Infinite Adventures 2 - Tobias Frei - E-Book

Infinite Adventures 2 E-Book

Tobias Frei

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Beschreibung

Teil 1: Befreiung der Erde: Der ehemalige FBI-Agent Floating Island hat sich nach einer Periode demokratisch legitimierter Weltherrschaft zum Diktator auf Lebenszeit ernannt. Die Nationen der Erde zittern unter Sklaverei und Willkür. Die vier menschlichen Protagonisten Alexandra, Free, Orakel und yury wurden von einem Gericht des außerirdischen Imperiums von NGC 6193 rechtskräftig zur Behebung des Schadens verurteilt. Sie brechen in das Pentagon ein und jagen den Diktator bis nach Kanada. In einem geheimen Bunker unter der Toronto City Hall kommt es zum Showdown. Teil 2: Das Gnörk-Kartell: Auf den Planeten der außerirdischen Wirtschaftsvereinigung treibt das Gnörk-Kartell sein Unwesen. Anonymen Hinweisen zufolge umkreist das Generationenschiff El Dörädö, interstellar gesuchter Hauptsitz der Verbrecher, einen planetenlosen Stern namens Cäribbeän. Dieser ist fünfzig Lichtjahre von den Außengrenzen der Vereinigung entfernt. Um das Generationenschiff gewaltlos an einer Flucht zu hindern, wird ein Raumschiff mit großer Masse benötigt. Während die Protagonisten hierfür einen waghalsigen Vorstoß zum Hauptplaneten eines Piratenimperiums durchführen, wählt ein alter Bekannter einen anderen Weg. Dögöbörz Nüggät, Edelmetallhändler von Örz, verschafft sich mit einem schweren Plutoniumlaser Zutritt zur El Dörädö und will das Triebwerk mit einer Gravitationsgranate sprengen. Ein Wettlauf der Kopfgeldjäger beginnt.

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Seitenzahl: 420

Veröffentlichungsjahr: 2022

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Infinite Adventures 2 Originale deutschsprachige Fassung – nicht übersetzt. © Tobias Frei, infiniteadventures.de

Dies ist eine offizielle Ausgabe der Infinite Adventures, herausgegeben von Tobias Frei. Veränderte Versionen und unautorisierte Nachdrucke müssen deutlich als solche erkennbar sein. Auch das Impressum muss angepasst werden, wenn das Dokument verändert wird.

Diese EPUB-Ausgabe wurde speziell für den Vertrieb über Drittanbieter erstellt. Aufgrund rechtlicher Bedenken ist diese spezielle Ausgabe NICHT frei lizenziert.

Printed on Örz, NGC 6193 – brought to you by IGLS, your friendly interstellar freight forwarding service!

Impressum

Dieses Dokument enthält Internetlinks, die zum Zeitpunkt der Veröffentlichung von mir geprüft wurden. Den Inhalt der verlinkten Seiten mache ich mir allerdings nicht zu eigen; ich habe keine Kontrolle über spätere Veränderungen des verlinkten Inhalts. Sollte entgegen meinen Erwartungen eines Tages ein Link defekt oder sogar schädlich bzw. unangemessen geworden sein, bitte ich um eine Benachrichtigung per Post. Ich werde solche Links dann schnellstmöglich aus weiteren Ausgaben entfernen. Da ich keine Haftung für die Sicherheit der Links übernehmen kann, erfolgt der Aufruf der verlinkten Seiten auf eigene Gefahr.

Quelldokument

»Infinite Adventures 2«, Auflage 1, 2022-04-01

Version der HTML-Ausgabe

1.0.0, letztes Update 2022-04-01

Text-Urheber

Tobias Frei, infiniteadventures.de

Verlag und Herausgeber

Tobias Frei Böhler Weg 19 42285 Wuppertal [email protected]

E-Book-Vertrieb

epubli – ein Service der neopubli GmbH, Berlin

Was bisher geschah

Der ehemalige FBI-Agent Floating Island hat sich nach einer Periode demokratisch legitimierter Weltherrschaft zum Diktator auf Lebenszeit ernannt. Die Nationen der Erde zittern unter Sklaverei und Willkür.

∞∞∞

Die vier menschlichen Protagonisten Alexandra, Free, Orakel und yury wurden von einem Gericht des außerirdischen Imperiums von NGC 6193 rechtskräftig zur Behebung des Schadens verurteilt.

Alexandra ist eine goldverliebte Chemikerin. Sie hatte mit gestohlenen Forschungsdaten einen Raketenantrieb für Helikopter entwickelt.

Free ist ein Computerhacker und notorischer Linux-Fan. Gemeinsam mit seinem besten Freund Orakel hatte er das Gemälde »Mona Lisa« aus dem Louvre-Museum entwendet.

Orakel, ein leidenschaftlicher Mechaniker und Vielfraß, hat eine gültige Pilotenlizenz für Langstreckenflugzeuge. Nach einem Golddiebstahl in den Vereinigten Staaten von Amerika verhalf er seinen Freunden zur Flucht über den Atlantik.

yury, Mathematiker und Helikopterpilot, beförderte das international verfolgte Team mit einem modifizierten Tandemhubschrauber ins Weltall. Alexandras Erfindung und ein vermeintliches Kinderspielzeug, der sogenannte »Hyperwurm«, ermöglichten eine Reise in das Herz eines fremden Sternenreichs. Das gestohlene Gold bildete die wirtschaftliche Grundlage für ein neues Leben abseits der Erde.

∞∞∞

In naivem Wohlwollen stellten die Protagonisten bei einem Heimatbesuch einem alten Bekannten ihre Technologie zur Verfügung. Dieser übernahm damit die Weltherrschaft und wurde zum grausamen Diktator.

Sitz des zu stürzenden Alleinherrschers ist Washington, District of Columbia. Der dafür benötigte Zerstörungscode befindet sich im Pentagon.

In einem gestohlenen Möbeltransporter auf einer Baustelle nahe dem Pentagon bespricht das Quartett die letzten Schritte auf dem Weg zur Errichtung einer föderalen Republik.

∞∞∞

Die Handlung des Romans ist fiktiv, absurd und nicht zur Nachahmung geeignet. Etwaige Ähnlichkeiten mit tatsächlichen Begebenheiten oder lebenden oder verstorbenen Personen wären rein zufällig. Der gesamte Inhalt des Buches wurde frei erfunden.

Befreiung der Erde

Kernel Panic

[376730.313667] Kernel panic – no more cookies: Fatal exception in food. [376730.313667] Bailing out, you are on your own. Good luck.

»Was ist das denn?!«, rief Free durch den Lkw.

Orakel blickte ihm über die Schulter und wusste die Antwort: »Sie sind gelandet.«

Daraufhin sah auch yury neugierig auf den Bildschirm des Örztöp-Laptops. Nachdem er sich alles durchgelesen hatte, sagte er nur: »Ich glaube, er hat Hunger. Auf Kekse.«

Alexandra hatte alles mitgehört, erklärte die drei in Gedanken für absolut verrückt und experimentierte weiter an ihrem neuen Sprengstoff herum. Free entschied sich dafür, den Reset-Knopf zu drücken, während yury im Katalog eines Baumarkts nach Metallwerkzeugen suchte. Orakel stellte sich vor den Lastwagen und hielt, mit einem Stück Pizza in der linken und einer außerirdischen Touchfolie in der rechten Hand, Ausschau nach unbekannten Flugobjekten. Es war dunkel und aus irgendeinem Grund 4 Uhr nachts; trotzdem hatten sich die vier dazu entschieden, gerade um diese Zeit mit der Ausführung des Plans zu beginnen.

Gerade als Orakel meinte, ein Raumschiff entdeckt zu haben, lief Alexandra mit einer kleinen Schachtel aus dem Lkw an ihm vorbei und verschwand in der Dunkelheit. Während Alexandra sich immer weiter vom Lkw entfernte, sah Orakel, dass das vermeintliche Raumschiff ein Helikopter war. Er lief sofort zurück in den Laderaum und alarmierte yury, der daraufhin die Fahrerkabine mit ihm betrat und sich ans Steuer setzte. Orakel beobachtete von rechts, wie er eine Abdeckung von der Mittelkonsole entfernte. Einige Knöpfe kamen zum Vorschein und yury drückte erst einen roten, dann einen grünen Knopf. Das Head-up-Display des Lkws, von dessen Existenz Orakel überhaupt nichts geahnt hatte, zeigte grün die Umrisse sämtlicher Objekte in der Nähe des Lkws. So konnte man deutlich einen Helikopter erkennen, der einen halben Kilometer entfernt ein bewaffnetes Landekommando absetzte.

»Sieht schlecht aus«, meinte Orakel. »Das sind weder Bauhandwerker noch Aliens.«

yury wäre nicht yury gewesen, wenn er nicht »passiert« gesagt hätte. Zum Glück war Alexandra nicht anwesend. Zu allem Überfluss aß Orakel auch noch in Ruhe an seiner Pizza weiter. Nach kurzem Überlegen schlug yury vor, die Flucht zu ergreifen. Er legte demonstrativ eine Hand auf den Wählhebel. Orakel erinnerte sich wieder an die Zeit auf dem Raumschiff der Äöüzz und war sofort dafür, sämtliche zur Verfügung stehenden Waffen einzusetzen. yury wollte gerade darauf hinweisen, der Möbeltransporter sei unbewaffnet, als eine Tür zum Laderaum geöffnet wurde.

»Wir müssen von hier verschwinden«, rief eine bekannte Stimme von hinten.

»Was hast du getan?«, rief yury zurück.

»Ein SWAT-Team ist eingetroffen, um uns festzunehmen. Ich habe die Aufmerksamkeit kurzzeitig von uns abgelenkt.«

∞∞∞

Eine schwere Explosion in fünfhundert Metern Entfernung erhellte die Nacht.

yury benötigte einige Sekunden, um das Geschehen sinnvoll zuzuordnen. Orakel reagierte schneller, nahm den Fahrzeugschlüssel an sich und rammte die Automatik in Fahrstellung. Nun trat yury endlich das Gaspedal durch, der Motor heulte auf und der Lkw setzte sich in Bewegung. Free, der in diesem Moment auf einem Bürostuhl saß und in irgendeinen Programmcode vertieft war, rollte zusammen mit seinem Stuhl quer durch den Laderaum, riss dabei den Laptop mit, ließ diesen aber erschrocken los, sodass die Elektronik gegen die Rückwand flog. Während Free versuchte, wieder die Kontrolle über seinen Stuhl zu erlangen, aß Orakel gemütlich weiter und genoss das Schauspiel. Irgendwo im Lkw gab es eine kleine Explosion, weil Alexandra erschütterungsempfindlichen Sprengstoff gelagert hatte.

»Haben wir irgendetwas hier, das uns beschleunigen kann?«, rief yury nach hinten und ignorierte das Chaos, das dort herrschte. Der Wagen schoss durch die Baustellenausfahrt hindurch unter dem fliegenden Helikopter davon.

»Nein«, rief Free zurück.

»Ja«, rief Alexandra gleichzeitig. Dann warf sie eine Gasflasche zu Free, der darauf nicht vorbereitet gewesen war und sie im letzten Moment noch auffangen und an Orakel weitergeben konnte.

»Habt ihr jetzt etwas? Wir drehen gerade eine Runde über den Highway und fahren dann auf das Pentagon zu. Ich hatte mir das zwar anders vorgestellt, aber euer scherzhafter Plan wird gerade Realität«, rief yury und konzentrierte sich wieder auf das Fahren. Die FBI-Agenten waren nicht mehr in Sicht, aber er wollte nicht in die Nähe des Pentagons fahren, bevor das FBI wiederauftauchte.

∞∞∞

Noch bevor Orakel es geschafft hatte, die mit »N₂O« beschriftete Gasflasche sinnvoll zu verwenden, erschienen mehrere schwarze SUVs im Rückspiegel. Kurz darauf kam auch der Helikopter angeflogen und Orakel bemühte sich, so schnell wie möglich mit dem Tuning fertig zu sein.

»Die kommen immer näher, dieser blöde Lkw ist einfach zu langsam!«, beschwerte sich yury laut.

»Was kann ich denn dafür, dass du so einen blöden Lkw klauen musstest?«, rief Orakel genervt zurück und kümmerte sich wieder um die Gasflasche. Dann änderte auf einmal der Helikopter seine Flughöhe, überquerte in Bodennähe die Fahrbahn und kam funkensprühend hinter den Polizeiwagen zum Stillstand.

»Was war das?«

»Oh, ähm, öff, ja, ähm…«, machte Orakel und Free grinste.

»Black Halo down!«, verkündete er und tippte mit seinem Finger auf das unbeschädigte Örztöp-Display. Hinter dem bruchgelandeten Flugobjekt bildete sich ein kleiner Stau.

»Das war unnötig«, fand yury, war aber froh, dass er jetzt nur noch die SUVs abhängen musste. Diese fuhren unbeirrt weiter und kamen dem Lkw bedrohlich nahe.

Endlich hatte Orakel die Gasflasche mit dem Motor verbunden und rief nur noch »Achtung, yury!«, bevor der Motor extrem laut wurde und der Lkw stark beschleunigte. Alexandra hatte in der Zeit viele gleiche Gasflaschen an Orakel weitergegeben, der nun immer, wenn eine Gasflasche leer war, eine neue mit dem Motor verband. Auf diese Weise hängten die vier die FBI-SUVs ab und yury steuerte genau auf das Pentagon zu.

Mehrere rote Lichtsignale ignorierend, stieß der Möbelwagen beinahe an einer Kreuzung mit einem Dreißigtonner zusammen, doch yury schien das alles nicht mehr zu interessieren. Der Transporter hatte inzwischen dreistellige Meilen pro Stunde erreicht und war nicht mehr aufzuhalten. Orakel wechselte immer wieder die Gasflaschen, die ziemlich schnell leer wurden. Auf einmal meldete sich – völlig unnötigerweise – das Navigationssystem zu Wort:

»38.85944, -77.05606. Bitte beachten Sie die Höchstgeschwindigkeit.«

»Okay, jetzt wird es kritisch. Packt eure Sachen und springt mit euren Jetpacks raus!«, rief yury hastig. Dann legte er, mit einer Hand das Lenkrad festhaltend, sein Jetpack an. Beim Handwechsel schlingerte das blaue Geschoss auf die Gegenfahrbahn, nur die Uhrzeit verhinderte einen Unfall. Die Kabinentüren wurden aufgestoßen und von umfunktionierten Armierungseisen offengehalten. Auch Orakel, Alexandra und Free zogen ihre Jetpacks an. Free riss alles an sich, was er für wichtig hielt; Alexandra gab ihm alles an, was er dabei vergaß. Dann trat sie die Hecktüren in beide Richtungen auf.

»38.86367, -77.05693. Sie fahren zu schnell!«, kommentierte das Navigationsgerät, dessen Lautsprecher sogar den Laderaum beschallten.

»Raus hier!«, schrie yury. Alexandra und Free sprangen nach hinten ab und aktivierten gleichzeitig die Jetpacks. Free hatte sich im letzten Moment noch den Örztöp geschnappt. yury verließ den Lkw als Letzter und verlor dabei einen seiner Schuhe, was ihm in dieser Situation aber ziemlich egal war. Als sich die vier kurz umdrehten, sahen sie, wie der Lkw gegen eine Reihe aus Pollern fuhr und durch den Aufprall vollständig zerstört wurde. Dann zog Orakel eine Schutzschildpistole aus dem Gürtel und gab sie yury, der nun auch bei ihnen angekommen war. yury zerschoss damit wahllos irgendeines der vielen Fenster und die vier flogen ins Innere des Pentagons.

Draußen zog die Unfallstelle eine Gruppe von Schaulustigen an, die den Nachfolgenden den Blick aufs Geschehen verdeckte. Die Einbrecher konnten sich ungestört im Hauptsitz des Verteidigungsministeriums umsehen.

»Seht mal – wir sind im Büro eines gewissen ›Dapper Drake‹ gelandet«, fand yury heraus und zeigte auf einen Stapel Dokumente.

»Das ist ja ganz toll, aber dieser Drake kann jederzeit wiederkommen und wir sollten uns ein besseres Versteck suchen. Irgendeinen Raum, den hier sowieso niemand betritt und in dem wir alles Weitere planen können. Eigentlich müssen wir A. Nother Moron finden und ihm den Fernlöschungscode klauen«, erinnerte ihn Alexandra und öffnete entschlossen die Tür des Büros.

yury drehte sich erschrocken zur Tür um. »Zieh sofort die Tür wieder zu«, zischte er. »Der Gang ist nicht sicher.«

Alexandra blickte sich draußen um. »Doch, doch. Da ist niemand. In den Büros stehen bestimmt alle Mitarbeiter an den Fenstern und beobachten den brennenden Lastwagen. Das ist die Gelegenheit, von hier zu verschwinden.«

Murrend betrat yury hinter seinen Kollegen den tatsächlich menschenleeren Gang. Als die Gruppe an einem Aufzug vorbeikam, übernahm er kurzerhand wieder die Initiative, indem er die »nach oben«-Taste drückte. Die vier Eindringlinge blickten mit ungutem Gefühl auf die Stockwerksanzeige: Die Kabine fuhr aus dem Erdgeschoss nach oben. Für eine Flucht war es zu spät; Versteckmöglichkeiten bot der Gang nicht. Die leere Kabine war daher eine willkommene Erleichterung und wurde schnell genutzt.

Im 42. Obergeschoss hielt der Aufzug mit vier inzwischen weniger ängstlichen Einbrechern. Der Plan lief wie gewünscht, und auch hier hielt sich niemand auf dem Flur auf.

»Seit wann hat das Pentagon eigentlich so viele Stockwerke?«, fragte Free verwundert.

»Das Pentagon wurde vor einem Jahr stark vertikal ausgebaut«, erklärte yury. »Die Überwachung der gesamten Erdkommunikation erfordert viel Personal und viele Computerbildschirme. Wir befinden uns jetzt in einer Etage, die hauptsächlich als Reserve für zukünftige Projekte dient. Hier wird uns kaum jemand über den Weg laufen–«

Er wollte gerade noch anmerken, die Ecke habe einen Winkel von 108 Grad, als er gegen den Anzugträger stieß, der um die Ecke gerannt kam. Dessen Aktentasche flog ein Stück weit über den Flur, bevor sie auf dem Boden landete und aufplatzte. Lose Dokumente wirbelten durch die Gegend.

»Passen Sie gefälligst auf, wo Sie hinlaufen!«, beschwerte der Mann sich.

»Oh, bitte entschuldigen Sie. Ich glaube jedoch, Sie waren es, der –«, setzte yury zu einer Antwort an, doch er wurde von dem Mann unterbrochen.

»Wer sind Sie eigentlich? Was haben Sie hier zu suchen?«

So leicht ließ sich yury nicht überrumpeln. »Gebäudeinspektion Prospect Calm, im Auftrag der USPPD. Diese Etage ist den Angehörigen der Verwaltung vorbehalten. Haben Sie eine Zutrittsgenehmigung?«

Die hatte der fein gekleidete Herr offenbar nicht. Ebenso wenig wie Ahnung davon, dass eine solche Vorschrift überhaupt nicht existierte. Er stieß yury zur Seite, riss seine Aktentasche an sich und verschwand, ohne die zu Boden gefallenen Papiere aufzuheben, in einem Treppenhaus.

»Der hatte eindeutig Dreck am Stecken«, befand Free, während er die Papiere vom Boden aufhob. Dann las er die Beschriftungen vor: »Gehaltsabrechnung für Timothy Conway. Eine ziemlich hohe Summe. Hier ein Kündigungsschreiben, aber von Frederick Broughton. Eine kurze Dienstanweisung bezüglich Datensicherungen im Pentagon, adressiert an Richard Spencer. Format änt destrakt Punkt Essha, Serpent Tezee, Volenc, A N M zweiundvierzig P T G vier.«

Orakel schüttelte Free leicht an den Schultern. »Hast du einen Wackelkontakt?«

»Da steht Computercode«, erwiderte Free. »Die Dokumente kommen aus allen Abteilungen des Pentagons, und dieses hier gefällt mir besonders.«

»Mir ist wurscht, welche Dokumente dir besonders gefallen«, äußerte sich yury genervt. »Wir haben es eilig.«

»Da liegt ein USB-Stick unter den Papieren«, sah Orakel. »Serpent TC. Den Sportverein kenne ich noch nicht.« Er hielt ein gelb lackiertes Metallstück mit schwarzem Aufdruck in die Höhe.

»Das sagt mir jetzt irgendwie … nichts«, gab Alexandra zu. yury sah den wespenfarbenen Datenspeicher und Orakel skeptisch an.

Free nahm den Stick wortlos an sich, ging damit zum Treppenhaus und blickte sich darin um. Nichts war zu hören, niemand war zu sehen, keine Spur verblieb von dem merkwürdigen Herrn. Dann kehrte er zur Gruppe zurück.

yury hielt die Pappe mit dem Computercode in den Händen. »Außer dem, was du vorgelesen hast, steht da ja gar kein Programmcode mehr«, stellte er fest. »Das ist wohl eher eine Art Karteikarte für den USB-Stick. Und deren Beschriftung nach sind wir bereits am Ziel. Jemand hat uns die Arbeit abgenommen.«

»Das war dann aber viel zu einfach«, fand Alexandra. »Man will uns in eine Falle locken.«

»Ich glaube kaum, dass der Zusammenstoß sich so planen ließ«, widersprach Orakel. »Man hätte uns beinahe den Code vor der Nase weggeschnappt, und wir hätten hier ewig danach gesucht.«

»Es ist möglich, dass noch mehr Personen von dem Selbstzerstörungscode erfahren haben«, pflichtete yury ihm bei. »Dass wir ihn hier suchen müssen, wissen wir aus einer Liste, die mehreren Regierungsgehilfen über die Erde verteilt zur Verfügung stand.«

»Die ganze Code-Suche ist eine einzige Falle«, war Alexandra überzeugt. »Uns bleibt aber keine andere Wahl, als den Spuren zu folgen, die da jemand für uns ausgelegt hat. Wenn Island mit uns spielen will, müssen wir vorerst darauf eingehen, bevor wir zuschlagen können.«

»Die Beschriftung lässt darauf schließen, dass der Inhalt verschlüsselt ist«, fuhr Free fort.

»Soll das heißen, dass dieses Serpent – das kann doch wohl nicht wahr sein«, erkannte yury und schlug sich mit der Hand gegen die Stirn. »Jetzt sind wir so weit gekommen und haben den Zerstörungscode in unseren Händen, können damit aber nichts anfangen, weil der Code verschlüsselt ist. Warum muss so etwas immer uns passieren?«

»Was wir vorerst brauchen, ist ein ungenutzter Raum, möglichst auf dieser Etage«, sagte Orakel. Alexandra, yury und Free stimmten zu und gingen weiter. Sie blieben vor einer Tür stehen, an der noch kein Namensschild befestigt war. Dahinter fanden sie einen karg möblierten Raum vor: Vier Schreibtische und vier Drehstühle standen lieblos positioniert herum; brauner Teppichboden untermalte die Trostlosigkeit mit schlechtem Geschmack. Eine dünne Staubschicht verriet, dass hier weder Besuch zu erwarten war, noch dass in absehbarer Zeit eine Einrichtung des Büros stattfinden würde. Orakel und Alexandra gingen an eines der Fenster, Free machte es sich an einer Wand des Raumes mit seinem Örztöp so bequem wie möglich und yury dachte als Einziger der vier daran, die Tür zu schließen. Da innen der passende Schlüssel steckte, schloss er zusätzlich ab.

»Von hier oben hat man einen tollen Ausblick«, freute sich Orakel. Auch Alexandra war begeistert.

∞∞∞

Inzwischen waren einige Stunden vergangen und Orakel hatte unbedacht eine riesige Pizza bestellt. Die Bezahlung erfolgte per Kreditkarte, gedeckt durch die Beute eines virtuellen Bankraubs. Als es eine Dreiviertelstunde später an der Tür klopfte, ging Orakel davon aus, es handele sich um die gewünschte Lieferung.

Vor der Tür standen zwei Männer, deren Polizeiuniformen nicht unbedingt für Orakels Vermutung sprachen. Umso erstaunter waren seine Freunde darüber, dass Orakel tatsächlich einen Pizzakarton in die Hand gedrückt bekam.

»Guten Tag, wir haben diesen Karton vor Ihrer Tür gefunden. Scheint auch bereits bezahlt worden zu sein. Bitte entschuldigen Sie die Störung. Haben Sie zufällig vier Terroristen gesehen?«

»Nö.«

»Okay, das wäre auch zu einfach gewesen. Trotzdem vielen Dank. Schönen Tag noch und guten Appetit!«

Orakel bedankte sich und kehrte fröhlich an den Schreibtisch zurück. Free starrte fassungslos abwechselnd Orakel und die inzwischen wieder geschlossene Tür an.

»Du hast echt mehr Glück als Verstand«, stammelte Alexandra. »Willst du das alles allein essen?«

»Wenn du möchtest, kannst du ein Stück abhaben«, bot Orakel großzügig an. Er klappte den Kartondeckel nach oben – die Pizza war in 32 gleich große Stücke geschnitten worden. »Oder zwei.«

Auch Free bekam bei dem Anblick großen Appetit. »Ich hätte gerne ein Sechzehntel davon.«

»Aber dann habe ich doch fast nichts mehr zu essen«, antwortete Orakel entsetzt.

»Oh, Entschuldigung. Ich meinte natürlich ein Achtel.«

»Das ist in Ordnung.«

Free grinste und nahm sich vier Stücke von der Pizza. Orakel ahnte, dass er auf einen Trick hereingefallen war, und nahm sich vor, nicht auch noch yury ein Stück anzubieten. Wo war der überhaupt?

Wie peinlich, dachte Orakel. yury hat sich bestimmt von uns verabschiedet, und ich habe mal wieder vergessen, warum er weg ist.

Nachfragen konnte er schlecht. Die anderen hätten sich bestimmt wieder darüber lustig gemacht, dass er als Einziger nichts verstand. Außer ihm schien auch niemand über yurys Fehlen verwundert zu sein.

∞∞∞

Das Pizza-Achtel lag schwer im Magen. Free lehnte sich zurück, und ein kühler Luftzug strich über seinen Hals. Nach einigen Sekunden bemerkte Free, dass dieser Luftzug unmöglich aus dem Türspalt dringen konnte, wenn der restliche Raum luftdicht verschlossen war. Irgendwo stand ein Fenster auf, aber niemand hatte eines geöffnet. Misstrauisch blickte Free nach links, während er blind weiter an einer E-Mail tippte. Eines der großen Fenster war nicht verschlossen, sondern nur angelehnt worden, und ab und zu wackelte der Fensterrahmen im Wind.

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Genervt stand Free auf und schloss das Fenster.

»Wo ist yury eigentlich?«, fragte Alexandra schließlich. Sie blickte in ratlose Gesichter.

»Ich war mir sicher, ihr wüsstet das«, gab Orakel zurück.

»Du weißt es also auch nicht?«

»Nein, yury war auf einmal einfach weg.«

Free ging zurück an seinen Arbeitsplatz. »Vielleicht hat es etwas mit den Polizisten zu tun. Die haben uns abgelenkt und heimlich yury entführt.«

∞∞∞

yury benötigte nur den Bruchteil einer Sekunde, um zu begreifen, wer da vor der Tür stand. Unter der Tür hindurch waren vier blau-schwarze Stiefel mit weißen Reflexionsstreifen zu sehen, die so nur von Polizisten der Internen Schutztruppe getragen wurden. Für die Sicherheit des Diktators persönlich verantwortlich, waren diese Menschen nicht gerade für ihre Zärtlichkeit gegenüber vermeintlichen »Terroristen« bekannt. Das Pentagon war von einem Lkw gerammt worden, und der Täter befand sich möglicherweise im Inneren des Gebäudes.

»Wir waren viel zu leichtsinnig«, murmelte yury, während er das Fenster aufdrückte. »Natürlich musste man uns früher oder später hier vermuten.« Dann sprang yury mit den Füßen voran in die Tiefe.

42 Stockwerke. Wenn jede Etage mindestens zweieinhalb Meter hoch war, lagen über 100 Meter zwischen ihm und dem Boden. Die voraussichtliche Aufprallgeschwindigkeit? Ungefähr 45 Meter pro Sekunde. Na, das sind ja schöne Aussichten, dachte yury verzweifelt. Nicht einmal eine Wasseroberfläche kann mich retten. Ich habe noch ungefähr drei Sekunden zu leben.

Bevor er sich für diese Schnapsidee verfluchen konnte, fiel ihm ein, dass er noch das Jetpack auf dem Rücken trug. Der Knopf an der Unterseite des Rucksacks war für absolute Notfälle vorgesehen und absichtlich so platziert worden, dass man sich gehörig die Finger verbrannte, wenn man sich für dieses Vorgehen entschied. Entschlossen griff yury zu.

Normalerweise diente der mitgelieferte Wasserstoff als hochkomprimierter Energiespeicher für den flammenlosen Antigravitationsantrieb. So ließ sich der Tankinhalt für stundenlange Flüge nutzen. yury war das in diesem Moment herzlich egal; für ihn zählte nur, dass er ein extrem brennbares Gasgemisch dabeihatte. Bevor er seine Hand zurückziehen konnte, schlugen Flammen aus der Unterseite des Jetpacks. Das Vorgehen war gefährlich, aber schlimmer konnte die Situation sowieso nicht mehr werden. Der Sturz wurde gebremst, yury berührte kurzzeitig sanft den Boden und das Jetpack riss ihn wieder in die Luft. Bevor er erneut eine gefährliche Höhe erreichen konnte, löste yury die Verbindungen zu seinem Rucksack. Wie eine Rakete flog der Wasserstofftank an ihm vorbei gen All. yury hatte das Gefühl, sich auf einem Trampolin zu befinden und nach einem hohen Sprung wieder in die Tiefe zu fallen. Geistesgegenwärtig rollte er sich auf dem Steinboden ab, sodass er außer einer schmerzenden Hand keine Verletzungen davontrug.

∞∞∞

Einem plötzlichen Einfall folgend, trat Alexandra an das Fenster, öffnete es und beugte sich hinaus. »Guckt mal«, sagte sie dann. »da ist yury.«

So geschmacklos würde selbst Alexandra nicht auf eine Leiche reagieren, hoffte Free. Während er sich vorsichtig von seinem Klappstuhl erhob, war Orakel bereits aufgesprungen und zum Fenster gestürmt.

Unten lief eine Gestalt, die in der Tat einige Gemeinsamkeiten mit yury aufwies, zu einem großen Fischteich. Free hob eine Augenbraue, als er sah, dass die Person niederkniete und ihre Hand in dem offensichtlich algenbewachsenen Schmutzwasser wusch.

»Was macht der denn schon wieder Verrücktes?!«, fragte Alexandra.

Orakel räusperte sich. »Vielleicht will er Fische mit der Hand fangen.«

»Ich glaube eher, er hat schon wieder einen Plan, von dem außer ihm niemand etwas versteht«, mutmaßte Free.

∞∞∞

Nachdem er den Hersteller des Jetpacks gedanklich mit einer Vielzahl derber Flüche belegt hatte, zog yury seine noch immer schmerzhaft pochende Hand aus dem Wasser. Hinter ihm ragte das Pentagon in die Höhe, in dem seine Freunde sicherlich längst verhaftet worden waren. Das war wieder einmal typisch. Die anderen brachten sich in Schwierigkeiten, und er musste alles ausbaden. Ein Blick zurück: Das Fenster stand noch immer offen, aber das Jetpack war weg. Wahrscheinlich war es in einigen Kilometern Entfernung jemandem auf den Fuß gefallen.

∞∞∞

Smithsonian National Zoological Park 3001 Connecticut Avenue NW Washington, DC 20008

Mit Hilfe des Örz-Smartphones fand yury schnell heraus, dass das teure Ausrüstungsstück inmitten eines Zoos zu Boden gegangen war. Genervt stöhnend lief er zu Fuß dorthin, umging geschickt eine lange Besucherschlange und stand bald vor dem Kassenhäuschen.

Die Dame am Empfang lächelte ihn freundlich an. »Sie möchten bestimmt unsere wundervollen roten Pandas, Nutmeg und Jackie, sehen.«

»Nein«, entgegnete yury ebenso freundlich. »Ich möchte mein außerirdisches Wasserstoff-Jetpack aus dem Seelöwenteich fischen.«

Die umstehenden Besucher lachten herzlich, und yury erhielt eine Eintrittskarte, auf der die amüsierte Kassiererin ihre Handynummer notiert hatte.

∞∞∞

Bei den Seelöwen war allerdings keine Spur des Geräts zu finden. Stattdessen wurde yury von seinem Smartphone quer durch den ganzen Zoo geführt, bis er schließlich an einem Kinderkarussell vorbeikam. Fröhlich winkte er einigen Fahrgästen zu, bevor er seinen Blick wieder auf das Display richtete und die Stirn runzelte. Er war angeblich nur noch 35 Meter vom Ziel entfernt, und der grüne Navigationspfeil wies eindeutig in Richtung eines Tiergeheges, um das yury gerne einen großen Bogen gemacht hätte. Das war jedoch sein geringstes Problem.

»Das Ziel befindet sich in fünf Metern Höhe?!«, rief yury entsetzt. Einige Besucher drehten sich verwirrt nach ihm um. »Äh, ich mache hier Geocaching.«

Als er daraufhin nicht auf das Karussell, sondern auf den schwarzen Metallzaun zuging, rief ihm eine ältere Dame etwas hinterher. »Sie wissen schon, dass das da drüben ein indischer Königstiger ist?«

yury blickte auf das Hinweisschild.

»Ein Königstiger benötigt ca. 8 kg Fleisch am Tag. Seine Hauptnahrung sind große Säuger wie Nilgauantilopen, Gaure, Sambarhirsche, Barasinghas, Axishirsche und Wildschweine. Seltener frisst er kleinere Beutetiere wie Affen, Hasen, Kaninchen und Wasservögel. Der Tiger schleicht an seine Beute heran, springt sie an und drückt sie mit den kräftigen Vorderpfoten auf den Boden. Die Weite der Sprünge kann bis zu 6 Meter betragen. Zum Töten beißt er in die Kehle seines Opfers oder bricht dessen Genick durch einen Biss in den Nacken. [w.wiki/_z$Vj]«

Wie, zur Hölle, sollte er das Jetpack unter diesen Umständen vom Baum holen?

∞∞∞

»Und?«, fragte Orakel neugierig.

Free hatte eine Landkarte auf dem Örztöp geöffnet. »In yurys Laufrichtung liegen das Lincoln Memorial, die Washington National Opera, die George Washington University und das Weiße Haus.«

»Das Weiße Haus gibt es nicht mehr«, korrigierte Alexandra. »Da steht jetzt der ›Tower of Liberty‹. yury ist vollkommen verrückt geworden, wenn er da zu Fuß hineinspazieren möchte.«

»Sagt jemand, der mit einem Lkw das Pentagon gerammt hat und sich dort in einem verlassenen Büro versteckt«, witzelte Free.

Alexandra verschränkte die Arme. »Immerhin verhalten wir uns so unauffällig, dass sogar die Polizei uns nicht erkennt.«

∞∞∞

Der Zoowärter lief eilig in Richtung des Großkatzengeheges. Einige besorgte Besucher hatten gemeldet, dass jemand auf das Dach des Besucherganges geklettert war. Es bestand die Gefahr, dass er abrutschte und zwischen den hungrigen Tigern landete.

yury hatte von einem der Laubbäume einen Ast abgebrochen, der sich dank seiner Form gut als Greifhaken nutzen ließ. Nun löste er den Verschluss seiner Armbanduhr, brach einen zweiten, langen Ast ab und verband die beiden Holzstöcke mit dem Gummiband. Ein kurzer Belastungstest verlief zu seiner Zufriedenheit, sodass er sich wagte, das Jetpack damit vom Baum zu holen.

Schmunzelnd bemerkte yury, dass die Tiger und Löwen interessiert dabei zusahen, wie er sich am Baum zu schaffen machte. Ein komisches Ding war vom Himmel gefallen und hatte sich in der Baumkrone verfangen. Die Bergungsaktion war eine willkommene Abwechslung im Alltag der Raubtiere.

»He, Sie da«, brüllte plötzlich jemand mit einem Megafon von unten. yury zuckte zusammen, verlor kurz das Gleichgewicht und ließ das Jetpack vom Baum herabfallen. »Sind Sie lebensmüde?«

»Sie haben vielleicht Nerven«, gab yury zurück. »Beinahe hätte ich mich so sehr erschrocken, dass ich in das Gehege gefallen wäre.«

Der Zoowärter ließ sich dadurch nicht beirren und brüllte weiter durch das Megafon. »Kommen Sie gefälligst da runter, es besteht Lebensgefahr!«

yury zögerte. »Das geht nicht so einfach. Ich muss zuerst dem Löwen das Jetpack abnehmen.«

∞∞∞

Alexandra beäugte misstrauisch das aus mehreren Elektronikplatinen zusammengebastelte Gerät. »Vom ästhetischen Aspekt vollkommen abgesehen, wirkt deine Idee doch sehr unprofessionell.«

Orakel ließ sich dadurch nicht entmutigen. »Über das Aussehen müsstest du dich ja auch bei Free beschweren. Funktionieren wird es trotzdem.«

Fünf Sekunden später gingen alle Lichter in dem fensterlosen Raum aus. Sofort riss Alexandra das Gitter vom Lüftungsschacht ab und kletterte hinein. Orakel schloss das Gitter hinter ihr, während sie bereits eilig den Schacht durchquerte.

∞∞∞

»Mein Herz«, stammelte ein älterer Herr beim Anblick der beängstigenden Szene. »Diese leichtsinnige Generation und ihre Computerspiele.«

»Das liegt nicht am Alter«, widersprach ihm eine junge Frau neben ihm. »Der Verrückte entstammt eindeutig der erlebnisorientierten Unterschicht.«

yury ließ den verdutzten Tiger genervt stehen. »Warte mal, Großkatze.« Er lief zum Zaun und blickte den Gaffern abwechselnd in die Augen. »Verschonen Sie mich gefälligst mit Ihrem Schubladendenken. Ich bin hier beschäftigt und muss mich darauf konzentrieren, nicht als Tigerfutter zu enden. Danke schön.«

Der Tiger hatte allerdings gar kein Interesse daran, sein neues Spielzeug gegen ein Stück Fleisch einzutauschen. Er sah yury an, als wollte er sagen: »Das da bekomme ich sowieso jeden Tag. Da musst du mir schon etwas Besseres anbieten.«

yury seufzte. Wie sollte man mit einem Tiger verhandeln, der kein Fleisch als Zahlungsmittel akzeptierte? Er griff nach seinem Smartphone und tippte eine Nummer ein.

»Hallo, IGLS?«

»Guten Tag yury, wie können wir Ihnen behilflich sein?«

»Transportieren Sie auch Großkatzen?«

∞∞∞

Als Alexandra und Orakel in das Büro zurückkehrten, wurden sie von Free fröhlich begrüßt.

»Ich habe zwei gute Nachrichten für euch.«

»Keine schlechte?«, hakte Orakel nach, während er die Tür hinter sich zuzog.

»Nein«, bekräftigte Free. »Es wurde kein Alarm ausgelöst, und wir haben elektronische Post von Örz erhalten.«

Orakel lief erfreut um den Tisch herum und blickte über Frees Rücken auf ein bedrucktes Blatt Papier.

»Du hast das komische Text-Mailprogramm zum Laufen zu bekommen«, riet Alexandra schmunzelnd.

»Er hat das Kopiergerät auf dem Flur gehackt und zum E-Mail-Abruf verwendet, weil sein eigenes Programm immer noch nicht funktioniert«, antwortete Orakel grinsend. »Aber der Nachrichteninhalt ist die eigentliche Sensation. Der USB-Stick wurde entschlüsselt.«

∞∞∞

Die Polizisten hatten wenig Verständnis für yurys Ausflug in das Tigergehege.

»Wegen solcher Einsätze müssen wir die armen Steuerzahler unnötig belasten«, tadelte die Sergeantin.

»Sie müssen den Kerl einsperren«, zeterte der Zoowärter. »Dieser Rowdy hat unsere Tiere gestört und die Besucher vergrault.«

»Es freut mich, dass Ihnen mein Leben so viel bedeutet«, reagierte yury gelassen. »Sehr gerne würde ich mich weiter mit Ihnen unterhalten. Leider habe ich jedoch wichtigere Aufgaben zu erledigen.«

Mit diesen Worten aktivierte er sein Jetpack. Vom ursprünglichen Treibstoffvorrat war nicht viel übrig geblieben, aber für einen Flug zum Pentagon genügte die Ladung.

∞∞∞

»Ich weiß, darauf hätten wir auch selbst kommen können«, meinte Alexandra, bevor Orakel einen Kommentar abgeben konnte. Auf dem Tisch lag der entschlüsselte Inhalt des geheimnisvollen USB-Sticks, ausgedruckt in Papierform. Der Schlüssel, der dafür notwendig gewesen war, hatte sich neben der verschlüsselten Datei auf dem Stick befunden – und damit das nicht ganz so dämlich war, wie es zunächst klang, konnte man den Schlüssel nur durch Eingabe einer Passphrase nutzen.

Plötzlich polterte etwas vor den Fenstern zu Boden. Orakel, Alexandra und Free drehten sich erschrocken um.

»correct horse battery staple«, fluchte yury. »Das ist mal wieder typisch für jemanden, der beim FBI gearbeitet hat.« Dann schloss er das Fenster.

»yury! Woher hast du denn das Passwort für den USB-Stick?«, fragte Free verdattert.

»Vielleicht hat er das im Tower of Liberty gefunden«, mutmaßte Orakel. »Übrigens schön, dass du wieder da bist.«

yury nahm amüsiert das Jetpack ab. »Tower of Liberty? Dachtet ihr, ich bin spontan dort eingebrochen?«

Alle drei nickten.

»Nein. Ich dachte, die interne Schutztruppe stünde vor der Bürotür, und da bin ich kurzerhand durch das Fenster geflüchtet. Daraus, dass ihr hier noch gemütlich beisammensitzt, schließe ich, dass es sich um einen Irrtum gehandelt hat.«

Alexandra lachte. »Da standen tatsächlich zwei Mitarbeiter der Schutztruppe vor der Tür.«

yury schwieg verständnislos.

»Die haben mir eine Pizza in die Hand gedrückt und gefragt, ob wir zufällig vier Terroristen gesehen haben«, erklärte Orakel.

»Die werden sich doch wohl nicht mit einem ›Nein‹ zufriedengegeben haben«, stammelte yury.

»Doch«, bestätigte Orakel.

»Wir waren zu diesem Zeitpunkt ja auch nur drei Personen«, ergänzte Alexandra.

Mit einem ungläubigen Kopfschütteln ging yury auf den Schreibtisch zu, legte das Jetpack darauf ab und blickte auf den Computerbildschirm.

»Du hast uns noch immer nicht erzählt, woher du das Passwort hast, für dessen Ermittlung wir mühsam einen Faktorisierungsantrag nach Örz geschickt haben«, erinnerte ihn Free.

»Ach, das ist eine lange Geschichte. Ich habe bei IGLS angerufen, um einen indischen Königstiger und seine Familie auf einen örzähnlichen Planeten transportieren zu lassen. Nebenbei wurde mir dann die inzwischen ermittelte Passphrase übermittelt.«

Diesmal waren es seine Freunde, die ihn verständnislos anstarrten.

»Ist wirklich so«, versicherte yury mit verschränkten Armen. »Also, was befindet sich auf dem Stick? Ein Kommandozeilenskript?«

»Langsam wirst du mir unheimlich«, sagte Free.

Alexandra legte yury das ausgedruckte Skript aus der E-Mail vor. Sie schmunzelte. »Herzlichen Glückwunsch, Kommandant. Du bist in Abwesenheit zum ›Grand Senior Master Guardian‹ der Weltregierung befördert worden. Ein echter Karrieresprung.«

yury überflog das Papier. »Schön«, gab er zurück. »Ich ordne hiermit die vollständige, sofortige und unwiderrufliche Zerstörung sämtlicher Rechner des Island-Regimes an.«

Free nickte. Das war eine Aufgabe nach seinem Geschmack. Er öffnete einen Texteditor, tippte den entschlüsselten Text von Hand ab und speicherte die Datei anschließend als »formatanddestruct.sh« auf der Festplatte des Örztöps ab.

# echo "RGFpc3ksIERhaXN5CkdpdmUgbWUgeW91\ # ciBhbnN3ZXIgZG8KSSdtIGhhbGYgY3Jh\ # enkKQWxsIGZvciB0aGUgbG92ZSBvZiB5\ # b3Uu" | nc 2001:db8:1:1a0:539:7ff3:65:29a 32764

Die Freunde blickten erwartungsvoll zwischen dem Blatt und dem Computerbildschirm hin und her. Free schien das überhaupt nicht zu bemerken und lehnte sich entspannt zurück.

»Hey, Moment mal«, sagte yury nach einer Weile. »Da steht doch viel mehr auf dem Papier.«

»Ja, aber es lässt sich mit dieser einen Zeile zusammenfassen«, behauptete Free grinsend.

yury zögerte. Das war alles? Diese Zeile Text sollte genügen, um das seit Wochen verfolgte Ziel zu erreichen? Wo war der Haken?

»Du bist zweifellos sehr kompetent«, sprach yury betont langsam und höflich. »Aber ich wage es, zu bezweifeln, dass diese komische Postleitzahl aus Florida wirklich das ist, wonach wir gesucht haben.«

Ein gewisser Übermut befiel Free, als er das hörte. Genüsslich beugte er sich nach vorne und bewegte seinen rechten Zeigefinger in eine schwebende Position über der Entertaste. Dann zog er eine Sonnenbrille hervor, setzte sie mit der linken Hand auf und blickte lässig in die Runde. »Shall we begin?«

Orakel und Alexandra blickten begeistert auf den Laptop; bei yury war eine gewisse Skepsis nicht verkennbar.

»Klick.«

Eine neue, leere Zeile erschien unter dem eingetippten Befehl. Das Programm arbeitete.

Zehn Sekunden vergingen in nervöser Anspannung. Alexandra ließ währenddessen gedankenverloren die Finger knacken, was ihr einen kurzen missbilligenden Seitenblick von yury einbrachte. Schließlich erschien das Resultat des Befehls auf dem Bildschirm; gespenstische Stille erfüllte augenblicklich den Raum.

nc: connect to 2001:db8:1:1a0:539:7ff3:65:29a port 32764 (tcp) failed: Connection timed out

Ein verhaltenes Räuspern durchbrach das Schweigen.

»Sorry, aber ich glaube, du kannst die Sonnenbrille abnehmen«, monierte yury. »Da kommt nichts Erleuchtendes mehr raus.«

Während Free mit hängenden Schultern die Brille einfach zu Boden fallen ließ, griff Orakel kurzerhand nach dem Laptop.

»Das kann ja auch nicht funktionieren«, erklärte er fachmännisch. »Du hast ja auch nicht alles richtig abgetippt.«

Eine Viertelstunde später stellte er das Gerät wieder vor seinen Freunden auf den Tisch. Er legte das Papierblatt daneben, sodass jeder sich von seiner einwandfreien Arbeit überzeugen konnte. Der ausführliche Programmcode enthielt sogar eine Bedienungsanleitung. Nachdem yury die Anleitung mehrfach Wort für Wort gelesen hatte, zog er die Tastatur zu sich heran und tippte mit übertrieben wirkender Vorsicht einen Befehl ein.

# bash ./formatanddestruct.sh --yes-i-am-insane\ # --nuclear-option 2001:db8:1:1a0:539:7ff3:65:29a

Währenddessen las Alexandra den Inhalt der Anleitung laut vor.

»Nuclear Option: Transmit the last resort destruction code to the specified IP address. This is EXTREMELY DANGEROUS and will very likely cause massive loss of data.«

»Na super«, fand Orakel und drückte spontan die Entertaste. Statt der freudig erwarteten Explosion erschien aber nach zehn Sekunden nur die gewohnte Fehlermeldung auf dem Bildschirm.

nc: connect to 2001:db8:1:1a0:539:7ff3:65:29a port 32764 (tcp) failed: Connection timed out

Orakel war traurig. Er war sich sicher, an der einfachen Aufgabe des Abtippens gescheitert zu sein.

»Es liegt nicht an dir«, tröstete yury ihn. »Wahrscheinlich ist einfach die Adresse falsch. Die steht zwar in der Anleitung, könnte aber inzwischen veraltet sein.«

Nach kurzem Überlegen tippte Free die Adresse kurzerhand in einen Internetbrowser ein. Eine bunte, nicht mehr ganz zeitgemäß wirkende Website der Stadtregierung von Toronto informierte die Besucher darüber, dass dieser Rechner nicht öffentlich zugänglich sei. Mitarbeiter der Regierung wurden stattdessen darum gebeten, sich in das interne Netzwerk einzuloggen und es erneut zu versuchen. Ein kleiner Hinweis am unteren rechten Rand der Seite zog Alexandras Aufmerksamkeit auf sich.

»Dieser Server läuft seit zwei Jahren und fünfundzwanzig Tagen zuverlässig ohne Neustart dank hochwertiger kanadischer Software.«

Die Adresse schien nicht veraltet zu sein, aber die vier Freunde befanden sich am falschen Ort.

»Ich glaube, wir müssen wieder nach Kanada«, stöhnte yury. »Ist da nicht auch das Raumschiff mit Äüörüzü gelandet?«

Alexandra senkte ihren Blick. »Ja, da trieb die Nachbarskatze ihr Unwesen. Zumindest so lange, bis das Militär sie überwältigt hat.«

»Free, du kannst diese Zugangssperre doch bestimmt ganz einfach außer Kraft setzen«, war sich Orakel sicher.

»Nein, ich kann nicht zaubern«, widersprach Free. »Sämtliche Befehle von Rechnern außerhalb des Rathauses von Toronto werden kommentarlos verworfen.«

»Nun gut, dann machen wir eben einen kleinen Ausflug. Toronto ist ja noch recht bequem erreichbar«, fand Orakel.

Alexandra nickte. »Lasst uns zur Abwechslung mal den Dienst-Pkw eines hochrangigen Pentagon-Mitarbeiters ausleihen.«

yury räusperte sich. »Ausleihen?«

»Aufbrechen, kurzschließen, mitnehmen.«

»Das wird nicht so einfach möglich sein«, sagte yury voraus. Er wollte gerade eine ausführliche Erklärung abgeben, als Orakel ihm auf die Schulter tippte.

»Alexandra nimmt dich nur auf den Arm. Wir haben den Autoschlüssel längst aus einem Büro gestohlen.«

yury war baff. »Woher wusstet ihr denn, dass wir nach Kanada fahren müssen?«

Nun lachten seine Freunde. »Mensch, yury. Wir wollten ursprünglich zum Tower of Liberty fahren und dich da rausboxen«, erklärte Free. »Es ist ein schöner Zufall, dass wir den Schlüssel jetzt doch noch verwenden können.«

Fünf Minuten später sah das Büro aus, als habe dort noch nie jemand gearbeitet. Außerhalb des Pentagons standen auf einem Parkplatz vier unauffällige Gestalten und beluden den Kofferraum eines großen Geländewagens mit Automatikgetriebe.

»Alles dabei?«, fragte Orakel in die Runde. Die anderen nickten.

»Alles dabei«, bestätigte Alexandra. »Das nächste Kapitel unserer Odyssee beginnt. Aber mit dem Zerstörungscode in der Tasche–«

»Im Kopf«, protestierte Free.

»Schön. Also, mit dem Zerstörungscode im Kopf ist unsere Mission bereits so gut wie abgeschlossen.«

Orakel klappte den Kofferraum zu und begab sich auf den Fahrersitz.

»Fahrerwechsel in zwei Stunden«, schlug yury vor und machte es sich auf dem Beifahrersitz bequem.

»Alles klar«, bestätigte Orakel. »Alle anschnallen, Türen schließen, oh, und dem Vorbesitzer zum Abschied zuwinken.«

Aus dem Gebäude kam tatsächlich ein Mann angelaufen, der wild mit den Armen fuchtelte.

»Auf Wiedersehen«, rief Alexandra. »Melden Sie den Wagen einfach als gestohlen, dann erhalten Sie ihn in ein paar Wochen zurück.« Sie sprang zu Free auf die Rückbank, riss die Tür hinter sich zu und betätigte die Zentralverriegelung. Diese Vorsichtsmaßnahme erwies sich jedoch als überflüssig, denn Orakel gab bereits Vollgas und jagte mit quietschenden Reifen quer über den Parkplatz. Die Ausfahrtsschranke hob sich nicht schnell genug, erwies sich aber glücklicherweise als nicht besonders stabiles Hindernis. Das Geräusch berstenden Holzes verkündete die erfolgreiche Abfahrt des verrückten Quartetts.

∞∞∞

»Benzin oder Diesel?«, fragte Free, als er von der überteuerten Tankstellentoilette zurückkehrte.

yury stand rätselnd vor einer Wasserstoff-Zapfsäule. »Weder noch«, murmelte er.

»Erdgas für das Auto, Wasserstoff für das Jetpack«, rief Orakel aus einiger Entfernung. »Wir sind eigentlich längst fertig, aber yury gefällt irgendetwas nicht.«

»Ich verstehe nicht, wieso die Zapfsäule auf einmal defekt sein soll«, erläuterte yury. »Ich habe auf Örz extra darauf geachtet, dass der Anschluss mit den auf der Erde verwendeten Systemen kompatibel ist.«

»Das ist normal«, wusste Alexandra. »Die Technologie steckt hier noch in den Kinderschuhen und ist von relativ häufigen Zapfsäulenausfällen geplagt.«

Free begab sich wieder auf die Rückbank. »Immerhin gibt es hier überhaupt Wasserstoff. Ich dachte schon, wir müssten am Raumschiff tanken.«

yury zuckte mit den Schultern und ging zurück zum Auto. »Unsere Jetpacks sind wieder gefüllt. Ich hatte nur Mitleid mit den Nachbenutzern.«

»Nachbenutzer«, wiederholte Free spottend. »Die Menschen fahren lieber mit riesigen Lithium-Ionen-Akkumulatoren durch die Gegend, deren Herstellung umweltschädlich ist und die nach ein paar Jahren ausgeleiert sind. Auf die Idee, Wasserstoff als Energieträger zu nutzen, kommen selbst viele vermeintliche Umweltschützer nicht.«

∞∞∞

Aus den Augenwinkeln nahm yury eine Bewegung im Rückspiegel wahr. Zunächst dachte er sich nichts dabei, aber dann fiel ihm auf, dass sich von hinten nur jemand nähern konnte, der noch dreister gegen die Geschwindigkeitsbegrenzung verstieß als er selbst. Vielleicht war es ein Sympathisant – jemand, der seine Meinung teilte, man müsse sich grundsätzlich nicht an Regeln halten, die nicht in SI-Einheiten definiert seien.

Free räusperte sich. Er hatte den Verfolger ebenfalls bemerkt, während Orakel und Alexandra auf der Rückbank ein Canasta-Turnier veranstalteten. »Leute, es gibt Ärger«, rief er mit Blick in einen Seitenspiegel.

»Objects in the mirror are closer than they appear.« Der Autohersteller schien sich über Free lustig machen zu wollen. Nach seiner Schätzung war der schwarze Polizeiwagen noch ungefähr zwei Kilometer entfernt.

»Das ist bestimmt nur eine Routinekontrolle«, gab Orakel hoffnungsvoll zurück. Dann wandte er sich einfach wieder dem Kartenspiel zu. »Darf ich ausmachen?«

Alexandra brachte weniger Gelassenheit für die Situation auf. »Nein, das übernehme ich. Wenn die herausbekommen, dass der Wagen gestohlen ist, lassen die uns nicht nach Kanada einreisen.«

yury schreckte hoch. »Was zur Hölle hast du da schon wieder in der Hand?« Das war kein Kartenspiel, so viel stand fest.

»Das«, antwortete Alexandra genüsslich, während sie einen Metallbolzen entfernte, »ist eine Damoklesgranate.« *Plopp.*

Mühsam beherrscht presste yury eine Entgegnung zwischen den Zähnen hindurch. »Findest du nicht«, sagte er in einer Mischung aus ohnmächtiger Wut und auswegloser Panik, »dass es Zeit wäre, die Kindersicherung für die Rückfenster zu deaktivieren und das Ding rauszuwerfen, bevor es mit uns explodiert?«

Free drückte einige Knöpfe, konnte seinen Blick dabei aber nicht von Alexandra wenden. Der Metallbolzen in ihrer linken Hand musste schon längst einen Zünder aktiviert haben.

»Keine Sorge«, beruhigte Alexandra ihre Freunde. »Sie hat einen Aufprallzünder und explodiert nur bei Erschütterung.«

Ein Schlagloch genügt, dann kannst du noch mal in Ruhe über deine Worte nachdenken, überlegte yury. »Wirf endlich die verdammte Granate raus!«

»Ich hätte nicht gedacht, dass du mich einmal dazu ermutigen würdest«, lachte Alexandra. Dann öffnete sie ein Fenster und schmiss die Granate auf die Straße.

Zwischen dem Polizeiwagen und den Verfolgten bestand noch genügend Abstand für das riskante Manöver. Eine grün gefärbte Explosionswolke verdeckte die Sicht, der Asphalt flog in alle Richtungen und die Polizisten führten erschrocken eine Vollbremsung durch. Unbeschadet, aber von der Straße abgeschnitten, blieben sie mit dem schwarzen Auto zurück.

»Da war Kupfer drin«, stellte Orakel fachmännisch fest.

»Ich hasse euch alle«, antwortete yury. Dann musste er lachen, und seine Freunde stimmten in das fröhliche Gelächter mit ein.

∞∞∞

Wie ein harmloser Tourist schloss yury die Fahrzeugtür und verriegelte das Auto. »Bitte denkt daran«, mahnte er, »dass wir keiner Fliege etwas zuleide tun möchten. Wir sind unauffällige, gerne auch naive Amerikaner, die sich auf ihrer Kanada-Tour natürlich auch das einmalig gestaltete Rathaus ansehen möchten. Anschließend wollen wir im nächsten McIsland ein paar Burger essen und den Freizeitpark besuchen.«

»Bekommen wir dann auch ein Eis?«, fragte Alexandra mit hoher Stimme.

yury lachte. »Natürlich. Ich bemerke schon, das wird ein lustiger Ausflug.«

Das Rathaus von Toronto

Im Rathaus herrschte an diesem Freitagnachmittag nur mäßiger Betrieb. Außerhalb der Schulferien waren nur wenige Touristen anwesend, die meisten Kanadier gingen ihrer Arbeit nach und die Büros leerten sich allmählich.

»Schönen Feierabend«, rief irgendjemand in Richtung der Rezeption.

»Danke, gleichfalls.«

Niemand schien die vier Freunde zu bemerken, die über eine große Wendeltreppe das erste Obergeschoss betraten. Einige Mitarbeiter der Stadtverwaltung kamen ihnen entgegen, ins Gespräch vertieft und in Gedanken längst mit ihren Wochenendaktivitäten beschäftigt. Ein älterer Herr tippte im Gehen auf seinem Smartphone herum, was Free zu der Überlegung veranlasste, ob er den Selbstzerstörungscode möglicherweise bereits über ein öffentliches WLAN senden konnte. Inzwischen stand die Gruppe vor einem Aufzug, und Free zog sein Örz-Smartphone hervor.

»Wir könnten eigentlich auch zu Fuß gehen«, fand Alexandra.

Free hob seine Augenbrauen. »Vierundzwanzig Stockwerke?« Er blickte zu Orakel und zögerte einen Moment. »Na ja, von meiner Seite aus wäre das kein Problem.«

Orakel grinste. »Von meiner Seite aus auch nicht.«

Da die anderen diese Äußerung für einen Scherz zu halten schienen, nahm er ihnen die Entscheidung kurzerhand ab. Als sich der Aufzug öffnete, trat er hinein, drückte alle fünfundzwanzig Etagenknöpfe nacheinander und sprang wieder hinaus.

»Ist das dein Ernst?«, fragte yury verdattert.

»Jupp. Jetzt ist es nur noch eine Frage der Effizienz. Der Aufzug lohnt sich nicht mehr.«

»Es ist vor allem eine Frage der Gefahr«, murmelte Free. »Unauffälliger Tourismus sieht anders aus.«

Alexandra nickte. »Wir sollten von hier verschwinden, bevor das Chaos ausbricht. Apropos, kannst du den Code nicht einfach per Funk senden?«

»Wahrscheinlich nicht«, prophezeite Free mit Blick auf sein Smartphonedisplay. »Die Netzwerkstruktur ist hierarchisch aufgebaut; über das WLAN kann man nur die Smartphones anderer Gäste erreichen.«

Er versuchte trotzdem testweise, den Code an alle erreichbaren Geräte zu senden. Dies führte jedoch nur zu Fehlermeldungen und zu einem Kopfschütteln von yury.

»Mein Smartphone läuft noch, die Internetseite der Stadtverwaltung ist noch erreichbar und die elektronisch gesteuerte Beleuchtung ist, wie man sieht, noch in Betrieb«, fasste yury zusammen. »So, da haben wir das Treppenhaus. Ich kann es kaum erwarten, hunderte Treppenstufen zu laufen.«

Er machte keinen allzu begeisterten Eindruck. Orakel hingegen zog entschlossen die Tür auf und begab sich auf den Weg, dicht gefolgt von Free und Alexandra. Den Abschluss bildete yury, der von dieser ungeplanten Aktion am wenigsten zu halten schien.

Irgendwann blieb Orakel stehen, allerdings nicht vor Erschöpfung. Er sah sich ratlos um. »Wo wollen wir überhaupt hin?«

»Irgendein leeres Büro finden«, erinnerte ihn Alexandra. »Darin haben wir ja inzwischen Übung.«

»Auf der Chefetage?«

yury wog nachdenklich den Kopf hin und her. »Der Bürgermeister hat sein Büro im ersten Stock. Ich weiß nicht, wie die Büros über das Haus verteilt sind, aber das oberste Stockwerk ist wahrscheinlich genauso gut geeignet wie jedes andere.«

»Was tut man nicht alles für einen schönen Ausblick«, befand Orakel und ging weiter nach oben. Auf dem Weg kamen ihnen noch einige Mitarbeiter entgegen, die über einen vermeintlich defekten Aufzug diskutierten, aber niemand beachtete die vier Eindringlinge.

Allmählich ließ der Sonnenschein, der durch die Fenster fiel, nach. Da die künstliche Beleuchtung nicht aktiviert war, wurde es dunkel in dem leeren Büro; so geschah es seit Monaten jeden Tag. Auf einem Tisch stapelten sich Aktenordner, die beim Umzug vergessen worden waren. Niemand interessierte sich mehr für die irrelevant gewordenen Aufzeichnungen. Die Abteilung war zugunsten der internationalen Raumfahrtbehörde geschlossen worden; das Island-Regime strich hinter den Kulissen die Förderung für »überflüssige« Projekte. Ein Großteil der Wirtschaftsleistung wurde als Vorbereitung für den »großen Sprung nach vorn« nach Afrika umgeleitet. Dort galt es, Armut zu bekämpfen, der Bevölkerung auch in entlegensten Dörfern notfalls mit Gewalt den »Fortschritt« aufzuerlegen und in Äquatornähe riesige Raumhäfen aufzubauen. Dass Island dadurch ein Zeitalter moderner Sklaverei ausrief, anstatt diese zu beseitigen, wagte kaum jemand auszusprechen. Die Wenigen, die es taten, wachten einige Tage nach ihrer Kritik ebenfalls in der Wiege der Menschheit auf und wurden dort zur Arbeit in den Fabriken und auf den Baustellen gezwungen. Solange es noch nicht die passenden Roboter gab, waren politische Gefangene ein brauchbarer Ersatz.

Der zuständige Hausmeister hatte längst aufgehört, die verlassenen Büros gründlich zu kontrollieren. Auf seinem abendlichen Rundgang machte er sich Gedanken über seine berufliche Zukunft, kam zu ernüchternden Ergebnissen und warf gedankenverloren einen kurzen Blick in alle Räume, bevor er seine Runde beendete, das Gebäude verließ und die Alarmanlage in Betrieb nahm.

»Schönen Feierabend«, sagte er zu sich selbst.

∞∞∞

Vorsichtig schob yury die Schranktür ein paar Zentimeter zur Seite. Er blickte sich in der Abenddämmerung um. Ein Vorzug des Ostturms war definitiv der wunderschöne Sonnenuntergang hinter den Hochhäusern. Während er noch vorsichtig den Schrank verließ, polterte an der gegenüberliegenden Wand eine Blumenvase zu Boden. yury riss die Augen auf.

»Mensch, Free«, schimpfte Orakel leise. »Du kannst froh sein, dass das Ding nicht zerbrochen ist.«

»Haben wir eine Pfütze auf dem Teppich?«, fragte Alexandra besorgt.

Free tastete auf dem Boden herum. »Nein, es ist nichts passiert.« Behutsam stellte er die Vase zurück an ihren Platz. »Wo ist überhaupt yury?«

Der rollte mit den Augen, schloss den Schrank hinter sich und begab sich zu seinen Kollegen. »Hier bin ich. Orakel, ich glaube, wir könnten den Örztöp gebrauchen.«

Orakel nickte und griff nach seinem Rucksack. »Das Netzwerkkabel hat Free.«

Von einer Raumwand war ein leises Klicken zu hören. Free kehrte mit einem Kabelende zurück, schloss den Örztöp daran an und nahm ein Stromkabel von Alexandra entgegen. Der Bildschirm leuchtete in der Dunkelheit und blendete die Betrachter.

»Ich glaube, wir sollten das Ding lieber in einem Schrank betreiben«, sagte yury. »Das Licht ist vielleicht von außen zu sehen.«

Die Kabellänge genügte knapp für dieses Vorhaben; die Freunde verringerten zudem die Displayhelligkeit und sahen gespannt dabei zu, wie sich der Internetbrowser öffnete. Free tippte eine Adresse in das Suchfeld ein und bestätigte die Eingabe mit der Entertaste.

»Bitte geben Sie Ihren Benutzernamen und Ihr Passwort ein«, meldete sich der Server, der zuvor jede Kommunikation verweigert hatte. Orakel konnte einen kurzen Freudenschrei nicht unterdrücken.

»Soll das heißen, wir können hier und jetzt die gesamte elektronische Infrastruktur der Erde lahmlegen?«, erkundigte sich Alexandra.

»Möglich«, sagte yury.

»Klar«, sagte Free. Er öffnete eine Kommandozeile, wobei ihm die grüne Phosphorschrift auf schwarzem Hintergrund erneut einen belustigten Blick seines Vorredners einbrachte. Er tippte kurz auf der Tastatur herum, schickte den Befehl jedoch nicht ab.

# echo "RGFpc3ksIERhaXN5CkdpdmUgbWUgeW91\ # ciBhbnN3ZXIgZG8KSSdtIGhhbGYgY3Jh\ # enkKQWxsIGZvciB0aGUgbG92ZSBvZiB5\ # b3Uu" | nc 2001:db8:1:1a0:539:7ff3:65:29a 32764

»Worauf wartest du?«, fragte Alexandra nervös.

»Ich weiß nicht«, stammelte Free. »Das fühlt sich auf einmal an, als würde ich mit dem Abschicken dieses Befehls einen Weltkrieg auslösen. Wie ist das überhaupt moralisch zu bewer–«

»Klick.«

»Alexandra!«, riefen Orakel, yury und Free gleichzeitig. Dann blickten sie voller Spannung auf das Display. Nach zehn Sekunden erschien eine Antwort.

nc: connect to 2001:db8:1:1a0:539:7ff3:65:29a port 32764 (tcp) failed: Connection timed out

»Würde eigentlich nicht genau dieselbe Meldung erscheinen, wenn die Zerstörung erfolgreich gewesen wäre?«, fiel yury ein.

»Nein«, widersprach Free. »Der Befehl kann erst gesendet werden, wenn eine Verbindung aufgebaut wurde. Die kommt aber gar nicht zustande.«

yury las sich die Fehlermeldung erneut durch und zeigte auf den Bildschirm. »Sie wird aber auch nicht explizit abgelehnt.«

Die vier Freunde grübelten eine Weile vor sich hin. Schließlich griff Free den Gedanken auf.

# ömäp -p- -sS 2001:db8:1:1a0:539:7ff3:65:29a Ömäp scan report for 2001:db8:1:1a0:539:7ff3:65:29a Host is up (0.0051s latency). Not shown: 65532 closed ports PORT STATE SERVICE 80/tcp open http 443/tcp open https 32764/tcp filtered unknown MAC Address: 00:00:5E:00:53:42 (Unknown)

»Guter Hinweis, yury. Auf allen anderen Kanälen wird die Verbindung explizit abgelehnt oder angenommen…«

Host is up (0.0020s latency). Not shown: 65535 closed ports

»… und auch die anderen Computer im Netzwerk lehnen ausdrücklich jeden Verbindungsversuch ab. Nur der eine Server mit der Adresse 2001:db8:1:1a0:539:7ff3:65:29a fällt aus der Reihe, weil er überhaupt nicht auf die Anfrage reagiert.«

»Wir jagen also keinem Gespenst nach, sondern sind tatsächlich kurz vor dem Ziel«, interpretierte Orakel das Ergebnis.

Free zuckte mit den Schultern. »Du könntest recht haben, aber ich bin hier mit meinem Latein am Ende.«

Nachdenkliches Schweigen, gemischt mit leichter Verzweiflung, erfüllte den karg eingerichteten Raum. Die letzten Sonnenstrahlen strichen lautlos über die Wand; die rot leuchtende Scheibe verschwand hinter dem Horizont. Nur noch das Laptopdisplay sorgte für spärliche Beleuchtung.

∞∞∞

Es war schließlich Orakels knurrender Magen, der die vier Freunde aus ihren Überlegungen hochschrecken ließ. Prompt meldete sich auch dessen Besitzer zu Wort.

»Ich habe Hunger.«