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Tausende Welten werden vom Bund von Dhuul-Kyphora unterdrückt, der mit Abstand größten Macht in der Galaxis. Doch noch mehr Welten wurden zu sogenannten Verlorenen Welten oder sogar zu Vergessenen Welten, weil sie für die Kyphorer so unwichtig waren, dass es sich noch nicht einmal gelohnt hatte, sie zu vernichten. Sie selbst allerdings nennen sich Freie Welten. Eine Freiheit, die einen hohen Preis hat – höher noch als das Joch der Kyphorer: Der Tod! Dieser Band enthält folgende SF-Abenteuer: Auserwählt in der Galaxis (Mara Laue) Tödlich (Wilfried A. Hary) Desaster von Algetin (Wilfried A. Hary) Auserwählt in der Galaxis (Mara Laue) Der Krieg gegen die Qalaak: Science Fiction (Alfred Bekker)
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Seitenzahl: 615
Veröffentlichungsjahr: 2025
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4 Science Fiction Abenteuer Sonderband 1055
Copyright
Auserwählt in der Galaxis
Tödlich
Desaster von Algetin
Der Krieg gegen die Qalaak: Science Fiction
Titelseite
Cover
Inhaltsverzeichnis
Buchanfang
Tausende Welten werden vom Bund von Dhuul-Kyphora unterdrückt, der mit Abstand größten Macht in der Galaxis. Doch noch mehr Welten wurden zu sogenannten Verlorenen Welten oder sogar zu Vergessenen Welten, weil sie für die Kyphorer so unwichtig waren, dass es sich noch nicht einmal gelohnt hatte, sie zu vernichten.
Sie selbst allerdings nennen sich Freie Welten. Eine Freiheit, die einen hohen Preis hat – höher noch als das Joch der Kyphorer: Der Tod!
Dieser Band enthält folgende SF-Abenteuer:
Tödlich (Wilfried A. Hary)
Desaster von Algetin (Wilfried A. Hary)
Auserwählt in der Galaxis (Mara Laue)
Der Krieg gegen die Qalaak: Science Fiction (Alfred Bekker)
Ein CassiopeiaPress Buch: CASSIOPEIAPRESS, UKSAK E-Books, Alfred Bekker, Alfred Bekker präsentiert, Casssiopeia-XXX-press, Alfredbooks, Uksak Sonder-Edition, Cassiopeiapress Extra Edition, Cassiopeiapress/AlfredBooks und BEKKERpublishing sind Imprints von
Alfred Bekker
© Roman by Author /
© dieser Ausgabe 2023 by AlfredBekker/CassiopeiaPress, Lengerich/Westfalen
Die ausgedachten Personen haben nichts mit tatsächlich lebenden Personen zu tun. Namensgleichheiten sind zufällig und nicht beabsichtigt.
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Im Verlauf des 23.Jahrhunderts wird die Menschheit durch Angriffe aggressiver Alien-Zivilisationen bedroht. Die Raumschiffe des Space Army Corps stellen sich diesen Bedrohungen entgegen und erforschen die Weite des Alls.
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Die FLAMMENZUNGE, das Forschungsschiff der sauroiden Fulirr, fiel in den Normalraum zurück. »Erstes Etappenziel erreicht«, meldete Krenokk vom Navigationspult.
»Wir befinden uns zwei Lichtminuten von einem Dreier-Sonnensystem entfernt«, ergänzte Ortungsoffizierin Muraka und legte die Messungen der Scanner unaufgefordert auf den Schirm. »Kommandant Shurukai, das müssen Sie sich ansehen!«
Shurukai war ein sehr erfahrener Schiffskommandant, der schon viel erlebt und gesehen hatte. Trotzdem ruckte sein Kopf jetzt hektischer hin und her, als es für einen Fulirr normal war, und seine Riechzunge schnellte im selben Takt vor und zurück, als er das Muster auf dem Bildschirm betrachtete.
Tishaga, seine Erste Offizierin, beugte sich interessiert vor und studierte die Anzeigen. »Unglaublich!«, entfuhr es ihr. »Wir sind ja schon einer Menge Phänomene begegnet, aber das hier dürfte wohl einmalig sein …«
***
Shurukai war geneigt, ihr zuzustimmen. Die FLAMMENZUNGE war vor einer Woche zusammen mit je einem Schiff der Menschen, K'aradan, Qriid, Shani und Ontiden zu einer Expedition aufgebrochen, die in ein Gebiet vorstoßen sollte, das 120 Lichtjahre entfernt lag. Da die Schiffe unterschiedlich schnell flogen, hatte man sich darauf geeinigt, dass man die Reise in Etappen hinter sich brachte. Jeder flog in seinem eigenen Tempo und alle zehn Lichtjahre kehrten die Schiffe in den Normalraum zurück, um sich dort wieder zu versammeln und danach zum eigentlichen Ziel weiterzufliegen.
Da die FLAMMENZUNGE das schnellste Schiff war, hatte sie den ersten Rendezvous-Punkt als Erste erreicht und befand sich nun in unmittelbarer Nähe eines Sonnensystems, das mit großer Wahrscheinlichkeit tatsächlich einmalig war. 33 Planeten umkreisten ein Dreiergestirn, dessen Sonnen sich in perfekter Harmonie und in einem exakt ausbalancierten Abstand umeinanderbewegten. Doch das war noch längst nicht alles.
»Ich habe die Umlaufbahnen der Planeten berechnet«, sagte Tishaga und legte die Berechnung als schematische Darstellung auf den Hauptbildschirm. »Wie Sie alle sehen können, haben alle Planeten – bis auf die drei äußersten – eine perfekt kreisförmige Umlaufbahn. Die große Mehrheit der uns bekannten Planeten kreist auf Ellipsen um ihre jeweilige Sonne. Perfekte Kreisbahnen sind mit einem Verhältnis von 1 zu 9.823.233.491 extrem selten.«
Bevor sie Erste Offizierin auf der FLAMMENZUNGE geworden war, hatte Tishaga als Analytikerin in einer Spezialabteilung eines Informationszentrums mit direkter Verbindung zum Nachrichtendienst gearbeitet. Derartige Analysen wie die, die sie jetzt vorstellte, waren ihr zur zweiten Natur geworden. Was nicht verwunderte, wenn man bedachte, dass sie zu den wenigen Fulirr gehörte, die ein sogenanntes Zashkurak-Gehirn besaßen, was für menschliche Standards dem Äquivalent zu einem besonders hohen Intelligenzquotienten mit einhergehender Hochbegabung entsprach. Ihr Gedächtnis war außerdem phänomenal.
»Ferner fällt auf«, fuhr sie jetzt fort, »dass die drei äußersten Planeten auf genau derselben Umlaufbahn liegen, die Eckpunkte eines perfekten gleichschenkligen Dreiecks bilden und zudem auch noch exakt dieselbe Umlaufgeschwindigkeit haben. Aber das ist noch lange nicht alles. Die restlichen 30 Planeten sind so angeordnet, dass jeweils drei von ihnen immer eine gerade Linie bilden und in ständiger Konjunktion zueinander stehen. Und als letzten Höhepunkt kreisen jeweils fünf dieser zehn Dreiergruppen nicht nur in demselben Abstand zueinander um die Sonne, sondern auch in zwei Gürteln vertikal und horizontal um die Sonnen im Zentrum. Die Abweichungen von einer absoluten Perfektion liegt bei 0,00017%, ist also nahezu nicht existent.«
Sie verband die Umlaufbahnen der Planeten mit schematischen Linien. Nun war für jeden deutlich sichtbar, wie jeweils fünf Planeten sich ein und dieselbe Umlaufbahn teilten, auf der sie sich in derselben Geschwindigkeit um das Zentrum bewegten. Wie Tishaga gesagt hatte, kreisten fünf Dreiergruppen horizontal und fünf vertikal um die Sonnen. Die Schnittpunkte ihrer Umlaufbahnen bildeten perfekte rechte Winkel.
Doch auch Muraka hatte noch eine Überraschung für sie. »Die Ortungsergebnisse belegen, dass die Rotationsgeschwindigkeit der inneren 30 Planeten identisch ist, so dass Tag und Nacht überall dieselbe Länge haben.« Sie warf Tishaga und Shurukai einen kurzen Blick zu. »Ich denke, wir können davon ausgehen, dass eine solche Perfektion nicht natürlichen Ursprungs ist.«
»In der Tat«, stimmte Shurukai ihr zu. »Und wir dürfen gespannt sein, was uns hier wohl noch alles erwartet …«
*
Captain Rena Sunfrost, Kommandantin des Sonder-Einsatz-Kreuzers STERNENKRIEGER, stand im Trainingsraum des Schiffes ihrem Gegner mit einem schlagbereiten Shinai gegenüber, dem aus Bambusfasern gebundenen Übungsschwert beim Kendo-Training. Professor Yngvar MacKenzie war nicht größer als Rena, trotzdem wirkte er kompakter durch seine sportliche, durchtrainierte Figur, die sogar durch den traditionellen bogu und die hakama – Rüstung und Hosenrock – erkennbar war, die er wie Rena trug.
MacKenzie war Kryptologe und hatte die Schrift im Tempel der Hohlwelt mit Renas Hilfe weit genug entziffert, dass der Transmitter, den man dort gefunden hatte, in Betrieb genommen werden konnte. Da Rena während ihres unfreiwilligen Aufenthalts als Gefangene bei den Morrhm die Gelegenheit gehabt hatte, etwas von der Schrift der Weltraumbarbaren zu lernen, die mit der jener geheimnisvollen Rassen identisch war, die man die »Alten Götter« nannte, hatte sie eng mit MacKenzie zusammengearbeitet. Dabei hatte sich ein gegenseitiger Respekt entwickelt, was noch dadurch unterstützt wurde, dass sie beide einige Dinge gemeinsam hatten.
Kendo war ihr gemeinsames Hobby, und MacKenzie bevorzugte als Getränk den allgemein längst aus der Mode gekommenen Kaffee ebenso wie Rena. Darüber hinaus besaß Yngvar MacKenzie eine unverwüstliche Frohnatur, weshalb Rena seine Gesellschaft genoss, auch wenn sie sich große Mühe gab, das nicht offen zu zeigen. Was nicht leicht war, denn MacKenzie seinerseits machte sich keine Mühe zu verhehlen, dass er gern mit Rena zusammen war und flirtete des Öfteren ungeniert mit ihr.
In jedem Fall war er ein willkommenes Gegengewicht zu den beiden anderen Wissenschaftlern, die die STERNENKRIEGER an Bord hatte. Professor Yasuhiro von Schlichten und Professor Dr. Jack Metz hatten in der Vergangenheit bereits einen beinahe unauslöschlichen und sehr negativen Eindruck hinterlassen. Ersterer war ungeheuer von sich selbst überzeugt und Letzterer besaß ein Ego von gigantischen Ausmaßen. Beide hatten sich bei ihrem jeweils ersten Aufenthalt auf der STERNENKRIEGER in Renas Schiffsführung einzumischen versucht und keine Zweifel daran gelassen, dass sie so ziemlich alles besser wussten, wenn auch nur ihrer eigenen Meinung nach … Zwar hatten sie sich später diesbezüglich etwas zurückgenommen, aber das konnte Renas ersten negativen Eindruck von beiden nicht vollständig revidieren.
MacKenzie war ein ganz anderes Kaliber. Und er ließ keinen Zweifel darüber, dass er Rena mehr als nur sympathisch fand. Allerdings tat er das auf sehr respektvolle Weise und gab sich große Mühe, sie damit nicht vor ihrer Crew in Verlegenheit zu bringen. Doch jetzt waren sie unter sich.
»Ich hätte nie zu hoffen gewagt, dass es hier an Bord Kendo-Ausrüstung gibt«, sagte er jetzt und ließ seinen Shinai probeweise durch die Luft sausen. »Und ich finde es geradezu erfrischend, dass ich in Ihnen eine kompetente Trainingspartnerin habe, Captain.«
»Das wird sich erst noch zeigen«, wehrte Rena ab. »Mein letzter Trainingspartner hat mich in Grund und Boden gestampft. Bildlich gesprochen.«
MacKenzie grinste. »Das war sicherlich einer Ihrer Marines. Deswegen müssen Sie sich nicht schlecht fühlen. Die sind schon von Berufs wegen immer im Training. Für uns dagegen ist es nur ein Hobby.«
Rena schnitt eine Grimasse. »Ich wage kaum es zuzugeben, aber mein Gegner war kein Soldat, sondern ein relativ kleiner, übergewichtiger Diplomat.«
»Ich würde sagen, der Mann hatte offensichtlich ein paar ›schlagende Argumente‹ parat«, meinte MacKenzie schmunzelnd.
Rena grinste. »Das kann man wohl sagen.« Ja, Botschafter Aorangi Maunga war ein harter Gegner, mit Worten ebenso wie mit dem Shinai.
»Und wenn er ein hanshi war, ein Großmeister von außergewöhnlichen Fähigkeiten, so ist es erst recht keine Schande, dass Sie gegen ihn verloren haben.«
»Gut möglich«, gab Rena zu. »Aber ich verliere nicht gern. Auch in diesem Punkt habe ich meiner Mannschaft ein Vorbild zu sein, denn irgendwie schafft es das Ergebnis jedes meiner Trainingskämpfe immer, auf mir bisher unerklärliche Weise bis in die Offiziersmesse zu gelangen. Und wer weiß wohin sonst noch.«
MacKenzie grinste. »Nun, man kann nicht immer gewinnen. Meiner Meinung nach ist es mindestens ebenso wichtig, mit einer Niederlage gut fertig zu werden, wie zu siegen. Und gegen einen hanshi zu verlieren, ist erst recht keine Schande«, fügte er nachdrücklich hinzu.
Er verbeugte sich vor Rena, die diese vorgeschriebene Höflichkeit erwiderte, und beide ließen sich in der Sonkyo-Position nieder. Gemessen zogen sie die Shinai aus unsichtbaren Scheiden und kreuzten sie in Bereitschaftsstellung. Gleichzeitig erhoben sie sich wieder mit immer noch gekreuzten Shinai und nahmen die Chudan no kamae ein, die Grundstellung. Der Kampf begann.
Rena stellte sofort zwei Dinge fest. Zum einen hatte sie von den traditionellen Stellungen und Positionen sowie der Handhabung des Shinai während ihres Aufenthalts bei den Morrhm nichts verlernt. Doch etwas anderes hatte sich gravierend verändert. Sie war nicht mehr in der Lage, den Trainingskampf mit derselben Leichtigkeit zu betrachten und zu bestreiten wie vor ihrer Entführung. MacKenzie war ein Gegner, den es zu besiegen galt, und Rena ertappte sich dabei, dass sie dieses Ziel mit einer Verbissenheit verfolgte, die sie früher nie gefühlt hatte.
Zwar hatten die Psychologen, die sie nach ihrer Befreiung betreuten, sie davor gewarnt, dass ihr Leben in der Sklavengesellschaft und als Kämpferin in der Arena an Bord der Morrhm-Schiffe Spuren hinterlassen hatte, die erst im Laufe der Zeit zutage treten und teilweise erst Jahre später verarbeitet sein würden. Trotzdem war Rena von dieser Veränderung mehr als beunruhigt. Die Frau, die hier in ihrem Körper kämpfte, war nicht mehr die alte Rena Sunfrost. Und sie war sich keineswegs sicher, dass diese neuen Verhaltensweisen und Einstellungen im Laufe der Zeit wieder verschwinden würden, wie man ihr versichert hatte, um sie wohl zu trösten. Einige Dinge würden vielleicht bleiben.
Rena konzentrierte sich auf den Kampf und hatte zunehmend Mühe, in Yngvar MacKenzie nur einen Trainingspartner zu sehen und keinen Feind, der sie töten wollte und den sie töten musste, um zu überleben. Natürlich war es nicht möglich, jemanden mit einem Shinai aus Bambusfasern umzubringen, doch MacKenzie würde nach dem Kampf garantiert etliche Prellungen haben, obwohl er nicht schlecht kämpfte.
Als es ihm gelang, bei Rena einen schmerzhaften Treffer anzubringen, löste das einen Reflex in ihr aus, den sie früher nicht gehabt hatte. Sie schlug mit aller Kraft zurück und hatte nur noch das Bestreben, ihren Gegner zu besiegen. Sie deckte MacKenzie mit einer Folge ungezügelter Schläge ein und kam erst wieder zu sich, als er mehrere Schritte zurücksprang, das Schwert senkrecht vor sich hob und mit einem scharfen »Yame!« den Kampf beendete.
Der antrainierte Reflex, auf dieses Stopp-Zeichen hin sofort alle Kampfhandlungen einzustellen, ließ sie mitten in der Bewegung innehalten.
Was war das denn eben?, durchfuhr es sie erschrocken, während sie gleichzeitig mit MacKenzie in die Sonkyo-kamae-Endstellung ging und das Shinai in die imaginäre Scheide zurücksteckte. Was habe ich getan?
Nach der letzten vorgeschriebenen Verbeugung zog MacKenzie sich die Schutzmaske vom Gesicht. Rena erwartete, ihn verärgert zu sehen, doch der Kryptologe grinste breit. »Das war der beste Kampf, den ich seit Langem hatte«, stellte er fest. »Captain Sunfrost, Sie sind verdammt gut!«
»Es tut mir leid, wenn ich … eh, ein bisschen grob war«, brachte Rena heraus und ärgerte sich darüber, dass sie stotterte.
MacKenzie wischte den Einwand mit einer Handbewegung beiseite. »Wo ist das Problem, Captain? Sie haben gekämpft, um zu gewinnen, und Sie haben gewonnen. Herzlichen Glückwunsch!« Er zog die Schutzhandschuhe aus und reichte ihr die Hand.
Rena ergriff sie zögernd und schüttelte sie. »Danke. Ich muss aber gestehen, dass ich etwas aus der Übung bin. Ich habe Kendo lange nicht mehr in seiner traditionellen Form trainieren können.«
MacKenzie lachte heiter. »Also, wenn Sie die Darbietung eben außer Übung nennen, dann möchte ich nicht gegen Sie antreten, wenn Sie voll im Training sind.«
»So meinte ich das nicht«, verteidigte Rena sich. Wieso verteidige ich mich eigentlich? Ich bin ihm doch keine Rechenschaft schuldig. Trotzdem hatte sie das Bedürfnis, ihm ihr Verhalten zu erklären. »Ich habe in letzter Zeit zwar eine Menge Kampftraining gehabt, aber dabei ging es nur darum, den Gegner zu töten und selbst am Leben zu bleiben, egal wie. Mit vorgeschriebenen Ritualen und festgelegten Formen hatte das nichts zu tun.«
MacKenzie wurde abrupt ernst. Er hatte Renas Bericht ans Space Army Corps Hauptquartier über ihre Zeit bei den Morrhm gelesen. Als Angestellter des privaten Konzerns Far Galaxy profitierte er auch von dessen Beziehungen zu hochrangigen Militärs. Einer von ihnen hatte dem Konzern eine Kopie von Renas Bericht zukommen lassen, der wiederum an MacKenzie weitergereicht worden war.
Natürlich behandelte Yngvar MacKenzie die darin enthaltenen Informationen streng vertraulich und kam nicht einmal im Traum auf den Gedanken, sie zu seinem persönlichen Vorteil zu nutzen. Doch was er daraus erfahren hatte, gab ihm jetzt die Hintergrundinformationen, die er brauchte, um Captain Sunfrosts Situation zu verstehen. Die Morrhm hatten sie wie einen Gladiator in der Arena gegen K'aradan und andere Wesen um ihr Leben kämpfen lassen. Und sie hatte überlebt. MacKenzie hielt sie nicht nur deshalb für eine starke Frau.
»Ich verstehe schon, Captain«, sagte er gelassen. »In gewissen Dingen müssen Sie sich erst wieder an die Zivilisation gewöhnen. Ich vermag nur unvollkommen nachzuvollziehen, wie Sie sich fühlen müssen, nach allem, was Sie erlebt und vor allem überlebt haben.« Er errötete verlegen. »Entschuldigen Sie bitte. Das war eine unangemessen persönliche Bemerkung, zu der ich kein recht hatte.«
»Schon gut«, wehrte Rena ab.
Einerseits hatte er vollkommen recht. Was sie bei den Morrhm erlebt hatte, ging ihn nun wirklich nichts an. Andererseits tat ihr sein Verständnis wohl. Ihr fehlte eine vertraute Person, mit der sie über die Dinge, die hinter ihr lagen, reden konnte.
Das Problem war nur, dass es an Bord von Raumschiffen keine hauptberuflichen Psychologen gab. Dr. Simone Nikolaidev, die Schiffsärztin, übernahm zwar diese Funktion am Rande auch, aber sie hatte zu viel zu tun, um Therapiesitzungen anbieten zu können – in dem Maß, wie Rena sie wohl eigentlich gebraucht hätte. Auch Bruder Guillermo, der junge Berater des Olvanorer-Ordens, übernahm ab und zu die Position eines psychologischen Ratgebers und hatte die Crew unmittelbar nach dem Angriff der Morrhm wirklich kompetent betreut. Doch Rena war der Captain der STERNENKRIEGER und hatte auch zu ihm eine gewisse Distanz zu wahren. Nicht nur deshalb scheute sie sich, ihn als Therapeuten zu beanspruchen. Außerdem war das nicht seine primäre Aufgabe.
Rena hätte wirklich eine Menge dafür gegeben, dieses Problem lösen zu können. Doch wie es aussah, musste – und würde – sie damit allein zurechtkommen.
Der Lautsprecher im Trainingsraum knackte, und im nächsten Moment ertönte die Stimme des Ersten Offiziers, Steven Van Doren. »Captain, wir haben das erste Etappenziel erreicht. Die FLAMMENZUNGE ist bereits eingetroffen. Und Kommandant Shurukai hat etwas Interessantes für uns.«
»Ich bin gleich auf der Brücke, I.O.«, antwortete Rena und war froh, dass sie dadurch der Notwendigkeit enthoben wurde, MacKenzie noch weitere Erklärungen zu geben.
»Lassen Sie sich nicht aufhalten, Captain«, sagte der jetzt. »Ich danke Ihnen für das ausgezeichnete Training und hoffe, wir können das mal wiederholen.«
»Das wird sich einrichten lassen, Professor. Sie entschuldigen mich. Wir sehen uns sicher noch.«
»Ich bestehe darauf!«, bestätigte er mit einem Augenzwinkern und begann, eins seiner unzähligen Lieder zu pfeifen, die er ständig buchstäblich auf den Lippen hatte.
Rena verließ den Trainingsraum, ging in ihre Kabine, duschte kurz und erschien zwanzig Minuten später wie aus dem Ei gepellt auf der Brücke. Auf dem Hauptbildschirm war die schematische Darstellung eines Dreier-Sonnensystems zu sehen, und Rena erkannte auf den ersten Blick, dass es sich dabei um etwas Besonderes handelte.
Die Gruppierungen und Stellungen der Sonnen zueinander war außergewöhnlich. Die neben der Aufnahme eingeblendeten Analysen und Berechnungen zeigten weitere Phänomene auf und trugen außerdem die unverkennbare »Handschrift« der Fulirr Tishaga. Rena betrachtete das Bild eingehend und stellte fest, dass ihr das Phänomen bekannt vorkam.
»Captain, eine Nachricht von der FLAMMENZUNGE«, meldete Lieutenant Susan Jamalkerim vom Kommunikationspult.
»Auf den Schirm.«
»Ich grüße Sie, Captain Sunfrost«, sagte Shurukai und machte eine Geste der Ehrenbezeugung. »Ich nehme an, Sie haben sich unsere Aufnahmen und Analysen angesehen und werden mir darin zustimmen, dass ein solches Phänomen wohl einmalig sein dürfte.«
Rena schmunzelte leicht. »Sie irren sich, Kommandant Shurukai. Die STERNENKRIEGER ist so einem Phänomen schon einmal begegnet.«
Falls der Fulirr darüber erstaunt war, so ließ er es sich nicht anmerken. »Und wo, wenn ich fragen darf?«
»Vor ungefähr zwei Jahren haben wir ein merkwürdiges Peilsignal aus einem System aufgefangen, das wir als Alard-9 bezeichnen. Damals hielten wir es für ein getarntes Signal der Qriid, vermuteten, dass sie dort eine Kampfbasis errichtet hatten und flogen hin um nachzusehen. Wir fanden allerdings keine Qriid-Basis, sondern ein Sonnensystem, das mit diesem hier bis auf zwei Unterschiede identisch ist.«
»Diese Unterschiede sind?«, fragte Tishaga interessiert, schob sich in den Aufnahmebereich der Kamera und grüßte Rena knapp.
»Alard-9 ist ein Fünf-Sonnen-System, und hat nur zwei äußere Wächterplaneten statt drei. Außerdem lebt ein Volk, das sich Rhukani nennt, auf dem siebzehnten Planeten. Wir hatten Kontakt zu ihnen und erfuhren, dass sie von den Alten Göttern Jahrhunderte oder vielleicht sogar Jahrtausende zuvor dort angesiedelt worden waren, die nach ihren Überlieferungen das System und das Volk erschaffen hatten. Letztere zu dem Zweck, den Göttern zu dienen, sobald sie nach Rhuka zurückkehrten. Es würde mich nicht wundern, wenn wir in diesem System ebenfalls einen oder mehrere bewohnte Planeten fänden.«
Die hoffentlich nicht mit Morrhm bevölkert sind, fügte sie in Gedanken hinzu. Denn je mehr sie sich ihrem eigentlichen, noch fernen Ziel näherten, desto wahrscheinlicher wurde es, dass sie auf Morrhm trafen. »Wir rufen die entsprechende Protokolldatei auf und überspielen sie Ihnen«, ergänzte Rena und nickte Susan Jamalkerim zu, die den Befehl sofort ausführte.
»Vielen Dank«, antwortete Shurukai. »Ich schlage vor, wir fliegen etwas näher heran und nehmen Nahbereichscans vor, die uns sagen werden, ob es auch in diesem System bewohnte Planeten gibt.«
»Sollten wir damit nicht warten, bis die anderen Schiffe hier sind?«, fragte Van Doren. »Da wir nicht wissen, was uns erwartet, sollten wir kein unnötiges Risiko eingehen.«
»Dem stimme ich zu«, war Shurukai einverstanden. »In der Zwischenzeit können wir weitere Messungen vornehmen und auf diese Weise vielleicht noch andere nützliche Informationen sammeln. Ich halte es allerdings für vertretbar, noch ein kleines Stück näher an die Umlaufbahn der äußeren drei Planeten zu fliegen. Sie nannten sie vorhin ›Wachterplaneten‹, Captain Sunfrost. Möglicherweise existieren auf einem oder allen dreien tatsächlich Überwachungsvorrichtungen. In dem Fall wäre es gut, wenn sich nur eins unserer Schiffe in deren Scannerbereich begibt, sodass, wer immer die Daten bekommt, nicht sieht, dass wir nicht allein sind. Vorausgesetzt, deren Scanner reichen nicht weiter als unsere. Ich schlage vor, dass die FLAMMENZUNGE die Vorhut übernimmt.«
»Einverstanden«, sagte Rena. »Melden Sie sich, sobald Sie in Position sind.«
»Natürlich.«
Shurukai unterbrach die Verbindung, und Rena wandte sich an Lieutenant Commander Robert Ukasi, den Taktikoffizier. »Taktik, bemannen Sie die Gauss-Geschütze und halten Sie sie in ständiger Bereitschaft.«
Ukasi warf Rena einen kurzen Blick zu, ehe er den Befehl mit einem knappen »Aye, Ma’am« bestätigte.
»Erwarten Sie einen Angriff, Captain?«, fragte Steven Van Doren und ließ sich nicht anmerken, was er dachte.
»Erwarten – nicht unbedingt. Aber ich rechne trotzdem damit, dass wir angegriffen werden könnten, I.O. – Immerhin fliegen wir direkt in ein Gebiet hinein, in dem es mit großer Wahrscheinlichkeit Morrhm-Kolonien gibt. Und wie Sie ebenso gut wissen wie ich, ›springen‹ die Morrhm-Mutterschiffe durch den Raum, sodass sie plötzlich und unerwartet vor unserer Nase auftauchen könnten. Wenn wir die Geschütze erst dann zu bemannen beginnen, ist es zu spät.«
»Natürlich, Ma’am«, stimmte Van Doren ihr zu. »Wir werden darauf vorbereitet sein und uns nicht noch einmal von ihnen überraschen lassen.«
Dein Wort in sämtlicher Götter Ohren, dachte Rena und verspürte den vertrauten »Bleiklumpen« böser Vorahnung im Magen. Oder bin ich schon so paranoid, dass ich hinter jedem größeren Asteroiden ein verstecktes Morrhmschiff vermute? Sie seufzte unmerklich. Aber paranoid zu sein heißt leider nicht, dass uns tatsächlich niemand bedroht. Und Vorsicht ist besonders in einer Situation wie dieser die Mutter der Überlebenden …
*
Kunosh betrachtete die Reihe der Auserwählten, die sich versammelt hatten, um den Segen der Priester zu empfangen. Nach der Zeremonie würden sie den Weg ins Algorai antreten und ihr Leben damit verbringen, den Göttern zu dienen. Nun, in der Anfangszeit erst einmal nur den Hohen Dienern der Götter. Und wenn sie sich dabei bewährten, würden sie aufsteigen bis in die Gegenwart der Götter. Eine größere Ehre gab es nicht. Dafür und nur dafür lebte das ganze Volk der Rhukapai.
Allerdings gab es einige »Tiefblaue Säulen« unter ihnen, die die Ehre nicht zu schätzen wussten und verbotene Gedanken hegten, von den dazu gehörigen verbotenen Taten ganz zu schweigen. Dabei waren die Rhukapai Eigentum der Götter und hatten deren Willen zu gehorchen, auch wenn dieser Wille von den Hohen Dienern übermittelt wurde.
Priesterin Sikona aus dem Priesterhaus der Achten Erwählten war eine dieser Tiefblauen Säulen. Wenn es nach Kunosh ginge, würde sie ein für allemal verbannt werden, hineingetrieben in die Wildnis und für immer entfernt aus dem Angesicht der Götter und der Hohen Diener. Und natürlich auch aus Kunoshs Gegenwart. Zu seinem Glück gehörte Sikona nicht zu den Auserwählten, aber ihre drei derzeit ältesten Kinder. Leider hatten aber die Eltern das Recht, der Segenszeremonie beizuwohnen, wovon auch Sikona Gebrauch machte.
Kunosh konnte nur hoffen, dass sie nicht wieder ihre verbotenen Gedanken in aller Öffentlichkeit äußerte. Das wäre mehr als peinlich, besonders da Sikona ihre Gedanken mit der sternenklaren Logik vorzubringen pflegte, die den Rhukapai eigen war. Und diese Logik wussten weder Kunosh noch die Gelehrten zu widerlegen, denn sie war … nun, eben logisch.
Doch heute hielt sich die Tiefblaue Säule Sikona ausnahmsweise einmal zurück. Mit dem gebotenen Ernst und Ehrfurcht wohnte sie der Zeremonie bei, gab sich dabei zumindest den Anschein, als wäre sie ganz bei der Sache. Schließlich war auch sie Mitglied eines Priesterhauses und konnte nicht eine heilige Zeremonie stören, ohne dafür sofort in den Rang einer »Niederen Arbeiterin« versetzt zu werden. Da sie das aller Privilegien beraubt hätte, die die Priesterschaft genoss und die damit verbundene relative Freiheit, achtete Sikona genau darauf, gewissen Grenzen in ihrem Verhalten nicht zu überschreiten.
Falisha, die Erste Priesterin der Siedlung, begann mit der Zeremonie, und andächtiges Schweigen senkte sich über die Versammelten.
»Die Götter sehen wohlwollend auf uns herab!«, leitete Falisha den Segen ein.
Im nächsten Moment begann die Kuppel des Tempels in allen Regenbogenfarben zu schillern, der Farbe des vollkommenen Glücks. Die jungen Auserwählten, die so etwas teilweise noch nie gesehen hatten, gaben leise Laute von sich, die von Überraschung über Ehrfurcht bis Entzücken alles ausdrückten.
Falisha nahm ein Bündel weiß gefärbter Panga-Fäden, legte sie auf den Altar in der Mitte des Tempels und trat zur Seite, damit das Licht der Kuppel ungehindert darauf fallen konnte. Nachdem sie zurückgetreten war, verstärkte sich das Licht, bis es eine Intensität erreichte, die in den Augen der Rhukapai beinahe schmerzte, ehe es langsam wieder erlosch.
»Die Götter haben die Panga gesegnet!«, rief Falisha und nahm die Fäden wieder auf, die jetzt tatsächlich nicht mehr weiß, sondern ebenfalls in allen Regenbogenfarben schillerten. »Tretet vor, und empfangt das Zeichen der Götter mit ihrem Segen!«
Sikonas Kinder traten als Erste furchtlos vor, während die anderen sich ihnen zögernd anschlossen. Kunosh sah es mit Missbilligung. Der heilige Segen sollte von jedem mit Ehrfurcht und gebotener Zurückhaltung empfangen werden, an der es Sikonas Kindern seiner Meinung nach mangelte. Immerhin benahmen sie sich trotzdem angemessen.
Der Reihe nach traten die Auserwählten vor Falisha hin und empfingen aus ihrer Hand einen Panga-Faden, den die Erste Priesterin ihnen um die Leibesmitte band und ihnen segnend die Hand auf die Stirn legte. Alles geschah in völligem Schweigen. Nachdem der letzte Kandidat sein Panga erhalten hatte, breitete Falisha ihre Arme aus, streckte sie zur Kuppel des Tempels, senkte sie zum Boden und beugte sich herab, bis sie ihn berührte.
»Geht nun mit dem Segen der Götter zum Algorai und dient ihnen, wie es unsere Vorfahren getan haben, seit die Götter Rhuka und die Rhukapai erschufen.«
So gemessen wie sie gekommen waren, verließen die Auserwählten schweigend einer nach dem anderen den Tempel und verabschiedeten sich draußen von ihren Angehörigen. Danach bildeten sie eine Dreierkolonne und marschierten mit heiligen Gesängen zum Algorai.
Auch Sikona hatte sich mit den angemessenen Gefühlsäußerungen von ihren Kindern verabschiedet und wollte wieder nach Hause gehen, nachdem die Auserwählten hinter dem Hügel, der die Siedlung umgab, verschwunden waren. Kunosh hätte es gern dabei belassen und sich dadurch eine neue Auseinandersetzung mit Sikona erspart. Doch zu seinem Leidwesen hatte er seiner Pflicht als Gotarim zu genügen. Und das bedeutete, er musste mit Sikona sprechen.
Als er sich Sikona näherte, unternahm sie nicht einmal den Versuch, ihm auszuweichen, wie er insgeheim gehofft hatte. In dem Fall hätte er vorgeben können, sie aus den Augen verloren zu haben und den Rest des Tages genossen, ohne sich mit ihr herumstreiten zu müssen. Doch die Götter wollten es offenbar anders. Also wappnete er sich innerlich gegen den Disput, der unweigerlich folgen würde und sprach sie an.
»Sikona, ich habe mit dir zu reden.«
Ihre Haut färbte sich blaugrau und drückte damit unmissverständlich die Verachtung aus, die Sikona für Kunosh empfand. »Jetzt erst?«, höhnte sie. »Ich hatte dich schon viel früher zu einer ›Unterredung‹ erwartet. Doch meine Antwort ist nein.«
»Du weißt doch gar nicht, was ich von dir will!«, verteidigte sich Kunosh und sah sich unversehens in die Abwehr gedrängt, was ihn ärgerte. Seine Haut lief dunkelblau an.
»Natürlich weiß ich das«, widersprach Sikona. »Ich habe keinen Partner mehr, seit Takrun auserwählt wurde, zu den Göttern zu gehen. Und du willst mich gewiss nachdrücklich daran erinnern, dass ich meine Pflicht zu erfüllen und mir einen neuen Partner zu nehmen habe.«
Kunosh musste widerwillig zugeben, dass sie vollkommen recht hatte. »Wenn du dir deiner Pflicht bewusst bist, wieso hast du sie noch nicht erfüllt?«
»Weil ich meiner Pflicht längst nachgekommen bin. Ich habe bereits 58 Kinder geboren und den Göttern gegeben, sofern sie nicht Priester wurden. Das ist genug. Deshalb sehe ich nicht ein, weshalb ich noch mehr tun sollte.«
»Du bist erst von deinen Pflichten entbunden, wenn die Götter es dir ausdrücklich gestatten«, erinnerte Kunosh sie streng. »Es ist nicht an dir zu entscheiden, wann deine Pflichten erfüllt sind oder nicht.«
Sikona gab ein verächtliches Säuseln von sich. »Erste Tatsache«, begann sie die Argumentation einer Rituellen Diskussion, und Kunosh grollte frustriert. Genau das hatte er vermeiden wollen. Doch war eine Rituelle Diskussion erst einmal begonnen, geboten es die Regeln einer solchen, dass der Gegner sie sich bis zum Ende anhörte. Ob er etwas dazu zu sagen hatte und eine Gegenargumentation begann oder sich danach schweigend zurückzog, war völlig unerheblich.
»In den Schriften der Götter steht geschrieben«, fuhr Sikona fort, »dass sie uns belohnen und Gutes tun, wenn wir ihnen dienen. Zweite Tatsache: Wir dienen den Göttern in der Weise, die die Hohen Diener uns als Wünsche der Götter übermittelt haben und erfüllen so unsere Pflicht ihnen gegenüber. Dritte Tatsache: Ich kenne niemanden, der jemals eine der versprochenen Belohnungen durch die Götter erhalten hätte. Vierte Tatsache: Die Götter halten sich offensichtlich nicht an ihre eigenen Versprechungen und haben damit den Pakt mit uns gebrochen. Schlussfolgerung: Wir sind längst nicht mehr verpflichtet, ihre Wünsche zu erfüllen.«
Kunosh wurde blauschwarz vor Ärger. »Das ist Blasphemie!«, beschuldigte er Sikona. »Wenn die Götter dich hören …«
»Die Götter«, unterbrach ihn die Priesterin, »haben offenbar schon seit langem Anderes zu tun, als sich um uns zu kümmern. Ich weiß, wovon ich rede, Kunosh, denn ich bin Priesterin und du nur ein kleiner Gotarim, der sich wichtig machen will. Also erzähle mir nie wieder etwas von meinen Pflichten. Falls die Götter Anstoß an meiner Weigerung nehmen sollten, noch mehr Kinder zu gebären, so sei gewiss, dass sie es mich ganz persönlich und sehr direkt wissen lassen werden. So lange sie das aber nicht tun, betrachte ich meine Pflicht ihnen gegenüber als erfüllt.«
Sikona ließ ihn stehen und Kunosh sah sich verstohlen um, ob irgendjemand Sikonas Ketzerei und seine eigene Niederlage mitbekommen hatte. Doch die übrigen Besucher des Tempels waren zu sehr mit sich selbst und der Feier zu Ehren der Auserwählten beschäftigt, als dass sie ihm oder Sikona Beachtung geschenkt hätten. Kunosh nutzte das, um ungesehen zu verschwinden und sich über sein weiteres Vorgehen klar zu werden.
Als Gotarim war es seine Pflicht, alle Tiefblauen Säulen den Hohen Dienern zu melden. Doch in der Vergangenheit hatte das in Sikonas Fall keinerlei Wirkung gezeigt. Sogar als einer der Hohen persönlich gekommen war, um sie zur Rede zu stellen, hatte sie sich nur demütig angehört, was er zu sagen gehabt hatte, Folgsamkeit gelobt – und hinterher weitergemacht wie bisher. Vielleicht, so überlegte Kunosh resigniert, sollte er Sikonas Argumentation folgen und es den Göttern überlassen, sie zu strafen, falls die das für erforderlich hielten.
Doch das hätte bedeutet, dass Kunosh seine vollständige Niederlage zugab, was seinem Stolz und seinem Pflichtgefühl zuwiderlief. Da er sich aber sehr wohl bewusst war, dass er Dispute wie den eben geführten gegen Sikona nicht gewinnen konnte, war das Eingestehen der Niederlage nur die daraus folgende logische Konsequenz. In jedem Fall war es das Beste für Kunoshs künftige Ruhe, wenn er Sikona gewähren ließ. Und mit diesem Entschluss fühlte er sich schlagartig besser.
*
Während Sikona langsam nach Hause zurückkehrte, war sie sich zweier Dinge absolut sicher. Zum einen, dass sie mit ihrer Argumentation vollkommen recht hatte. Und das zweite wagte sie meistens nicht einmal zu denken. Doch der Disput mit Kunosh wie auch die Tatsache, dass die Götter nicht einmal zu ihrer Priesterschaft Kontakt hielten, hatte ihren Verdacht wieder einmal bestärkt, dass entweder die Götter nicht das waren, was sie vorgaben zu sein – oder dass sie gar nicht existierten!
Doch wer waren in dem Fall die Hohen Diener und, falls sie tatsächlich Diener einer höheren Macht waren, wer oder was war diese Macht? Die Antwort – zumindest ein Teil davon – lag mit Sicherheit im Algorai. Sikona hegte schon lange den Verdacht, dass der wahre Grund, weshalb kein einziger Auserwählter jemals von dort zurückgekehrt war, darin lag, dass sie nicht zurückkehren durften. Anscheinend hatten die Hohen Diener Angst davor, dass die Auserwählten den Rhukapai berichten würden, was sie im Algorai vorgefunden hatten.
Sikona hatte sich vor vielen Jahren, als ihr erstes Kind auserwählt worden war zu den Göttern zu gehen, schon einmal in die Nähe des Algorai gewagt, um einen Blick auf die Wunder zu erhaschen, die nur die Nähe der Götter zu geben in der Lage war. Aber sie hatte nur einen Blick durch die durchsichtige Kuppel hindurch erhaschen können, die das Algorai umgab und gegen die Außenwelt abschloss.
Und dieser Blick zeigte ihr lediglich die Hohen Diener, breite Pflanzgürtel und viele Gebäude, deren Zweck sie nicht erfassen konnte. Doch das alles sah überaus normal und von Arbeiterhand oder Maschinen geschaffen aus, nicht wie die Wunder, die Götter zu wirken in der Lage waren – oder sein müssten.
Obwohl sie von ihrer eigenen Kühnheit überrascht war, reifte in Sikona der Entschluss, eine zweite Expedition zum Algorai zu unternehmen und dessen Geheimnis zu lüften. Sie war sich sicher, dass Kunosh sich ohnehin wieder bei den Hohen Dienern über ihre Unbotmäßigkeit beschweren würde. Sollte daraufhin wieder einer der Hohen zu ihr kommen, um sie zurechtzuweisen und an ihre Pflichten zu erinnern – oder diesmal vielleicht Schlimmeres zu tun –, dann sollte der wenigstens einen guten Grund dafür haben.
Und falls im Algorai doch die Götter wohnten, so würde Sikona sich vor ihnen in den Staub werfen und jede Strafe auf sich nehmen, die sie über sie verhängen wollten. Aber sie musste Gewissheit haben.
Entschlossen machte sie sich auf den Weg zum Algorai.
*
Die Daten, die von der FLAMMENZUNGE gesammelt wurden, nachdem sie sich so weit dem seltsamen Sonnensystem genähert hatte, wie Kommandant Shurukai es vertreten konnte, ergaben nicht viel Neues. Zwar waren die äußeren Planeten, die gescannt werden konnten, von ihrer Beschaffenheit her durchaus geeignet für intelligentes Leben. Anzeichen dafür gab es allerdings nicht.
Zehn Stunden nach der Ankunft der STERNENKRIEGER im System, trafen fast zeitgleich die k'aradanische STOLZ DER GÖTTER, die qriidische SEDONGS RACHE und die ontidische Privatjacht LEKKEDD ein. Sieben weitere Stunden später erreichte auch das letzte Expeditionsmitglied, die WEITE REISE der Shani, das System.
Friedlich vereint, als hätte es nie Krieg zwischen den meisten dieser Völker gegeben, dachte Rena Sunfrost, als sie die Positionen der einzelnen Schiffe auf dem Bildschirm betrachtete.
In der Tat war die Expedition – vielmehr die Zusammensetzung der Teilnehmer – bemerkenswert. Die sauroiden Fulirr und die humanoiden K'aradan verband eine Jahrhunderte währende Todfeindschaft, die erst vor wenigen Monaten endgültig beendet worden war. Ähnliches galt für das Verhältnis zwischen Menschen und den vogelartigen Qriid, die ihr Möglichstes versucht hatten, ihren Glauben mit feuernden Traserkanonen im Universum zu verbreiten und nebenbei natürlich auch die besiegten Welten für das qriidische Imperium zu okkupieren. Die K'aradan hatten zweimal versucht, die schlangenartigen Shani zu unterwerfen, welche Freunde und seit Kurzem feste Verbündete der Menschen waren. Lediglich die insektoiden Ontiden waren schon immer relativ neutral gewesen.
In jedem Fall grenzte es an ein Wunder, dass all diese Völker jetzt friedlich vereint eine gemeinsame Expedition ins Unbekannte unternahmen, um zu erkunden, was es an dessen fernem Horizont an Wissenswertem und Wichtigem zu entdecken gab. Ein beinahe noch größeres Wunder war die Tatsache, dass zur gleichen Zeit zu Hause die Regierungen eben dieser Völker zusammensaßen und die Grundlagen für ein Bündnis ausarbeiteten, das sie alle in der »Interstellaren Union« vereinen sollte.
Hoffentlich klappt das wie geplant, dachte Rena und erinnerte sich mit Unbehagen daran, dass bereits vor dem Start der Expedition einige verblendete Menschen mit einem Attentat auf die Teilnehmer versucht hatten, nicht nur die Expedition zu verhindern, sondern dadurch auch gleich den Zusammenschluss der Interstellaren Union zu sabotieren. Nicht dass wir in einigen Monaten wieder nach Hause kommen und dann mitten in einen neuen Krieg hineinplatzen, der in der Zwischenzeit ausgebrochen ist, weil sich die Politiker mal wieder nicht einigen konnten, dachte Rena.
Doch ausgehend vom Status quo war das eher unwahrscheinlich. Die Bedrohung durch die parasitären Etnord und die kürzlich erfolgten Überfälle der Morrhm hatten auch dem engstirnigsten Politiker klargemacht, dass kein Volk allein gegen einen Feind von außen bestehen konnte und nur die Gemeinschaft aller Völker weitgehend Sicherheit garantierte. Allerdings war es noch ein langer Weg bis dahin, denn die über Jahrzehnte und Jahrhunderte gewachsenen Ressentiments der Völker untereinander würden nicht innerhalb weniger Monate oder auch Jahre vergessen werden können.
Jedenfalls profitierte die Expedition von der Vielfalt ihrer Teilnehmer sowie deren Wissen und Technologie. Die STOLZ DER GÖTTER verfügte über leistungsfähige Raumsonden verschiedenster Art, und Kommandant Noris Salot schickte unverzüglich eine größere Anzahl davon in das System hinein. Die Nahbereichscans sollten ein paar Stunden später interessante Ergebnisse liefern.
Das gesamte System schien tatsächlich unbewohnt zu sein – bis auf einen einzigen Planeten, der im mittleren, von der Position der Expeditionsschiffe aus gesehen senkrechten Fünferring auf »9 Uhr« stand. Dort zeigten die Scans eindeutig Gebäude und Biosignaturen, die wahrscheinlich zu intelligentem Leben gehörten.
Noris Salot, der offiziell die Expedition leitete, berief eine Videokonferenz ein. »Dieses Sonnensystem ist zweifellos ungeheuer interessant«, stellte er fest. »Die Frage ist, ob wir uns den bewohnten Planeten näher ansehen oder gleich weiterfliegen zur nächsten Etappe sollen. Da Captain Sunfrost uns die Daten von Alard-9 zur Verfügung gestellt hat, das, wie wir uns überzeugen konnten, bis auf die Zahl der Sonnen und die äußeren Planeten mit dem System hier identisch ist, halte ich es nicht für zwingend erforderlich, dieses hier intensiver zu untersuchen.«
»Da muss ich Ihnen widersprechen, Kommandant Salot«, meldete sich sofort Kikku’h von der LEKKEDD.
Die Ontiden waren bei dieser Expedition genau genommen nur geduldet und keine offiziellen Teilnehmer. Die Privatjacht des Leiters des ontidischen Senders QXKG flog auf eigene Verantwortung mit. Da die Ontiden sich während der Etnord-Krise in den Augen ihrer Verbündeten feige verdrückt hatten und geflohen waren, statt ihnen beizustehen, hatten die Entscheidungsträger beschlossen, sie von der Expedition auszuschließen. Auch die Mitgliedschaft in der Interstellaren Union mussten sie sich erst verdienen, ehe man sie aufnehmen würde.
Doch natürlich konnte ihnen niemand verbieten, im Universum hinzufliegen, wohin sie wollten, was auch mit einschloss, dass sie der Expedition folgten. Außerdem hatten sich die Schiffskommandanten unter sich dafür ausgesprochen, die Ontiden mit in die Expedition einzubeziehen, wenn auch nur inoffiziell.
Kikku’h war daher der selbst ernannte Protokollführer und Kommentator, der jedes noch so geringe Detail der Expedition minutiös dokumentierte und aufzeichnete. Im Bewusstsein seiner diesbezüglichen Wichtigkeit kommentierte er allerdings auch Dinge, die ihn genau genommen nichts oder nur wenig angingen. Anders ausgedrückt, er mischte sich vorlaut überall ein.
»Bedenken Sie doch nur, was wir hier alles finden könnten«, fuhr er jetzt fort, und selbst die Translatoren übermittelten seine Begeisterung. »Dies ist die erste Etappe unserer Reise zu fernen unbekannten Horizonten, und schon entdecken wir ein außergewöhnliches Sonnensystem mit einem bewohnten Planeten. Das müssen wir untersuchen! Das sind wir unseren Leuten zu Hause schuldig.«
»Ich stimme dem Ontiden zu«, meldete sich Captain Mirrin-Tal von der SEDONGS RACHE. »Wenn auch aus anderen Gründen. Ich meine, wir können es uns auf dieser Expedition nicht leisten, eine solche Entdeckung unbeachtet zu lassen. Nach den Daten der STERNENKRIEGER über Alard-9 ist dieses System zwar eine beinahe identische Konstruktion, doch eben nur beinahe. Das Volk, das hier lebt, kann ein ganz anderes sein als dort und sich möglicherweise als Bedrohung für uns entpuppen. Außerdem nähern wir uns auf unserem Weg einem Gebiet, in dem es höchstwahrscheinlich für uns nicht ungefährlich ist. Wir sollten deshalb genau erkunden, ob wir es hier mit Freunden oder Feinden zu tun haben. Falls es Feinde sind, wäre es taktisch unklug, sie im Rücken zu haben, ohne über sie und ihre Möglichkeiten Bescheid zu wissen.«
»Ganz abgesehen davon, dass wir mit jeder Information, die wir sammeln, unser Wissen erweitern und für uns vielleicht wichtige Dinge erfahren können«, stimmte Shesha’a, Kommandantin der Shani, dem Qriid zu. »Wir sollten aber nicht alle gleichzeitig auf dem Planeten landen, falls wir uns zur direkten Kontaktaufnahme entschließen, sondern eine ausreichende Schutzmacht im Orbit lassen.«
»Ich sehe, ich bin überstimmt«, stellte Noris ohne großes Bedauern fest. »Captain Sunfrost, Kommandant Shurukai, Ihre Meinung?«
»Sie sind in der Tat überstimmt, Kommandant Salot«, meldete sich Shurukai zu Wort. »Ich halte jede noch so geringe Information für wichtig, die wir vielleicht bekommen können. Je weiter wir uns ins Zielgebiet vorwagen, desto mehr sind wir auf Informationen angewiesen. Und schließlich dient die gesamte Expedition dem Sammeln von Wissen und neuen Erkenntnissen. Und natürlich auch der Abwendung möglicher drohender Gefahren von außen, wofür wir erst recht möglichst viel Wissen brauchen.«
»Wir schließen uns dem an«, sagte Rena schlicht, denn die anderen Kommandanten hatten ihre eigenen Argumente bereits vollständig aufgezählt.
Noris verzog das Gesicht zu einem k'aradanischen Grinsen. »Sie alle haben natürlich vollkommen recht. Sehen wir uns den bewohnten Planeten also näher an. Ich bin allerdings dafür, dass wir nur Kontakt aufnehmen, wenn sich herausstellt, dass es sich nicht um eine Zivilisation handelt, die ein Raumschiff wahlweise für eine Naturkatastrophe oder eine göttliche Erscheinung hält.«
Dagegen hatte niemand etwas einzuwenden, und so flogen die Expeditionsschiffe in einer lang gezogenen Linie den bewohnten Planeten an. Die FLAMMENZUNGE bildete die Vorhut, gefolgt von der STERNENKRIEGER. Die LEKKEDD und die WEITE REISE waren die Schlusslichter. Sollte eine schnelle Flucht erforderlich sein, konnten sich auch die »hinten« fliegenden langsamsten Schiffe ebenso schnell in Sicherheit bringen wie die voranfliegenden schnellsten.
In jedem Fall waren alle gespannt, was sie auf der neu entdeckten Welt vorfinden würden.
*
Sikona hatte den Weg zum Algorai kürzer in Erinnerung, als er tatsächlich war. Immerhin lag ihre vergangene Expedition schon viele Zyklen zurück. Doch das machte ihr nichts aus. Ausdauer lag allen Rhukapai in den Genen. Sie konnten sogar mehrere Tage ununterbrochen laufen oder arbeiten, wenn es sein musste und benötigten nur kurze Regenerationspausen.
Sikona hatte die Kolonne der Auserwählten eingeholt, bevor sie das Haus der Hohen Diener erreicht hatten, hielt sich aber im Hintergrund und passte sich ihrer Umgebung so an, dass sie von niemandem gesehen werden konnte. Sie hielt es für unklug, bei ihrem unerlaubten Ausflug entdeckt zu werden.
Das Algorai befand sich unverändert an seinem Platz, wie sie auf den ersten Blick feststellte, als die Kolonne es erreichte. Die Hohen Diener erwarteten die Auserwählten bereits. Sikona schlüpfte unbemerkt zusammen mit ihnen durch das Tor in der Kuppel und beobachtete, wie die Hohen Diener die Auserwählten in Empfang nahmen. Sie hatte eine feierliche Zeremonie erwartet, ähnlich der im Tempel, doch die Hohen Diener wiesen die Ankömmlinge nur schroff einem Teil des Algorai zu und scheuchten sie dorthin.
Sikona war darüber ebenso verwirrt wie offensichtlich auch die Auserwählten, denen sie sich unbemerkt anschloss. Man führte sie durch etliche Gänge zu Räumen, die offenbar Unterkünfte waren. In jedem standen Schlafstätten für 23 Rhukapai. Die Hohen Diener teilten jedem Raum entsprechend viele Auserwählte zu, ohne ihnen eine Erklärung zu geben. Nicht nur Sikona ärgerte sich über diese Unhöflichkeit. Die Diener der Götter sollten ihrer Meinung nach wenigstens ein bisschen mehr spirituelles Verhalten zeigen.
Vielmehr sollten sie überhaupt spirituelles Verhalten zeigen und sich nicht schlimmer benehmen als ein gerade geborenes, noch unerzogenes Kind, wie diese Hohen Diener es taten. Sikona beobachtete, zählte im Geist die Tatsachen auf und zog ihre Schlussfolgerungen daraus. Das Ergebnis gefiel ihr gar nicht, denn es lautete, dass die Götter möglicherweise tatsächlich nicht existierten. In jedem Fall brauchte sie noch mehr Informationen.
Nachdem der letzte Auserwählte untergebracht und Sikona immer noch unentdeckt war, folgte sie den Hohen Dienern.
»Ich denke, jetzt haben wir genug Arbeitskräfte zusammen für den nächsten Transport«, sagte einer von ihnen.
Er benutzte die Sprache der Götter, die auch die Rhukapai beherrschten, aber nie untereinander benutzten. Zumindest glaubten sie, dass es die Sprache der Götter war. Doch falls Sikonas Schlussfolgerung korrekt war und die Götter gar nicht existierten, war es logischerweise auch nicht ihre Sprache. Auch das verwirrte Sikona.
»Die Unterkünfte sind voll, und es dauert nach den Meldungen der Rhukapai-Aufseher ohnehin mindestens sieben Großzyklen, bis uns weitere geschickt werden«, fuhr der Sprecher jetzt fort.
»Ich werde die Verteiler benachrichtigen, damit sie die nächsten Abholer schicken«, sagte ein anderer. »In einigen Tagen werden sie hier sein und die Ware von uns abholen.«
Sikona verstand nicht, wovon sie da eigentlich sprachen. Abzuholende »Waren« in Zusammenhang mit von Rhukapai gefüllten Unterkünften ergaben für sie überhaupt keinen Sinn.
Die Hohen Diener verschwanden in einem Raum, der eine für Sikonas Begriffe riesige Halle war, in der unzählige von ihnen rund um eine leere Kreisfläche auf erhöhten Rängen saßen. Doch sie war nicht schnell genug, um mit ihnen zusammen durch die selbstständig öffnende Tür zu schlüpfen und blieb deshalb zurück. Wenn sich die Tür nach ihnen noch einmal geöffnet hätte, ohne dass sie jemanden sahen, der den Raum betrat, mochten sie misstrauisch werden. Sikona war sich nicht sicher, ob die Hohen Diener das Geheimnis der Priesterschaft kannten, das es ihnen ermöglichte, sich ihrer Umgebung so perfekt anzupassen, dass niemand sie sehen konnte.
Ihre Ausbilder hatten ihr gesagt, dass ihnen diese Fähigkeit zwar von den Göttern gegeben worden sei, doch dass es ausschließlich der Priesterschaft der Rhukapai vorbehalten war, sie zu erlernen und auszuüben. Die Vorfahren aus der Priesterkaste hatten das so interpretiert, dass auch die Hohen Diener nichts davon wussten. Sikona wollte in diesem Punkt lieber kein Risiko eingehen.
Sie wanderte durch die Gänge des Gebäudes und überlegte, wie sie am besten weiter vorgehen sollte. So wichtig es ihr schien, nicht entdeckt zu werden, so gering war bei näherer Betrachtung das Risiko, für einen unerlaubten Eindringling gehalten zu werden. Wie Sikona schon früher festgestellt hatte, schienen die Hohen Diener nicht in der Lage zu sein, einen Rhukapai vom anderen zu unterscheiden. Was ebenfalls merkwürdig war für Wesen, die den Göttern dienten.
Doch der Zufall nahm ihr die Entscheidung schließlich ab. Aus einem Raum kam ein einzelner Rhukapai mit einem großen Gefäß, in dem sich bis zum Rand gestapelte Mishnin-Fladen befanden. Sie erkannte ihn sofort.
»Takrun!«
Ihr früherer Zeugungspartner und Gefährte ließ vor Schreck fast das Gefäß fallen, als sie plötzlich vor ihm auftauchte. »Sikona!«, entfuhr es ihm verblüfft. »Was machst du denn hier? Haben sie dich auch zum Dienst erwählt?«
»Nein, aber drei weitere unserer Kinder sind heute hergeschickt worden. Ich dachte, du dienst den Göttern und lebst bei ihnen. Was tust du hier?«
Takrun sah sich furchtsam um. »Komm, hilf mir, das Gefäß zu tragen«, forderte er sie auf. »Wenn die Hohen Diener merken, dass wir uns unterhalten, statt zu arbeiten, werden sie sehr ungehalten. Und nicht einmal du willst ihren Zorn herausfordern, glaube mir.«
»Wieso nicht?«, fragte Sikona, nahm einen der Griffe des Gefäßes, während Takrun den anderen packte. »Sie sind doch Diener der Gütigen Götter.« Doch nach dem zu urteilen, wie eben diese Diener vorhin mit den Auserwählten umgesprungen waren, kamen ihr auch diesbezüglich Zweifel.
»Sind sie das wirklich?«, gab Takrun denselben Zweifeln Ausdruck.
»Was meinst du damit?«
»Nun, sie benehmen sich nicht, wie es sich für Diener der Götter geziemt. Zumindest nicht so, wie man uns immer gelehrt hat«, sprudelte es aus ihm heraus. »Aber du hast meine Frage nicht beantwortet, Sikona. Wenn du nicht zum Dienst auserwählt wurdest, was machst du dann hier?«
»Ich sehe mich um«, antwortete sie knapp. »Ich wollte die Götter sehen und mit ihnen sprechen – wenn es sie denn tatsächlich gibt. Woran ich angefangen habe zu zweifeln.«
Sie hatte erwartet, dass Takrun ihr ebenso wie Kunosh blasphemisches Denken vorwerfen würde. Doch zu ihrer Überraschung machte er eine zustimmende Geste.
»Daran zweifele ich inzwischen auch«, gab er so leise zu, dass sie ihn kaum verstehen konnte. »Als ich herkam, war ich überzeugt, dass man mich und die anderen zum Dienst zu den Göttern schicken würde. Stattdessen werden die Auserwählten aufgeteilt. Die älteren von uns werden so wie ich einigen Hohen Dienern zugewiesen, und seitdem tun wir nichts anderes, als ihnen zu dienen statt den Göttern. Die jüngeren werden ein paar Großzyklen später von Himmelsschiffen abgeholt, die sie angeblich zu den Göttern bringen. Was ich aber sehr merkwürdig finde, ist die Tatsache, dass die Hohen Diener keine Zeremonien für die Götter abhalten. Jedenfalls keine, an denen wir teilnehmen dürfen. Und sie geben uns auch keinen Tempelraum für unsere Zeremonien. Im Gegenteil, sie verbieten uns die Zeremonien, weil die uns von der Arbeit abhalten.«
Er senkte seine Stimme noch ein Stück mehr, sodass Sikona sich weit zu ihm herüberlehnen musste, um ihn zu verstehen. »Es ist, als ob die Hohen Diener … nun, entweder anderen Göttern dienen oder – überhaupt keinen. Jedenfalls beantworten sie unsere Fragen nach den Göttern nicht oder nur ausweichend. Und wer zu viele Fragen stellt oder zu hartnäckig ist«, seine Haut wurde grau vor Angst, »der verschwindet einfach. Er wird zu irgendeiner Aufgabe für die Hohen Diener gerufen und kehrt nie mehr zurück.« Takrun blickte Sikona eindringlich an. »Ich weiß nicht, auf welchem Weg du hergekommen bist, aber ich rate dir, auf demselben möglichst schnell wieder zurückzugehen, ehe sie deine Anwesenheit entdecken. Ich will nicht, dass du auch – verschwindest.«
Sikona verspürte jetzt ebenfalls einen Anflug von Angst. Trotzdem war sie nicht bereit, einfach aufzugeben. Und wenn sie schon von hier verschwand, dann nicht ohne Takrun.
»Nur wenn du mit mir kommst«, sagte sie aus diesem Gedanken heraus.
Takrun wurde schlagartig grün vor Schreck und hätte fast zum zweiten Mal das Gefäß fallen gelassen. »Unmöglich! Die Tore zum Algorai sind immer verschlossen. Niemand kann hinaus, wenn die Hohen Diener sie nicht öffnen.«
»Und wie viele haben es schon versucht?«, wollte Sikona wissen.
»Niemand«, antwortete Takrun scharf. »Denn jeder, der sich auch nur über die Grenze des Anbaugürtels hinauswagt,« – seine Haut wechselte jetzt wieder zum dunkeln Grau der Angst – »wird weggebracht und kommt nie zurück. Niemand weiß, was mit ihnen geschieht, aber es ist nichts Gutes. Die Hohen Diener sind schnell zornig und werden dann sehr …« Er suchte nach Worten, denn in der Sprache der Rhukapai gab es keine Begriffe für »Gewalt« oder »gewalttätig«, da ihnen diese Regungen vollkommen fremd waren. »… ungerecht und sehr unsanft«, formulierte er schließlich. »Also geh, Sikona, und komm nie wieder her.«
Er nahm ihr den Tragegriff aus der Hand und eilte, so schnell es seine Last erlaubte, davon. Sikona sah ihm nach und fühlte sich jetzt nicht nur noch verwirrter als vorher, sondern verspürte auch eine unspezifische Angst. Sie hatte zwar vermutet, dass die Hohen Diener möglicherweise keine Diener der Götter waren, aber sie hatte nicht damit gerechnet, dass sie so gefährlich sein konnten, wie Takrun es angedeutet hatte. Seine Schilderung vom seltsamen Verschwinden aller Rhukapai, die sich in den Augen der Hohen Diener unbotmäßig verhielten, ließ nur einen Schluss zu: Sie wurden entweder verbannt oder – Sikona wagte es kaum zu denken – getötet. Und diese Möglichkeit erschreckte sie am meisten.
Das Beste war wohl, wenn sie Takruns Rat folgte und das Algorai schnellstmöglich verließ. Doch falls er mit der verschlossenen Tür recht behielt, war sie vorläufig hier gefangen …
*
Rena Sunfrost betrachtete die Messergebnisse und Aufnahmen des bewohnten Planeten, die von einer k'aradanischen Sonde übertragen wurden. Die Bilder zeigten einen Planeten, der ebenfalls eindeutig künstlichen Ursprungs war. Er bestand aus insgesamt 144 großen Inseln oder kleinen Kontinenten, die in ihrem Ursprung einmal kreisrund und, wie es aussah, identisch groß gewesen waren.
Im Laufe der Jahrhunderte oder sogar Jahrtausende hatte sich diese perfekte Form durch Ablagerungen und Überwucherungen von Vegetation und Landmasse teilweise verändert, aber die ursprüngliche Form war noch gut erkennbar. Dazwischen befand sich ein Netz aus Wasserstraßen, das zur Zeit seiner Erschaffung wohl ebenfalls in allen Bereichen gleich groß gewesen war. Darin unterschied sich der Planet gravierend von dem von Alard-9, der hauptsächlich aus Landmassen bestand.
Auf jedem Kontinent gab es mehrere Siedlungen von ebenfalls perfekter Kreisform, die jeweils mindestens fünfzig Kilometer auseinanderlagen. An den jeweils nördlichen »Rändern« eines jeden Kontinents befand sich ein ausgedehnter, von einer durchsichtigen Kuppel überdachter Gebäudekomplex, dessen Funktion nicht zu erkennen war. Zwischen den einzelnen Kontinenten gab es nichts, was auf eine Verkehrsverbindung hindeutete. Jeder Kontinent schien von den anderen isoliert zu sein, was von den Schöpfern dieser Welt möglicherweise beabsichtigt war.
Die Scans zeigten jedoch eindeutig, dass es sich um eine fortgeschrittene Zivilisation handeln musste, denn es wurden unterirdische Energieströme und Emissionen angezeigt, die nur von Generatoren stammen konnten.
»Ein interessanter Widerspruch«, meldete sich Nirat-Son zu Wort. Der Qriid war seit einem Jahr als Austauschoffizier in beratender Funktion auf der STERNENKRIEGER und hatte sich während dieser Zeit bereits mehr als einmal als wertvoller Mitarbeiter erwiesen.
»Sie meinen?«, fragte ihn Van Doren.
»Die zweifellos vorhandenen Generatoren deuten auf eine fortgeschrittene Technik hin, Commander. Aber das, was wir von der Zivilisation erkennen können, scheint nichts zu besitzen, was einer fortschrittlichen Technologie gleichkommt. Ich sehe keine Gleiter oder altmodischere Fahrzeuge. Keine Fabriken oder Industrie. Auch unterirdisch wird nichts Derartiges angezeigt bis auf diesen einen Generatorenkomplex auf jedem Kontinent. In meinen Augen ist das ein Widerspruch.«
»Den ich vielleicht aufklären kann, Nirat-Son«, antwortete Rena. »Im Alard-9-System waren die Verhältnisse ähnlich. Es gab einen unterirdischen Generatorenkomplex, der, wie uns die Einwohner sagten, von ihren Göttern geschaffen worden waren. Diese sind, wie sich herausstellte, mit den Alten Göttern identisch. Da besagte Götter aber nach der Erschaffung ihrer Welt verschwanden und nie zurückkehrten, hatten die Bewohner verlernt, die Generatoren zu nutzen. Sie hatten sogar die Bedeutung der Schrift der Alten Götter vergessen. Und genau wie möglicherweise auch hier befand sich ihre Zivilisation auf einem Niveau, das den frühen Ackerbaukulturen auf der Erde entsprach.«
»Und was bedeutet das Ihrer Meinung nach in Zusammenhang mit unseren Erkundungsabsichten, Captain Sunfrost?«, fragte Mirrin-Tal von der SEDONGS RACHE. Da die Expeditionsschiffe untereinander zur Sicherheit eine ständige Konferenzverbindung offen hielten, hatten die anderen Kommandanten das Gespräch mithören können.
»Das Volk von Alard-9 – sie nannten sich Rhukani – war sich trotz seiner in unseren Augen primitiven Lebensweise sehr wohl bewusst, dass es Wesen gibt, die zu den Sternen fliegen und ihnen technisch überlegen sind«, antwortete Rena. »Mit anderen Worten, sie waren zwar von unserem Auftauchen überrascht, hatten aber weder Angst vor uns noch fühlten sie sich in ihrem Leben von uns gestört. Deshalb befürworte ich, dass wir denen hier einen Besuch abstatten. Möglicherweise haben sie im Gegensatz zu den Rhukani ihre Götter und deren Schrift nicht vergessen. Falls dem so sein sollte, gäbe uns das vielleicht eine Möglichkeit, endlich ein vollständiges Vokabular der Sprache der Alten Götter zu bekommen. Einen Versuch ist es in jedem Fall wert.«
»Unbedingt«, stimmte Shesha’a von der WEITE REISE zu. »Allein schon die Möglichkeit, dass wir auf diesem Planeten unser Wissen erweitern und ein neues Volk kennenlernen können, ist eine Landung wert.«
Die anderen Kommandanten schlossen sich ihrer Meinung an. Sie beschlossen, dass die STERNENKRIEGER, die WEITE REISE und die LEKKEDD direkt auf dem Planeten landen sollten, während die anderen Schiffe als Rückendeckung im Orbit blieben und nur mit Landeshuttles ein paar Leute auf die Oberfläche schicken würden.
»Wir sollten in der Nähe des größeren Gebäudekomplexes landen«, schlug Rena vor, »aber keineswegs zu nahe. Die Rhukani betrachteten ein ähnliches Gebäude als Tempel der Götter und hatten entschieden etwas dagegen, dass wir ihn betraten. Es dauerte damals eine Weile, bis sie uns die Erlaubnis dazu gaben.«
»Wir werden die Einwohner erst höflich um Erlaubnis fragen«, entschied Noris Salot als offizielles Oberhaupt der Expedition. »Wir landen auf der dem Komplex abgewandten Seite einer Siedlung, die ihm nahe genug ist. Zu diesem Zweck kommen wir aber nicht alle gleichzeitig von oben wie die Raubvögel, sondern schicken ein relativ kleines Shuttle voraus, das sich in nur geringem Abstand über dem Boden bewegt. Sobald das Shuttle den Erstkontakt hergestellt hat und die Einheimischen einverstanden sind, kommt der Rest der Truppe nach.«
»Wenn wir einen unserer Jäger als Vorhut schicken, bringt das wohl das beste Ergebnis«, schlug Shesha’a vor. »Eine so kleines Schiff mit einem einzelnen Piloten wird wohl von niemandem als Bedrohung angesehen werden. Außerdem haben wir Shani von uns allen das beste Gedächtnis und können die meisten Informationen sammeln, falls uns keine Zeit für einen längeren Aufenthalt bleibt.«
»Einverstanden, Kommandantin Shesha’a«, stimmte Noris zu. »Ich wollte Sie ohnehin genau darum bitten.«
»Wir überspielen euch die Daten mit der Sprache der Rhukani für eure Translatoren«, ergänzte Rena. »Falls die Bewohner dieses Planeten Verwandte von ihnen sein sollten, haben sie möglicherweise auch eine ähnliche oder sogar die gleiche Sprache.«
Die Expedition näherte sich in Schleichfahrt dem bewohnten Planeten. Nirgends gab es Anzeichen von Raumschiffen oder Raumüberwachung. Auch befanden sich keine Satelliten in Planetennähe, weshalb es ungefährlich war, die FLAMMENZUNGE direkt im Orbit zu parken. Die STOLZ DER GÖTTER und die SEDONGS RACHE nahmen währenddessen eine Position in einem strategisch günstigen Abstand zu ihr ein. Die Shuttles dieser drei sowie die anderen Schiffe tauchten in die Atmosphäre ein.
Sie sanken auf der Nachtseite des Planeten auf Antigravfeldern relativ geräuschlos dem Boden entgegen und flogen über den breiten Wasserstraßen ihrem Ziel entgegen. Solange sie sich in der Mitte der Wasserwege hielten, war die Wahrscheinlichkeit, von Bewohnern aus den Siedlungen auf den Kontinenten entdeckt zu werden, gering. Die bewohnten Gebiete befanden sich in zu großer Entfernung, um die Schiffe vom Land aus mit bloßem Auge sehen zu können. Immer vorausgesetzt, dass ihre Augen nicht eine erheblich größere Reichweite besaßen als die der Expeditionsteilnehmer.
Als sie die Siedlung erreichten, die sie sich ausgesucht hatten, gab es keine Anzeichen dafür, dass die Bewohner ihre Anwesenheit bemerkt hätten. Die WEITE REISE schleuste einen Jäger aus, von denen sie fünf in einem Hangar mit sich führte und schickte ihn auf den Weg zur Siedlung.
Shesha’a ließ es sich nicht nehmen, diesen Jäger selbst zu fliegen und genoss es in vollen Zügen. Sie hatte ihre noch nicht allzu lange währende berufliche Karriere als Pilotin eines Jägers begonnen, der zusammen mit anderen zur Wachflotte ihres Heimatsystems gehörte. Obwohl die Shani heute ein friedliches Volk waren, hatten sie doch eine sehr kriegerische Vergangenheit, und Kampfausbildung – auch die von Kampfpiloten – gehörte zu ihrem grundlegenden Ausbildungsprogramm. Auf der anderen Seite besaßen sie aber auch eine verspielte Ader, und die Jägerpiloten konnten beides intensiv ausleben.
Während der Jäger dahinglitt, machte sich Shesha’a einen Spaß daraus, ihn Loopings und Seitwärtsrollen ausführen zu lassen und genoss das Gefühl von Freiheit und Freude, das sie bei solchen Spielen immer verspürte. Trotzdem ließ sie die Anzeigen ihrer Messinstrumente keinen Augenblick aus den Augen. Doch die zeigten nur die vorbeifliegende Vegetation an.
Als sich der Jäger der Siedlung näherte, verlangsamte sie die Geschwindigkeit und landete ihn schließlich in einer Entfernung von zwei Kilometern vor den Gebäuden. Den Rest des Weges legte sie zu Fuß zurück. Sie war sehr gespannt, wie man sie empfangen würde.
*
Falisha, die Erste Priestern der Siedlung, stand vor dem Feld mit Tiliki-Früchten. In ihrem Rücken befanden sich sämtliche Siedlungsbewohner und sie sprach den üblichen Segen über die Früchte, die sie während der nächsten Zyklen ernten würden. Die Tiliki waren die Hauptnahrungsquelle des ganzen Volkes. Eine einzige Frucht versorgte einen Rhukapai für einen ganzen Zyklus mit allem, was sein Körper brauchte.
Die Pflanzen waren so hoch wie ein Kind und besaßen etwa armdicke Stängel. Darauf saß je eine ovale, hellrote Frucht von der Größe eines Neugeborenen. Außerdem waren ihre Stängel vielseitig verwendbar und die Hauptrohstoffquelle des Volkes. Je nach Verarbeitung wurden aus ihnen Fasern, Platten oder flexible Hüllen gewonnen.
Die Felder der Siedlung waren die ganze Wachstumszeit über von den dafür ausersehenen Arbeitern gehegt und gepflegt worden. Mit dem Ergebnis, dass in diesem Jahr die Ernte sehr reichhaltig ausfiel.
Falisha hatte den Segen beendet und wollte gerade das Zeichen geben, dass nun die Erntefeier beginnen konnte, als sie das Wesen sah, das unvermittelt am Rand der Siedlung auftauchte. Ihr Haut wurde grün vor Schreck. Das Wesen sah aus wie ein riesiger Ilifi-Wurm, nur dass es aufrecht stand und sechs Gliedmaßen besaß. Seine Haut war schuppig und silbergrau, und auf seinem Kopf hatte es bläuliche Flecken. Riesige grüne Augen blickten die Rhukapai unverwandt an.
Falisha wusste nicht, was sie von diesem Wesen halten sollte, das so plötzlich aufgetaucht war. Jetzt hatten auch die anderen es entdeckt und wurden ebenfalls grün. Doch da ihnen die Erfahrung fehlte, mit irgendwelchen Bedrohungen umzugehen, weil es auf ihrer Welt keine gab, blieben sie einfach stehen und warteten ab.
Das Wesen kam jetzt langsam auf sie zu und gab ein paar unbekannte Laute von sich. Doch im nächsten Moment ertönten aus einem kleinen Medaillon, das es um den Hals trug, Worte, die die Rhukapai verstanden.
»Grüßen ich euch«, lauteten sie. »In Frieden ich kommen. Shesha’a ich sein, den Shani von. Euch besuchen wollen ich und Freunde meine.«
Obwohl die Worte verdreht waren, konnte doch jeder ihre Bedeutung erfassen. Die Rhukapai wurden weiß vor Erleichterung, dass der Fremde offensichtlich keine Gefahr für sie darstellte.
Falisha erinnerte sich augenblicklich wieder an ihre Pflicht als Erste Priesterin der Siedlung. Sie trat jetzt furchtlos auf das Wesen zu und machte eine grüßende Geste. »Sei uns willkommen«, sagte sie. »Wir haben noch nie Besuch in unserer Siedlung gehabt. Aber du kommst genau richtig zu unserem Erntefest. Wir laden dich und deine Freunde ein, mit uns zu feiern.« Sie sah sich suchend um. »Wo sind sie?«
Shesha’a deutete in die Ferne. »Weg weiter. Nicht wissen wir, ob willkommen sind. Deshalb ich kommen allein zu stellen vor mich. Holen meine Freunde ich werden. Aber nicht erschrecken ihr. Kommen großen Fahrzeugen mit, wir werden.«
»Das macht nichts«, versicherte Falisha. »Wir haben hier viel Platz. Kommt nur. Wir freuen uns über euren Besuch.«
»Gehen jetzt ich. Zurück sein bald wir.« Shesha’a wandte sich um und betätigte ihren Kommunikator, den sie auf eine Frequenz geschaltete hatte, mit der sie alle Schiffe erreichen konnte. »Erstkontakt erfolgreich abgeschlossen«, meldete sie. »Wir sind eingeladen, alle zu kommen und an einem Erntefest teilzunehmen. Der Translator hat ihre Sprache als die der Rhukani erkannt und übersetzt, aber es müssen noch einige Modifikationen vorgenommen werden. Offensichtlich sind wohl die Vokabeln dieses Volkes mit denen der Rhukani von Alard-9 identisch, aber nicht die Syntax und die Grammatik. Doch wir können uns gut mit ihnen verständigen. Ich habe sie vorgewarnt, dass wir mit großen Fahrzeugen kommen, also dürften sie nicht allzu überrascht sein.«
»Wir sind in wenigen Minuten da«, bestätigte Noris Salot.
*
Shesha’a rannte zu ihrem Jäger zurück und schleuste ihn während des Anflugs der WEITE REISE auf die Siedlung wieder in den Hangar ein. Die Schiffe und Beiboote landeten jenseits der bebauten Felder auf einer freien Fläche, von der aus sie einen guten Überblick hatten.
Wie es aussah, hatten sich die Bewohner nicht von der Stelle gerührt, seit Shesha’a sie verlassen hatte und sahen ihnen gespannt entgegen. Wie die Shani vermutet hatte, zeigten sie sich weder überrascht noch ängstlich beim Anblick der Schiffe, sondern nur neugierig. Lediglich beim Anblick der vielen verschiedenen Wesen, die kurz darauf ausstiegen, schillerten alle gleichermaßen verwirrt violett.
Noris trat vor und verbeugte sich vor ihren Gastgebern. »Wir bedanken uns für Ihre Einladung«, sagte er. »Ich bin Noris Salot vom Volk der K'aradan, Leiter unserer – Reisegruppe. Die anderen stellen sich selbst vor.«
»Ich bin Falisha, Erste Priesterin dieser Siedlung der ersten Linie zum Algorai«, stellte Falisha sich und die Siedlung vor. »Ich heiße euch im Namen aller Bewohner willkommen. Eure Ankunft erfreut uns sehr, besonders da sie zu einem so wichtigen Zeitpunkt wie dem Beginn der Tiliki-Ernte stattfindet. Kommt mit in die Siedlung und feiert mit uns das Fest der Reifen Tiliki.«
Während sie Falisha folgten, betrachtete Rena die Einheimischen. Sie sahen genauso aus wie die Rhukani von Alard-9. Die hier waren lediglich im Durchschnitt größer als ihre Verwandten in der Ferne. Doch genau wie diese glichen sie von der äußeren Form her einer mannshohen glatten Säule, der oben als Kopf ein großer Tropfen verkehrt herum aufgesetzt worden war. Darin befanden sich vier strahlend blaue, trapezförmig angeordnete runde Einbuchtungen als Augen.
Die Gliedmaßen waren flexibel in die Körper integriert. Zur Fortbewegung teilten sie ihren unteren Teil in drei bis fünf breite tentakelähnliche Auswüchse, die sie wie Füße benutzten. Wenn sie »Hände« brauchten, konnten sie aus ihrem Körper heraus bis zu acht Arme formen, deren Enden sie in so viele »Finger« spalteten, wie sie gerade benötigten.
Wenn einer von ihnen sprach, geriet sein ganzer Körper in kaum wahrnehmbare Vibrationen, durch die säuselnde Geräusche erzeugt wurden, die wie eine Mischung aus Blätterrauschen und das leise Plätschern von fließendem Wasser klangen.
»Diese Flexibilität der Körper ist absolut faszinierend«, sagte Yngvar MacKenzie, der neben Rena ging. Er hatte vom ersten Kontakt an mit dabei sein wollen, weil er hoffte, dadurch möglichst schnell an irgendwelche Schriftzeugnisse herankommen zu können, die es möglicherweise hier gab. »Ich beneide Sie, Captain. Dieser Teil der Raumfahrt ist so interessant und inspirierend, und Sie erleben so etwas mehr oder weniger regelmäßig.«
»Besonders ›inspirierend‹ sind jene Begegnungen, bei denen uns das neu entdeckte Volk versucht umzubringen, wie zum Beispiel die Morrhm«, konterte Rena. »Oder die Etnord und davor die Qriid und K'aradan und zwischenzeitlich die Fulirr. Gar nicht zu reden von jenen Begegnungen, die so gut begannen wie die hier und hinterher in einem Desaster endeten. Glauben Sie mir, Professor, Erstkontakte sind per se gefährlich und oft genug lebensbedrohlich. Deshalb sind immer die Marines in voller Panzerung dabei.«
»Aber es ist auch interessant und inspirierend«, beharrte MacKenzie. »Denn wie eine so gute Kendo-Kämpferin wie Sie natürlich weiß, sind Feinde oft die besten Lehrmeister.«
Ich hasse Leute, die alles besser wissen, dachte Rena unwillkürlich. Aber das Problem mit MacKenzie ist, dass er es tatsächlich besser weiß, wann immer er den Besserwisser herauskehrt. »Die Rhukani von Alard-9 sind sogar noch viel flexibler«, wechselte sie das Thema. »Die können sich ihrer Umgebung so perfekt anpassen, dass sie nicht nur wie ein Chamäleon die Farbe des Untergrundes imitieren, sie nehmen auch äußerlich dessen Struktur an und sogar seine Temperatur. Wenn einer von denen sich auf diese Weise unsichtbar macht, kann man ihn nicht einmal mit Infrarotscannern mehr sehen.«
MacKenzie sah sie verblüfft an. »Wollen Sie damit sagen, die sind – Gestaltwandler?«
Rena nickte. »Genau das. Ich wüsste zu gern, ob dieses Volk über dieselbe Fähigkeit verfügt.«
»Das interessiert mich jetzt allerdings auch«, stimmte MacKenzie zu. »Vor allem eine Demonstration dieser Fähigkeit. Wie ist die angemessene Vorgehensweise dafür? Kann man die Leute einfach danach fragen?«
