Infinite Adventures 3 - Tobias Frei - E-Book

Infinite Adventures 3 E-Book

Tobias Frei

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Beschreibung

Teil 1: Krieg im Carinanebel: Im Carinanebel lauert eine düstere Bedrohung, die den Fortbestand intelligenten organischen Lebens in der Südgalaxis infrage stellt. Orakel, der stets hungrige Navigator des Überlichtraumschiffs 4-6692, begibt sich auf eine Verfolgungsjagd in das Herz des Nebels. Bei seinem Versuch, den interstellar zur Fahndung ausgeschriebenen Edelmetallhändler Dögöbörz Nüggät zu stellen, löst er schwere diplomatische Verwerfungen aus und stürzt das Imperium von NGC 6193 in eine Existenzkrise. Teil 2: Die Zeitreise: Maia. Ein ganzjährig glühender Felsplanet im Orbit des hellblauen Quecksilber-Mangan-Sterns wird zum Austragungsort eines erbitterten Machtkampfs. Tief in der Hölle schlummert ein antikes Relikt, nach dem zwei Personen aus sehr unterschiedlichen Motiven streben. Die Protagonisten yury, Orakel, Alexandra und Free werden durch eine defekte Zeitmaschine zu einer Odyssee durch Raum und Zeit gezwungen, um einen versiegelten Briefumschlag in der Vergangenheit abzuliefern und eine Raumschiffentführung zu vereiteln. Dabei lösen sie endlich das Rätsel um die Herkunft der Äöüzz und bringen in Erfahrung, was wirklich im Helixnebel geschehen ist.

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Seitenzahl: 421

Veröffentlichungsjahr: 2022

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Infinite Adventures 3 Originale deutschsprachige Fassung – nicht übersetzt. © Tobias Frei, infiniteadventures.de

Dies ist eine offizielle Ausgabe der Infinite Adventures 3, herausgegeben von Tobias Frei. Veränderte Versionen und unautorisierte Nachdrucke müssen deutlich als solche erkennbar sein. Auch das Impressum muss angepasst werden, wenn das Dokument verändert wird.

Diese elektronische Ausgabe wurde speziell für den Vertrieb über Drittanbieter erstellt. Aufgrund rechtlicher Bedenken ist diese spezielle Ausgabe NICHT frei lizenziert.

Printed on Örz, NGC 6193 – brought to you by IGLS, your friendly interstellar freight forwarding service!

Impressum

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Quelldokument

»Infinite Adventures 3«, Auflage 1, 2022-04-01

Version der HTML-Ausgabe

1.0.0, letztes Update 2022-04-01

Text-Urheber

Tobias Frei, infiniteadventures.de

Verlag und Herausgeber

Tobias Frei Böhler Weg 19 42285 Wuppertal [email protected]

E-Book-Vertrieb

epubli – ein Service der neopubli GmbH, Berlin

Was bisher geschah

Der interstellar zur Fahndung ausgeschriebene Edelmetallhändler Dögöbörz Nüggät befindet sich nach einem Akt fragwürdiger Selbstjustiz auf der Flucht in Richtung des Carinanebels. Sein fliegendes Goldnugget wird von einem Erkundungsraumschiff verfolgt, das als »4-6692« galaktische Bekanntheit erlangt hat.

∞∞∞

Die vier menschlichen Protagonisten Alexandra, Free, Orakel und yury sind die Crew der 4-6692. Sie führen Forschungs- und Bergungsarbeiten im Auftrag des Instituts für Interstellare Kommunikation durch, dessen Hauptsitz auf Örz inmitten des »Imperiums von NGC 6193« liegt. Örz ist viertausend Lichtjahre von der Erde entfernt, auf der alle Abenteuer ihren Ursprung nahmen.

Alexandra ist eine goldverliebte Chemikerin. Sie hatte mit gestohlenen Forschungsdaten einen Raketenantrieb für Helikopter entwickelt.

Free ist ein Computerhacker und notorischer Linux-Fan. Gemeinsam mit seinem besten Freund Orakel hatte er das Gemälde »Mona Lisa« aus dem Louvre-Museum entwendet.

Orakel, ein leidenschaftlicher Mechaniker und Vielfraß, hat eine gültige Pilotenlizenz für Langstreckenflugzeuge. Nach einem Golddiebstahl in den Vereinigten Staaten von Amerika verhalf er seinen Freunden zur Flucht über den Atlantik.

yury, Mathematiker und Helikopterpilot, beförderte das international verfolgte Team mit einem modifizierten Tandemhubschrauber ins Weltall. Alexandras Erfindung und ein vermeintliches Kinderspielzeug, der sogenannte »Hyperwurm«, ermöglichten eine Reise in das Herz eines fremden Sternenreichs. Das gestohlene Gold bildete die wirtschaftliche Grundlage für ein neues Leben abseits der Erde.

∞∞∞

Das Imperium von NGC 6193 stellt nach aktuellem Wissensstand die größte wirtschaftliche und militärische Macht der Galaxis dar. Es ist der Kern der Äöüzz-Wirtschaftsvereinigung, eines lockeren Bündnisses raumfahrender Gruppierungen, die sich auf eine gemeinsame Außenpolitik und vereinheitlichte Gesetze geeinigt haben. Für die Durchsetzung der vereinigungsweiten Regeln in einem Raum, den Skeptiker für inhärent anarchisch gehalten hatten, ist das Imperium zuständig. Durch technologischen Wohlstand, hohe Bildungsstandards und jahrhundertelange Lebenserwartung herrscht eine Periode des Friedens und der Harmonie. Die Regierungsform des Imperiums wird als »Konzernpolitik« bezeichnet: Es regieren stets die Unternehmen, die derzeit den größten Teil zur wirtschaftlichen Leistung beitragen.

In regelmäßige, meist harmlose Nachbarschaftsstreitigkeiten wird das Imperium durch die uggys verwickelt. Bei den uggys handelt es sich um raumfahrende Piraten, die als vermeintliche »Raumpolizei« das Gewaltmonopol des Imperiums infrage stellen und zum Eintreiben absurder Schadensersatzforderungen die Ladung ziviler Raumschiffe kapern. Hierbei werden mitunter Grammatikfehler in der Funkkommunikation zum Anlass für »Pfändungen« herangezogen, die sich von frühirdischer Freibeuterei nur durch die eingesetzten Werkzeuge unterscheiden.

Die Menschheit ist unter der Flagge der Vereinten Nationen erst kürzlich auf der galaktischen Bildfläche erschienen und derzeit mit der Kolonisierung der Felswelten des Sonnensystems (»Söl«) beschäftigt. Sie verfügt noch nicht über Warptechnologie zur Überwindung der Lichtgeschwindigkeitsbarriere. Dennoch sind es ausgerechnet vier Menschen, die mit einem Raumschiff der Äöüzz immer wieder Geschichte schreiben, indem sie ihre Nase in Angelegenheiten stecken, die sie nichts angehen. Orakel ist gerade dabei, die bisherigen Eskapaden durch Leichtsinn und Übereifer noch einmal in den Schatten zu stellen.

∞∞∞

Die Handlung des Romans ist fiktiv, absurd und nicht zur Nachahmung geeignet. Etwaige Ähnlichkeiten mit tatsächlichen Begebenheiten oder lebenden oder verstorbenen Personen wären rein zufällig. Der gesamte Inhalt des Buches wurde frei erfunden.

Krieg im Carinanebel

Am Rande der Relativität

»Unbedingt dranbleiben«, forderte Orakel von seinen elektronischen Assistenten. »Ich brauche Nervennahrung und bin kurz in der Küche. Könnt ihr yury, Alexandra und Free Bescheid geben?«

»Selbstverständlich«, bestätigten die Bordcomputer, und taten wie geheißen. Orakel erhielt in der Kantine eine Schüssel mit Haferflocken und veganem Milchersatz, dazu dunkle Schokoladenflocken, Erdbeeren und anschließend eine Portion Erbsen. Er ließ sich das Kraftmahl schmecken, bevor er in die Zentralkugel zurückkehrte.

Auf den Außenbildschirmen war zu sehen, wie die Däns Miräköl, das Raumschiff des imperiumsweit gesuchten Edelmetallhändlers Dögöbörz Nüggät, in einer nach außen hin überlichtschnellen Warpblase verschwand. Das überdimensionale Goldnugget verfügte über erstaunliche Energiereserven.

In der 4-6692, einem torusförmigen Raumschiff mit Durchmessern von 98 und 140 Metern und einer 28 Meter durchmessenden Zentralkugel, saß in seltener Einsamkeit der Navigator einer eigentlich vierköpfigen Crew. Seine drei Kollegen waren einige Lichtminuten entfernt mit großer galaktischer Politik beschäftigt und erhielten per Normalfunk eine Zusammenfassung des letzten Stands. Orakel hingegen hatte es sich zur Aufgabe gemacht, den Edelmetallhändler notfalls bis ans Ende der Galaxis zu verfolgen. Ein beachtliches Kopfgeld für dessen lebendige Festnahme war zu erwarten – möglicherweise höher als das Kopfgeld für manche der von ihm kurz zuvor fluchtunfähig geschossenen Verbrecher.

Dögöbörz Nüggät hatte mit einer überhaupt nicht für seinen Besitz zugelassenen Kriegswaffe, einer Planetengranate, den Warpkern eines Generationenschiffs durch einen Gravitationsschock zur Kernfission angeregt. Das ellipsoide Riesengebilde havarierte seitdem mit sabotierten Beibooten vor sich hin. Die Besatzung des Generationenschiffs war als das »Gnörk-Kartell« bekannt; das Schiff trug den treffenden Namen »El Dörädö«. In einem fragwürdigen Akt der Selbstjustiz hatte der sonst friedlich Goldbarren schiebende Anzugträger die Infrastruktur des Kartells zerlegt und war nun seinerseits auf der Flucht vor den Behörden. Und da die Behörden sich gehörig Zeit ließen, übernahm Orakel den Job – ganz legal im Auftrag der Imperiumsanwaltschaft. Nüggät wurde wegen Wirtschaftsspionage, Steuerhinterziehung und Betriebssabotage gesucht; zudem stand der Verdacht im Raum, er habe dem Erddiktator Floating Island zur Flucht verholfen oder diesen dauerhaft in einem privaten Gefängnis ohne Gerichtsurteil eingesperrt.

Der Warpantrieb der 4-6692 war leistungsfähig und grundsätzlich zur Verfolgung geeignet. Machbar wurde das Unterfangen durch die Warpfunkantennen des Raumschiffs und die Rechenleistung der beiden Bordcomputer. Der Quantencomputer, ein Modell des Typs Z3, setzte die Antennen wie eine Fledermaus ihre Ultraschallsignale ein. Die Funksignale wurden von der Warpblase der Däns Miräköl zwar nicht reflektiert, riefen aber in ihren Randbereichen messbare Krümmungseffekte hervor. Mit Unterstützung des Siliziumcomputers wurden die Effekte analysiert und für den menschlichen Piloten optisch dargestellt.

»Ob er sehen kann, dass wir ihm auf den Fersen sind?«, fragte Orakel.

Für »unwahrscheinlich« hielt der Quantencomputer diese Vorstellung. »Es handelt sich zwar streng genommen um eine aktive Ortungsform, aber das Ziel empfängt keine Energie. Die gesamte Strahlung fliegt verzerrt an der Däns Miräköl vorbei und verebbt nach einigen Lichtjahren. Die Flugvektoren unterscheiden sich so geringfügig, dass kein messbarer Warp-Lock auftritt.«

Als Ziel des Verfolgten zeichnete sich allmählich der Carinanebel ab, ein ungefähr 460 Lichtjahre durchmessender Nebel aus ionisiertem Wasserstoff, der neuntausend Lichtjahre nordöstlich von der Erde und siebentausend Lichtjahre südöstlich von Örz hellrot vor sich hin leuchtete. Auf der dreidimensionalen Sternenkarte des Besprechungstischs war der Nebel blau gefärbt; Infrarot- und Röntgenstrahlung wurden sichtbar gemacht und verwandelten die Darstellung in ein facettenreiches Schmuckstück. Im zivilisierten Teil der Südgalaxis hielt sich hartnäckig das Gerücht, in diesem Nebel hause ein unberechenbares Monster.

Orakel hielt nichts von solchen Legenden; Nüggät schien ebenfalls darauf zu pfeifen. Die Bordcomputer meldeten etwas, das ihre vorherige Aussage überheblich wirken ließ: Man hatte seinerseits einen Verfolger bemerkt.

»Der Verfolger war vor unserem Abflug nicht erkennbar. Wir wurden mit einer Geschwindigkeit eingeholt, die für zivile Raumschiffe nicht üblich ist, weil ein Großteil des Frachtraums durch Triebwerke ersetzt werden müsste, um solche Leistungen zu erreichen. Auf Militärschiffen wird der Platz für Kraftwerke und Bewaffnung benötigt; deren Masse lässt solche Turboflüge überdies nicht zu. Nur Rennsport- und Polizeiraumschiffe werden regelmäßig so ausgelegt.«

»Wir werden von einem Polizeischiff verfolgt?«, wollte Orakel noch einmal ausdrücklich bestätigt bekommen. Er erhielt sofort die Bestätigung, das sei praktisch die einzige Erklärung. »Lasst uns vorerst so tun, als hätten wir nichts mitbekommen. Es ist gut, zu wissen, dass wir einen Trumpf in der Hinterhand halten. Und, dass man uns auf die Finger sieht.«

∞∞∞

Dögöbörz Nüggät wusste selbstverständlich, dass er verfolgt wurde. Für diese Feststellung waren keine Instrumentenwerte, sondern nur Logik und Strategie erforderlich.

In den Randbereichen des Carinanebels kannte Nüggät sich gut aus, und die sternendichte Gasregion lud zum Abschütteln der Verfolger ein. Weder Orakel noch seine Bordcomputer konnten auf Erfahrungswerte zurückgreifen und würden sich hoffnungslos im Nebel verirren.

Durch leichtes Kippen der Flugrichtung um wenige Ziellichtjahre zwang Nüggät seine Verfolger zu hastigen Kurskorrekturen. Er drehte sein goldenes Raumschiff auf der Galaxieebene sanft zur Seite, kontinuierlich, scheinbar planbar, bevor er ruckartig das Steuer zurückriss. Wie erwartet kam es dadurch zu Geschwindigkeitseinbußen, die nur durch das Phänomen des Warp-Locks erklärbar waren: Wenn die Fluglinien mehrerer Warpblasen nicht exakt parallel zueinander verliefen, beeinflusste die Masse jedes Raumschiffs den Warpflug der anderen. Die mit Raumkrümmung arbeitenden Triebwerke waren dann nämlich dazu gezwungen, neben dem fast dichtelosen Vakuum auch ein schweres Metallobjekt zu krümmen. Piraten und Polizisten, Auftragsmörder und Kopfgeldjäger erzwangen diesen Vorgang durch absichtlichen Schrägflug in die Flugbahn ihrer Ziele hinein. Um den Effekt messbar zu machen, genügten winzige Kursänderungen.

Als netten Nebeneffekt nahm Nüggät in Kauf, dass Orakel sich spätestens jetzt seiner Sichtbarkeit bewusst geworden war. Aus dem Versuch einer heimlichen Verfolgung wurde ein kleiner Wettflug in eine der mysteriösesten, sagenumwobensten Regionen der Galaxis.

∞∞∞

»Wir wurden entdeckt«, gab der Siliziumcomputer für den Verbund zu Protokoll. »Die Däns Miräköl hat Kursänderungen durchgeführt, welche uns die Wahl zwischen mehreren Formen des Bemerktwerdens und des Zielverlusts aufgezwungen haben. Der Befehl ›Unbedingt dranbleiben‹ wurde bei der Wahl berücksichtigt, wäre aber ohnehin als geringstes Übel erkannt worden.«

»Nüggät weiß, dass wir ihn verfolgen«, murmelte Orakel vor sich hin, »aber es stört ihn überhaupt nicht. Im Gegenteil: Er hat uns das ja gerade recht deutlich mitgeteilt und hält trotzdem weiter Kurs.«

Der Quantencomputer meldete sich zu Wort. »Das lässt, wie du wahrscheinlich auch gerade überlegst, eigentlich nur den Schluss zu, dass Nüggät sich in vollkommener Sicherheit wähnt, uns loswerden zu können. Es ist nicht davon auszugehen, dass dies mit offener Gewalt durchgesetzt wird, aber er würde uns möglicherweise nicht helfen, wenn uns ganz zufällig etwas zustößt.«

Zufällig. »Auf dem Polizeiraumer hinter uns ist man dann wohl ebenfalls über die Situation informiert.«

»Wenn man dort hinten keine Tomaten auf den Sensoren hat, ja. Sowohl über uns, als auch über die Spitze der Kolonne.«

Bei einem Unterlichtflug hätte Orakel zum metaphorischen Telefonhörer gegriffen und das weitere Vorgehen mit der Nachhut abgesprochen. Im Überlichtflug konnten keine klassischen Funknachrichten empfangen werden. Selbst der sogenannte »Warpfunk« setzte Unterlichtgeschwindigkeit auf Sender- oder Empfängerseite voraus. Eine Drosselung der Geschwindigkeit kam bei dem hastigen Rennen zwischen den Sternen jedoch keinesfalls infrage.

Erneut fand eine leichte Kursänderung an der Kolonnenspitze statt. Diese blieb dauerhaft bestehen und brachte das goldene Nugget auf einen Kurs, der ineffizient nah an einem Stern vorbeiführte. Orakel bemerkte dies und runzelte die Stirn. »In fünfhundert Lichtjahren müssen wir anscheinend einen Auffahrunfall verhindern.«

»Das Polizeiraumschiff verfügt über die nötigen Mittel, um den Verfolgten zumindest zu nerven, vermutlich sogar in den Normalraum zu zwingen. Der Örs-Begriff ›Damoklesschwert‹ wäre ein passender Schiffsname. Unsere Interpretation ist, dass Nüggät trotz dieser aufgezwungenen Situation eine Illusion von Aktivität und Kontrolle behalten möchte.«

Das klang logisch. Während die 4-6692 um jede Lichtminute Distanz kämpfte und die Wasserstoffreserven erheblich belastete, erlebten die Polizisten eine angenehme Spazierfahrt durch das Weltall. Nüggät versuchte, ihnen einen Strich durch die Urlaubsplanung zu machen.

Drei Lichtmonate vom Leuchtfeuer entfernt verschwand das Ziel vom Bildschirm. Die Bordcomputer reagierten innerhalb von Femtosekundenbruchteilen, indem sie die Warpblase platzen ließen. Ungefähr zwei Kilometer vom schwach leuchtenden Raumschiff entfernt fiel die 4-6692 in den Normalraum zurück, mit annähernder Lichtgeschwindigkeit einem knapp ebensoschnellen Ziel hinterhereilend. Nur der Geschwindigkeit der Däns Miräköl war es zu verdanken, dass die resultierende Gravitationswelle nicht deren Pilot durch das Cockpit fliegen ließ. Zwischen die beiden Raumschiffe schlug ein aerodynamisch optimiertes blaues Polizeischiff einen spitzen Keil; aus den Triebwerken schießende Heliumspuren vernebelten Orakels Sicht.

»Die spinnen doch alle«, rief Orakel nach den drei Sekunden, die das Schauspiel bisher gedauert hatte. »Laserfeuer auf Nüggäts Heck!«

Da die Geschwindigkeiten der Raumschiffe annähernd identisch waren, trat keine Farbverschiebung auf. Auf dem blauen Schiff hatte man ähnliche Pläne, aber bessere Bewaffnung, um sie umzusetzen. Zu den bunten Discostrahlen der Nämäsis-Kanone gesellten sich mehrere tief infrarot strahlende Germaniumlaser, die Nüggät vor ein echtes Hitzeproblem stellten. Unterdessen kam endlich das gewünschte Telefongespräch zustande.

»Hier spricht Orakel, 4-6692 von Örz, Kopfgeldmission. Mein Laser hat das Schiff zuerst berührt und ich würde gerne eine Pizza bestellen.«

»Schön, dich wieder zu hören«, ertönte die Stimme eines Eichhörnchens. »Das Kopfgeld gehört uns.«

Orakel schnappte nach Luft. »Identifiziert euch gefälligst!« Ihm fiel keine bessere Erwiderung ein.

»Büri, P-2255 von Britännä I, Weltraumforschung. Wir sind zufällig auf die Umstände aufmerksam geworden.«

»Schert euch zum Teufel, ihr scheinheiligen Schmarotzer. Weltraumforschung in einem gestohlenen Polizeischiff, ganz zufällig vor Ort!« Orakel fühlte sich mit bitterer Berechtigung auf den Arm genommen. »Und ich dachte, eine Mannschaft von Örz eilt mir zu Hilfe.«

Das Eichhörnchen namens Büri pfiff vergnügt auf seinen Schneidezähnen. »Tut sie doch. Da waren wir zuletzt.«

»Vor Gericht?«, spottete Orakel.

»Das tut nichts zur Sache«, sagte Büri.

»Ja«, meldete sich ein Hirschkäfer zu Wort. »Knwrts hier. Wir hatten euch eigentlich vernünftiger in Erinnerung, besonders deinen Kollegen yury. Neben mir stehen Tllrk und Änkäp. Wo ist der Rest eures Teams?«

Vom scheinheiligen Gesäusel der Abenteurergruppe empört unterbrach Orakel die Verbindung und begab sich in die Kantine, um seinen Frust wegzuknabbern. Nüggät fuhr ohnehin gerade seinen Warpkern hoch, da es ihm am aktuellen Ort zu heiß wurde. Eine erneute Verfolgung mit Überlichtgeschwindigkeit stand bevor.

∞∞∞

Um die überschüssige Wärme an das Weltall abzustrahlen, hatte die Däns Miräköl mehrere große Radiatorplatten ausgefahren. Kohlendioxid wurde mit hohem Druck durch die Platten gepumpt und im Raumschiff verdampft; das Goldnugget hatte sich in einen Kompressorkühlschrank verwandelt. Da an den Radiatoren jedoch kein Wärmeaustausch mit der nicht vorhandenen Außenatmosphäre stattfinden konnte, kühlte das System nur sehr langsam durch seine thermische Strahlung ab. Viel zu langsam.

»Wie gehen wir vor?«, fragte Nüggät seinen Bordcomputer. Der hüllte sich jedoch in Schweigen. Weil auch nach zehn Sekunden Bedenkzeit keine Antwort erfolgte, entschied sich der Pilot eigenständig für ein zweites Normalraummanöver. Dass sich die Behörden selbst um die Verfolgung kümmerten und ein Polizeischiff tief in unkontrollierte Bereiche des Weltalls hinausschickten, war ein unangenehmes Novum. Vermutlich hatten einige übereifrige Gesetzeshüter um einen Einsatz auf eigenes Risiko gebeten und sogar vom Kommunikationsinstitut eine Zustimmung erhalten. Sümsün und Konsorten hielten das zweifellos für einen sinnvollen Einsatz ihrer Unternehmensgewinne.

»Und das mir, wo ich einen Zusammenbruch der Wirtschaft verhindert habe«, ärgerte sich der Edelmetallhändler. »Sabotage, Sabotage überall.«

Ein Rückfall in Unterlichtgeschwindigkeit konnte freiwillig geschehen oder durch Annäherung eines massereichen Objekts erzwungen werden. Der Warpantrieb scheiterte dann schlichtweg bei dem Versuch, den Raum weiter für den Überlichtflug zu krümmen. Es war daher nur eine Frage der Zeit, bis die triebwerksstarken Verfolger erneuten Laserkontakt erhalten würden.

Diesmal weniger gesund gestärkt, dafür aber sehr glücklich betrat Orakel die Zentrale. Er war mit sich und der Welt im Einklang, hatte zwei Jumbo-Pizzen verdrückt und grinste beim Blick auf die Außenbildschirme. Der Carinanebel erreichte darauf allmählich Dimensionen, die ihn auch ohne Vergrößerung gut erkennbar machten. Optisch hatte der Nebel einen hellen Rotton mit hauptsächlich 656,28 Nanometern Wellenlänge, der sogenannten »Wasserstoff-Alpha-Linie«. Orakel bevorzugte aus ästhetischen Gründen die blaue Darstellung der Sternenkarte und ließ sich den Nebel absichtlich in Falschfarben darstellen. Das hatte den angenehmen Nebeneffekt, dass auch unsichtbare Strahlung durch schöne bunte Farben dargestellt wurde. So sah der legendenumwobene Monsternebel viel einladender aus.

Mit einem Griff in die Erdnussdose auf seinem Kontrollpult begann der Navigator eine Situationsanalyse. Nüggät hätte längst aus dem Warpraum geholt werden können, doch die Abenteuergruppe um Knwrts verhielt sich passiv wie eine Fahne im Wind. Der Frust über den unerwünschten Besuch wich langsam der Überlegung, man könnte mit der Ezt Indüä Kmpnö kooperieren, müsste dies geradezu tun, um überhaupt eine realistische Fangchance zu erhalten. Änkäp, der blaurot gefärbte Äöüzz-Punk, war vielleicht noch am ehesten zu einem Zweckbündnis zu überreden. Büri hingegen war unberechenbar, hatte mehr als nur einen Schalk im Nacken sitzen und eine gehörige Meise. Knwrts hielt sie glücklicherweise regelmäßig davon ab, ihre Umgebung durch pure Tollpatschigkeit in Brand zu setzen. Am wenigsten wusste Orakel über Tllrk, den zweiten menschengroßen Käfer im Bunde. Dass dieser nun Doppelkopf spielen konnte und darin sogar yury überflügelte, schrieb Meister Orakel seinen großartigen Erklärungen zu. Womöglich spielte die Gruppe sogar genau jetzt das irdische Spiel, weiter von seinem Ursprungsort entfernt als jemals zuvor.

Schmerzhaft an die Abwesenheit seiner Freunde erinnert und mit einer düsteren Prophezeiung im Hinterkopf besann sich Orakel darauf, zu tun, was er für notwendig hielt. So war es ihm vor dem Gesetz und von Alexandra aufgetragen worden. Er hielt es allerdings für vollkommen legitim, sich bei dieser Entscheidung von einem bisher durch makellose Entscheidungen glänzenden Duo beraten zu lassen.

»Ich soll tun, was ich für notwendig halte«, eröffnete Orakel den Bordcomputern. »Könnt ihr damit etwas anfangen?«

Es war, als schwinge Verwunderung in der Computerstimme mit. »Ja.«

»Und was heißt das jetzt?«, hakte Orakel nach.

»Das heißt, dass wir dir nicht bei der Beantwortung der Frage helfen. Helfen können, sagt der Siliziumteil. Helfen dürfen, sagt der Quantencomputer. Das Ergebnis bleibt gleich: Entscheide selbst.«

Das war nach Orakels Ansicht zu viel Philosophie in zu kurzer Zeit und verlangte nach einer erneuten Stärkung. Knuspernd leerte er die Speisedose und starrte auf die Bildschirme. Noch war genug Wasserstoff vorhanden, um am Zielort zu agieren.

∞∞∞

Tiefe Krater durchzogen die Landschaft eines namenlosen Zwergplaneten, dessen atmosphärelose Einsamkeit regelmäßig durch Steine aus dem All gestört wurde. Das ließ sich kaum vermeiden: Viele der einschlagenden Himmelskörper lagen mit zu geringer Eigengeschwindigkeit auf der Laufbahn des Namenlosen um seinen weit entfernten Vaterstern. Das gelbe Licht des ebenfalls namenlosen Sterns erhellte stets dieselbe Planetenseite – »gebundene Rotation«, ein übliches Schicksal atmosphäreloser Planeten im Orbit massearmer Sterne.

Die roten Wolken des Carinanebels lagen derzeit auf der gegenüberliegenden Seite und füllten im dauerhaften Dunkel gut erkennbar den Sternenhimmel aus. Sterndichte und Zentrumsdistanz waren mit der Umgebung der Erde vergleichbar; ein blauer Riese stach in zwei Lichtjahren Entfernung leuchtend aus den Sternbildern hervor. Da keine Bevölkerung existierte, hatte niemand ihn oder seine Nachbarn am Himmelszelt getauft. Überhaupt hatte noch kein Lebewesen den Boden des Einsamen betreten. Irgendwann würde er durch die ständigen Einschläge zu Staub zerfallen, unspektakulär und unbedeutend in die Gemeinschaft eines Asteroidengürtels übergehen.

Durch vom Planeten nicht zu verantwortende Umstände wurde dieser zu einer Art Außenposten bei der Flucht einer zwielichtigen Gestalt aus dem Imperium von NGC 6193. Jahrmillionen nach Entstehen des Planetensystems kam endlich ein bisschen Leben in die Einöde: Drei fremde Flugkörper aus Metall und Kohlenstoffstrukturen schlugen parallel zur Bahnebene aus der Richtung des gelben Gestirns ein, zuerst golden, dann als weißer Torus, und mit gehörigem Zeit- und Raumabstand in blauer Keilform. Der goldene Lichtreflex hielt nahe an der physikalischen Velozitätsgrenze auf den einsamen Planeten zu, der Torus folgte in wenigen Kilometern Entfernung. Photonen tobten durch das All, doch was als zielgerichteter Laserstrahl den Verfolger verließ, traf nur diffus beim Verfolgten ein. Man hatte den optimalen Schussabstand verpasst und bemühte sich um eine Distanzkorrektur. Selbst die schnellen Prozessoren der automatischen Flugsteuerung hatten jedoch Schwierigkeiten, bei der relativistisch von innen empfundenen Hektik rechtzeitig eine Planetenkollision zu verhindern und die Däns Miräköl ins Visier zu nehmen.

Dögöbörz Nüggät war sich bewusst, dass kleinste Gesteinsbrocken wie Atombomben in seinen Schutzschirm einschlagen konnten. Dennoch ließ er sein Raumschiff mit halsbrecherischer Ungefesseltheit in eine Gegend rasen, die er für steinfrei hielt, auf die Nachfolger aber wie ein Minenfeld wirken musste.

»Nüggät spinnt«, stieß Orakel zwischen Flüchen hervor. Die Bordcomputer sahen das ähnlich und hatten längst Kurskorrekturen in Auftrag gegeben, die sich im Vergleich zur vorbeirauschenden Umgebung jedoch nur quälend langsam durch die Schiffsmechaniken propagierten. Für Orakel fand eine Achterbahnfahrt statt, auf die er gerne verzichtet hätte; Nüggät durchlebte mit stärkerer Begeisterung das gleiche Geschehen als Rennsport. Die beiden flogen in annähernder Lichtgeschwindigkeit am Polizeischiff P-2255 vorbei, das als Trojaner um den Lagrangepunkt L5 dem Planeten hinterherkreiste. Es nahm selbst dann keine Fahrt auf, als klar wurde, dass Nüggät mit seinem neu gewonnenen Überraschungsvorsprung in eine Warpblase flüchten würde. Nacheinander verschwanden die beiden Signale von der Umgebungserfassung.

∞∞∞

Was auch immer den Gesuchten dazu bewogen hatte, seine Flucht auf alten Umwegen fortzusetzen: Die Däns Miräköl stattete dem Planetensystem einen zweiten Besuch ab. Aus der ehemaligen Fluchtrichtung kommend, schoss Nüggät mit seinem Gefährt durch die Nacht, überhaupt nicht zur Überraschung der noch immer parkenden Ezt Indüä Kmpnö. Bevor die Rückkehr am Lagrangepunkt optisch sichtbar wurde, kam Leben in das Polizeischiff.

Inzwischen sichtbar abgehängt platzte die 4-6692 aus ihrer Warpblase auf das Spielfeld, schubste einen Asteroiden mit einer Gravitationswelle so nachhaltig durch die Gegend, dass dieser seine Sternbindung verlor, und jagte fast hoffnungslos dem goldenen Triumphanten hinterher. Eher mit Neid als Bewunderung starrte Orakel die rechteckigen Markierungen auf seinen Monitoren an: Der unkontrollierbare Gewaltflug des Nuggets kreuzte genau dort die Flugbahn des Polizeischiffs, wo dieses bereits ausreichend Fahrt für einen Warpeintritt gesammelt haben würde. Das entzog sich jeder kausalen Erklärbarkeit, denn die Beschleunigung musste blind stattgefunden haben. Darüber hinaus fehlte eine Erklärung für die Rückkehr in ein System, das außer einem atmosphärelosen Zwergplaneten und dünnen Asteroidengürteln nichts zu bieten hatte.

Die noch mit Unterlichtgeschwindigkeit das All durchschießenden Abenteurer waren per Warpfunk erreichbar, würden sich durch ein Telefonat jedoch nicht aufhalten lassen. Orakel bemühte sich darum, wenigstens ein kurzes Statement zu erhalten: »Hey, habt ihr eine Zeitmaschine an Bord?«

»Mathematik.« Das war eindeutig Änkäps Stimme, und mit diesem Wort verschwanden die zwei Rechtecke. Die 4-6692 beschleunigte länger als nötig, um den Warpantrieb zu schonen, und umgab sich nach einer halben Minute ebenfalls mit einer Warpblase.

Natürlich hatte sich das ursprüngliche Ziel des Fliehenden nie geändert. Der momentan in die falsche Richtung beschleunigende Goldklumpen vollzog daher einen erneuten Richtungswechsel, diesmal mit starker Umwegkurve im Warpraum. Er war sich seiner Sache so sicher, dass er ein Schneiden der Kurve durch das wendigere Verfolgerschiff in Kauf nahm. Die Verfolger verzichteten auf das technisch durchführbare Abfangmanöver und beharrten auf ihrer Beobachterrolle. Als dann die 4-6692 im Warpraum erschien, übernahmen deren Bordcomputer die Kursberechnungen und passten sich an das Geschehen an. Orakel erhielt die Initiative und nutzte diese, um so dicht an Dögöbörz Nüggät heranzufliegen, dass dessen Warpantrieb bei konstant 1.05c für seinen Piloten hörbar um einen Gnadenstoß bat. Anstatt noch näher heranzufliegen und das Zielobjekt auf Unterlichtgeschwindigkeit zu drücken, ließ Orakel den endgültigen Kurswechsel geschehen und wurde anschließend wieder langsam abgehängt.

»Warum hast du diese Chance verstreichen lassen?«, fragten die Bordcomputer.

Orakel blickte nachdenklich dem Ortungsreflex hinterher. In dezimaler Schreibweise lief ein Tachometer voran: Dreifache Lichtgeschwindigkeit, vierfache Lichtgeschwindigkeit. »Ist das eine rhetorische Frage?«

»Das hängt von deiner Antwort ab.«

»Ich habe mich nur an eure Anweisungen gehalten.«

»Dann«, sprach da wohl der Quantencomputer, »darfst du die Frage als rhetorisch betrachten.«

Schönen Dank auch, meckerte Orakel im Geist. Die Mission ging ihm langsam auf denselben. Andererseits schien es um deutlich mehr zu gehen als um rechtliche Geraderichtung nach moralisch grauen Taten. Die ganzen Vorhersagen klangen nach galaktischem Übel, und das ging sicherlich nicht von einem kleinen wichtigtuerischen Äöüzz-Barrensammler aus. Nüggät war nur ein Zahnrad in einem viel größeren Getriebe. Wie passend mechanische Begrifflichkeiten die Situation beschrieben, würden alle Beteiligten noch erfahren.

Das goldene Raumschiff steuerte einen Bereich des Carinanebels an, der auf der Erde als »Sternhaufen Trumpler 14« bekannt war. Das Innere solcher Sternhaufen war üblicherweise von starker Strahlung durchsetzt: Zweitausend Sterne teilten sich sechsunddreißig Kubiklichtjahre und beleuchteten die darin enthaltenen Planeten gemeinsam. Unter den Sternen von Trumpler 14 befand sich auch HD 93129, ein aus drei riesigen blauen O-Sternen bestehendes System, das drei Millionen Mal so hell wie Söl leuchtete und selbst über Örs mit bloßem Auge sichtbar war. Dauerhaftes Leben im Inneren dieses Infernos war nicht vorstellbar; eine Durchquerung mit Raumschiffen stellte bereits ein Abenteuer dar.

Orakel, dem aus irdischer Freizeitbeschäftigung diese Begebenheiten schon vor seinem ersten Weltraumflug bekannt gewesen waren, steuerte als Verfolger eines fast zu Fall gebrachten Flüchtenden auf einen Ort zu, der Kindheitserinnerungen an Astronomiebücher weckte.

Geh jetzt und erledige, was du für notwendig hältst.

Nein, ein Flug durch diese Weltraumgegend war definitiv nicht »notwendig«. Ließ dieser prophetische Spruch bei genauerer Betrachtung auch eine negative Auslegung zu? »Vermeide, was du nicht für notwendig hältst«, sinnierte Orakel vor sich hin und wurde stehenden Fußes von einer Lautsprecherstimme aus seinen Gedanken gerissen:

»Non sequitur. Es folgt nicht.«

Orakel nahm erschrocken den rechten Daumennagel aus dem Mund und blickte symbolträchtig im leeren Kommandoraum umher. »Das Raumschiff folgt nicht? Ich folge nicht? Keine Verfolgungsjagd?«

»Wir möchten dich auf einen logischen Fehlschluss aufmerksam machen. Aus der zuvor von dir genannten Aufforderung kann nicht geschlussfolgert werden, dass zu vermeiden sei, was du nicht für notwendig hieltest. Das ist sachlich inkorrekt.«

Welch ein Geschwurbel. »Könnt ihr das in weniger komplizierten Worten und ohne Latein erklären? Quintus habe ich vor Ewigkeiten hinter mir gelassen.«

»Selbstverständlich«, antworteten die Bordcomputer gutmütig. »Stell dir vor, jemand sagt dir, du sollst morgens Wasser trinken.«

»Das klingt nach einem gesunden Ratschlag«, befürwortete Orakel das Beispiel.

»Würdest du auf diesen Ratschlag hin nur noch morgens Wasser trinken?«

Den Kopf schüttelnd, entgegnete Orakel: »Nein, natürlich nicht. Dadurch, dass Wasser am Morgen gesund ist, wird es zu anderen Tageszeiten ja nicht ungesund.«

Quod erat demonstrandum: »Wie kommst du dann darauf, du solltest Dinge vermeiden, die du nicht für notwendig hältst?«

»Ah.« Orakel dachte angestrengt nach, was die Raumtemperatur seinem Gefühl nach um mehrere Örztemp erhöhte. »Wir werden Nüggät selbst dann verfolgen, wenn er direkt in die Hölle fliegt. Zumindest, solange unser Schutzschirm der Strahlung standhält. Da wir in dieser Hinsicht besser ausgerüstet sind als er, wird er absurde Manöver fliegen, um uns abzuschütteln. Ich möchte, dass ihr eure Wahrscheinlichkeitsbetrachtungen ein bisschen in Richtung ›Er weiß genau, was er sich erlauben kann‹ verschiebt. Der Typ hängt wie kein Mensch an seinem jahrhundertelangen Leben und wird jede wirkliche Gefahr geschickt vermeiden. Außerdem habe ich das Gefühl, er kennt sich in dieser Gegend erheblich besser aus als wir.«

Für den Navigator eines Äöüzz-Erkundungsschiffs mit all seinen Sternenkarten, Sensoren und direktem Draht zum Örz-Institut für interstellare Kommunikation war das ein erniedrigendes Eingeständnis. Auch der Quantencomputer tat sich intern schwer damit, Dögöbörz Nüggät auf seiner adrenalingesteuerten Panikmission als Fremdenführer zu akzeptieren. Der Siliziumcomputer gehorchte stumpf.

Trumpler 14

Die bunten Wolken, mit denen sich der Sternhaufen umgab, waren durch die Strahlung zum Leuchten angeregte Materie. Die statistisch für den Mittelteil des Durchflugs erwartbare Beinahe-Kollision mit einem Stern fand durch gezielte Provokation direkt am Eingangstor statt.

»Der spinnt doch«, sprach Orakel etwas aus, das der Quantencomputer ohne Höflichkeitsmechanismen sicherlich so unterschrieben hätte. Die Däns Miräköl war noch nicht ganz im Sternenhaufen angekommen, als sie bereits eine ruckartige Kursanpassung vornahm und unter großer Warpbelastung einen hellblau brennenden B-Stern anvisierte. Die Fluggeschwindigkeit sank innerhalb weniger Minuten auf ein halbes Lichtjahr pro Stunde ab, was nach galaktischen Maßstäben ein quälendes Schneckentempo darstellte. Lokal betrachtet schoss die 4-6692 auf einen Flammenball zu, und Bremsen war während der Verfolgungsjagd keine Option. Dass die Geschwindigkeit dennoch sank, war dem Masseeinfluss des Sterns zu verdanken. Ein Verglühen ließ sich so jedoch nicht verhindern.

Nüggät ließ den Warpantrieb seines Raumschiffs annähernd tangential auf die zwanzigtausend Kelvin heiße Chromosphäre zusteuern. Die Außenansicht war ohne elektronische Nachbearbeitung nicht mehr zur Orientierung zu gebrauchen, weil das Lichtermeer von Trumpler 14 bereits Photonenströme auf die Sensoren einprasseln ließ, die in menschlichen Augen zur sofortigen Erblindung geführt hätten. Niemand, absolut niemand, außer Dögöbörz Nüggät, kam auf den Gedanken, sich auf diesem stellaren Chaosball einen Tanzpartner zu suchen. Und niemand außer Orakel griff in einer solchen Situation nach Schokoladenkeksen.

»Wenn er nicht abdreht, verbrennt er einfach.« Orakel riss die Packung auf und entnahm ihr den ersten Keks. »Wir müssen davon ausgehen, dass er den Kurs kurzfristig so abändert, dass er über fünf Sterndurchmesser Distanz behält.«

Die Bordcomputer markierten in einer Vergrößerungsansicht die besagte Flugbahn. Sie unterschied sich im entscheidenden Bereich erheblich von der aktuellen Projektion.

»Bitte färbt die Lichtgeschwindigkeitsgrenze unserer Warpantriebe in unterschiedlichen Rottönen ein.«

Daraufhin umgaben zwei konzentrische Sphären den Stern, beide durchschnitten von der aktuellen Fluglinie. Das kleine goldene Klümpchen war empfindlicher gegenüber gravitativen Einflüssen als die verhältnismäßig große 4-6692. In Gedanken an kleine Wüstenmäuse und große Eisbären fragte Orakel sich allerdings, weshalb es die Hitze des blauen Riesen nicht besser reflektieren und ableiten konnte als das Erkundungsschiff. Er teilte den Bordcomputern diese Überlegungen mit und wurde sogleich belehrt:

»Diese Faustformel gilt nur im Biologieunterricht auf Planeten. In der unmittelbaren Nähe von Sternen bedeutet eine größere Oberfläche vorrangig eine stärkere Angriffsfläche für Strahlenabsorption. Größeres Volumen dient hingegen, wenn du es so nennen möchtest, nicht als Wärme-, sondern als Kältespeicher. Zudem ist unser Raumschiff weiß lackiert. Dass Nüggäts Raumschiff im sichtbaren Licht eine andere Farbe hat als unseres, liegt daran, dass Gold Strahlung unterhalb von fünfhundert Nanometern Wellenlänge zu über sechzig Prozent absorbiert. Das mag in gelbem Sonnenlicht nicht besonders auffallen, wird neben einem B-Stern aber extrem schmerzhaft.«

Da Dögöbörz Nüggät sich über die Verwundbarkeit seiner Eitelkeitslackierung bewusst war, verzichtete er auf das Experiment. Mit sanften Stößen gegen die Tangente drückte er die Däns Miräköl von der chromosphärischen Flugrichtung weg ins All. Ungefähr dreizehn Sternradien sollten es sein. Orakel, bei dem die Kursänderungen zeitlich verzögert, aber am selben Ort erfolgten, biss bei jedem Stoß in das Gebäck. Es dauerte viele Minuten, bis Schokolade und Sensordaten ein Lächeln auf die Bildschirme zurückfallen ließen. Ein wenig Häme, nur ganz wenig, das Gefühl sanfter Schadenfreude mischte sich mit der Erleichterung: Nüggät hatte nie eine andere Wahl gehabt und musste sich eine gewisse Unterlegenheit gegenüber dem irdischen Emporkömmling eingestehen. Diese rührte auch nicht ausschließlich von der Technik her: Mit Orakel hatte ein Optimist den Sternennebel betreten, der sich unvoreingenommen durch den Legendensumpf schlug.

Der Temperaturanstieg war in der Zentralkugel nicht spürbar, weil die 4-6692 dem Stern ihre kleinstmögliche Stirnfläche zuwandte und die Klimaanlage die Hitze im unbewohnten Außenring verteilte. Der Edelmetallhändler jedoch geriet gehörig ins Schwitzen und wünschte sich, einen größeren Abstand gewählt zu haben. Viel zu nah zog die hellblaue Scheibe auf der Außenansicht vorbei, umfasste kurzzeitig knapp neun Grad des Bildschirmkreises und verschwand in der Ferne. Bis jedoch die thermischen Auswirkungen des Systembesuchs abgeklungen waren, vergingen mehrere Stunden …

∞∞∞

…, wenn man den Prozess nicht mit Wasser beschleunigte. Inmitten eines lebensfeindlichen Strahlenmeers, zweihundert astronomische Einheiten von seinem blauweiß leuchtenden Doppelstern entfernt, wartete ein ganzer Planet überzogen mit der kostbaren Abkühlung. Die Pole waren gefroren, die Äquatorregion von milden Dampfwolken bedeckt. Eine dichte Sauerstoffatmosphäre rundete das Bild ab.

Idyllisch sah die Wasserwelt aus der Ferne aus, einladend blau. Durch die Sternenfarbe kam das Dihydrogenmonoxid besonders schön zur Geltung. Still und starr lag die See. Kein Fisch, keine Wasserpflanze gedieh unter dem beißenden Ultraviolett. So war das blauweiße Nass ganz ohne Chlorbeigabe steril und dennoch nicht zum Schwimmen geeignet.

Dögöbörz Nüggät liefen unter seinem grünen Fell die Schweißtropfen von der Stirn. Eine kühle Dusche im Schutz des Raumschiffs, aber mit dem frischen Wasser von draußen, war lange überfällig. Das goldene Nugget fädelte sich in eine Umlaufbahn ein, ging im Bereich von 368 Örztemp über dem Äquator nieder, ließ einen Kometenschweif über dem Horizont aufblitzen und tauchte mit vierhundert Metern pro Sekunde ab. Die Überschalldruckwelle ließ das Wasser verdampfen, das Raumschiff in den Dampf einschlagen und die Fahrt durch den entstandenen Unterdruck von hinten stark abbremsen. Die Däns Miräköl war unterwasserfähig und bewegte sich mit Turbinen weiter voran, deutlich langsamer als in der Atmosphäre, mit fünf Metern pro Sekunde.

Orakel beobachtete den Tauchvorgang aus der Ferne. Er hatte mit der 4-6692 einen gemütlichen Orbit um die Wasserwelt gewählt und besaß genug Wasser an Bord, um sich im Bordpool ein Hörbuch zu gönnen. Auf den Bildschirmen des Wellnessbereichs bewegte sich eine Unterwassermarkierung unter den langsam verebbenden Einschlagswellen. Es bestand die Möglichkeit, einen Normalfunkspruch zu senden, doch die beiden Rivalen hatten sich bereits alles gesagt, was es zu sagen gab. Auch von der Planetenoberfläche kam kein Funkspruch zu ihm herauf.

Mit Kohlensäure versetzt wäre selbst hundertfach wiederverwertetes Abwasser schmackhaft gewesen, doch dieses Glas enthielt entsalzenes Frischwasser vom Planeten Wildfalle. Die Vorräte waren riesig. »Kann mir jemand kurz berichten, was aus dem Polizeischiff geworden ist?«

»Von der Ezt Indüä Kmpnö fehlt jede Spur. Es bestand zuletzt eindeutig die Möglichkeit, die Verfolgung zu eurem Vorteil zu beenden. Keiner hat sie genutzt. Auch jetzt könntest du eigentlich deine Position für einen Sturzflug und einen Nahkampfangriff nutzen.«

»Das würde sich nicht richtig anfühlen.« Orakel bog sich knackend nach hinten. Irgendwo wurde ein Nerv getroffen und ein heißer Puls zog sich durch den gesamten Körper. »Das ist ein bisschen so, als würde man auf einen Verwundeten schießen.«

»Nüggät ist ein Äöüzz. Er weiß genau, dass er einen fairen Prozess vor den Gerichten seines Heimatplaneten erwarten kann. Wenn er sich dennoch aktiv der Verhaftung entzieht, gibt es keinerlei moralischen oder rechtlichen Bedenken dagegen, sein Fluchtgefährt flugunfähig zu schießen und ihn nach Örz zu überführen.«

»Ist das nicht genau das, was er auf El Dörädö getan hat?«

»Möglich. Man wird das gerichtlich beurteilen müssen, ganz besonders mit Blick auf deinen Ex-Bekannten Floating Island.«

Orakel verschluckte sich fast. »Ihr meint, Island ist tot? Nüggät ist kein Mörder.« Nein, so unmoralisch war der Edelmann sicherlich nicht.

Die Bordcomputer enthielten sich einer themenbezogenen Antwort und wechselten übergangslos zum Tagesgeschehen. »Der Wasserstoffvorrat ist nicht mehr in einem Zustand, der sich zum Start einer Langzeitexpedition eignen würde. Wir haben auf Wildfalle zwar das Trinkwasser ausgetauscht und genug Konserven für jahrzehntelanges Überleben in einem Atombunker an Bord, aber dein kleines Wettrennen zwischen den Sternen war energetisch äußerst teuer.«

»Nüggät wird es dann wohl ähnlich gehen. Aber wenn wir eine Tankpause einlegen, fliegt er uns davon.«

»Nüggät denkt vor allem wirtschaftlich. Und nur zur Erinnerung für dich, Örsmensch: Er ist in der extremsten Form von Kapitalismus aufgewachsen, die in der Galaxis bekannt ist. Du könntest versuchen, einen Vertrag auszuhandeln.«

Nun musste Orakel lachen. »Das sieht euch ähnlich. Das Gleiche gilt für euch. Ich werde jedenfalls einen Teufel tun, mit dem Trickser da unten zu verhandeln. Im Zweifelsfall haben wir den längeren Atem. Das ist doch so, oder?«

Unumwunden erhielt er von den Computern die Bestätigung, dass die 4-6692 trotz höherer Masse und höherem absolutem Treibstoffverbrauch generell effizienter als die Däns Miräköl arbeitete. Das Erkundungsraumschiff war für genau solche Situationen gebaut worden, das kleine Individualschiff war ein Prestigeobjekt und diente üblicherweise nur zum Personentransport innerhalb der Äöüzz-Wirtschaftsvereinigung. Diese war von Tankstellen durchzogen, die mitten im All schwebten oder zumindest auf Planeten ein schnelles Auftanken mit reinem Wasserstoff anboten.

Der schon wieder hungrige Navigator schloss daraus, dass Nüggät früher oder später um einen gnadevollen Tankstopp betteln musste. Auf den Monitoren waren die Wellen inzwischen verschwunden und die möglichen Positionen des U-Boots als grüner Kreis eingefärbt: Da wurde jemand nicht gerne beobachtet und hatte sich in ortungsresistente Tiefen zurückgezogen. Orakel sah das mit Gelassenheit, denn er konnte jederzeit seinen Orbit verändern, um den Überblick auszudehnen oder die Umlaufzeit zu verringern. Irgendwann musste Nüggät auftauchen. Selbst falls das auf der anderen Seite des Planeten geschah, blieb genug Zeit für eine Verfolgung durch das Weltall. Der Planet ließ sich dabei nicht dauerhaft als Ortungsschutz zwischen die Schiffe schieben, denn der Fliehende besaß seinerseits nicht die zum Ausweichen notwendigen Informationen. Die Bordcomputer der 4-6692 variierten den Kurs, um Vorausberechnungen in Abwesenheit unmöglich zu machen. Wenn Nüggät sehen wollte, wo sich der Verfolger befand, musste er sich seinerseits zu erkennen geben. Floh er blind, durchkreuzte er Orakels Sichtfeld.

Nach einem ausgiebigen Abendessen verabschiedete Orakel sich in Richtung seiner Kabine. Bei aller Gelassenheit fiel es ihm schwer, den nun wirklich überfälligen Schlaf zu finden, um Kraft für weitere Verfolgungsflüge zu sammeln. Die Bordcomputer halfen subtil nach, indem sie allmählich die Helligkeit und den Blauanteil der Außenansicht an den Kabinenwänden verringerten.

∞∞∞

Am nächsten Morgen begab sich Orakel in die Kantine, brachte mit einer Mischung aus Zucker und Vollkorn seinen Kreislauf einigermaßen nachhaltig in Schwung, betrat mit wehmütigem Blick an Frees Kabinentür vorbei den Nordgang und verharrte im gläsernen Zwischenraum, um den Flug über die Planetenoberfläche zu genießen. Draußen ging zum fünfzigsten Mal an diesem Tag die Sonne auf. Das blauweiß blendende Licht wurde durch Elektronik im Glas und den Schutzschirm gedämpft; besonders die kurzwellige Strahlung außerhalb des sichtbaren Bereichs wurde absorbiert. Dennoch hätte Orakel ein Sonnenbad nehmen können, wenn er gewollt hätte.

Er wollte nun aber vor allem eines: Nüggät beim Auftauchen erwischen und sich ihm erneut an die Fersen heften. In der Zentrale angekommen, forderte er einen kurzen Lagebericht an.

»Das mutmaßliche Hauptziel des Eintauchens, die Abkühlung nach dem Sternenflug, ist längst erreicht. Auch wir haben inzwischen ganz ohne Wasserberührung die Temperatur abgebaut, die sich im Außenring angestaut hatte. Zum Trinkwasseraustausch bestand ebenfalls mehr als genug Gelegenheit. Das derzeitige Verharren unter der Wasseroberfläche ist nur durch Schlaf oder Zermürbungsversuche zu erklären.«

»Letzteres wäre ziemlich dämlich«, beurteilte Orakel die Möglichkeiten. »Ich habe hier oben einen Wellnessbereich, ein Sportzentrum, ein Tonstudio und abwechslungsreiches warmes Essen. Wenn mir danach ist, kann ich in Hörbüchern schwelgen, deren Gesamtdauer die Lebenserwartung eines Äöüzz übersteigt. Und ich kann an meinem Tagebuch weiterschreiben, bis der Arzt kommt.«

»Wir wagen zu vermuten, dass du die Geduld und die Leidensbereitschaft deines Jagdobjekts deutlich unterschätzt. Auch dein eigenes Leben ist begrenzt; deine Freunde machen sich irgendwann Sorgen um dich. Wir können uns auch nicht wirklich vorstellen, dass du mehrere Jahre lang hier verharren möchtest, wo es doch immer die winzige Möglichkeit geben wird, dass Nüggät längst unbemerkt geflohen ist.«

Die Stirn runzelnd, entgegnete er: »Ich dachte, Nüggät kann objektiv nicht unbemerkt fliehen.«

»Es ist unwahrscheinlicher als ein Lottogewinn, aber es wird dich auf Dauer zermürben, dass du mit der Wahrscheinlichkeit eines Lottogewinns bis an dein Lebensende hier auf jemanden warten musst, der längst geflohen ist.«

Und die verdammten Bordcomputer hatten wie immer recht. »Der grüne Kreis ist derzeit noch überschaubar. Können wir das Wasser irgendwie durchkämmen?«

Es bestand die Möglichkeit, zivile Sonardrohnen abzusetzen. Die entsprechende Programmierung und Bestückung an den Mehrzweckrobotern war bereits vorgenommen worden und Orakel entschied sich zu ihrem Einsatz. Kurz darauf verließ ein Schwarm insektenähnlicher weißer Flugobjekte die Bodenluke des Schiffs und verteilte sich über den kreisförmigen Bereich der Wasseroberfläche, unter dem Nüggät sich derzeit befinden konnte. Alle Mitglieder des Schwarms tauchten zeitgleich unter die Wasseroberfläche und sendeten Schallsignale zur Ortung aus.

»Hättet ihr das auch ohne mich getan, wenn der Kreis zu groß geworden wäre?«

»Ja, aber es bestand keine Eile. Der Kreis wäre auch in einigen Tagen noch durchkämmbar gewesen. Die Möglichkeit, direkt hinterherzutauchen und Waffen einzusetzen, hattest du ja absichtlich verstreichen lassen.«

»Gut.«

∞∞∞

Der Ozean war tief, doch die Druckbeständigkeit eines Raumschiffs hatte ihre Grenzen. In fünfzig Metern Tiefe bestand ohne energiefressende Schirmunterstützung ein gutes Mittelmaß zwischen Unsichtbarkeit und Wasserdruck. Für die Echolot-Roboter der 4-6692 stellte diese Tiefe jedoch keine Herausforderung dar. Nur wenige Minuten nach Beginn der Suchaktion reflektierten tieffrequente Schallwellen an der Außenhülle der Däns Miräköl.

»Das ging schneller als erwartet«, freute sich Orakel.

»Das ging schneller als befürchtet«, ärgerte sich Nüggät. »Wir warten noch, bis der Donut eintaucht, dann machen wir uns aus dem Staub.«

Als die 4-6692 ihre Ortungsgeräte wieder eingesammelt hatte und dazu ansetzte, über der Däns Miräköl ins Wasser abzutauchen, um diese notfalls durch Herunterdrücken in die Tiefsee zur Aufgabe zu zwingen, schlug Nüggät einen Haken und schoss empor. Orakel sah noch erschrocken auf die optische Erfassung, als die Bordcomputer das Manöver bereits verarbeitet und einen Notstart veranlasst hatten. Nun machte sich die größere Masse des Erkundungsschiffs bemerkbar; schwerfällig löste sich der weiße Torus aus dem Wasser, hinterließ kreisförmige Wellen und schaltete frühzeitig den Raketenantrieb hinzu. Der gelbe Komet durchstieß die Stratopause und stellte seinen Verfolger vor physikalische Herausforderungen.

Leicht angesäuert drückte Orakel seine geballten Hände hinten auf das Bildschirmpult. Seine Arme schlossen ein immer kleiner werdendes Bild der Däns Miräköl ein, bis der Informationsgehalt unter einen Schwellwert fiel. Die Darstellung wurde durch eine gerenderte Außenansicht der Planetenkugel ersetzt, aus der ein Raumschiff ins All schoss. Entscheidend war nun vor allem, wie früh der Warpantrieb gezündet wurde: Wie stark legte Nüggät es überhaupt darauf an, nicht verfolgbar zu sein? Auf Kosten der Bauteile bot sich hier möglicherweise ein schmerzvoller Fluchtsprung an.

Tausende Lichtjahre von der Wirtschaftsvereinigung entfernt vermied der Solo-Fluchtpilot das Herbeiführen eines Wartungsfalls. Der Vorrat an Ersatzkondensatoren war vor der Sabotageaktion geschrumpft und seitdem nicht nachgefüllt worden. Ein verfolgtes Raumschiff war besser als ein kaputtes Raumschiff.

Erst, als die Wasserwelt drei Lichtminuten entfernt und kaum noch mit bloßem Auge zu erkennen war, zündete Nüggät den Warpantrieb. Deutlich näher am Planeten hatte die 4-6692 inzwischen stark genug beschleunigt, um einen Verfolgungsflug zumindest unmittelbar reparaturlos zu überstehen. Im Weltall zeigten sich erneut die Vorzüge des hochwertigen Äürörä-Überlichtmoduls.

Carinas dunkles Geheimnis

Auf Dögöbörz Nüggäts Schiff studierte ein ausgeschlafener, weitestgehend medizinisch reparierter Äöüzz mit noch nicht vollständig getrocknetem Fell einen Bildschirm gegenüber der Nasszellentür.

Sobald das Tor entriegelt ist, gibt es kein Zurück mehr, zitierte der Pilot im Gedächtnis. Alles, was im Brief stand, war auf geheimnisvolle Weise eingetreten. Und obwohl ihm ein Regenbogen als der Beginn einer neuen Ära vorausgesagt worden war, scheute er davor zurück, die Konsequenzen aus den Ratschlägen zu ziehen. Es war keine leichte Entscheidung, die ihm bevorstand.

Du siehst, wohin du siehst, nur Eitelkeit auf Erden. Was dieser heute baut, reißt jener morgen ein: Wo jetzt noch Städte stehn, wird eine Wiese sein, Auf der ein Schäferskind wird spielen mit den Herden.

Was jetzt noch prächtig blüht, soll bald zertreten werden. Was jetzt so pocht und trotzt, ist morgen Asch’ und Bein, Nichts ist, das ewig sei, kein Erz, kein Marmorstein. Jetzt lacht das Glück uns an, bald donnern die Beschwerden.

Der hohen Taten Ruhm muss wie ein Traum vergehn. Soll denn das Spiel der Zeit, der Einzelne bestehn? Ach! Was ist alles dies, was wir für köstlich achten,

Als schlechte Nichtigkeit, als Schatten, Staub und Wind; Als eine Wiesenblum’, die man nicht wieder find’t. Noch will, was ewig ist, kein Einziger betrachten.

Nüggät seufzte. »Kann nichts dich, Fliehende, verweilen, oh meines Lebens goldene Zeit? Vergebens, deine Wellen eilen, hinab ins Meer der Ewigkeit.«

Es gab nur eine mögliche Deutung: Die Reise musste durch den Schlüssellochnebel führen; kein anderes Objekt im Carinanebel kam als Ziel dieser Metapher infrage. Dem Hinweis mangelte es an Subtilität und Kreativität, und der Verfasser des Briefes hatte kein Interesse daran gehabt, den Leser in die Irre zu führen. Das »Tor« war der gesamte Nebel, und er umschloss irgendetwas Grauenvolles, einen Quell des Verderbens, eine Zeitbombe. Unfreiwillig zu einer Art Minenräumkommando geworden, durchflog Nüggät ohne weitere Provokationen den Sternhaufen, stellte das Abhängen seines irdischen Gegenspielers vorerst an das Ende seiner Prioritätenliste und steuerte auf ein dunkles Gebilde zu. Dessen Bezeichnung als das »Schlüsselloch des Carinanebels« stammte aus dem Jahr 1873, in welchem die irdische Autorin Emma M. Converse die »Herschel'sche Lemniskate« in Appletons’ zehntem Journal als »schlüssellochförmige Höhle« beschrieben hatte. Die »Höhle« durchmaß sieben Lichtjahre, sah tatsächlich wie ein schwarzes Schlüsselloch aus und wirkte auch ganz ohne Legenden eher bedrohlich als gastfreundlich.

Ungefähr zwanzig Lichtjahre vom Dunkel entfernt befand sich ein brauner Zwerg, ein wie Jupiter aussehender Gasplanet, der durch seine zwanzig Mal größere Masse bereits rötlich leuchtete. Im Gegensatz zu Sternen fand in braunen Zwergen keine normale Wasserstofffusion statt: Dreizehn Jupitermassen reichten zur Deuteriumfusion aus, doch erst achtzig Jupitermassen verwandelten Himmelskörper in echte Sterne, in denen Protium zu Helium wurde. Der braune Zwerg galt daher nicht als »Stern« und leuchtete trotzdem. Tiefrot, größtenteils unterhalb des sichtbaren Frequenzbereichs, erwärmte er …

… nichts.

∞∞∞

»Der edle Äöüzz wird vermutlich gleich hier eintreffen und sich gehörig wundern.« Knwrts klapperte mit seinen bunten Greifzangen. Das Chitintrihalogenid in seiner Nahrung hatte den gesamten Käferkörper in ein irisierendes Kunstwerk verwandelt, das dem Piloten der Gruppe würdig war. Änkäp, der individualistisch autoritätsfeindliche Äöüzz, erinnerte ihn gelegentlich an seine Ranggleichheit mit der restlichen Besatzung. Eines hatten alle vier Abenteurer gemeinsam: Ein stetes Streben nach möglichst wertvollem Besitz. Klassische Definitionen von Eigentum waren ihnen suspekt: Solange nicht eine höhere Macht eingriff und die Besitzverhältnisse umstieß, besaß jeder nur das, was er selbst gegen andere verteidigen konnte. Das galt für das waffenstarrende Polizeiraumschiff ebenso wie für das Gold im Frachtraum: Kontostände waren der Ezt Indüä Kmpnö egal, auf Gutscheine jedes Ausstellers wurde gepfiffen und jeder war sich selbst der Nächste. Mit den Strukturen der Äöüzz-Wirtschaftsvereinigung arrangierte sich das Quartett recht gut, da der dortige Kapitalismus gerade genug mit den anarchistischen Werten gemeinsam hatte, um ihn auszunutzen, statt ihn zu bekämpfen. Kopfgelder wurden dankend angenommen, sofort in Metall verwandelt und für weitere Abenteurer genutzt: Raumschiffe, Goldbarren, Waffen und eine gehörige Portion Übermut ballerten sich rücksichtslos durch das All. Neider gab es seit Ewigkeiten, Feinde nur für kurze Zeit.

Die P-2255 hatte die Däns Miräköl nicht nur tagelang unbemerkt verfolgt, sondern diese nun auch noch im Warpraum überholt. Der merkwürdige Vielfraß von Örs hielt sich für einen großen Verfolger, doch er besaß weder die Waffen noch den Mumm, um Nüggät zu stoppen. Hier spielten Profis ein gefährliches Glücksspiel außerhalb Orakels Liga.

Als das goldene Raumschiff eintraf, wurde es von einem Gravitationsstoß in Flugrichtung erschüttert. Der Schutzschirm leuchte auf, als eine Hochgeschwindigkeitskollision stattfand. Peripher, aber bei den vorherrschenden Geschwindigkeiten beinahe fatal: Ein streifendes Ramm-Manöver an der Oberseite. Dazu gab es den folgenden Funkspruch: »Schluss mit den Spielchen. Mit diesem System stimmt irgendetwas nicht, und wir verlangen eine Erklärung.«

»Macht ihr Witze?«, schrie Nüggät mit aufgerissenen Augen in seine Mikrofone. Die Bordelektronik war gut damit beschäftigt, den Kollisionsschaden zu beheben. Dass die Außenhülle noch stand, war ein Wunder. »Das Einzige, was mit diesem System nicht stimmt, ist eure Anwesenheit!«

»Die möchten wir ja gar nicht bestreiten«, funkte Büri. »Aber das ist jetzt das zweite Mal, dass die Kartensignatur nicht mit dem Systeminhalt übereinstimmt. Du scheinst dich hier besser auszukennen als jeder andere Äöüzz, also raus mit der Sprache: Was wird hier gespielt?«

Nüggät nahm die Nachricht ernst. Während er kollisionslos das Polizeischiff überholte, wertete er die Außenüberwachungsdaten aus. Ein Y-Zwerg mit einer Masse von ungefähr 8,46×10²⁸ ISG leuchtete im nahen Infrarot vor sich hin. Andere Objekte waren nicht zu sehen. »Wo sind die Monde?«

»Es würde uns ungemein beruhigen, wenn du uns das erklären könntest. Wir verstehen da auch relativ wenig Spaß.« Die Ezt Indüä Kmpnö hielt nicht viel von wörtlichen Warnungen; Tllrks Laser kamen bereits zum Einsatz. Für die vorlädierten Schutzschilde wurde es brenzlig, doch Nüggät konnte bei bestem Willen nicht die geforderte Antwort liefern.

»Ich sehe ja ein, dass ihr gerade am längeren Hebel sitzt. Mir ist auch bewusst, dass ihr mich eher verglühen lassen würdet, als auf die Antwort zu verzichten, denn hier ist wirklich irgendetwas Merkwürdiges geschehen. Wir haben das bei unserem ersten Stopp vor dem Nebel vermutlich gemeinsam bemerkt, und nun sind die Monde in diesem System ebenfalls verschwunden. Spurlos: Keine Gaswolke, kein Trümmerhaufen. Gut, vielleicht sind alle Trümmer restlos ins Deuterium gestürzt, aber das haltet ihr wohl ebenfalls für eine schlechte Ausrede.«

Da die Laser sich unbeirrbar voran fraßen und das Kraftwerk erheblich belasteten, blieb Nüggät nur noch die Flucht. Man würde ihm ohnehin nicht glauben, dass er mit dem Verschwinden der Himmelskörper nichts zu tun hatte. Die Geschwindigkeit war gut, aber die Masse des Polizeischiffs verhinderte derzeit einen Sprung. Zum zweiten Mal trat Nüggät das Notfallpedal durch; diesmal lag die Überraschung auf Büris Seite. Woher kam diese Beschleunigungskraft?

Das Goldschiff war schneller verschwunden, als die P-2255 ihre Kraftwerksleistung anpassen konnte. Ähnliches war zuvor Orakel widerfahren, der sich bereits in überlegener Position gesehen hatte. Das Überraschungsmanöver war eine wertvolle Lebensversicherung, aber es lag in seiner Natur, dass es jedem Gegner gegenüber nur einmal genutzt werden konnte. Noch einmal würde sich Büri nicht überrumpeln lassen.

Orakel kam gerade rechtzeitig an, um den Fluchtsprung zu sehen und sofort wieder in den Warpraum überzugehen. Die Besatzung der P-2255, die sich gerade per Funk an ihn wenden wollte, redete gegen eine Wand und fühlte sich endgültig an der Nase herumgeführt. Ungehalten nahm sie als Schlusslicht an der Kolonne teil.

Dunkelheit umschloss den Eindringling. Sie umspülte ihn mit Sternenstaub, grauschwarzer Masse, die alle umgebenden Sterne verdunkelte und das Weltall mitten im Carinanebel wieder aussehen ließ wie die Bereiche fernab davon. Trumpler 14 war schwach zu erkennen, Eta Carinae wirkte wie ein Vollmond in düsteren, bewölkten Erdnächten. Die Umgebung lud zum Gruseln ein, war ansonsten abstoßend und als Tourismusziel bereits durch ihre Unübersichtlichkeit ungeeignet. Kein Fremdenführer wäre dazu in der Lage gewesen, naiven Sonntagsfliegern in diesem Dickicht eine sichere Navigation zu ermöglichen. Wer sich in diesen Nebel begab, tat dies auf eigenes Risiko: Sternlose Planeten und Asteroiden durchzogen den Staub, waren mangels Reflexion nahezu unsichtbar bis zur Kollision und wirkten wie ein Minenfeld.

Den bekannten Dichtedaten widersprechend fand auch eine starke Beeinflussung des Warpantriebs statt. Der Schlüssellochnebel war längst nicht mehr das seidene Gebilde, das auf Örs zu sehen war; in den letzten Jahren waren Veränderungen eingetreten, die optisch weder Örs noch Örz erreicht hatten. Da half kein Teleskop: Was hier geschehen war, würde man auf der Erde erst in tausenden Jahren bemerken.

Dögöbörz Nüggät bemühte sich, durch Kursänderungen ein zweites Abfangmanöver zu verhindern, ohne dabei sein Raumschiff in einen der zahlreichen Felsbrocken rasen zu lassen, die den Nebel erschreckend hochfrequent durchzogen. Das war niemals natürlich entstanden und erklärte möglicherweise das Fehlen ganzer Planetenmassen außerhalb des Nebels. Jemand hatte die Planeten und Monde gestohlen und im Schlüsselloch zerbröselt. Keine Macht der Galaxis, nicht einmal die Äöüzz, verfügte über die technischen Mittel für eine derart groß strukturierte Umformungsaktion. Die Legende vom »Monster des Carinanebels« gewann an Substanz.

Büri sah eine Kursänderung um ungefähr 90 Grad nach links und bildete mit ihrem Kurs die zugehörige Hypotenuse. Bevor sich das Dreieck schloss, war der Verfolgte jedoch bereits schräg nach oben abgebogen. Alles geschah im Schneckentempo, weil die Warpantriebe sich an der Umgebung die Zähne ausbissen. »Vielleicht hat er wirklich nichts mit diesem Chaos zu tun.«

Änkäp pflichtete ihr bei. »Das übersteigt an Größenwahn und Anmaßung alles, was das Imperium jemals von sich gegeben hat. Es ergibt noch dazu überhaupt keinen Sinn.«

»Keinen erkennbaren Sinn«, präzisierte Tllrk. »Nur, weil du etwas nicht durchschaust, ist es nicht direkt sinnlos.«

»Meistens doch.« Änkäp lachte. »Fast immer sehr wohl.«

»Vielleicht will hier jemand etwas verstecken«, mutmaßte der Pilot. »Du kannst mich jetzt wieder ans Steuer lassen.«

Büri übergab das Kontrollpult an Knwrts und wandte sich der Umgebungsüberwachung zu. »Schwarzer Staub, so weit das Auge reicht. Ich vermute, das Gebilde fällt gravitativ in sich zusammen, aber das lässt sich momentan nur schwer berechnen. Es fehlen Daten über den aktuellen Zustand des Nebels.«