360°-Feedback - Martin Scherm - E-Book

360°-Feedback E-Book

Martin Scherm

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Beschreibung

Feedbackinstrumente werden von Unternehmen und Organisationen eingesetzt, um das Potenzial ihrer Führungskräfte und Top-Fachkräfte nachhaltig zu entwickeln. Das 360°-Feedback nimmt hierbei als multiperspektivischer Ansatz eine zentrale Rolle ein. In seiner "klassischen" Variante sieht es neben der kompetenzbezogenen Selbsteinschätzung einer Fokusperson die Fremdeinschätzung durch die Beurteiler-Gruppen der Vorgesetzten, Kollegen und Mitarbeiter vor. Mittlerweile haben sich multiperspektivische Feedbackprozesse in der strategischen Personalentwicklung und als integraler Bestandteil der Development-Programme von zahlreichen Unternehmen und Organisationen fest etabliert. Der vorliegende Band bereitet die theoretischen und methodischen Grundlagen praxisnah auf und gibt Konzepte für die erfolgreiche Durchführung von Feedbackprozessen an die Hand. Empfehlungen für die erfolgreiche Gestaltung von Feedbackgesprächen und zur Auswahl von Feedbackverfahren sind dabei ebenso Gegenstand des Bandes wie mögliche Probleme bei der Implementierung von Feedbacksystemen. Ausführlich wird auch auf die Frage nach positiven wie negativen Effekten von 360°-Feedbacks eingegangen. Für die 2., überarbeitete und erweiterte Auflage wurden u.a. innovative Bezüge zum organisationalen Lernen aus Feedback und Leistungsbeurteilungen hergestellt. Die wissenschaftliche Literatur wurde aktualisiert und deutlich erweitert. Zudem werden verschiedene methodische Zugänge vorgestellt und neuere Befunde zur Frage der Kompetenzentwicklung durch Feedbackprozesse diskutiert. Schließlich wurden alle Praxisbeispiele vollständig überarbeitet bzw. neu konzipiert.

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Martin Scherm

Werner Sarges

360°-Feedback

2., überarbeitete und erweiterte Auflage

Praxis der Personalpsychologie

Human Resource Management kompakt

Band 1

360°-Feedback

PD Dr. Martin Scherm, Prof. Dr. Werner Sarges

Herausgeber der Reihe:

Prof. Dr. Heinz Schuler, Prof. Dr. Jörg Felfe, Dr. Rüdiger Hossiep, Prof. Dr. Martin Kleinmann

Begründer der Reihe:

Prof. Dr. Heinz Schuler, Dr. Rüdiger Hossiep, Prof. Dr. Martin Kleinmann, Prof. Dr. Werner Sarges

PD Dr. Martin Scherm, geb. 1961. Studium der Psychologie, Pädagogik und Politischen Wissenschaft an der Universität Hamburg. 1996 Promotion. 2010 Habilitation. Leitung des Arbeitsbereichs Führungsbegleitung an der Helmut-Schmidt-Universität Hamburg.

Prof. em. Dr. Werner Sarges, geb. 1941. Studium der Psychologie und der Betriebswirtschaftslehre an den Universitäten Marburg und Hamburg. 1971–1973 Trainee und Junior-Manager in einem multinationalen Konzern der Konsumgüterindustrie. 1974 Promotion. Von 1977–2006 Professor für Quantitative Methoden an der Helmut-Schmidt-Universität Hamburg und seit 1984 Institutsleiter und Beratender Psychologe am Institut für Management-Diagnostik in Barnitz (bei Hamburg).

Wichtiger Hinweis: Der Verlag hat gemeinsam mit den Autoren bzw. den Herausgebern große Mühe darauf verwandt, dass alle in diesem Buch enthaltenen Informationen (Programme, Verfahren, Mengen, Dosierungen, Applikationen, Internetlinks etc.) entsprechend dem Wissensstand bei Fertigstellung des Werkes abgedruckt oder in digitaler Form wiedergegeben wurden. Trotz sorgfältiger Manuskriptherstellung und Korrektur des Satzes und der digitalen Produkte können Fehler nicht ganz ausgeschlossen werden. Autoren bzw. Herausgeber und Verlag übernehmen infolgedessen keine Verantwortung und keine daraus folgende oder sonstige Haftung, die auf irgendeine Art aus der Benutzung der in dem Werk enthaltenen Informationen oder Teilen davon entsteht. Geschützte Warennamen (Warenzeichen) werden nicht besonders kenntlich gemacht. Aus dem Fehlen eines solchen Hinweises kann also nicht geschlossen werden, dass es sich um einen freien Warennamen handelt.

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www.hogrefe.de

Umschlagabbildung: © baona – iStock.com by Getty Images

Satz: Matthias Lenke, Weimar

Format: EPUB

2., überarbeitete und erweiterte Auflage 2019

© 2002 und 2019 Hogrefe Verlag GmbH & Co. KG, Göttingen

(E-Book-ISBN [PDF] 978-3-8409-3000-3; E-Book-ISBN [EPUB] 978-3-8444-3000-4)

ISBN 978-3-8017-3000-0

http://doi.org/10.1026/03000-000

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Anmerkung:

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Zitierfähigkeit: Dieses EPUB beinhaltet Seitenzahlen zwischen senkrechten Strichen (Beispiel: |1|), die den Seitenzahlen der gedruckten Ausgabe und des E-Books im PDF-Format entsprechen.

Inhaltsverzeichnis

1 Begriff und Konzept des 360°-Feedbacks

1.1 Bezeichnung

1.2 Definition

1.3 Abgrenzung zu ähnlichen Begriffen/Konzepten

1.4 Bedeutung für das Personalmanagement

1.5 Betrieblicher Nutzen

2 Theorien und Modelle des 360°-Feedbacks

2.1 Feedback als Katalysator der Entwicklung von Führungskräften

2.2 Feedback als Katalysator des Organisationslernens

2.3 Kompetenzen als Fokus des 360°-Feedbacks

2.4 Von der Wahrnehmung zur Konstruktion der „Wirklichkeit“: Feedbacks als Eindrucksurteile

2.5 Prozessmodell und zentrale Forschungsbefunde

2.5.1 Die Urteilsdifferenzen zwischen Selbst- und Fremdurteil

2.5.2 Der Zusammenhang der Urteilsdifferenzen mit Leistung und Zielerreichung

2.5.3 Die Wahrnehmung von Ziel-Leistungs-Diskrepanzen und ihr Einfluss auf die Selbsteinsicht und das Selbstbild

2.5.4 Das erwartete Verhalten und die Bedeutung des Feedbackprozesses

2.5.5 Die erwartete Leistung und die Bedeutung des Feedbackprozesses

2.5.6 Die Ergebnisse von Feedbackprozessen

3 Analyse und Maßnahmenempfehlung

3.1 Voraussetzungen der Installation von 360°-Feedbacks

3.1.1 Kultur der persönlichen Wertschätzung

3.1.2 Verbindlichkeit und Wertschätzung von Entwicklungsbemühungen durch Einbettung in Development-Strategien

3.1.3 Entscheidung bezüglich der Funktion des Feedbacks

3.2 Der Feedbackprozess

3.2.1 Phase 1: Strategische Ziele und Randbedingungen

3.2.2 Phase 2: Informieren und Feedbackdaten erheben

3.2.3 Phase 3: Auswerten und Rückmelden

3.2.4 Phase 4: Folgemaßnahmen

4 Vorgehen und Probleme

4.1 Leitfaden für die erfolgreiche Auswahl von Feedbackverfahren

4.2 Exkurs: Steigerung von Informationsgehalt und Akzeptanz der Selbst- und Fremdurteile durch einen erweiterten methodischen Zugang

4.3 Fragen und Probleme im Feedbackprozess

4.3.1 Probleme bei der Implementierung

4.3.2 Schwierige Feedbackkonstellationen und -empfänger

5 Fallbeispiele

5.1 Abteilungsleiter Marketing eines Konsumgüter-Unternehmens

5.2 Regionaler Vertriebsleiter eines Versicherungsunternehmens

5.3 Stabsabteilungsleiterin eines Industriekonzerns

6 Ausblick: Zukünftige Trends im 360°-Feedback

7 Literaturempfehlungen

8 Literatur

Karten

Ziel- und Kontraindikationen des 360°-Feedbacks

Leitfragen für das Feedbackgespräch

Leitfaden für die erfolgreiche Auswahl von Feedbackverfahren

Herausforderungen für die erfolgreiche Einführung und Gestaltung von 360°-Feedbacks

|1|1 Begriff und Konzept des 360°-Feedbacks

There are three things extremely hard: steel, a diamond, and to know one’s self.

(Benjamin Franklin, 1750)

1.1 Bezeichnung

Der Begriff des „360°-Feedback“ bezeichnet Verfahrensansätze zur Einschätzung vorrangig von Führungskräften (aber auch Professionals u. a.) aus der Perspektive verschiedener Beurteiler-Gruppen (v. a. Vorgesetzte, Kollegen, Mitarbeiter und Selbst). 360°-Feedbacks dienen überwiegend der Entwicklung der im Mittelpunkt stehenden Personen (Fokuspersonen) und sollen dazu beitragen, deren Kompetenzen im Sinne eines aktuellen oder zukünftig gewünschten Anforderungsprofils entfalten zu helfen. Hierzu wird jede Fokusperson auf einer Anzahl von tätigkeitsrelevanten Kompetenzen eingeschätzt (Fremdbeurteilungen), um aus den daraus zu erstellenden Urteilsprofilen einen Abgleich mit ihrer eigenen Sicht (Selbstbeurteilung) vorzunehmen.

Das 360°-Feedback, das erst in den 1980er Jahren allmählich aufkam (Fleenor & Prince, 1997, S. 51), erweitert die im deutschen Sprachraum weit verbreiteten Ansätze der Beurteilung einer Führungskraft durch ihren Vorgesetzten („Top-down-Ansatz“) und die Beurteilung einer Führungskraft durch ihre Mitarbeiter („Bottom-up-Ansatz“) um einen multiperspektivischen Zugang. Als Urteilsgeber treten neben die Vorgesetzten und Mitarbeiter der Fokuspersonen auch deren Kolleginnen und Kollegen sowie bei Bedarf auch andere relevante Dritte (z. B. Kunden). Zusätzlich schätzt sich die Fokusperson auch selbst ein.

1.2 Definition

Das 360°-Feedback lässt sich als systematischer Einschätzungsprozess von relevanten Personen (zumeist Führungskräften) einer Organisation auffassen. Die Beurteilung ist multiperspektivisch angelegt und berücksichtigt zusätzlich zur Selbsteinschätzung der Fokusperson verschiedene Gruppen aus deren Arbeitsumgebung (normalerweise sind dies ihre Vorgesetzten, Kollegen und Mitarbeiter). Die Feedbackpraxis im deutschsprachigen Raum sieht die Freiwilligkeit der Teilnahme als essenziellen Baustein für erfolgreiche Feedbackprozesse an. Das Feedback bezieht sich auf tätigkeitsbezogene Kompetenzen, Fähigkeiten oder auch Verhaltensstile von |2|Fokuspersonen. Als Methode wird in der Regel die Form der überwiegend standardisierten Befragung gewählt, wobei die ursprünglichen schriftlichen Formen inzwischen zunehmend durch internet- bzw. intranetgestützte Applikationen abgelöst worden sind. In der Phase der Befragung erfolgt die Einschätzung in meist anonymer Form, in der Phase der Rückmeldung kann die Anonymität aufgehoben werden, z. B. wenn in Workshops die Ergebnisse zwischen der Fokusperson und ihren Feedbackgebern aufgearbeitet werden. Im Sinne eines Best-Practice-Ansatzes ist das Feedback in ein Management- oder Führungskräfte-Entwicklungsprogramm eingebettet.

Als Quellen der Beurteilung (Rückmeldung) kommen Personengruppen (Feedbackgeber) infrage, die mit der Fokusperson (Feedbacknehmer) in kontinuierlichem Kontakt stehen und diese vergleichsweise zuverlässig beurteilen können:

die Vorgesetzten des Feedbacknehmers (vertikales Feedback von oben),

seine Kollegen (horizontales Feedback von der Seite),

seine Mitarbeiter (vertikales Feedback von unten),

Kooperations- oder Projektpartner im eigenen Unternehmen (dispers),

Kunden und/oder Zulieferer und schließlich

die oder der Beurteilte selbst.

In der Praxis aber werden in der Regel nicht alle oben genannten Beurteiler-Gruppen einbezogen. Der hierzulande am stärksten verbreitete Feedbackansatz stützt sich idealtypisch auf die Urteile der Vorgesetzten, Kollegen und Mitarbeiter sowie auf die Selbsteinschätzung der oder des Beurteilten (siehe Abbildung 1). Jeder dieser vier Gruppen wird in der Terminologie der Winkelgeometrie ein Kreisanteil von jeweils 90° zugewiesen, sodass sich die 360°-Perspektive ergibt. Feedbackvarianten, die weniger als vier Urteiler-Gruppen einbeziehen, müssten demnach streng genommen entsprechend anders bezeichnet werden (z. B. als „270°-Feedback“, wenn lediglich Vorgesetzte, Mitarbeiter und das Selbsturteil berücksichtigt werden). Der Prägnanz und der kommunikativen Wirkung wegen, die mit der Kreismetapher „360°“ verbunden sind, verzichten Anwender jedoch gemeinhin auf eine perspektivenstimmige Begriffsabwandlung.

Da das 360°-Feedback bzw. entsprechende Feedbacksysteme die Rückmeldung aus mehreren unterschiedlichen Personenquellen vorsehen, eröffnen sie einen multiperspektivischen und multipersonalen Zugang zur Wirkung der in Rede stehenden Fokusperson auf andere. Mit diesem Rundum-Charakter der Einschätzung soll möglichen Verzerrungen einer einseitigen, womöglich interessengebundenen Sichtweise nur einer Gruppe von Beurteilern entgegengetreten werden – denn gute Noten nur von einer Seite sagen längst nicht immer die ganze Wahrheit. Eine vollständigere Wahrheit ist fraglos die (eben |3|multiperspektivische) „Wahrheit im Plural“ (Sarges, 2007) oder um es existenzphilosophisch auszudrücken: „Wahrheit gibt es nur zu zweien“ (Arendt, 2013).

Im Übrigen dürfte nicht zuletzt der Feminismus die zentrale Bedeutung des persönlichen Standpunkts verankert haben. Unterschiedliche Menschen in unterschiedlicher Position oder Rolle sehen die Welt unter Umständen verschieden. Daher sollte eine Pluralität der Perspektiven die häufig noch konkurrierende Forderung nach einer singulären „Objektivität“ endlich ersetzen (Solomon & Higgins, 2000, S. 231). Anders ausgedrückt: „The … judgment of knowledgeable others provides the best available point of reference … for assessing someone’s personality“ (Hofstee, 1994, S. 149).

Abbildung 1: Urteiler-Gruppen im 360°-Feedback

Neben dem multiperspektivischen Zugang ist der Aspekt des Feedbacks das zweite zentrale Bestimmungsstück. Feedback ist nämlich ein Schlüssel für die fortlaufende Verbesserung der Effektivität einer Führungskraft, dennoch ist es nach wie vor noch eher ein seltenes Ereignis im täglichen Leben innerhalb von Organisationen (Leslie, 2013, S. 1). Führungskräfte erhalten zwar Rückmeldungen aus ihrer täglichen Arbeitsumgebung, diese beziehen sich jedoch überwiegend auf das Erreichen von Zielen oder auf die ihnen zugeschriebenen Leistungen, weniger jedoch auf die Wirkung ihres Verhaltens. Bisweilen erhalten sie ein Feedback auch „über Umwege“ von Personen, mit denen sie gar nicht in einem direkten Tätigkeitskontext stehen, etwa in der Art „ich habe von Herrn X gehört, dass er große Stücke auf Sie hält“. Oft wissen sie also gar nicht, wie sie von anderen gesehen werden. Top-Manager |4|müssen zudem damit rechnen, dass sie, wenn sie im direkten Gespräch um Rückmeldung bezüglich ihres eigenen Führungsstils bitten, z. T. recht geschönte (diplomatische) Antworten erhalten. Unstrittig ist demgegenüber der Wert von validem Feedback: In der Regel ist es eine wirksame Quelle für Lernen und Verbesserung (siehe Kluger & DeNisi, 1996) auch und gerade im Bereich von Verhaltensoptimierungen („Feedback is the breakfast for champions“; Blanchard, 2009). Feedback stimuliert die Selbstentwicklung (nicht nur) von Führungskräften, indem es auf mögliche blinde Flecken in der Selbstwahrnehmung weist und somit Reflexionsprozesse in Gang setzen kann.

Bei der Analyse von Eindrucksvergleichen von Selbst- und Fremdbildern können sich diagnostisch höchst aufschlussreiche Konstellationen ergeben. Schon die beiden möglichen Befundmuster, dass das Selbsturteil und zugehörige Fremdurteile bei fast allen Beurteiler-Gruppen (etwa bei Vorgesetzten, Kollegen, Mitarbeitern, Kunden) übereinstimmen, oder umgekehrt: voneinander abweichen, besitzen hohe Erklärungskraft bei wichtigen Erfolgskriterien. Aber auch filigranere Konkordanzen und Diskordanzen bei den Selbst- und diversen Fremdurteilen können eignungsdiagnostisch (für Selektion oder Platzierung) und interventionsbezogen (für Entwicklungsmaßnahmen, z. B. Coachings) sehr aufschlussreich sein (Sarges, 2007).

1.3 Abgrenzung zu ähnlichen Begriffen/Konzepten

Das 360°-Feedback gehört zum Inventar der psychologisch fundierten Personalentwicklungs- und -beurteilungsinstrumente. Auf der Ebene der Verfahrensbezeichnung zeigen vor allem das „Multisource Feedback“ (MSF; London & Smither, 1995) oder das „Multi-Rater Feedback“ (MRF; Bracken, Dalton, Jako, McCauley & Pollman, 1997) erhebliche Überschneidungen mit dem 360°-Feedback.

Das MSF ist als der allgemeinere, übergreifende (Begriffs-)Ansatz aufzufassen, mit dem darauf hingewiesen wird, dass das Verhalten einer Fokusperson aus mehr als einer Quelle („source“) beurteilt wird. Insofern stellt das 360°-Feedback eine spezifische Variante des MSF dar, bei der die Urteile strenggenommen aus vier Quellen stammen (wobei in uneinheitlicher Praxis die Urteile der Fokusperson selbst bei manchen Anwendern mit einem 90°-Anteil in die Winkelgeometrie eingehen, bei anderen wiederum nicht). Ähnlich verhält es sich mit dem Vergleich zum MRF. Hier enthält die Namensbezeichnung den Hinweis, dass die Beurteilung von mehreren Beurteilern („ratern“) vorgenommen wird. „MSF“ und „MRF“ finden als Verfahrensbezeichnungen im deutschen Sprachraum kaum Verwendung. Als weitere, vor allem im Angloamerikanischen gebräuchliche, Verfahrensbezeichnungen finden sich die Begriffe „Multi-Rater Assessment“ und „Full Circle Appraisal“. In |5|der Literatur, dem Personalmanagement der Unternehmen sowie der Beratungspraxis hat sich indes der Begriff des 360°-Feedbacks durchgesetzt (vgl. z. B. das Sammelwerk von Leslie, 2013).

Die genannten Ansätze des 360°-Feedbacks, des MSF und des MRF legen den Fokus auf verhaltens- und leistungsbezogene Rückmeldungen als entwicklungsstimulierenden Anreiz. Sie fühlen sich vor allem dem Gedanken der Führungskräfteentwicklung verpflichtet, auch wenn mancherorts eine Verzahnung dieser mit der Funktion der Leistungsbeurteilung im Rahmen sogenannter „Performance Measurement- und Management-Systeme“ zu beobachten ist (exemplarisch: Lüdi & Wenger, 2005).

Der Begriff des 360°-Feedbacks steht eher für eine offene Verfahrensphilosophie, als dass er ein in sich streng abgeschlossenes „monolithisches“ Beurteilungskonzept bezeichnet. Im Übrigen: Die im 360°-Feedback herangezogenen Urteilsquellen und -arten – d. h. Selbst-, Vorgesetzten-, Kollegen- und Mitarbeiterurteile – sind durchaus alte Vertraute (Sarges, 1990, S. 529 ff.). Neueren Datums ist lediglich die Bezeichnung 360°-Feedback. Erst als dieser bildhafte Begriff die verschiedenen Urteilsperspektiven griffig zusammenfasste und Feedbackinformationen als Ziel nannte, begann die beachtliche Verbreitung des Verfahrens – fraglos auch getragen von einem dafür günstigen Zeitgeist. Gleichwohl lässt sich das 360°-Feedback vor allem hinsichtlich seiner Funktion als auch seiner Zielrichtung von verschiedenen verwandten Verfahrensansätzen unterscheiden.

Die in der Praxis wichtigsten, alternativen Verfahrensgruppen zum 360°-Feedback sind in Tabelle 1 aufgeführt. In der Nähe des 360°-Feedbacks ist die Vorgesetzten- bzw. Aufwärtsbeurteilung angesiedelt, die quasi als deren historischer Vorläufer anzusehen ist (Reinecke, 1983). Die Funktion der Vorgesetzten- bzw. Aufwärtsbeurteilung besteht vor allem darin, die Führungsleistung von Vorgesetzten zu verbessern, indem man einen unternehmensweiten Dialog über Fragen der Führung in Gang setzt (Domsch, 1999; Fecher, 1995; Freimuth & Kiefer, 1995). Die Zielsetzungen einer Vorgesetztenbeurteilung können überdies sehr vielfältig sein, von der Kontrolle der Entwicklung angemahnter Veränderungen bei Führungskräften, über den Gedanken der Teamentwicklung bis hin zur Verbesserung der Leistung (Domsch & Ladwig, 1995, S. 24). Die Funktion der Entwicklung von führungsbezogenem Verhalten teilt die Vorgesetztenbeurteilung mit dem 360°-Feedback. Der zusätzliche Nutzen von 360°-Feedbacks oder entsprechenden Systemen gegenüber einer bloßen Vorgesetzten- bzw. Aufwärtsbeurteilung besteht darin, Führungskräften die Möglichkeit zu geben, Rückmeldung aus unterschiedlichen Quellen und Perspektiven zu erhalten. Gerade die Zusammenschau der unterschiedlichen Wahrnehmungen von Mitarbeitern, Kollegen, Vorgesetzten und evtl. auch Kunden ist es, die ein umfassenderes Bild über die eigenen Stärken, aber auch über mögliche Schwächen (euphemisch: Entwicklungsbedarfe) erzeugt.

|6|Tabelle 1: 360°-Feedback und Verfahrensansätze der Personalbeurteilung

Verfahren

Kurzbeschreibung und Funktion

Merkmale des Beurteilungsprozesses

360°-Feedback

Diagnose und tendenziell dialogorientierte Rückmeldung von Urteilen oder Einschätzungen bezüglich der Führungskompetenzen und des Führungsverhaltens aus der Umgebung der Zielperson

Funktion: überwiegend Potenzialentwicklung durch Rückkopplung von Selbst- und Fremdwahrnehmung; auch zur Potenzialanalyse und Leistungsbeurteilung, seltener zur Entgeltfindung

Urteile: schriftlich auf der Basis von Fragebögen

Teilnahme der Zielpersonen: überwiegend freiwillig

Beurteilungsrichtung: horizontal und vertikal

Beurteilungsbeiträge: bleiben weitgehend anonym

Vorgesetzten- bzw. Aufwärtsbeurteilung; Vorgesetztenfeedback

Erfassung und Auswertung von Einschätzungen der Mitarbeiter bezüglich des Führungsverhaltens

Funktion: primär zur Verbesserung der Führungsleistung und Potenzialentwicklung; auch zur Unterstützung für Personalentscheidungen; Organisationsentwicklung im Sinne der Umsetzung von unternehmensspezifischen Leitbildern von partizipativer Führung und Zusammenarbeit

Urteile: schriftlich auf der Basis von Fragebögen

Teilnahme der Zielpersonen: überwiegend freiwillig

Beurteilungsrichtung: vertikal von unten nach oben

Beurteilungsbeiträge: bleiben weitgehend anonym

Personal- bzw. Leistungsbeurteilung

Erfassung und Auswertung von Beurteilungen durch den Vorgesetzten bezüglich der Zielerreichung und erbrachter Leistungen von Mitarbeitern

Funktion: Unterstützung für Personalentscheidungen (Selektion, Beförderung) sowie zur Entgeltfindung

Urteile: schriftlich auf der Basis von Kriterienlisten und Fragebögen

Teilnahme der Zielpersonen: verbindlich geregelt

Beurteilungsrichtung: vertikal von oben nach unten

Beurteilungsbeiträge: eindeutig einem bestimmten Beurteiler zuordenbar

Management-Audit

systematische Erfassung der Managementleistung und des vermutbaren Potenzials auf der Basis eines Kriterienkatalogs

Funktion: umfassende Bewertung des Managements zur personal- und unternehmensbezogenen Entscheidungshilfe für die Unternehmensführung und Investoren

Urteile: auf der Basis von Gesprächen, Hearings, auch fragebogengestützt

Teilnahme der Zielpersonen: verbindlich

Beurteilungsrichtung: horizontal und vertikal

Beurteilungsbeiträge: bleiben nur z. T. anonym

|7|Die deutlichsten Unterschiede lassen sich zu Verfahren der Personal- bzw. Leistungsbeurteilung sowie zum Management-Audit ausmachen. Bei der Personal- und Leistungsbeurteilung steht weniger das Führungsverhalten im Mittelpunkt als vielmehr der Grad der erreichten Ziele, d. h. das Ergebnis des Führungsverhaltens (Becker & Fallgatter, 1998). Sie liefert wichtige Informationen für Personalentscheidungen und dient u. a. der Gehaltsfindung oder der Entscheidungsfindung im Zusammenhang mit Beförderungen (Murphy & Cleveland, 1995, S. 88 f.; vgl. auch Lohaus, 2009).

Auch das Management-Audit zeigt deutliche Unterschiede zum 360°-Feedback. Es steht in der Tradition der klassischen Leistungs- und Potenzialbeurteilung und soll der Unternehmensleitung relevante Informationen für Entscheidungen zur Besetzung wichtiger Positionen an die Hand geben (Craig-Cooper & de Backer, 1993; Walsh, 1996). Die Auditierung des Managements (d. h. der Führungskräfte) wird zumeist in die Hände externer Berater gelegt. Diese verschaffen sich ein Bild der Leistung und des Potenzials aller Führungskräfte eines Bereichs der Organisation, indem sie Gespräche mit jeder einzelnen Führungskraft führen, Gruppendiskussionen und Hearings initiieren und z. T. Cross-checks der erhaltenen Informationen betreiben (Samland, 2001). Schließlich geben sie Urteile ab, indem sie jede Führungskraft in sogenannte Personal-Portfolios leistungs- und potenzialmäßig einordnen (Erdenberger, 1999). Insgesamt steht folglich beim Management-Audit – im Gegensatz zum 360°-Feedback – eher der Beurteilungs- als der Entwicklungscharakter im Vordergrund (vgl. Sarges & Westermann, 2013; Sarges, 2013c).

Indes: Eine Reihe von aktuellen Unternehmens- und Beratungsbeispielen zeigt, dass die Grenzen nicht so streng gezogen werden und eine zunehmende Flexibilisierung der Beurteilungs- und der Entwicklungskultur für Führungskräfte auszumachen ist. Zum Beispiel werden im Rahmen von breiter angelegten Management-Audits hier und da schon 360°-Feedbacks mit dem Ziel durchgeführt, eine validere und akzeptierbarere Diagnose der Fähigkeiten und Kompetenzen der vorhandenen Führungskräfte zu erstellen.

1.4 Bedeutung für das Personalmanagement

Deutsche Unternehmen wenden erhebliche Mittel zur Qualifizierung und Entwicklung ihrer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter auf. So werden für das Jahr 2013 im Rahmen der betrieblichen Weiterbildung der Unternehmen Ausgaben von 33,5 Mrd. Euro berichtet (Institut der deutschen Wirtschaft – iwd, 2014, S. 1). Davon entfallen rund 13 % auf Maßnahmen der individuellen „Entwicklungsplanung und Förderung für Fach- und Führungskräfte“ (iwd, 2015, S. 8), mithin den Bereich der Weiterbildung, in den auch der Einsatz von Feedbacksystemen einzuordnen ist. Zur Weiterentwicklung der Mitarbeiterinnen |8|und Mitarbeiter in Firmen „gehört ein regelmäßiges und systematisches Feedback, das andere Arbeitnehmer oft nur vom Hörensagen kennen“ (Amann et al., 2016, S. 78).

Hinsichtlich der Verbreitung und Akzeptanz von 360°-Feedback-Systemen im deutschsprachigen Raum gibt es bislang nur vage Angaben bzw. vorsichtige Schätzungen. In einer älteren Befragung aus dem Jahr 1999 bei 32 deutschen Unternehmen (überwiegend mit mehr als 1 000 Beschäftigten) gaben 11 Personalverantwortliche an, dass sie in ihrem Unternehmen bereits ein 360°-Feedback-System eingeführt hatten (Harss & Maier, 1999). Die übrigen Befragten berichteten von konkreten Erfahrungen aus Pilotprojekten oder planten die Einführung solcher Systeme. In der Zwischenzeit hat sich trotz vielfältiger Bedenken der Trend zur Einführung von Feedbacksystemen, die über eine reine Vorgesetztenbeurteilung hinausgehen, verstärkt. Nach Erkenntnissen der Verfasser setzen mittlerweile mehr als die Hälfte der deutschen DAX-Unternehmen ein mehr oder weniger „klassisches“ 360°-Feedback ein. Auch in mittelständischen Unternehmen ist das Verfahren verbreitet, zudem führen es auch öffentliche Organisationen und Dienstleister ein. Es sei dahingestellt, ob man, wie manche Autoren dies tun, die zunehmende Verbreitung von Feedbacksystemen in einen Zusammenhang mit der „Demokratisierung von Unternehmen“ stellen möchte (Freimuth & Asbahr, 2002, S. 79), oder ob man dies nicht eher – zugegeben weniger romantisierend – dem gestiegenen Wettbewerbsdruck zuschreiben möchte.

Auf große Akzeptanz stößt das Verfahren traditionell in US-amerikanischen Unternehmen und mittlerweile auch in angelsächsischen. So berichtet Romano (1994) von einer Schätzung der Beratungsfirma „Personnel Decisions International“ (PDI), der zufolge amerikanische Unternehmen bereits im Jahr 1992 152 Millionen Dollar für die Beratung von MSF (siehe Abschnitt 1.3) ausgegeben haben. Genaueren Aufschluss über Verbreitung und Funktion von 360°-Feedbacks geben drei Studien, zwei davon stammen aus den 1990er Jahren und dürften daher eher von historischem Wert sein (Geake, Oliver & Farrell, 1998; London & Smither, 1995), eine aus dem Jahr 2013 (3D Group, 2013). Nach der Studie von Geake et al., die sich auf die Situation in insgesamt 216 britischen Unternehmen bezieht, setzten seinerzeit 47 % der befragten Unternehmen ein 360°-Feedback ein, wobei die Einführung ganz überwiegend in der Funktion der Personalentwicklung stand. Die Studie von London und Smither stützt sich auf Auskünfte der 20 größten US-amerikanischen Beratungsfirmen und Anbieter von 360°-Systemen. Demnach hatten 10 der befragten Beratungsfirmen ihr Feedbackverfahren an über 100 Unternehmen/Organisationen verkauft. Zudem setzten 50 % ihrer Kunden das System ausschließlich zur Personalentwicklung ein, die anderen 50 % teils zu Entwicklungs-, teils zu administrativen Zwecken. Die aktuelle Studie der 3D Group (2013) stützt sich auf die Situation in nordamerikanischen |9|Unternehmen, befragt wurden deren HR-Verantwortliche. Das Spektrum der Unternehmensgröße reicht von klein (1 bis 100 Beschäftigte) bis sehr groß (über 100 000 Beschäftigte). Die wichtigsten Ergebnisse sind in Tabelle 2 dargestellt und lassen sich wie folgt zusammenfassen:

Tabelle 2: Verbreitung und Funktion des 360°-Feedbacks in nordamerikanischen Unternehmen

Kriterium

Attribute

Funktion des Einsatzes von Feedbacksystemen

zur Personalentwicklung und für Personalentscheidungen: 29 %

ausschließlich für Personalentscheidungen: 2 %

Fokusperson als selbstbestimmter Besitzer des Feedbacks: 37 %

zur Entwicklungsplanung: 32 %