16Auffahren der verlängerten Richtstrecke 77 Alsbachfeld, 7:30 – 7:45 Uhr

17Luisenthal, vor dem Werkstor der Grube 7. Februar 1962, ca. 9:00 Uhr

18Luise 7. Februar 1962, gegen 10:00 Uhr

19Rettungsaktion auf der Grube Luisenthal 7. Februar 1962, etwa 10:00 Uhr

20Fahrsteiger Becker – Rettungseinsatz im Lehrstreb 3E 7. Februar 1962, etwa 10:00 Uhr

21Knappschaftskrankenhaus Rathausstraße, Völklingen 7. Februar 1962, etwa 11:00 Uhr

22Gersweiler, Haus der Familie Keller 7. Februar 1962, etwa 12:00 Uhr

23Luisenthal über Tage Koordinierungsstelle für die Rettungsarbeiten 7. Februar 1962, etwa 10:00 Uhr

24Babyglück – Knappschaftskrankenhaus Völklingen Innere Abteilung, Zimmer 212

25Zimmer 212, Teil 1

26Gersweiler, Haus der Familie Schröder, 20:00 Uhr

27Grube Luisenthal 7. Februar 1962, ca. 20:00 Uhr

28Zimmer 212, Knappschaftskrankenhaus Völklingen Donnerstag, 8. Februar 1962

29Grube Luisenthal, Frühschicht Donnerstag. 8 Februar 1962

30Knappschaftskrankenhaus Völklingen, Zimmer 212 Donnerstag, 8. Februar 1962, 17:00 Uhr

31Frühbesprechung des Krisenstabs Freitag, 9. Februar 1962, 8:00 Uhr Sitzungsraum der Grubenverwaltung

32Knappschaftskrankenhaus Völklingen, Zimmer 212 Donnerstag, 9. Februar 1962, am späten Nachmittag

33Die Ermittlungen Luisenthal, Samstag, 10. Februar 1962, 9:00 Uhr

34Trauerfeier im Grubenpark, Grube Luisenthal Samstag, 10. Februar 1962, früh morgens

35Betriebsführer Grube Luisenthal, Büro des Betriebsführers Montag, 12. Februar 1962

36März 1962

37Walter und Luise

38Barbara, Samstag, 27. Oktober 1962

39Erstes Gedenken, 7. Februar 1963 Pfarrkirche Christ König und Grube Luisenthal, Gedenkstätte

40Der Prozess

41Danach

Epilog

Glossar: Begriffe aus dem Steinkohlebergbau

Über den Autor

Bernhard Schäfer

299 Die Tragödie von Luisenthal

Am 7. Februar 1962 ereignete sich im Steinkohlenbergwerk Luisenthal im Saarland das schwerste Grubenunglück in der noch jungen Geschichte der Bundesrepublik Deutschland.

299 Bergleute verloren dabei ihr Leben – ein Verlust, der zahllose Familien ins Unglück stürzte und tiefe Narben in der Region hinterließ.

Dieser auf wahren Begebenheiten beruhende Roman erzählt die fiktiven Geschichten von Betroffenen, deren Leben sich an diesem Tag schlagartig veränderte. Ihre Erlebnisse, Sorgen und Hoffnungen stehen stellvertretend für ein dunkles Kapitel deutscher Industriegeschichte.

Prolog

Im Sommer 1959 erfüllt sich für Familie Schröder ein lang gehegter Traum: Sie ziehen in ein schmuckes Reihenhaus in der Bergmannssiedlung des Dorfes Gersweiler. Der Duft von frischer Farbe, unbehandeltem Holz und neuen Möbeln liegt in der Luft. Das Haus ist das Ergebnis harter Arbeit und der Zusammenarbeit innerhalb der »Bau-Interessen-Gemeinschaft«, einer Initiative, die es vielen Familien im Saarland ermöglicht, sich ein eigenes Heim zu schaffen.

Walter, der gerade seinen 15. Geburtstag gefeiert hat, spürt an diesem Abend, dass etwas Entscheidendes bevorsteht. Beim gemeinsamen Abendessen im neuen Esszimmer, umgeben von den schweren Holzstühlen und dem braunen Tisch, liegt eine gewisse Anspannung in der Luft. In den letzten Tagen nehmen die Diskussionen über seine Zukunft zu.

Walters Vater, ein Mann, dessen Gesicht die Spuren harter Arbeit unter Tage trägt, ist fest entschlossen, dass sein Sohn in seine Fußstapfen tritt und Bergmann wird. Für ihn ist der Bergbau die Lebensader des Saarlandes und die einzige sichere Möglichkeit, eine Familie zu ernähren.

Walters Mutter hingegen sieht in ihrem Sohn mehr. Sie erkennt seine Intelligenz und seinen Wissensdurst und wünscht sich, dass er studiert und ein besseres Leben führt – ein Leben jenseits der Gefahren und der harten Arbeit unter Tage.

Walter selbst ist hin- und hergerissen. Einerseits fasziniert ihn die Vorstellung, die Welt zu erkunden und Neues zu lernen. Andererseits fühlt er sich seiner Familie und der Tradition verpflichtet. An diesem Abend soll eine Entscheidung fallen, die sein Leben für immer verändern wird.

Mutter hat den feinen Kartoffelsalat gemacht, dazu gibt es Wiener Würstchen. Doch Walter ist nicht nach Essen zumute. Sein Blick fällt auf den Lehrvertrag, der wie ein bedrohliches Monument auf dem Tisch liegt. Die kalte Feder zittert leicht in seiner Hand, als er die Tinte betrachtet, mit der sein Vater bereits unterschrieben hat. »Bergmann« steht da, in krakeliger Schrift – ein unausweichliches Schicksal.

Wütend ballt Walter die Faust. Nein, er würde sich nicht beugen, nicht sein Leben diesem dunklen Loch unter Tage verschreiben. Tierarzt wolle er werden, seinen Traum leben. Ist das denn so schwer zu verstehen?

Ein Blick auf seine Mutter, die mit gerunzelter Stirn am Kopfende sitzt, verrät ihm, dass sie seinen Kampf versteht. In ihren Augen spiegeln sich Sorge, aber auch ein Funken Hoffnung. Sie glaubt an ihn, an seinen Traum, auch wenn sie es nicht offen ausspricht.

Walter hebt den Kopf und sieht seinen Vater an. In dessen Gesicht spiegeln sich die Härte des Lebens und die tiefen Spuren der Arbeit unter Tage. Stolz und Enttäuschung kämpfen in seinen Augen.

»Vater«, sagt Walter mit fester Stimme, »ich kann das nicht. Ich will kein Bergmann werden.«

Die Stille, die folgt, ist bedrückend. Das Ticken der Uhr auf dem Kaminsims hämmert in Walters Ohren.

»Du verstehst nicht, Junge«, sagt sein Vater schließlich, seine Stimme rau und gepresst.

»Es ist Tradition, unsere Familie ist seit Generationen im Bergbau tätig.«

»Aber ich will nicht in der Tradition versinken!«, ruft Walter. »Ich will leben, meine Träume verwirklichen!«

Ein hitziges Wortgefecht entbrennt, voller Emotionen und Vorwürfen. Walter spürt, wie die Wut in ihm aufsteigt, wie Tränen in seinen Augen brennen. Er will nicht in die ewige Dunkelheit, will keinen Staub in der Lunge, keinen krummen Rücken. Er will Tierarzt werden – nicht Bergmann.

Doch nun liegt der Lehrvertrag der Grube vor ihm auf dem Tisch. Ein Dokument, geschmückt mit dem Zeichen der Bergleute, Hammer und Schlägel gekreuzt. Dieses Zeichen scheint ihn zu verspotten und zu schreien: Du hast verloren, Walter.

Die Situation ist angespannt und voller Emotionen. Walter ist wütend auf seinen Vater, weil dieser seinen Wunsch ignoriert. Er weiß, dass er in der Grube nicht glücklich wird. Die Dunkelheit, der Staub und die harte Arbeit schrecken ihn ab. Er will Tieren helfen, ihnen ein besseres Leben ermöglichen.

1 Frühschicht

Walter träumt noch und genießt die warme, schwere Bettdecke, in die er sich noch einmal verkriechen will. Er hört bereits seine Mutter Annemarie in der Küche des Einfamilienhauses werkeln. Eigentlich hat er noch etwas Zeit. Sein Wecker soll erst um 4:30 Uhr klingeln, aber nun ist er wach. Seine Gedanken verlieren sich im Gestern – gestern, als er mit Luise zusammen war. Luise und er sind seit zwei Jahren ein festes Paar. Sie haben sich auf dem Fest des Fußballvereins kennengelernt, in dem Walter Mitglied ist. Sie verlieben sich sofort ineinander, und nach den ersten Treffen ist beiden klar, dass es mehr ist als nur eine Schwärmerei.

Annemarie Schröder ist eine gestandene Frau von 39 Jahren und bereits seit 20 Jahren mit ihrem Herbert verheiratet. Nachdem ihr Sohn vor 18 Jahren auf die Welt kommt, hört Annemarie auf zu arbeiten. Sie hat, nachdem sie die Schule wegen der Evakuierung nicht mehr besuchen kann, als Aushilfe in einer Metzgerei gearbeitet. Es sind die letzten Kriegsjahre, in denen sie fast allein auf sich gestellt ist.

Herbert Schröder wird sehr spät eingezogen. Seine Arbeit unter Tage gilt als kriegswichtig und verschont ihn lange Zeit vor dem grausamen Weg an die Front. Als er schließlich doch eingezogen wird, lebt Annemarie mit dem kleinen Jungen bei ihren Schwiegereltern, die ihr in den schweren Jahren stets zur Seite stehen. Nachdem die alliierten Streitkräfte bereits im März 1945 in das Saargebiet einmarschieren, haben sie Glück: Herbert kehrt schnell aus französischer Gefangenschaft zurück. Obwohl er von den Auswirkungen des Krieges schwer gezeichnet ist, beginnt er bereits wenige Wochen nach seiner Heimkehr wieder im Bergwerk in Luisenthal zu arbeiten.

Nun, da Walter seinen eigenen Lebensweg beginnt, denkt Annemarie wieder darüber nach, sich eine neue Arbeit zu suchen. Sie ist morgens immer die Erste, die bereits kurz nach vier Uhr aufsteht, um Frühstück zuzubereiten und Pausenbrote zu schmieren.

Walter hat ein eigenes Zimmer in dem großen Haus, in dem die Familie seit fast vier Jahren wohnt. Sein Zimmer ist recht groß, und er hat es sich in den letzten beiden Jahren gemütlich eingerichtet. Auf der Grube bekommt er ein ordentliches Lehrgeld, mit dem er sich gerne seine Wünsche erfüllt. Das ist der Vorteil, wenn man Bergmann werden will: gutes Gehalt und nicht zu vergessen die Deputatkohlen zum Heizen. Aber egal, ihm gefällt mittlerweile der Beruf des Bergmanns, und er will nach der Ausbildung und den Wartejahren unbedingt die Steigerschule besuchen und Karriere bei den Saarbergwerken machen.

»Guten Morgen, Walter«, begrüßt ihn seine Mutter an diesem tristen, trüben, kalten Morgen im Februar 1962. »Kannst du bitte noch zwei Schütten Kohle aus dem Keller holen?«, fragt die resolute Hausfrau eher fordernd als bittend. Walter nickt und fragt im gleichen Moment: »Was ist mit Vater, muss der heute nicht auf Schicht?« Seine Mutter schaut ihn verwundert an: »Hast du etwa vergessen, dass dein Vater heute am Kiefer operiert wird? Er bekommt den kaputten Weisheitszahn gezogen.«

Walter ist mit seinen 18 Jahren ein stattlicher junger Mann, groß gewachsen und gut trainiert. Er spielt in der Dorfmannschaft Fußball, zusammen mit Freunden aus seinem Jahrgang. Seine dunkelblonden Haare trägt er stets kurz geschnitten – das hat den Vorteil, dass sich der Staub und Schweiß der täglichen Untertagearbeit schnell aus dem Haar waschen lässt.

Gedankenverloren schlürft Walter seinen Kaffee und kaut auf seinem Frühstücksbrot herum. Wie an jedem Morgen gibt es dunkles Brot, das seine Mutter selbst backt. Am liebsten schmiert sich Walter dick Butter darauf und taucht es dann in den warmen Kaffee.

»Walter«, raunzt seine Mutter, »du musst noch in den Keller und die Kohlen hochschaffen.« Den letzten Bissen noch im Mund, macht sich Walter auf den Weg in den Keller und füllt die zwei Schütten, laut scharrend über den Boden ziehend. »Scheiß Kohle«, denkt er dabei, »zuerst buddelst du das Zeug aus der Erde, dann schippst du es in den Keller, um es dann kurze Zeit später wieder in die Wohnung zu tragen.«

Sie haben sich beim Hausbau gegen eine Zentralheizung entschieden. Diese hätte einige tausend Mark mehr gekostet – Geld, das sie sich hätten leihen müssen. Jetzt wärmen zwei schöne Gussöfen und ein Küchenherd mit Backröhre die Wohnung. Seine Mutter kann auch noch auf der Küchenhexe kochen. Sie schwört auf den Ofen, obwohl viele ihrer Freundinnen bereits Elektroherde zu Hause haben.

Walter packt nach der frühmorgendlichen Arbeit seine Brote in die Arbeitstasche, die er am Abend zuvor schon mit frischer Arbeitskleidung, Socken, einem frischen Unterhemd und einem Handtuch gepackt hat, und macht sich auf den Weg zur Bushaltestelle, die unweit von ihrer Siedlung liegt. Augenblicke später knattert der Grubenbus um die Kurve, um kurz darauf an der Haltestelle seine Arbeiterfracht aufzuladen.

Der Bergarbeiterberufsverkehr ist eine Errungenschaft der Betriebsräte und Gewerkschaften und existiert noch nicht allzu lange. Zu jedem Schichtwechsel fahren Hunderte Busse durch das Saarland und die angrenzende Pfalz, um die Bergleute einzusammeln. So auch an diesem Morgen des 7. Februar 1962: »Auf zur Frühschicht« heißt es für Walter.

Walter ist Berglehrling im dritten Jahr. Er gehört zu den ersten Jungen, die nach der Rückgliederung des Saarlandes an die Bundesrepublik Deutschland 1957 den anerkannten Ausbildungsberuf des Bergmanns erlernen dürfen. Nachdem ihn seine Eltern mehr oder weniger dazu gezwungen haben, hat er sich mittlerweile daran gewöhnt, jeden Tag ins Bergwerk einzufahren. Dazu gehört auch der Besuch einer Berufsschule, die direkt neben dem Bergwerk in Luisenthal liegt. In seinem Jahrgang beginnen 60 junge Männer die Ausbildung auf der Grube: 40 Bergleute, zehn Schlosser und zehn Elektriker werden auf das harte Berufsleben unter Tage vorbereitet. Das Bergwerk verfügt über ein eigenes Lehrrevier mit Streb und Vortrieb. Im dritten Lehrjahr werden die jungen Männer auch in aktiven Abteilungen eingesetzt, um sich an die Arbeit im Gedinge, dem Bergmannsakkord, zu gewöhnen. Walter ist in der Berufsschule einer der Besten seines Jahrgangs und hat bereits einige Belobigungen von der Ausbildungsleitung erhalten. Wenn er es schafft, seine baldige Abschlussprüfung mit »Sehr gut« abzuschließen, bekommt er die Chance, direkt an der Bergingenieurschule Bergbau zu studieren und Steiger zu werden.

Als der Bus nach etwa einer Viertelstunde Fahrzeit die Grube erreicht, erschrickt Walter, als sich die Türen des Mercedes-Reisebusses mit einem lauten Zischen öffnen. Er muss wohl noch einmal kurz eingenickt sein. Viele Bergleute nutzen die Zeit im Grubenbus für einen kurzen Ausflug in die Traumwelt, bevor sie in den tiefen Schlund der Erde reisen müssen.

Vor der Grube liegt ein großer Parkplatz, der sich an diesem Morgen nach und nach mit Bussen aus dem Einzugsgebiet füllt. Ab diesem Zeitpunkt läuft alles nach gewohnter Routine. Hunderte Männer laufen vom Parkplatz durch das Werkstor, vorbei an den Grubenwächtern. Immer wieder hört man das geraunte »Glückauf«.

Es ist ein trister Morgen. Nebel und feiner Regen hängen in der Luft. Vom Kesselhaus treiben weiße Rauchfetzen über das Grubengelände, das durch orangefarbene Halogenleuchten bereits hell erstrahlt. Etwa tausend Arbeiter machen sich an diesem Morgen bereit für die Frühschicht.

Walter geht noch ins Lehrlingsbad. Die Lehrlinge haben einen eigenen Bereich in der großen, neuen Waschkaue. Jeder Bergmann hat zwei Kleiderhaken, die über Rollen bis unter die Decke gezogen werden. Der eine Haken nimmt die saubere Straßenkleidung auf, der andere trägt die verschmutzte Arbeitskleidung. Zwischen beiden Haken bewegen sich nackte Männerkörper. Dazwischen sieht man rußverschmierte Leiber der Kumpel, die von der Nachtschicht bereits auf der Tagesoberfläche angekommen sind.

Markennummer 793 – das ist Walters Kennzeichnung auf der Grube. 793 steht auch an seiner Rolle, wie die Männer ihre Kleiderhaken nennen. Gewohnt schnell legt er die Straßenkleidung ab und steht nackt unter den vielen anderen Lehrlingen, die nach und nach eintreffen.

»Glückauf, Walter«, ruft Reiner, sein Rollennachbar und ebenfalls Lehrling im dritten Lehrjahr. »Na, bist du fit heute Morgen?«, fragt Reiner süffisant. »Oder hat dich Luise gestern Abend wieder mit ihren heißen Oberteilen ausgelaugt?«, kokettiert Reiner weiter. »Halt dein Maul«, zischt Walter genervt zurück. »Das mit Luise ist was ganz Besonderes. Ich glaube, wir werden irgendwann heiraten«, schwärmt er. Er mag es nicht, wenn andere so über seine Luise reden. »Du bist ja nur neidisch«, setzt er noch nach, obwohl Reiner schon verschwunden ist. Als sie sich nach dem Umziehen im Zechensaal treffen, sagt Reiner: »Weißt du schon, dass du heute mit dem alten Fritz zum Alsbachschacht auf die 4. Sohle sollst? Der Alte hat ihn beauftragt, an der neuen Bandstation am Querschlag einen Pumpensumpf zu bauen.«

Walter kommt am Sammelplatz für die Lehrlinge an, wo ihn Lehrhauer Fritz zu sich nimmt und dabei dem Abteilungssteiger zunickt.

»Glückauf Walter«, begrüßt Fritz Klein den gut einen Kopf größeren Lehrling und schlägt ihm dabei wohlwollend auf die rechte Schulter. »Wir werden heute mit dem Schwarzbus …«

Fritz wird vom Glockenschlag der goldfarbenen Glocke am Verlesepult am Büro der Obersteiger unterbrochen. Alle Bergleute, die sich zu diesem Zeitpunkt im großen Zechensaal der Grube befinden, greifen dem Kommando der Glocke folgend an den Helm und ziehen diesen ab, um ihn dann vor die Brust zu halten.

»Glückauf und Helm ab zum Gebet«, schallt der Ruf von Obersteiger Klein von der Kanzel. Gemeinsam murmeln die Männer das einstudierte Morgengebet und setzen den Helm wieder auf. Normalerweise ist damit dieses Ritual beendet. Doch an diesem Tag setzte der Obersteiger seine Ausführungen fort: »Männer, in der vergangenen Nacht gab es eine Störung an der Gasabsaugung im Alsbachfeld, die aber wieder behoben werden konnte. Die Vorfahrer und die Wetterabteilung sind im Einsatz und haben bereits wieder frei gemeldet.« Nach einer kurzen Pause ermahnt Klein nochmals von der Kanzel: »Prüft trotzdem besonders gut eure Wetter.« Nach den mahnenden Worten steigt er die Kanzel hinunter und verschwindet in seinem Büro.

»Walter«, ruft Fritz aus dem Stimmgewirr, das nach der Ansprache im Zechensaal herrscht. »Walter, wir müssen uns beeilen und noch kurz ins Magazin und das Material bestellen, das wir morgen brauchen.« Gemeinsam marschierten sie aus dem Zechensaal hinaus. Sie müssen noch ihre Grubenlampen und den Filterselbstretter in der Lampenstube aus ihrem persönlichen Gefach abholen. Danach geht es hinaus in die kalte Morgenluft über den Materialplatz und ins Magazin.

Nachdem Fritz alle Formalitäten im Magazin erledigt hat, raucht er noch eine letzte Zigarette an der Haltestelle, ab der die Schwarzbusse einen Teil der Belegschaft zum Alsbachschacht fahren.

Die Busfahrt zum Nebenschacht, der schon auf dem Gebiet der Stadt Saarbrücken liegt, dauert nur wenige Minuten. Die Schwarzbusse hätten auch mit Sicherheit keine längeren Fahrten mehr durchgehalten. Längst aus dem regulären Fahrbetrieb ausgemustert, taugen sie gerade noch für solche Fahrten.

Dennoch reichen Walter die paar Minuten im Bus aus, um seine Gedanken wieder auf eine kleine Reise zu schicken. Eine Reise zu seiner Luise. Immer wenn er ins Träumen gerät, glaubt er fast ihre Haare zu spüren, wie sie sanft durch sein Gesicht streichen, wenn Luise sich über ihn beugt. Auch die Noten des feinen Duftes, der sie umgibt, kann er noch Tage nach dem letzten Treffen riechen. Ja, er liebt seine Luise, da ist er sich ganz sicher.

»Walter, aufwachen, wir sind da«, packt Fritz ihn leicht an der Schulter und rüttelt ihn ein wenig. »Na, wieder am Träumen?«

»Mensch Fritz, gerade wo es so schön war, kommst du mit deiner Hauerpranke und machst alles kaputt«, lacht Walter kurz laut auf und steigt aus dem Bus aus.

Am Alsbachschacht, der als Nebenschacht der Grube in Betrieb ist, verläuft alles etwas ruhiger als an den Hauptschächten in Luisenthal. Etwa 100 Bergleute fahren an diesem Tag hier ein.

Die Seile der Förderanlage tanzen über dem Schacht hin und her, bis sie auf einmal langsamer werden und sich das Ende der Seilfahrt ankündigt. Mit einem lauten Knall drückt der ankommende Förderkorb den Schachtdeckel nach oben und bleibt nach kurzem Auf und Ab vor ihnen stehen. Warme Luft strömt ihnen entgegen.

Bevor sie einsteigen können, müssen noch die Männer der Nachtschicht den Korb verlassen. Einige der abfahrenden Bergleute tauschen sich mit ihren Kollegen aus und geben noch wichtige Informationen über den Stand der jeweiligen Arbeiten.

Fritz und Walter geben dem Anschläger ihre Fahrmarken in die Hand und zwängen sich an den mit Fett eingestrichenen Spurlatten vorbei auf das Fördergestell. 14 weitere Bergleute drängen sich noch zu ihnen, sodass es sehr eng wird und man körperliche Nähe gut vertragen muss.

Mit dem hellen Klang der Signalglocke signalisiert der Anschläger dem Fördermaschinisten, dass der Korb bereit zur Abfahrt in die Tiefe ist.

Der Boden unter ihnen bebt, dann zieht es sie hinab in den dunklen Schlund. Die Seilfahrt beginnt, und als sie in die Tiefe fahren, spürt Walter eine Mischung aus Aufregung und Sehnsucht. Er weiß, dass Luise auf ihn warten würde, wenn er nach seiner Schicht nach Hause käme. Dieser Gedanke gibt ihm die Kraft, den harten Arbeitstag unter Tage zu bewältigen.

Zu Beginn geht es noch langsam in das Innere der Erde, bis sich der Schachtdeckel wiederum mit einem lauten Knall auf den Schacht legt. Nach kurzer Fahrt passieren sie den Bereich im Schacht, an den der Grubenlüfter angeschlossen ist. Ab dieser Stelle wird die Luft mit einem Schlag warm und feucht. Das sind die Abwetter, die aus dem Grubengebäude nach außen abgesaugt werden.

Walter mag diese Stelle nicht, ihm bleibt auch noch nach zwei Jahren, die er nun schon in die Grube fuhr, die Luft für einige Momente weg. Der Förderkorb hält mit einem Ruck; sie haben ihre Endstation auf der zweiten Sohle erreicht.

Hier unter der Erde begegnet Walter all den alten Geschichten seiner Familie wieder. Er hört sie immerzu auf den Familienfesten, die es eigentlich jeden Monat einmal gibt. Geburtstage von Onkeln und Tanten, selbst auf Beerdigungen beim Leichenschmaus werden irgendwann Kohle gemacht. Drei Generationen vor ihm haben bereits ihr Brot mit dem schwarzen Gold verdient. Gutes Geld, wie ihm sein Vater in den endlosen Diskussionen um seinen ersten Berufswunsch immer wieder vorhielt. Geld, mit dem man seine Familie ernähren, ein Haus bauen und Kinder versorgen könne.

»Fritz, was müssen wir denn heute hier machen? Wir haben doch gar kein Gezähe mit dabei«, fragt Walter seinen Lehrhauer. »Wir haben hier noch eine Kiste an der Schachthauerbude stehen, die holen wir uns gleich mit einer Lok ab und bringen sie zu unserer Baustelle. Dort müsste noch einiges an Gezähe drin sein, wenn sie nicht aufgebrochen wurde«, antwortet Fritz seinem jungen Kollegen.

Als sich die Bergleute, die mit ihnen eingefahren sind, verteilt haben und es etwas ruhiger wird, lässt sich der alte Hauer auf einer einfachen Holzbank am Schacht nieder. »Komm her Walter, wir haben heute mal etwas mehr Zeit. Der Alte kommt bestimmt nicht auf eine so abgelegene Baustelle, um uns zwei Hansel zu befahren, und die anderen Steiger kommen erst in einer Stunde. Also können wir noch etwas ruhen.« Die große Uhr, die in der Schachthalle hängt, zeigt 6:30 Uhr. Noch sieben Stunden bis Feierabend, denkt Walter bei sich, als er auf die Uhr blickt.

2 Grubenwarte des Bergwerks Luisenthal6. Februar 1962, Nachtschicht

Jakob und Herbert sitzen gemeinsam im neuen, großen Raum der Grubenwarte. Diese moderne Sicherheitszentrale ist erst vor kurzem eingerichtet worden und mit neuester Technik ausgestattet, um das Bergwerk mit all seinen Anlagen und den Messstellen für Grubengas zu überwachen. Das Bergwerk Luisenthal ist bereits mehrfach für sein Sicherheitskonzept und die professionelle Arbeit der Wetterabteilung ausgezeichnet worden.

Für Jakob und Herbert, zwei erfahrene Männer der technischen Abteilung, steht die Nachtschicht an. Herbert ist in dieser Nacht als Telefonist eingeteilt und muss alle Telefongespräche innerhalb der Grube manuell vermitteln. Jakob überwacht den Betrieb der Grube mithilfe zahlreicher Anzeigetafeln sowie Störungs- und Meldeleuchten – eigentlich Routine.

»Herbert, kannst du mal kurz die Warte übernehmen?«, fragt Jakob seinen Kollegen. »Ich muss mal aufs Klo, das kann eine Weile dauern. Ich hab‘s mit dem Magen.«

»Kein Problem, Kumpel«, bestätigt Herbert und lacht leicht süffisant. »Du hast wohl wieder etwas zu viel von Mathildes gutem Essen gehamstert.«

Nachts ist es am Telefon in der Regel ruhiger als auf den anderen Schichten, bei denen sie zu dritt die Kommunikation in der Grube meistern müssen. Der anspruchsvolle Job erfordert viel Aufmerksamkeit und großes Fachwissen rund um die Sicherheit im Bergwerk.

Herbert und Jakob sind mehr als nur Kollegen – sie sind auch außerhalb der Arbeit Freunde. Seit Jahren fahren sie gemeinsam die gleiche Schicht in der Warte und verbringen ihre knappe Freizeit oft zusammen. Besonders das Angeln und die Mitgliedschaft im Werkschor der Grube schweißen sie zusammen.

Herbert rückt seinen Stuhl etwas mehr in die Mitte des großen Bedienpults, um die Anzeigen und Leuchten der Grubenüberwachung besser einsehen zu können. Die große Uhr in der Warte zeigt 23:40 Uhr. Gerade als Jakob die Warte verlässt, beginnt eine rote Warnleuchte auf der rechten Seite des Pults zu blinken. Gleichzeitig ertönt unter dem Tisch ein Summer, der rhythmisch im Takt des grellen Warnsignals schallt.

»Verdammt«, flucht Herbert leise und dreht seinen Stuhl in die Richtung, aus der das Signal kommt. »Kaum ist Jakob auf dem Klo, beginnt hier der Ärger.« Sicher, dass keiner ihn hört, schiebt er noch ein paar kleine Flüche hinterher.

Auf einem beleuchteten Schild steht: »Störung Gasabsaugung 4 Feld Alsbach«.

»Auch das noch«, knurrt Herbert. »Hoffentlich kommt Jakob bald zurück. Allein schaffe ich das hier bestimmt nicht.«

Doch es ist nicht Jakob, der durch die Tür kommt, sondern Martin Beyer, der junge Elektriker, der in der Nachtschicht für die Schwachstromanlagen zuständig ist.

»Gut, dass du gerade kommst«, sagt Herbert nervös. »Wir haben eine Störmeldung, die mir gar nicht gefällt: Gasabsaugung 4 drüben im Alsbachfeld.«

»Wo treibt sich Jakob denn schon wieder rum?«, fragt Martin mit einem Blick auf Jakobs leeren Stuhl.

»Der sitzt auf dem Klo, die Linsensuppe von heute Mittag entsorgen«, scherzt Herbert mit einem leichten Lachen.

»Na gut, dann lass uns mal schauen, was da los ist«, beruhigt Martin seinen Kollegen und holt den Notfallordner mit der Aufschrift »Gasabsaugung 4 Alsbach« aus dem großen Aktenschrank.

»Jakob, na endlich bist du zurück vom Klo«, sagt Herbert erleichtert, als sein Kollege wieder an seinem Platz ist. »Hast du eine so große Ladung in die Schüssel gehauen, dass die Gasanlage im Osten den Geist aufgegeben hat?«, scherzt er, während Jakob im Ordner nach den Störungen blättert.

»Mach keinen Blödsinn jetzt, das ist eine ernste Sache bei dem Wetter draußen«, mahnt Jakob und wirft einen Blick auf die Barometeranzeige im Wetterschrank der Grubenwarte. Hier werden alle relevanten Wetterdaten der Atmosphäre angezeigt. Besonders bei hoher Luftfeuchtigkeit und niedrigem Luftdruck besteht eine erhöhte Gefahr von Gasansammlungen im Bergwerk.

»Ich rufe jetzt erst einmal den Wettersteiger vom Dienst an und informiere ihn über die Störung«, sagt Herbert und greift zum Hörer. Er sucht die Telefonnummer aus einer Liste und wählt.

Es ist kurz vor Mitternacht, und entsprechend lange lässt Herbert das Telefon auf der anderen Seite läuten.