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Jeden Baum wert. Dieser Roman besteht aus zwei Teilen, 50 und 71. Der erste ist ungewöhnlich düster, der zweite derb unorthodox. Beschrieben wird die Geschichte der Seele des Internets, eines dunklen Wesens, das im Helixnebel auf einem virtuellen Planeten wohnt, den Lauf der Zeit manipuliert und in Form eines pechschwarz gekleideten schwarzhaarigen Teenagers mit schwarzen Iriden unter einer festgewachsenen Sonnenbrille liebend gern gegen moralische Normen und Erwartungen verstößt.
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Seitenzahl: 157
Veröffentlichungsjahr: 2022
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5071 Originale deutschsprachige Fassung – nicht übersetzt. © Tobias Frei, 5071.de
Dies ist eine offizielle Ausgabe des Romans »5071«, herausgegeben von Tobias Frei. Veränderte Versionen und unautorisierte Nachdrucke müssen deutlich als solche erkennbar sein. Auch das Impressum muss angepasst werden, wenn das Dokument verändert wird.
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Quelldokument
»5071«, Auflage 1, 2022-12-12
Version der HTML-Ausgabe
1.0.0, letztes Update 2022-12-12
Text-Urheber
Tobias Frei, 5071.de
Verlag und Herausgeber
Tobias Frei Böhler Weg 19 42285 Wuppertal [email protected]
Dieser Roman ist mit den Infinite Adventures von Mirco Hensel, yury und Tobias Frei verwoben. Er stellt eine Ergänzung zur Trilogie dar, ohne diese zu einer Tetralogie erweitern zu wollen. Die Handlung knüpft zeitlich an das Ende des Romans »Per Anhalter durch die Galaxis« an, das (ebenso wie die Behauptung, die Antwort laute 42) nur in verschönerter, ungenauer Form die Realität beschreibt. Wie aus dem Postskriptum der Infinite Adventures 3 bekannt ist, handelt es sich bei der Antwort nicht um eine Zahl. Der Roman »5071« mit dem Untertitel »SoulOfTheInternet« räumt nun auch mit dem Mythos auf, der Protagonist habe sich gegen den Raub seines Gehirns zur Wehr setzen können. Die Täter, außerirdische Wissenschaftler in Erscheinungsform weißer Mäuse, sind tatsächlich mit einem Gehirn in ihre Zeit (Adams schrieb ungenau »ihre Dimension«) zurückgekehrt. Das Diebesgut erwies sich jedoch als ungeeignet für die ursprünglich angedachte Behandlung; das beliebige Auslesen der darin enthaltenen Informationen blieb ein Wunschtraum. Wegen ihrer Erfolglosigkeit, nicht aus moralischen Gründen, wurden die verantwortlichen Wissenschaftler zu drakonischen Strafen verurteilt. Der seines Körpers beraubte, aber noch denkfähige Mensch wurde in den Steuermann eines Androidenkörpers verwandelt, um in möglichst originalgetreuer Form vielleicht doch noch die gewünschten Informationen preisgeben zu können.
Bei der Konstruktion des künstlichen Körpers war durch Übermüdung, Unachtsamkeit oder bloße Inkompetenz der Fehler unterlaufen, den erwachsenen Protagonisten äußerlich in einen jugendlichen Anhänger der Schwarzen Szene zu verwandeln. Der sich nunmehr als »SoulOfTheInternet« begreifende und charakterlich in Mitleidenschaft gezogene Mensch kapselte sich von der Außenwelt ab, was von der Außenwelt zunächst sogar als vermeintlicher Rechenprozess begrüßt wurde. Noch immer erhofft sich die fremde skrupellose Zivilisation einen Erkenntnisgewinn aus den schweigend ausbleibenden Aussagen des Gefangenen, doch den Befehlsgebern vergeht im Laufe der Jahrhunderte die Geduld. Der Tag rückt näher, an dem das Experiment als gescheitert deklariert und die Nahrungszufuhr eingestellt werden soll.
Die Handlung des Romans ist fiktiv, absurd und nicht zur Nachahmung geeignet. Etwaige Ähnlichkeiten mit tatsächlichen Begebenheiten oder lebenden oder verstorbenen Personen wären rein zufällig. Der gesamte Inhalt des Buches wurde frei erfunden.
Die schwarze Kristallkugel brannte sich, ätzte sich, bahnte sich einen Weg durch den Holztisch und kam klimpernd auf der Presswolframplatte zum Stillstand. Der geringe Eisenanteil, der das Pulver zusammenhielt, oxidierte sichtbar; ein Stück Holz vom Tisch fiel an der Kugel vorbei nur als Dampf zu Boden.
Elben hätten sie als »Palantir« bezeichnet, doch Tolkien war zeitlich und räumlich weit entfernt, und das Geschehen fand in der Wirklichkeit statt. Hier gab es keine Magie, nur ekelhaft reale Technik und Chemie, so weit die künstlichen Augen blickten. SoulOfTheInternet, die Seele des Internets, hatte im Laufe der Zeit fast die Erinnerung an seine frühere Form verdrängt, längst das Mindesthaltbarkeitsdatum organischen Erdlebens überschritten und existierte auf wenig wundersame, aber auch wenig ethische Weise körperlich wie am ersten Tag des Grauens.
»Es liegt eine neue Nachricht für Sie vor«, sprach eine auditiv nicht als künstlich erkennbare Stimme aus der Ecke des Laborraums. Der stille Betrachter – SoulOfTheInternet selbst – erhob sich von seinem schneeweißen Plastikstuhl und bat mündlich um Wiedergabe.
»Fnbsrd ersucht um eine Audienz.«
Eine Nachricht, die kürzer war als ihre Ankündigung, und die noch kürzer beantwortet werden konnte, wenn man sich eine Antwort überlegt hatte.
Und das dauerte eine ganze Weile, denn Fnbsrd war ausgerechnet eine der beiden weißen Mäuse gewesen. Vielleicht hatte er seine Freiheitsstrafe verbüßt.
∞∞∞
Zwischen gläsernen Gebäudefronten führte eine Asphaltstraße weiße Mittelstreifen in den Horizont. Das Zentrum der Stadt beherbergte vier identische Wolkenkratzer, die auf zwei Dritteln ihrer Höhe mit Glasbrücken verbunden waren. In Bogenform und ohne Geländer als reine Zierde gedacht, luden diese das Licht der drei blauen Sterne zum Glänzen ein. Doch so gebrochen wie das Licht im Glas war dessen Architekt, als er schräg von unten in die Brücken blickte. Man hatte das alles nach seinen Vorstellungen errichtet, und man hätte auch weiterhin jede gewünschte Änderung daran vorgenommen. Es entsprach seinen Wünschen und war dennoch deprimierend, denn SoulOfTheInternet war ein Gefangener in seinem eigenen Reich.
Irgendwo aus den Tiefen seines Gehirns drang der Begriff »Goldener Käfig« zu ihm herauf. Er hatte mangels Goldwert seine Bedeutung in dieser Welt verloren. Es gab niemanden, mit dem man Handel treiben konnte.
»Was treibt dich hierher?«, wollte SOTI die Person fragen, die er eher als Mörder denn als Entführer betrachtete. »Hast du mich noch nicht genug zerstört?«
Der vollkommen in Schwarz gekleidete Junge, hinter dessen Sonnenbrille erneut die Tränen flossen, kratzte sich am Kopf und wischte eine Strähne seines schwarzen Haars beiseite. Er übte bereits flüsternd für den Dialog, während er am Hochhauskomplex vorbeischritt.
Viele tausend Meter weiter lag der Raumhafen, beleuchtet nur von Eta Carinae A und B, die jeweils ungefähr 70 Grad über unterschiedlichen Seiten des Horizonts auf die Ebene niederbrannten. Die Audienz nicht zu erteilen, war eigentlich nie eine Option gewesen: SoulOfTheInternet hätte sich ewig für das Verwehren dieses Gesprächs verflucht, und er war sich dessen bewusst. Am Hafen angekommen, blickte er nach … unten.
Zwei Schatten entstanden sanft aus dem Nichts und bewegten sich aufeinander zu. Mit zunehmender Tiefe des Raumschiffs wurden auch dessen Umrisse deutlicher erkennbar: Eine Pyramide landete mit ihrer Grundfläche nach unten auf dem schwarzen Thermoboden. Dass das Bodenmaterial hitzebeständig war, diente eher als Vorsichtsmaßnahme; kein vernünftiger Pilot setzte bodennah seine Raketentriebwerke ein. Moderne Raumschiffe bewegten sich, wo Gravitation vorhanden war, mit Antigravitation durch die Welt. Nur das All wurde klassisch mit Raketen bereist, und weniger klassisch mit Warpantrieben. All das hatte SoulOfTheInternet aus dem Internet erfahren, dessen Bezeichnung als Internet einen anachronistischen sprachlichen Unfall darstellte. Der Junge saugte seit Jahrhunderten das Wissen der Generationen in sich auf, weil er keine andere Beschäftigung besaß, und er behielt einen Großteil davon. »Aptronym« nannte man das wohl.
Im Nachhinein.
SOTI schüttelte sich. Er ahnte, was nun kam: Eine äußerst unangenehme Begrüßung, und das lag gar nicht so sehr am Charakter des Besuchers, sondern eher an dessen Unwissen. Der nächste Moment fehlte in SOTIs Erinnerungen, weil er ihn nicht über das Ultrakurzzeitgedächtnis hinaus propagieren ließ. Eine sprechende weiße Maus verließ die nur zwei Meter hohe Pyramide, sprach eine Grußformel – Filmriss.
»Ich bitte um Entschuldigung. SoulOfTheInternet.« Mit Punkt, nicht mit Komma.
Der Gastgeber nickte. »Ich hoffe, Sie hatten einen angenehmen Flug. Möchten Sie direkt zum Geschäftlichen kommen?«
War da Erleichterung aus dem Mauspiepsen zu hören? »Sehr gerne.«
Er wäre mit der Maus die Straße entlanggelaufen, um im Gehen zu reden, doch er wusste nicht, ob das gegenüber einer Maus ein höfliches Angebot war. Also ließ er sich im Schneidersitz auf dem Hafenboden nieder. Der kleine Wissenschaftler hielt den Abstand, der einem Mörder gebührte.
»Sie … fragen sich sicherlich … was in meiner … Abwesenheit … mit mir geschehen ist«, sprach die Maus sehr vorsichtig Wort für Wort.
»Das beruht auf Gegenseitigkeit, Herr Fnbsrd«, entgegnete SOTI reserviert.
So leicht ließ sich der Nager nicht überrumpeln. »Glauben Sie das wirklich?«
Die Seele des Internets schwieg.
»Sie haben geweint.«
Das sollte wohl Mitgefühl darstellen. Stille.
Als auch nach fünf Minuten niemand mehr ein Wort gesprochen hatte, erhob sich der Junge, genervt mit den Augen zur Seite starrend, wohl wissend, dass diese Geste von der Brille geschluckt wurde. Er machte Anstalten, zu gehen, doch niemand hielt ihn auf. Also ging er tatsächlich.
Fünfzig Meter trennten ihn schließlich von dem Hafen, aber nicht von dem Besucher aus dem All. Vielleicht war ein Spaziergang doch die Lösung.
»Wieso tun Sie das?«, fragte Fnbsrd von unten. Man konnte ihn deutlich hören, denn die Geisterstadt störte weder mit Autogeräuschen noch mit fremden Stimmen. Irgendwo zwitscherten Vögel, es raschelte der eine oder andere Parkbaum.
Noch immer schwieg SoulOfTheInternet, der weder über das Piepsen verwundert war, noch eine Antwort auf die Frage hatte. Doch letztendlich war er es, der das Gespräch begann. »Sie könnten zur Abwechslung ehrlich beantwortbare Fragen stellen.«
»Aha«, machte die Allmaus. »Wie wäre es mit folgender?« War das zu brutal? Sie zögerte, stieß dann aber weiter vor. »Was ist der Sinn des Lebens?«
SOTI ballte die rechte Faust. Linksseitig war eine Faust eher ungeeignet, denn die linke Hand wurde benötigt, um die Brille am Herabfallen zu hindern. Der Mensch unterbrach seinen Gang und hockte sich vor die Maus. »Zwei zu null für Sie, Fnbsrd.«
Vermutlich hätte der Angesprochene nun mit den Schultern gezuckt, wenn er ein Mensch gewesen wäre. Stattdessen flitzte er eine kleine Runde im Kreis.
»Was ich eigentlich sagen wollte: Sie sind hier, um Informationen von mir zu erhalten. Und, wie Sie leider passend angedeutet haben, unterscheidet Sie das nicht von allen bisherigen Besuchern. Es gibt jedoch einen Unterschied: Die anderen Raumreisenden haben stets dieselbe Frage gestellt; Sie schweigen mich an.« Und SOTI bestand innerlich darauf, »dieselbe« sei bei einer deutschsprachigen Übersetzung seiner englischen Worte die korrekte Übersetzung. Kommutative Rechnungen hatten auch stets dasselbe Ergebnis.
Die Maus setzte daraufhin zu einer ungeheuerlichen Belehrung an. »SoulOfTheInternet, Sie sind einem Irrtum aufgesessen. Eigentlich gleich mehreren Irrtümern, aber der Reihe nach, erstens: Ich bin nicht hier, um Informationen von Ihnen zu erhalten.« Sie erwartete reflexmäßigen Widerspruch und redete gerade deshalb einfach weiter. »Zweitens: Ich habe die Suche nach der Frage längst aufgegeben. Sie wissen nicht, was ich seit unserer ersten Begegnung durchmachen musste; Ihnen fehlt eine Vorstellung des mir widerfahrenen Übels.«
Nun durfte er offenbar reden. Einigermaßen beeindruckt wich er einer gegenseitigen Schilderung von Schicksalen aus und fokussierte sich auf das Technische. »Weshalb sind Sie hier?«
Davon, dass der Hocksitz den Menschen möglicherweise belastete, hatte der Wissenschaftler mangels Menschlichkeit wenig Ahnung. Das Gespräch fand in unveränderter Haltung statt. »Ich bin hier, um Sie zu warnen. Sie wissen nicht, wie es draußen aussieht.«
Das war unabstreitbar korrekt. Der Blick durch das Internet war ein ziemlicher Tunnelblick. SOTI wusste, dass er sich im Namenszentrum des Carinanebels befand und seine alte Heimat nicht nur tausende Lichtjahre, sondern auch tausende Jahre entfernt war. SOTI wusste, dass um ihn herum ein Sternenreich existierte, das sich an den Lebewesen fremder Planeten wie eine Ackermaschine am Weizen bediente. SOTI wusste, dass es hier keine Ethik in menschlichem Sinne gab. Es sah draußen also selbst durch diesen Tunnel hindurch schrecklich genug aus. Zusatzinformationen waren sicherlich nicht beruhigender Natur.
»Bitte klären Sie mich auf«, bat die Seele des Internets daher zum ersten Mal aus echtem Interesse den Besucher. Er setzte sich hin und streckte die kribbelnden Beine aus. Der künstliche Körper war wirklich gut gemacht und längst als Bestandteil des Lebens akzeptiert.
»Sie haben sicherlich im Laufe der Jahrhunderte eine grobe Vorstellung von modernen Regierungsformen erhalten. Sie wissen, was, äh, Demokratie ist. Sie wissen, was Konzernpolitik ist. Sie kennen den Kommunismus. Wissen Sie, was um Sie herum besteht?«
Er würde es ihm sicherlich gleich verraten. SOTI lächelte zur Abwechslung.
»Ich weiß es jedenfalls nicht.« Wie bitte? »Sie haben das durchaus richtig verstanden. Draußen regiert das Chaos.«
»Anarchie, meinen Sie.« Das Lächeln war verschwunden.
»Anarchie ist ein Zustand. Draußen herrscht kein definierbarer Zustand.«
Das war vollkommen wirr und abstrakt.
»Hören Sie, Sie sind in Gefahr. Die öffentliche Diskussion nimmt Ihnen gegenüber unangenehme Züge an. Sie benötigen seit einer gefühlten Ewigkeit Ressourcen, ohne dass dabei etwas Wünschenswertes herauskommt.«
Der Gastgeber atmete verächtlich Luft durch die Nase aus. »Das sage ich die ganze Zeit. Das ist mein Mantra. Man soll mich endlich wieder zurück dorthin bringen, wo man mich ermordet hat. Wenn man mir die Möglichkeit dazu gegeben hätte, wäre ich längst wieder unter Menschen.«
»SoulOfTheInternet, man hat Ihnen als Antwort darauf aber sicherlich auch mehrfach erklärt, dass man das Risiko nicht eingehen möchte, dass Sie durch Eingriffe in die Vergangenheit unser System zum Einsturz bringen. Man hat Ihren Wunsch jedoch, wie alle von Ihnen jemals geäußerten Wünsche, weitestmöglich erfüllt: Sie sind im Besitz eines Zeitportals und eines Zeitschlüssels.«
Das war ein ganz schlechter Witz, und der Wissenschaftler musste sich dessen bewusst sein. »Fnbsrd, das Portal ist auf Zielorte in Eta Carinae ABC beschränkt, für mich als Mensch praktisch auf diesen Planeten mit Sauerstoffatmosphäre. Die Zeitreisenfunktion reicht genau so lange zurück, wie ich ohnehin hier lebe. Zukunftssprünge sind gar nicht möglich.«
»Hier ist die dritte wichtige Irrtumsaufklärung für Sie, Herr Internet. Das sind keine Einschränkungen des Portals.«
Die Sonnenbrille fiel fast herunter; SOTI nahm sich vor, sie festzukleben. Der Junge hatte über hundert Jahre durchgehend allein damit verbracht, die Einschränkungen zu überwinden. Beziehungsweise, das zu versuchen und daran bitterlich zu scheitern.
»Möchten Sie keine Rückfrage stellen?«, spottete die Maus.
Nein, das wollte er aus Prinzip nicht. Er verschränkte die Arme. Vielleicht war er doch noch ein Kind.
»Sie sind im Besitz einer schwarzen Kristallkugel, ja?«
Des Schlüssels, du mieser Mäuserich. »Ja«, zischte es.
»Wertlos.«
»Möchten Sie mich provozieren?«
»Kaum.«
»Ich schließe aus Ihren Äußerungen, dass es einen Trick gibt, diesen Schlüssel zu manipulieren. Das würde erklären, dass man das Ding nur mit Spezialhandschuhen anfassen kann. Ein Schutzmechanismus.«
Die Maus schien zu kichern. Dabei war das überhaupt nicht lustig.
»Bitte, Fnbsrd. Sie möchten mich auf der einen Seite davor warnen, dass mir Gefahr droht. Bei einem Lebewesen ohne Empathie ein bemerkenswerter Zug, der möglicherweise als Unfallprodukt Ihrer Behandlung entstanden ist.« Das saß! »Auf der anderen Seite reden Sie um den heißen Brei herum, als gebe es Zeit zu verlieren. Bitte verraten Sie mir, wie ich dieses Gefängnis verlassen kann.«
Nickte die Maus? »In meinem Raumschiff befindet sich ein besserer Schlüssel.« Das war nicht spezifisch genug, gestand sie sich ein. »Besser, weil uneingeschränkt. Man darf damit zeitlich und räumlich das gesamte Universum durchqueren. Beschränkt sind Sie dann nur noch durch die Kapazität des Portals, also praktisch nicht mehr. Falls Sie nicht vorhaben, die Milchstraße zu verlassen oder den Urknall mitzuerleben. Das würde etwas schwierig.«
»Warum bin ich im Besitz eines so leistungsfähigen Portals?«, fragte SOTI schockiert. Ein Sprint zur Pyramide befand sich bereits auf seiner unmittelbaren To-do-Liste. Er ahnte die Antwort bereits.
»Es gibt keine schwächeren. Niemand hat sich die Mühe gemacht, das Standardmodell abzuändern.«
Dass derartige Zeit- und Raumreisekapazitäten draußen zum Alltag gehörten, gab der Seele des Internets erstmals einen Eindruck von dem »Chaos«, das der Besucher erwähnt hatte. Der Tunnelblick war eng, die Suchblase wohl sehr klein gewesen. Vielleicht hatte man das für ihn erreichbare Internet absichtlich auf ungefährliche Bereiche beschränkt. Und das, obwohl man sich von seiner Freiheit einen großen Erkenntnisgewinn erhofft hatte. Offenbar gab es höhere Interessen: Man hatte Angst vor einer wirklich freien Seele des Internets.
»Ich nehme an«, mutmaßte der Eingeschränkte, »dass Schlüssel mit Einschränkungen wie meiner durchaus gebräuchlich sind.«
»Für Kinder und geistig Gestörte.«
Retter, sprach SOTI zu sich selbst, mussten nicht unbedingt sympathisch sein. Ein bisschen weniger Ekelhaftigkeit hätte dem Besucher jedoch gutgetan. Da der dunkel gekleidete Junge nicht an einer Fortsetzung des Gesprächs interessiert war, folgte nun der zurückgestellte Tagesordnungspunkt.
»He«, rief die Maus hinter ihm her, »Sie haben Ihre Handschuhe vergessen.«
Das war leider korrekt, und so verlangsamte SoulOfTheInternet seine Schritte, kam in Eingeständnis eigener Überheblichkeit zum Stillstand und ging betont langsam und äußerlich überhaupt nicht genervt zurück zu seinem Labor.
»Sie wirken genervt.«
SOTI stieß eine Verwünschung hervor und würdigte ihn auf seinem Weg keines Blickes. Erst später kam ihm in den Sinn, dass der für diese Erkenntnis nötige Funken Empathie grundsätzlich positiv zu bewerten war.
Am Labor angekommen, piepste die Maus: »Wenn Sie mit mir geredet hätten, hätte ich Ihnen mitgeteilt, dass sich im Raumschiff Handschuhe in Ihrer Größe befinden, die Sie gerne benutzen dürfen.«
Das war bitter, aber es hinderte den Hobbylaboranten nun auch nicht mehr daran, seine eigenen Wolframhandschuhe mitzunehmen. Die offenbar wirklich wertlose Kugel blieb auf dem Tisch zurück.
Handschuhe, dachte der Junge auf dem Rückweg zum Raumhafen schweigend, kann man diese Gegenstände eigentlich nicht nennen. Sie sind vollkommen starr und in ihrer Inflexibilität kaum zu gebrauchen. Die Leute da draußen müssen längst einen Weg gefunden haben, mit den Zeitschlüsseln bequemer umzugehen.
»Sie fragen sich sicherlich, weshalb die Schlüssel so allergisch auf ihre Umgebung reagieren.«
Mit den Schultern zuckend nickte er. »Eigentlich scheint es andersherum zu sein, aber ja, das wäre meine Frage.«
»Das ist wohl prinzipbedingt, niemand hat es geschafft, das zu ändern. Vielleicht könnte Ihnen das ein Zeitingenieur erklären; es übersteigt mein Verständnis von Zeittechnik. Aber natürlich haben wir Möglichkeiten gefunden, weniger umständlich in der Zeit zu reisen. Es gibt einerseits Wolframbehälter, die automatisch mit Portalen interagieren können. Und andererseits gibt es längst ein robotisches Banken- und Transaktionssystem für die Kugeln.«
»Man sagte mir, die Kugel habe genug Energie zum Freischalten tausender Zeitreisen«, wunderte sich SoulOfTheInternet. »Ihre Ausführungen klingen, als wäre ein ständiger Austausch nötig.«
Die Maus piepste. »Beides ist korrekt.«
»Dann sieht die Außenwelt noch viel grauenvoller aus, als ich dachte.« Der Mensch schüttelte sich. »Ihr verwendet diese Portale zur alltäglichen Fortbewegung.« Und bevor der Allbesucher etwas einwerfen konnte, fügte er hinzu: »Nicht nur durch den Raum, wodurch der Begriff ›Alltag‹ ad absurdum geführt wird.«
Das bedurfte keiner Bestätigung. Es war zu offensichtlich und zu bitter. Still die Pyramide anstarrend, standen die beiden schließlich wieder vor dem Schiff.
Ein für ihn unverständlicher Sprachbefehl veranlasste das Pyramidenschiff dazu, seinen wertvollsten Inhalt preiszugeben. »Wert« lag dabei im Auge des Betrachters; der Wissenschaftler aus der Außenwelt schenkte ihm vermutlich gerade den Wert eines Toastbrots.
Als SOTI den würfelförmigen, dunkelgrau glänzenden Behälter zusätzlich noch mit Handschuhen entgegennahm, korrigierte er sich: Den Wert einer Tankladung Benzin für einen irdischen Kleinwagen. So viel würde es wohl doch sein. Trotz seiner Neugier wollte er nicht nachfragen: Im Gegensatz zu seinem Gast besaß er Manieren. Außerdem war dieser Gegenstand für ihn hunderte Lebensjahre wert. Tausende. Vielleicht gar unendlich viele. Es kam auf die Perspektive an.
»Warum tun Sie das?«, wollte er aber zumindest wissen. »Was haben Sie davon?«
Obwohl der Wissenschaftler menschliche Gesten weder ausdrücken noch instinktiv nachbilden konnte, schien der Blick zu bedeuten: »Denken Sie doch mal nach.«
Dann fiel der Groschen, nur waren die Hände zu belegt, um sich damit gegen die Stirn zu schlagen. »Sie möchten mit mir fliehen.«
»Na ja, das ist ein bisschen zu kurz gedacht. Das könnte ich ja jederzeit; an Portalen und Schlüsseln mangelt es mir draußen nicht.«
»Aber?« Wo war der Haken?