519 Park Avenue - Peter Stockfisch - E-Book

519 Park Avenue E-Book

Peter Stockfisch

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Beschreibung

Thomas Kirsten lebt seit 25 Jahren in New York. Als Investmentbanker hat er es an Wall Street zu Wohlstand und Ansehen gebracht. Zusammen mit seinem Partner Lars Bergstraesser betreibt er die Engelhard Capital Group LLC, einem kleineren aber erfolgreichen Mitspieler in der Finanzmetropole. Privat hat er, nach einigen stürmischen Jahren, sein Glück bei Christina, einer aus Equador stammenden New Yorker Rechtsanwältin, gefunden. Mit ihr teilt er seine Passion für klassische Musik und für Kunst. Wann immer es ihre Zeit erlaubt, versuchen sie, an dem mannigfaltigen kulturellen Leben in New York teilzuhaben. Im Frühjahr 2008 wird sein Leben dann unerwartet durch zwei Entwicklungen nachhaltig beeinträchtigt. Zum einen ist es die dramatische Finanz- und Wirtschaftskrise als Folge des Zusammenbruchs der Märkte für Subprime-Anleihen, zum anderen die plötzliche Veränderung im Verhalten seines Partners. Lars Bergstraesser scheint von einer dunklen Vergangenheit eingeholt zu werden. Es geschehen Morde in New York und in Berlin, die die Polizei diesseits und jenseits des Atlantik vor ein Rätsel stellen. Die spannende Handlung führt den Leser nicht nur an die Schauplätze in New York und in Berlin, sondern auch nach Afrika, nach Mosambik.

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Seitenzahl: 431

Veröffentlichungsjahr: 2018

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519 Park Avenue

1.

    Der Verkehr auf der Avenida Julius Nyerere war eher mäßig. Nur ein paar Ladas und Nivas und der eine oder andere IFA-Lkw bewegten sich in beide Richtungen. Der Geruch ihrer Abgase erinnerte ihn immer ein wenig an die Luft in Berlin und Leipzig. Aber durch die unmittelbare Nähe zum Indischen Ozean mit seiner leichten Brise verflüchtigten sich die Abgase meistens sehr schnell. Und die Akazien, die die Avenida umsäumten, spendeten nicht nur wohltuenden Schatten, sondern verbreiteten   auch einen angenehmen würzigen Duft.

    Es war ein schöner Tag. Um diese Jahreszeit war das Klima in Maputo erträglich. Der August hatte meistens moderate Temperaturen. Nicht so schwül wie in den Wintermonaten. Und kaum Regen.

    Gerd Kutschinski nahm von seiner Umwelt jedoch wenig Notiz. Er hatte es jetzt eilig. Es hatte eine ganze Weile gedauert, bis er die Botschaft verlassen konnte. Obwohl er selber mit weitreichenden Überwachungskompetenzen ausgestattet war, musste auch er sich der  zeitaufwendigen Abmelderoutine der Botschaft durch die Sicherheitsoffiziere unterziehen. Die stellten immer viele Fragen. Meistens die gleichen: Wohin er ginge, zu welchem Zweck, wie lange er wegbleiben, wen er treffen und warum er nicht den Dienstwagen benutzen würde. Und er musste begründen, warum er unbedingt allein gehen wollte und nicht mit einem Begleiter, wie sonst üblich. Kutschinski legte Wert darauf, die Fragen überzeugend und so detailliert wie möglich zu beantworten. Das kostete Zeit.       

    Als Wirtschaftsattache an der DDR-Botschaft in Maputo genoss er allerdings etwas mehr Freiheiten als andere Kollegen. Das Ministerium für auswärtige Angelegenheiten und insbesondere die Herren im Politbüro  der SED in Berlin, auf die es vor allem ankam, konnten aber auch zufrieden mit ihm sein. Rigoros hatte er die Ziele der Außen- und Wirtschaftspolitik der DDR in Mosambik vorangetrieben. Sei es bei der Entwicklung eines großen landwirtschaftlichen Projektes im Norden des Landes oder die devisenfreie Beschaffung von Steinkohle für die braunkohlelastige Republik. Auch die Lieferung der W-50 Lkws aus der IFA-Produktion der DDR hatte er gut organisiert.

    Was seine Bosse in Berlin und die Kollegen in der Botschaft nicht wussten, war, dass er es verstanden hatte, bei allen diesen Transaktionen für sich privat sogenannte Vermittlungs- und Beratungsgebühren in sechsstelliger US-Dollar-Höhe einzustreichen.

    Den größten Schnitt machte Kutschinski jedoch bei der Lieferung von Waffen und Militärgütern aus DDR-Beständen. Für deren Organisation und Abwicklung wurde er von seinen mosambikanischen Partnern großzügig belohnt. Zum Teil fanden diese Lieferungen ihre Bestimmung auch in den Nachbarländern von Mosambik, wie Tansania, Sambia, Simbabwe und selbst Südafrika. In den Wirren des Bürgerkrieges landeten die Waren manchmal auch nicht nur bei ‘Freund’, sondern auch bei ‘Feind’.

    Bei diesen Geschäften war Kutschinski auch auf sein Gegenüber bei der sowjetischen Botschaft in Maputo gestoßen. Oleg Kasparow hatte eine ähnliche Karriere gemacht wie er selber. Während Kutschinski nach seinem Aufstieg als Kader beim Ministerium für Staatssicherheit (MfS) in den auswärtigen Dienst wechselte, war Oleg vom KGB in die Auslandsvertretung der UdSSR entsandt worden.

    Dies waren aber nicht die einzigen Parallelen. Beide verstanden es perfekt, ihre Position für ihre Zwecke und zum eigenen Vorteil auszunutzen. Dabei waren sie nicht zimperlich bei der Ausräumung von allem, was sich ihnen in den Weg stellte. Kutschinski hatte Einiges gelernt. Bei seinem ersten außereuropäischen Einsatz vor ein paar Jahren in Angola hatte er den Akteuren in der Botschaft und außerhalb intensiv auf die Finger geschaut. Er hatte gesehen, welche ‘nebengeschäftlichen’ Möglichkeiten sich für einen Diplomaten in Afrika auftun konnten, wenn man keine Skrupel kannte. Damals hatte er sich das Rüstzeug für seine jetzige ‘Karriere’ geholt.

    Es gab noch eine weitere Gemeinsamkeit der zwei Geheimpolizisten im diplomatischen Dienst. Beide teilten ein Faible für ganz junge Mädchen. Und sie tauschten sich dabei aus, wie und wo sie ihren Vorlieben am besten frönen konnten, ohne Aufsehen zu erregen. Diskretion war oberstes  Gebot. Nicht nur mit Rücksicht auf ihren Arbeitgeber, sondern auch im Hinblick auf das Gastland. Das strikte und prüde Regime der sozialistischen Länder hatte sich auch in der Volksrepublik Mosambik etabliert. Verstöße gegen die sozialistische Moral wurden rigoros verfolgt.

    Die Angehörigen der DDR-Auslandsvertretungen waren meistens verheiratet. Sie mussten ihre Ehepartner und, wenn vorhanden, ihre Kinder aber in der Regel zu Hause lassen. Damit wollte man einer möglichen Flucht in westliche Länder begegnen. Um riskanten außerehelichen Eskapaden im Gastland vorzubeugen, gewährte Berlin seinen Diplomaten allerdings großzügig häufige Heimreisen.

    In einem gravierenden Punkt unterschieden sich die Beiden jedoch: Während Kutschinski sich nur gelegentlich einmal ein Bier oder ein Glas Wein oder Sekt bei besonderen Anlässen genehmigte, trank Oleg Kasparow offensichtlich regelmäßig, meistens Whisky ‘on the rocks’. Er hatte fast immer eine ‘Fahne’, und  wenn ein bestimmter Alkoholspiegel erreicht war, wurde er ausgesprochen redselig. Und das war ein Problem. Ein schwerwiegendes.

    Die ‚Chefin‘ eines der diskreten Etablissements, die beide von Zeit zur Zeit frequentierten, hatte Kutschinski anvertraut, dass Oleg sich in angetrunkenem Zustand dort bisweilen sehr spendierfreudig gezeigt und mit seinen ‘smarten Geschäften’ geprahlt hatte. Daraus erwuchs eine Gefahr. Eine tödliche Gefahr. Und nicht nur für den Russen, sondern auch für den Ostdeutschen.

    Gerd Kutschinski wollte unter keinen Umständen das, was er in den letzten Jahren erreicht hatte, aufs Spiel setzen. Zweifellos hatte er es weit gebracht. Und er war bei der Planung seine Karriere immer sehr zielstrebig vorgegangen. Bereits der Wechsel seinerzeit von der Hochschule für Ökonomie in Berlin-Karlshorst zur Bergakademie in Freiberg hatte sich im Nachhinein als ein kluger Schachzug erwiesen. Sein erfolgreicher Abschluss mit einer sehr guten Note in dem obligatorischen, das Studium begleitenden Fach ‘Marxismus-Leninismus‘ sowie sein früher Eintritt in die Partei machten den Weg frei für eine Position als Kader im Ministerium für Erzbergbau, Metallurgie und Kali.

    Kutschinskis  Ambitionen im Hinblick auf materiellen Erfolg und Macht richteten sich dann aber bald auf die nächsten Stationen:  Ministerium für Außenhandel und schließlich Ministerium für Staatssicherheit. Hier wurde entschieden, wer die Republik im Ausland vertreten durfte. Mit Intelligenz und Fleiß schaffte es Kutschinski, sich für den Auslandsdienst zu qualifizieren. Nicht zuletzt waren für diesen Erfolg auch sein parteipolitisches Engagement sowie sein rigoroses, ja zum Teil menschenverachtendes Vorgehen bei Einsätzen im MfS ausschlaggebend gewesen.

    Inzwischen hatte er auch geheiratet. Dies war eine wichtige Voraussetzung für den Auslandseinsatz. Gabriele Schuster, eine Lehrerin für Deutsch und Geschichte am Rosa-Luxemburg-Gymnasium in Berlin-Pankow, war die ideale Partnerin für ihn. Sie engagierte sich voll für ihren Beruf und widmete sich daneben ehrenamtlich der Parteiarbeit. Sie stellte keine großen Ansprüche an gemeinsame private Aktivitäten. Insofern gab es auch keine großen Diskussionen über die mit seiner Karriere verbundene monatelange räumliche Trennung.

    Zuerst kam Ungarn, dann Angola und jetzt - mit all den selbstinszenierten finanziellen Segnungen - Mosambik. Diese Errungenschaften waren jetzt in Gefahr. Und diese Gefahr musste eliminiert werden.

    Mit Oleg Kasparow wollte er sich jetzt zum Lunch treffen, und zwar in dem altehrwürdigen Polana Hotel, der ‘Grand Dame’ von Maputo.

    Anders als seine Kollegen in der Botschaft oder auch früher im Ministerium in Berlin, die sich bei Begegnungen mit Vertretern des großen sozialistischen Bruders eher unterwürfig aufführten, trat Kutschinski gegenüber Oleg Kasparow sehr selbstbewusst auf. Seine Seniorität - obwohl er wesentlich jünger war als der Russe - basierte zum Teil auf dem beachtlichen Respekt, der ihm von den lokalen Geschäftspartnern entgegengebracht wurde. Und er wurde gefürchtet. Dies war Oleg nicht entgangen. Eine weitere Ursache für die Überlegenheit Kutschinskis war aber auch die etwas labile Persönlichkeit von Kasparow.

    Bei früheren Begegnungen hatten sie sich manchmal über die Risiken ihrer Aktivitäten unterhalten. Zum Beispiel über die komplizierten Methoden, Geld ins Ausland zu schaffen. Dabei waren sie natürlich auf die Unterstützung ihrer afrikanischen Geschäftskumpanen angewiesen. Auch über den Tag ‘X’ sprachen sie und was zu tun sei, falls einer von ihnen oder beide auffliegen sollten. Sie waren sich der Gefahren voll bewusst.

    “Wenn Dir eine Gefahr droht, musst Du ihr nicht ausweichen. Du musst sie beseitigen. Radikal und vollständig”, hatte der Russe seinem ostdeutschen Kumpanen einmal geraten. Dieses Rates bedurfte es bei Kutschinski jedoch nicht. Er war selber davon überzeugt, dass man in diesem Geschäft skrupellos und entschlossen handeln musste – ohne Rücksicht auf Verluste.

    Kasparow konnte damals nicht ahnen, dass sich sein Rat und seine Befolgung eines Tages gegen ihn richten würde.

    Kutschinski hatte alles exakt und minutiös vorbereitet.

    Er hatte sich entschlossen, zu Fuss zu gehen. Von der Botschaft in der Rua Damiâo de Góis war es nicht sehr weit zum Polana.   

    Auf dem Bürgersteig begegnete er nur wenigen Menschen. Der Bürgerkrieg hatte das Leben in der Stadt sichtbar gelähmt. Und das recht freudlose sozialistische Regime schien auch eine eher einengende Wirkung auf das Leben der Menschen zu haben.

    Man sah überwiegend Einheimische auf der Straße. Nur hier und da Europäer. Meistens wie er, Vertreter der Länder des sozialistischen Blocks. Man erkannte sie an ihren etwas spießigen grauen oder dunklen Anzügen und den beigen oder andersfarbigen Oberhemden. Wenn sie nicht gerade ihre uniformen Trainingsanzüge trugen. Und Kubaner, die sich von den Einheimischen vor allem durch ihre etwas fantasievollere Kleidung unterschieden.

    Kutschinski war groß und von kräftiger Gestalt.  Sein dunkles, etwas gewelltes Haar trug er nach hinten gekämmt. Mit seinem markanten, etwas brutal anmutendem Gesicht wirkte er auf manche Leute einschüchternd, vor allem auf Einheimische. Entgegenkommende Passanten wichen ihm meistens respektvoll aus. Er machte allerdings auch keinerlei Anstalten, seine lineare Gehrichtung nur um einen Deut zu verändern.

    Er beschleunigte seinen Schritt jetzt. Wenn er einen ‘Schatten’ hatte, was nicht auszuschliessen war, so musste dieser sich anstrengen, ihm zu folgen. Kutschinski würde sich nur geringfügig zu seiner Verabredung verspäten. Das war wichtig. Es gab einen strikten Zeitplan.

    Oleg Kasparow war bereits da. Als er Kutschinski kommen sah, erhob er sich von einem braunen Ledersofa, das in der Hotellobby stand.

     “Strasdwudje”, begrüßte er seinen DDR-Kollegen. Wenn sie allein waren, sprachen sie Russisch miteinander. Sonst Englisch. Ihre beider Portugiesischkenntnisse waren eher rudimentär.

     “Lasst uns nach vorne gehen. Ich habe in der ‘Varanda’ für uns reservieren lassen”, sagte Kutschinski und legte eine Hand kurz auf die Schulter des Russen. “Da haben wir frische Luft.”

     ‘Und es gibt dort vielleicht weniger Wantzen’, dachte er, sagte es aber nicht.

    Vorbei an dem klassischen Fahrstuhl in dem Eisenkäfig, der an alte französische Kriminalfilme in schwarzweiß erinnerte, schritten sie durch die Flügeltüren, die sich zur Seeseite des Hotels öffneten.

    Oleg Kasparow war gut einen halben Kopf kleiner als Kutschinski. Er war  etwa Mitte 50 und seine mittelblonden Haare lichteten sich bereits. Kasparow trug einen khakifarbenen Anzug, der trotz seiner untersetzten Figur und leichtem Bauchansatz eine halbe Nummer zu groß erschien. Sein fleischiges, großporiges Gesicht war immer leicht gerötet. Mit den engstehenden tiefliegenden Augen vermittelte er den Eindruck eines Mannes, bei dem man ständig auf der Hut sein musste. Insgesamt war seine Erscheinung nicht besonders vertrauenserweckend.

    “Seid ihr mit den Ermittlungen in dem Fall Unango inzwischen weitergekommen ?” eröffnete der Russe das Gespräch ohne einleitenden Smalltalk. Er bezog sich dabei auf den dramatischen Anschlag vor einigen Monaten auf den Konvoi von DDR-Landwirten auf ihrem Weg zu der Staatsfarm Unango. Diese Großfarm war seinerzeit mit Hilfe der DDR gegründet worden, nachdem Honnecker den Vertrag über die wirtschaftliche Zusammenarbeit mit Mosambik unterzeichnet hatte. Trotz bewaffneter Eskorte hatte es bei dem Anschlag acht Tote auf Seiten der DDR-Helfer gegeben.

    “Wie Du weißt, gab es verschiedene umfangreiche Untersuchungen. Und Vieles deutet auf eine Aktion der Renamo hin. Aber eine vollständige Aufklärung gibt es bis heute nicht – wenn es sie jemals geben wird.” Kutschinski machte eine kurze Pause und schaute sein  Gegenüber herausfordernd an.

    “Und ihr ? Wie sieht es zu diesem Fall bei Euch aus ? Immerhin haben die Ermittlungen ergeben, dass die Projektile, die gefunden wurden, aus Kalaschnikows sowjetischer Bauart stammten.”

    Kasparow zwang sich zu einem Lächeln und hob beide Arme.

    “Keine Ahnung ! Aber ich glaube, dies ist jetzt aktuell nicht unser Thema,” wich er der Frage aus. Er nahm einen Schluck von dem Whisky, den er sich hatte kommen lassen. Der Russe kniff seine Augen zusammen.

    “Warum wolltest Du mich sprechen ?”

    Kutschinski antwortete nicht gleich. Was sollte er ihm sagen ? Eigentlich war es egal. Er hatte einen Tisch auf der linken Seite des nach vorne offenen Terrassenrestaurants gewählt, im Nord-Ost-Flügel des Hotels.  Dieses Wahrzeichen der Stadt war von seinen Architekten so konzipiert worden, dass sich seine Seitenflügel jeweils trichterförmig in einem Winkel von 135 Grad zur Rückseite des Gebäudes öffneten. Von ihrem Tisch hatte man einen freien Blick auf die weiträumige Swimming-Pool-Anlage, die sich fast über die ganze Breite des Hotels erstreckte und bis zu dem breiten Grünstreifen vor der Küstenstrasse, der Avenida da Marginal, reichte. Dahinter sah man die Baia de Maputo mit der Insel Inhaca.

    Kutschinski hatte Kasparow so postiert, dass er direkt im Blickfeld des schräg gegenüber liegenden Süd-West-Flügels des Hotelkomplexes lag. Er selber setzte sich rechts von dem Russen in einem Winkel von 90 Grad.

    Oleg Kasparow durfte keinen Verdacht schöpfen. Der Deutsche gab sich daher ernst und wichtig, als er antwortete.

    “Oleg, wir müssen aufpassen. Keine Dokumente aufbewahren und mit Niemandem reden. Mit Niemandem !”

    Ein livrierter Ober nahm ihre Bestellung auf. Um den Schein der devisenschwachen Ost-Diplomaten zu wahren, hatten Sie ein einfaches Mittagsmenü ausgewählt, eine Mucapata mit einer Meeresfrüchtesuppe vorweg.

    “Die haben uns aus Berlin zwei Kontrolleure geschickt. Die löchern zwar fast alle in der Botschaft, drehen jedes Stück Papier um und sitzen stundenlang an allen unseren Computern. Ich habe aber  den Verdacht, dass sie vor allem mir auf die Finger sehen wollen.” Und nach einer kurzen Pause: “Da sind sie aber an der falschen Adresse. Zu unseren Spezialgeschäften bewahre ich nichts auf; keine Lieferscheine, keine Rechnungen und keine Bankauszüge. Oleg, ich muss mich darauf verlassen können, dass du dies genauso handhabst.”

    Der Russe nickte und wollte etwas sagen, aber die Suppe wurde gerade serviert, und so schwieg er.

    Die linke Hand unter dem Tisch, die andere zum Löffel greifend, schaute Kutschinski unauffällig auf seine Uhr. Exakt 14 Minuten nach eins. Noch 60 Sekunden. Kutschinski rückte seinen weißen Korbsessel nach hinten und lehnte sich etwas zurück.

    Es war ein kurzes, lautes ‘Peng’. Oleg Kasparows massiver Kopf fiel auf die Suppenschale vor ihm, die laut scheppernd in Stücke brach. An seinem Hinterkopf klaffte ein faustgroßes Loch, aus dem Blut über sein rechtes Ohr und die rechte Wange rann, das sich mit Hirnmasse, Haaren und der weißgelben Flüssigkeit der Meeresfrüchtesuppe mischte.

    ‘Gute Arbeit’, dachte Kutschinski. Auf diesen Scharfschützen war Verlass. Der hatte ihn allerdings auch eine Stange Geld gekostet. In harter Währung.

2.

    Der Vorhang fällt. Es vergehen noch einige Sekunden nach dem dramatischen Ende und dem Verstummen des Orchesters. Dann der Applaus, zunächst zögerlich, dann stärker und breiter. Die Kronleuchter gehen halb an und senken sich langsam von der Decke. Einige Bravorufe und Beifallspfiffe von den hinteren Reihen und  vom Family Circle. Die Sänger verbeugen sich, zuerst die Nebenrollen und schließlich -  bei anschwellendem Applaus - die Stars, allen voran Ramon Vargas als Riccardo, Angela Brown als Amelia und Dmitri Hvorostovsky als Renato. Dies wiederholt sich noch ein paar Mal, wobei am Ende auch der Dirigent, Gianandrea Noseda, auf die Bühne geholt wird und für sich und das Orchester den Beifall entgegennimmt.

    Es gibt noch eine kleine Überraschung: Das Ensemble stimmt ein ‘Happy Birthday’ für Noseda an. Klingt gut – mehrstimmig von professionellen Sängerinnen und Sängern dargeboten.

    Und dann ist es plötzlich vorbei. Volles Licht, leises Stimmengewirr und ein bisschen Gewühle in den Reihen.

    Thomas Kirsten geht es auch nach fast 25 Jahren New York immer noch ein wenig auf den Wecker, dass die meisten Menschen ihre Mäntel selbst in der Metropolitan Opera nicht an der Garderobe abgeben, sondern umständlich auf ihrem Sitz oder auf dem Schoß verstauen, manchmal zusammen mit großen Taschen oder Tüten, wenn sie direkt von der Arbeit oder vom Einkaufen kommen. Vielleicht ist es das Tempo der Stadt; wozu nach der Aufführung lange an der Garderobe in der Schlange stehen. Viel wichtiger ist es, schnell die Subway oder den Bus zu erreichen oder den Zug nach New Jersey oder Connecticut. Daher fällt der Beifall in den New Yorker Theatern und Konzertsälen auch eher kurz aus.

    Natürlich gibt es auch Leute, die sich hübsch gemacht haben für einen festlichen Abend – ohne Mantel und Regenschirm in den Reihen, wie es in Dresden, Hamburg oder München gang und gäbe ist. Auf die wartet dann allerdings draußen häufig eine Limousine.

    Es dauert nur wenige Minuten, bis Thomas Kirsten seinen Mantel hat und auf den weiten Vorplatz mit dem erleuchteten Springbrunnen tritt.

    Er war jedes Mal wieder von dem Lincoln Center fasziniert. In einer weiträumigen Architektur waren hier Oper, Philharmonie, Ballett und Theater vereint. Und die besten Sänger und Musiker aus der ganzen Welt gaben sich hier ein Stelldichein. Hier, in diesem Zentrum der Kultur, fühlte man förmlich die Musen atmen.

    Gleich daneben die berühmte Juilliard School, aus der schon so viele große Musiker hervorgegangen sind, die heute an den bekannten Opernhäusern oder in den besten Orchestern der Welt wirken.

    Als junger Student hatte Thomas Kirsten einen Dokumentarfilm gesehen über den Neubau der Metropolitan Opera im Lincoln Center Mitte der 60er Jahre. Kernstück des Films war ein Interview mit dem damaligen charismatischen General Manager der Met, Sir Rudolf Bing. Er hatte sich damals fest vorgenommen, der Met so bald wie möglich einen Besuch abzustatten. Sein Wunsch erfüllte sich erst siebzehn Jahre später.

    Es ist kühl, und er bindet sich seinen Schal etwas fester um den Hals.  Er hatte sich auf diesen Abend gefreut. Christina wollte unbedingt Un Ballo In Maschera sehen. Anschliessend wollten sie im “Café des Artistes” essen. Dann kam in letzter Minute wieder etwas dazwischen: Christina arbeitete für Cartwright Lechter & Dornfeld LLP, einer großen Anwaltskanzlei in Manhattan mit Schwerpunkt Gesellschaftsrecht. Da kam es vor, dass sie plötzlich bis in die Nacht arbeiten musste, um kurzfristig für einen Klienten einen Börsenprospekt oder einen Antrag für die Aufsichtsbehörden zu erstellen. Obwohl Verdis Maskenball nicht zu seinen  Lieblingsopern gehörte, entschloss er sich, alleine zu gehen und die zweite Karte gegebenenfalls an einen Musikstudenten, die regelmäßig vor der Met auf eine solche Gelegenheit warten, zu verschenken. Er hatte keine Lust, vor dem Fernseher zu sitzen und auf Christina zu warten.

    Thomas Kirsten ging in Richtung Columbus Circle. Er liebte diese Stadt, die sein Leben in so mannigfaltiger Weise bereichert hatte. Trotz seiner  62 Jahre hatte er immer noch den gleichen Tatendrang wie vor 25 Jahren als die Dresdner Bank ihn von Frankfurt nach New York geschickt hatte.

     Wahrscheinlich lag es an der Dynamik dieser Metropole, die ihn beflügelte, beruflich wie privat. Beruflich hatte man immer das Gefühl, neue Ideen entwickeln und dann auch sofort umsetzten zu müssen. Und privat war es das unglaubliche Angebot an kulturellen Ereignissen, politökonomischen Veranstaltungen und Entertainment auf höchstem Niveau, bei dem man sich ständig entscheiden musste, welchen Event man zugunsten eines anderen auslassen wollte.

    Und dann die Menschen. Die Mischung aus Europäern, Süd- und Mittelamerikanern, Asiaten und Afrikanern war eine permanente Augenweide. Wenn man durch die Straßen ging, waren eigentlich alle Sinne stimuliert. Und das lag nicht nur an den rassigen jungen Menschen in frecher Kleidung. Alter spielte fast keine Rolle. Jeder war akzeptiert.

   Thomas Kirsten war ein sportlicher Typ, groß und schlank, mit fast grauen  Haaren und immer etwas sonnengebräunt. Daher wirkte er auch vielleicht  jünger, als er war. Seine Garderobe war cool. Seine Boss-Anzüge und -Hemden kaufte er seit über 30 Jahren in Deutschland. Dort wurde einfach chicer und enger geschnitten. Das fiel auf inmitten der amerikanischen Geschäftsleute oder Banker, von denen kaum einer einen gut sitzenden Anzug trug, konnte der Stoff noch so kostbar sein.

    Es war frisch, aber irgendwie lag ein Hauch von Frühling in der Luft. Er beschloss, zu Fuß nach Hause zu gehen. Er ging gerne zu Fuß in Manhattan. Immer viele Menschen auf den Strassen. Zu jeder Tag- und Nachtzeit. Und es gab ständig etwas Interessantes zu sehen.

    Sein Appartment lag in der Upper East Side, in der 69. Straße zwischen Lexington und Third Avenue. Die Wohnung von Christina lag nur 6 Strassen weiter nördlich. Er würde etwa eine halbe Stunde brauchen.

    Inzwischen war er an Central Park South angekommen. Dies war zwar ein Umweg, aber er konnte schlecht nachts um halb zwölf quer durch den Park laufen. Dabei gab es immer einige Unerschrockene, die selbst um diese Zeit noch im Park joggten.

   “Hallo, hast Du Lust ?” hörte er eine angenehme Frauenstimme kurz vor dem Essex House neben sich.

    “Nee, danke, ich hatte gerade volles Programm”, flapste er zurück und lächelte die dunkelhäutige Schöne an.

    Trotz Verbot traf man sie überall: In den Hotels, auf der Straße, in Restaurants und Bars. Nur sahen sie hier – gewissermaßen als ‘Tarnung’ - irgendwie neutraler aus, wie die attraktive Frau von nebenan – was nicht ganz ohne Reiz war.

    Christina würde nicht vor Mitternacht kommen.

    Er dachte gerade daran, wie sie sich vor 6 Jahren bei einer Vernissage im German House kennengelernt hatten, als es in seiner Jackettasche vibrierte.

    “Hallo ?” 

    “Ich bin’s, wie war’s ?”

    “Magnifico ! Du wärst begeistert gewesen. Super Amelia. Ich hatte Angela Brown vor ein paar Jahren in Hamburg in der gleichen Rolle gesehen;  sie ist noch besser geworden. Tolle Stimme, super Frau, große Bühnenpräsenz.  Es tut mir leid, aber du hast etwas verpasst. Wie sieht’s bei Dir aus ?”

    “Wir kommen nicht weiter. Wir benötigen ein paar Angaben von den Wirtschaftsprüfern. Die sind jetzt natürlich alle weg. Wir brauchen noch etwa eine halbe Stunde und dann komme ich. Bist Du dann bei mir in der Wohnung ? Bitte ! ich brauche eine Massage.”

    Diese Bitte konnte und wollte er ihr nicht abschlagen, und er beeilte sich mit der Antwort, Vorfreude in der Stimme.

    “O.k., Ich warte bei Dir auf Dich”.

3.

    “Hey, Darling, bist Du eingeschlafen “?

    “Hmm…”, kam es von der Couch. Beim Zappen zwischen Letterman und Connan O’Brian musste er tatsächlich eingenickt sein und hatte sie nicht kommen gehört. Christina lächelte und beugte sich über ihn, um ihm einen Kuss zu geben. Jetzt war er hellwach. Sie sah trotz später Stunde und langem Arbeitstag wie immer umwerfend aus: Ihre langen schwarzen Haare waren hinten in einem Pferdeschwanz  zusammengebunden, der ihr über die linke Schulter fiel. Sie trug ein enges graues Kostüm mit einer fliederfarbenen Bluse. Der Rock endete kurz über dem Knie und presste sich an ihre Oberschenkel. Ihre Strümpfe - eine New Yorker Rechtsanwältin geht nie ohne Strümpfe ins Büro, selbst nicht im Sommer bei 90 Grad Fahrenheit  -  unterstrichen noch das leichte Braun ihrer Beine. Thomas Kirsten war auch nach 6 Jahren immer noch fasziniert von ihr und konnte bei ihrem Anblick seine Erregung kaum verbergen. Es war nicht nur ihre Jugend - der Altersunterschied betrug immerhin 23 Jahre - sondern eher ihre erotische, warme Ausstrahlung, die von vielen Frauen südamerikanischer Herkunft ausgeht.

     Christina war für Thomas eine ernsthafte Beziehung. Er konnte sich vorstellen, mit ihr zusammen zu bleiben. Dies war eine bemerkenswerte Erkenntnis, nach seinen ziemlich wilden Jahren seit seiner Scheidung vor 20 Jahren.

     Er hatte sich damals über beide Ohren in eine Französin verliebt, die er in einem Restaurant kennengelernt hatte. Es hatte so gefunkt, dass er alle Vernunft über Bord warf. Es entwickelte sich eine leidenschaftliche, stürmische Beziehung. Seine engsten Freunde konnten ihn nicht zur Raison bringen. Er war – wie sie sagten – hundertprozentig ‘schwanzgesteuert’. Da er Heimlichkeiten hasste, hatte er Bärbel sehr bald von seiner Affaire erzählt. Bärbel war natürlich wie am Boden zerstört, und sie führten nächtelang selbstzerstörische Diskussionen, die jedoch zu nichts führten. Nach einigen Wochen fingen sie dann an, über Scheidung zu sprechen.

    Mit Jaqueline, so hieß die Französin, dauerte es über 6 Jahre. Viel Sex, exotische Reisen und, insbesonderen in den letzten Jahren, immer häufiger auch heftige Auseinandersetzungen. Die beiden waren sich zu ähnlich. Jeder wollte die Kontrolle in der Hand haben und sagen, wo es lang geht. Thomas war es in seinem Beruf gewohnt, die Richtung vorzugeben, und Jaqueline auch. Sie betrieb in Manhattan ein französisches Restaurant, das sehr erfolgreich war. Sie war der Boss. Und diese Rolle reflektierte auch in ihr Privatleben. Das funktionierte auf die Dauer nicht, und ihre Beziehung ging schließlich in die Brüche.

    Danach hatte er wechselnde Partnerinnen. Er musste sich eingestehen, dass seine erotischen Erfahrungen, die er in diesen Jahren machte, für ihn ein neues, elektrisierendes Kapitel in seinem Leben darstellte, das er – immerhin im Alter von Anfang/Mitte Vierzig – nicht für möglich gehalten hatte. Frauen inspirierten ihn. In ihrer Gegenwart fühlte er sich wohl. Der Reiz und die Faszination des Neuen, des Geheimnisvollen spielte dabei eine wichtige Rolle. Dabei war er keineswegs das, was die Amerikaner einen Womanizer nennen. Dazu war er – was Frauen betraf – viel zu schüchtern. Es kam ihm nie in den Sinn, heute eine Frau ‘aufreißen’ zu wollen. Aber er reagierte auf Annäherungen vom anderen Geschlecht meistens positiv.

    Vielleicht war es aber auch ein Gegenpol zu seiner beruflichen Männerwelt, die sehr sach- und wettbewerbsorientiert war. In seinem Job ergriff er ständig die Initiative. Privat überließ er dies eher den Frauen.

    Mit Christina war alles anders.  O.k., er war älter geworden und Christina war mit fast 39 auch kein Küken mehr. Gut, sie war auf dem Zenith ihres Gefühls- und Sexuallebens, aber natürlich hatte auch sie eine Beziehungsvergangenheit, mit der eine gewisse Gelassenheit und Abgeklärtheit kommt. Der Himmel stürzte nicht gleich ein, wenn man sich neu verliebte.

     Acht Jahre war sie mit einem Amerikaner liiert. Einem Zahnarzt in Brooklyn. Sie hätte damals gerne geheiratet, aber er wollte nicht. Und sie musste auch nach einiger Zeit erkennen, dass sie nicht allzuviel gemein hatten. Ihre Liebe zur Musik und Kunst ließ sich nicht so gut mit den vielen aktiven Hobbys ihres Freundes vereinbaren: Surfen, Klettern und Snowboarding. Zahnärzte sind in ihrem Beruf wahrscheinlich so frustriert, dass sie ein besonders ausgeprägtes Bedürfnis nach ausgleichenden Freizeitaktivitäten haben. Leider meist nicht auf intellektuellem Gebiet. Insofern war sie ganz froh, als es vorbei war.

    Danach hatte sie nur Kurzbeziehungen und kam zu dem Schluss, dass sie eigentlich gar keinen festen Mann oder Ehemann wollte. Sie verdiente in ihrem Beruf, der ihr Spaß machte, genug Geld, um ein angenehmes Leben zu führen. Sie sah blendend aus und war charmant, so dass es keines großen Aufwandes bedurfte, um einen Sexpartner zu finden – wenn es denn sein musste. Im Übrigen glaubte sie inzwischen, dass sie zur Befriedigung ihrer Libido und ihres Ego nicht unbedingt einen Live-Partner brauchte.

    Bis zu dem Moment, als sie Thomas kennenlernte. Bei ihm kam  alles zusammen: Selbstsicherheit, Charisma, Bildung, Sinn für Kunst und Musik, Sinn für Humor, Einfühlungsvermögen und erotische Ausstrahlung.

    “Ich zieh’ mich schnell um; gib mir bitte ‘was zu trinken”.

    Er war gerade dabei, eine eiskalte Flasche Veuve Clicquot zu öffnen, als er sie aus dem Schlafzimmer hörte:

    “Darling, Hilfe !” 

    Er liebte ihr Englisch mit dem spanischen Akzent. Es klang nicht nach einem akuten Notfall. So nahm er zwei Champagnergläser  in die Hand, die Flasche unter den Arm und ging ins Schlafzimmer. Sie lag auf dem Bett, unbekleidet, nur mit einem weißen Handtuch um ihre Hüften. Sie lag auf dem Bauch und zeigte mit dem rechten Zeigefinger auf ihre Schultern:

    “Hier ! Ich bin völlig verspannt.”

    Er stellte den Champagner und die Gläser auf die Spiegelkommode. Die kleine Flasche mit dem Massageöl stand bereits auf dem Nachttisch.  Sie hatten gelernt, sich gegenseitig dieses unglaubliche Vergnügen von Zeit zur Zeit zukommen zu lassen.

    Thomas Kirsten begann langsam und zart, ihren Rücken zu massieren. Seine Hände glitten von unten entlang der Wirbelsäule, vorbei an den Schulterblättern bis zum Hals. An den Schultern verstärkte er den Druck und versuchte, die kleinen, für Büroarbeiter typischen Verspannungsknoten wegzudrücken.

    “Ja, da, da, stärker !”, raunte sie. 

    Dies spornte ihn an, und seine Bewegungen wurden kräftiger und schneller. Sie stöhnte vor Schmerzen und Vergnügen. Und er weitete das Terrain aus.

     Es kam wie immer: Er berührte ihre Arme, ließ seine Hände von den Achselhöhlen heruntergleiten, wobei seine Fingerspitzen ihre seitlichen Brustansätze berührten, bis zu ihrem Po und ihren Oberschenkeln.

    “Oh, Darling, Du bist der Beste, ich musste schon im Büro die ganze Zeit daran denken. Bitte, auch meine Füße”, bettelte sie.

    Thomas Kirsten wusste, wie es Christina erregte, wenn er ihre Füße und insbesondere ihre Zehen bearbeitete, und er gab sich dabei besondere Mühe. Nach einigen ”Ahs” und “Ohs” drehte sie sich um und zog ihn zu sich herunter. Sie küßte ihn. Zunächst ganz leicht, dann etwas mehr und schließlich heiß und leidenschaftlich.

    Er war immer wieder fasziniert von ihrer Hingabe und Ausdauer. Sie wollte immer, auch nach einem langen, anstrengenden Arbeitstag. Wenn es ihr Arbeitsprogramm erlaubte, trafen sie sich manchmal auch um die Mittagszeit zum Sex. Sie war einfach sportlich – wie er selbst. Sie hatten früher beide viel Tennis gespielt; sie als junges Mädchen in Florida, ihrer ersten Station in den Staaten, als sie mit ihren Eltern aus Ecuador gekommen war, er im Tennisclub in Deutschland. In Manhattan war das nicht ganz so einfach. Aber sie hatte ihr Gym und er drehte hin und wieder seine Runden im Central Park. Sex machte einfach mehr Spaß, wenn man einigermaßen fit war.

    Sie schlürften jetzt die alte Witwe Cliqueau. Es war schon halb zwei. Sie würden die Flasche nicht einmal zur Hälfte leeren. Er hatte um 8 Uhr 30 einen Termin. Christina schmiegte sich an ihn, zog ihn unter die Decke.

     “Ich denke, wir sollten jetzt schlafen”, sagte sie mit einer Stimme und einer Miene, die genau das Gegenteil ausdrückten.  Sie berührte ihn. Dies würde in der Tat eine kurze Nacht werden.

4.

Der Wagen wartete schon vor dem Baldachin mit aufgehaltener Tür.

     “Guten Morgen, Mr. Bergstraesser.”

     “Morgen, Vadim”. Mit einem Stapel Zeitungen rutschte er auf die hintere Sitzbank.

     “Wie ist der Verkehr heute Morgen ? Um halb neun habe ich eine Besprechung.”

     “Sollten wir schaffen”, murmelte Vadim hinter seinem Steuer.

     Lars Bergstraesser überflog die Schlagzeilen. Die Märkte sollten heute leicht im Positiven eröffnen. Das waren wenigstens die Vorzeichen von CNBC und Bloomberg, die beiden Fernsehkanäle, die er immer gleich nach dem Aufstehen so gegen sechs Uhr einschaltete. Der Dow Jones sollte die 13.000 - Hürde in den nächsten Tagen nehmen. Dies war um so erstaunlicher als sich das Subprime-Dilemma immer mehr ausweitete und das Land in die größte Finanzkrise seit dem Krieg gezogen hatte. Unglaublich.

     Sein Fahrer war, wie die meisten Fahrer der Car Services in New York, Russe – oder vielmehr Ukrainer. Bergstraesser hatte nie zu erkennen gegeben, dass er recht gut Russisch sprach.  Vadim war ziemlich smart und hätte nur neugierige Fragen gestellt. Außerdem konnte er so mithören, wenn Vadim per Handy mit seinen Buddies über halb-legale und illegale Geschäfte sprach. Die Jungs wollten natürlich auch das große Geld in ihrer neuen Wahlheimat machen. Als Limousinenfahrer war das nicht drin. Aber nach außen hin – gewissermaßen als Tarnung -  war es ein unverfänglicher, guter Job .

    Es ging jetzt nur noch stop-and-go.  Engelhard Capital Group LLC lag in der Avenue of the Americas in einem Wolkenkratzer im 34. und 35. Stockwerk. Sein Handy surrte :

    “Mr. Bergstraesser, Ihre Gäste aus Kalifornien sind da, “ meldete sich Jennifer.

    ”Ich bin in 10 Minuten da. Sie sollen im Konferenzraum warten. Ist Thomas schon da ?”

    “Ja, er ist gerade gekommen.”

                                                          *

    Sie waren mit dem Red Eye gekommen, sahen aber ganz frisch aus: Der Chef (CEO), sein Finanzchef (CFO) und der Investor-Relation-Mann. Alle etwa Mitte bis Ende dreissig. Sie hatten vor zirka 8 Jahren in San Diego eine Firma gegründet, die CALO Solutions, Inc., die mit großem Erfolg eine Business Software vertrieb, die auf individuelle Belange bestimmter Branchen ausgerichtet war. Ihr Börsengang war seinerzeit sehr erfolgreich gewesen, und die Aktie notierte inzwischen an der elektronischen Börse NASDAQ. Die  rasante Expansion machte nun eine weitere Finanzierungsrunde erforderlich. Dieses Projekt wollte man Engelhard Capital übertragen.

    Nachdem Bergstraesser Engelhard vor etwa 20 Jahren gekauft hatte, machte die Firma sich bald einen Namen, junge, erfolgversprechende Technologieunternehmen aus dem Silicon Valley mit intelligenten Finanzierungsmodellen im Markt zu etablieren. Dies war in erster Linie seinem Partner Thomas Kirsten zu verdanken, den er kurz nach Übernahme der Firma angeheuert hatte. Kirsten war ein erfahrener und kreativer Deal Maker.

    Bergstraesser, Kirsten, ihr Finanzchef Jeff Cohan und ihr Anwalt Bob Ziegler verhandelten bis in den späten Nachmittag mit einer kurzen Pause  für Sandwiches und Diet Coke. Es ging um einen dreistelligen Millionenbetrag.

5.

    Eigentlich gibt es keinen richtigen Frühling in New York. Es konnte recht frisch und wechselhaft bis Ende Mai sein, wenn dann mit einem Schlag der lange, warme Sommer einsetzt. Natürlich gab es schon mal den einen oder anderen Tag, an dem die Sonne einen Vorgeschmack auf die warme Jahreszeit gab.

    So ein Tag war heute.

    Jennifer hatte sich in der Mittagspause mit ihrer Freundin Laura verabredet. Mit ihrem Lunch in einem Plastikbehälter von der Salatbar im Deli um die Ecke setzten sie sich auf eine Bank im Central Park, der nur drei Straßen vom Büro entfernt war. Jennifer hätte auch im Four Seasons oder bei Michael’s lunchen können, sie hatte genug Geld, aber Laura verdiente nicht so viel. Außerdem gehörte es unter New Yorker Professionals – insbesondere den jüngeren, zu denen sie sich noch zählten – quasi zu einem Ritual, bei schönem Wetter sein Lunch im Freien einzunehmen; sei es im Central Park oder im Bryant Park oder in den öffentlichen Vorhöfen bzw. Atrien vieler Bürogebäude, die mit wetterfesten Tischen und Stühlen ausgestattet waren.

    Jennifer war eine attraktive junge Frau von vierzig. Mit ihren langen dunkelblonden Haaren, die sie abwechselnd offen, in einem Pferdeschwanz oder hochgesteckt trug, sah sie deutlich jünger aus. Sie kleidete sich chic und teuer. Ins Büro trug sie meistens Kostüme oder Hosenanzüge, die sie bei Barneys, Bergdorf & Goodman oder den europäischen Designern in der Fifth Avenue oder in der Madison Avenue kaufte. Sie strahlte Selbstbewußtsein aus.

    Laura hingegen war der ‘Junior Partner’ in ihrer freundschaftlichen Beziehung. Kurze schwarze Haare, vielleicht ein paar Pfunde von ihrem Idealgewicht entfernt und immer frech gekleidet. Sie sah sexy aus. Ein paar Jahre jünger als Jennifer, hörte sie gerne auf den Rat ihrer Freundin, ohne sich jedoch unterzuordnen. Beide waren single, wie so viele in New York. Und nicht unbedingt unglücklich darüber.

    “Was macht unser Big Boss?” eröffnete Laura das Gespräch und fummelte ihr Plastikbesteck aus der Cellophanhülle.

    “Ich weiß nicht, irgendwie hat er sich verändert. Er ist jetzt manchmal richtig stinkig; reagiert gereizt bei kleinen Anlässen. Gestern zum Beispiel raunzte er mich an ‘mach’ ich selber !’, als ich ihn um seinen Führerschein bat, der verlängert werden musste. Ich hatte mir dies vorgemerkt und wollte das Formular ausfüllen und an das Verkehrsamt  (DMV)  schicken”. Jennifer spießte mit ihrer Plastikgabel ein Stück Avocado auf. “Und Du weißt, wir hatten immer ein ganz tolles Verhältnis.”

    “Ja, Du hast eigentlich immer nur von ihm geschwärmt”, sagte Laura und nahm einen Schluck aus der Snapple-Flasche. “Und nicht zu vergessen, dass ihr vor ein paar Jahren auch romantisch miteinander verbunden wart,” fügte sie mit einem vielsagenden Lächeln hinzu.

    “Romantisch würde ich es nicht nennen. Aber ich war ungebunden und er nahm mich mit auf Reisen nach Europa, wo wir in den besten Hotels logierten. Ich konnte mir alles ansehen, wenn er den ganzen Tag in Meetings war. Du kennst mich. Sex ist, was es ist. Nicht mehr und nicht weniger. Die Welt geht nicht unter, wenn man ihn hat oder wenn man ihn nicht hat.”

    Die Affaire mit ihrem Chef, die viele Jahre zurücklag, spielte sie gerne herunter. Aber ganz so unromantisch veranlagt war sie eigentlich nicht. Daher fügte sie nach einer kurzen Pause hinzu:

    “Was nicht heißen soll, dass Liebe und Sex nicht gleichermaßen eine Einheit bilden können. Das ist die ideale Kombination, kommt aber nicht so häufig vor.”

    “Wie lange bist du jetzt bei Engelhard ?”

    “Im nächsten Jahr werden es 20 Jahre. Gleich nach dem College. Ich hätte mir auch nie träumen lassen, dass ich solange bei einer Firma bleiben würde. Aber immer, wenn ich einen Wechsel durchblicken ließ, hat Bergstraesser mich mit einer stattlichen Erhöhung von Gehalt und Bonus zum Bleiben überredet.”

    “Was nicht gerade zum Nachteil für dich war. Du hast den rasanten Aufstieg von Engelhard von Anfang an mitgemacht.” Laura schaute zu den Pferdekutschen herüber, die hier darauf warteten, Touristen durch den Central Park zu fahren. Gerade hatten sich vier ausgelassenen japanischen Mädchen in einer der Kutschen niedergelassen. Mit ihren hohen Stimmen  kichernd begannen sie sofort, sich  gegenseitig zu fotografieren.

    “Bergstraesser braucht sein eingespieltes Team, auf das er sich verlassen kann. Fremden gegenüber ist er eher misstrauisch.”

    Jennifer dachte daran, wie ihr Chef sie von Anfang an auf äußerste Diskretion eingeschworen hatte. Vor allem sollte sie alles, was seine Person  betraf, für sich behalten. Sie hielt sich weitgehend daran. Auch Paula erzählte sie nicht alles.

    “Was hältst Du von einem Kaffee ?” wechselte Laura das Thema, stand auf und warf die fast leere Plastikschachtel in den großen Abfallbehälter neben der Bank .

    “Gute Idee.”

    Sie überquerten Central Park South und steuerten auf Le PainQuotidien in der Seventh Avenue zu, wo sie sich  an einen der langen Holztische setzten und einen “Latte” bestellten. Dieser belgischen Bio- Imbisskette, die handgebackenes Brot und Gebäck in rustikaler Umgebung zu erhöhten Preisen anbot, gaben New Yorker Professionals eindeutig den Vorzug vor Starbucks. Beides waren jedoch nur Ersatzlösungen für die in Amerika komplett fehlende Kaffeehauskultur europäischen Zuschnitts. 

    Sie blieben nicht lange. Laura fummelte ein paar Dollarscheine aus ihrer Handtasche und legte sie auf den Tisch.

    “Bleibt es bei Freitag im “Carlyle” ?”

     “Ja, so gegen halb sechs. Wenn es bei mir später werden sollte, rufe ich dich an.”

6.

    Das Rindercarpaccio war vorzüglich. Wie gewohnt saßen sie an einem Tisch in der Ecke mit Blick auf den Innenhof, wo sie sich – für New Yorker Verhältnisse – einigermaßen ungestört unterhalten konnten. Heute, am Freitag, war es noch voller als sonst. Sie kamen ziemlich häufig mittags zu “Michael’s”. Es war bequem um die Ecke, exzellentes Essen und professioneller Service.

    “Was hältst Du von CALO Solutions ?” Bergstraesser schob seinen Teller beiseite und nahm einen Schluck Wasser. Er sah Thomas fragend an.

    “Die Jungs sind smart. Ihre Gewinne sind in den letzten 5 Jahren ständig gestiegen, und ihr Marktwert hat sich seit ihrem Börsengang vervierfacht. Wenn unser Due Diligence keine negativen Überraschungen bringt, sollten wir uns da voll reinhängen.”

    “Das Timing scheint nicht gerade ideal”.

    “Das stimmt, aber vielleicht liegt darin auch eine Chance”. Thomas war meistens optimistisch, musste aber zugeben, dass das wirtschaftliche Umfeld derzeit eher Anlass zur Sorge gab.

    “Beim Dow sind wir etwa 10 % von seinem Höchststand im letzten Sommer entfernt und bei der Nasdaq sind es sogar 15 %. Öl ist schon über 130 und Gold hat die 1000 – Marke durchbrochen.” Er hatte seinen Blackberry aus der Jackettasche genommen und scrollte. “Die Indizes haben sich aber in dieser Woche wieder ganz gut erholt. Und beim Öl ist viel Spekulation.”  Er steckte den Blackberry wieder weg und lehnte sich zurück. “Vielleicht bringt ja auch das Stimulus Package der Regierung etwas, und in der nächsten Woche, denke ich, wird die Fed Funds Rate nochmals um einen viertel Punkt auf 2 % gesenkt. Bernanke ist jetzt auf der richtigen Schiene, scheint mir.”

    “Andererseits fürchte ich, dass uns noch Einiges bevorsteht. Der Immobiliencrash und seine Folgen sind noch nicht ausgestanden. Mit den Abschreibungen von Morgan Stanley, UBS, Merril Lynch, Citigroup und den anderen Großen sowie der Bear Stearns-Pleite ist es meines Erachtens noch nicht getan. Der ganze Finanzsektor hat den Keller noch voller Leichen”, bremste Lars den Optimismus seines Partners. “Übrigens, auch die Deutschen,” fügte er noch hinzu.

    Bergstraesser verließ sich zwar in strategischen Fragen ganz auf Thomas und mischte sich auch wenig in das operative Geschäft seiner erstklassigen Leute ein. Im Laufe der Jahre hatte er sich aber durch das Studium der einschlägigen Wirtschafts- und Finanzmedien und natürlich durch regelmäßige Gespräche mit Investmentbankern und Analysten ein ökonomisches Grundwissen angeeignet, das es ihm erlaubte, sich zu den Marktentwicklungen ein Urteil zu bilden und mitzureden.

    “Nein danke, nicht für mich”, sagte Thomas und hielt eine Hand über sein Glas, als der Ober sein Weinglas auffüllen wollte. Der Hauptgang wurde serviert. Thomas hatte sich wie immer für den gegrillten Lachs entschieden  und Lars für das Rib-Eye Steak.

    Es war erstaunlich: Trotz der zigtausend Restaurants in New York mit all der ethnischen Vielfalt gab es neben den Spezialitäten überall die gleichen vier Standardgerichte – Steak, Lachs, Hähnchen und eine aufgemotzte Pasta. Sie unterschieden sich natürlich durch die Qualität der Ingredienzen, die Zubereitung und die Beilagen und natürlich durch die zum Teil recht phantasievolle Namensgebung. Aber ansonsten: American Standard.

     Für einen Moment genossen beide schweigend ihr Essen.

     “Wie gesagt, vielleicht liegt hier aber auch eine Chance für uns,” nahm Thomas den Faden wieder auf. “Die großen Institute haben wahrscheinlich abgewinkt. Die haben im Moment mit ihren Sub-primes andere Probleme. Und da ist CALO auf uns gekommen. Wir können hier eine Menge Geld verdienen, was wir gut gebrauchen können. Unsere Anleger sind im letzten Jahr nicht sonderlich von uns verwöhnt worden, und auch das Brokerage-Geschäft ist deutlich zurückgegangen”.

    “Im nächsten Jahr könnte es mit einer neuen Regierung neuen Schwung geben – egal ob Hillary oder Obama. Mit Obama, der wohl die Nase vorn hat, könnte es wieder aufwärts gehen,” stimmte Lars zu. “Lasst uns in der nächsten Woche mit unseren Anwälten reden”.

    Bergstraessers Telefon vibrierte und klingelte leise. Sie waren fertig. “Hallo !  Hallo ! Wer ist da ? Wer ?”  Lars nahm einen tiefen Atemzug, stand auf und ging in Richtung Toiletten. Als er zurückkam, war er leichenblass und seine Hand zitterte. Thomas hatte ihn noch nie so gesehen.

    “Is’ was ? Bist du okay ?” Lars antwortete nicht und bewegte sich Richtung Ausgang. Thomas legte einen Zwanziger und einen Zehner als Trinkgeld auf den Tisch - die Rechnung wurde immer ins Büro geschickt - und eilte hinterher.

7. 

    Der Verkehr nahm jetzt rapide zu. Vor einer halben Stunde hatte Saidi seine Spätschicht angetreten. In den nächsten sechs Stunden würde er das meiste Geld machen.

    Gerade hatte er zwei Damen bei Bergdorf & Goodman aussteigen lassen, als bereits ein neuer Fahrgast die noch offene Wagentür hinter sich schloss.

     “West Broadway und Grand Street, bitte”.

    So würde es jetzt immer weiter gehen bis etwa elf, halb zwölf, wenn im Theater District und im Lincoln Center die Vorstellungen zu Ende waren. Danach würde es ein wenig ruhiger werden. Jetzt bloß keine Tour nach JFK oder La Guardia. Das ist ein fester Preis und kann um diese Zeit bis zu zwei Stunden dauern. Seine pausenlosen 10 - bis 12- Dollar-Touren waren weit lukrativer. Einige seiner Kollegen fuhren manchmal einfach an Leuten mit Koffern vorbei oder schalteten das “OFF”-Licht ein. Dies konnte allerdings böse Folgen haben, wenn die TLC, die Taxi&Limousine Commission, davon Wind bekam.

    Saidi liebte seinen Job. Er war auch ein bisschen stolz auf das, was er in den vergangenen Jahren erreicht hatte. Die erste Hürde, die er seinerzeit nehmen musste, um die Taxifahrerlizenz zu erhalten, war der Sprachtest. Die TLC, die Bewerbungen von Menschen aus der ganzen Welt erhält, wachte darüber, dass die angehenden Taxifahrer in der Lage waren, Englisch zu lesen, zu sprechen und zu verstehen. Die zahlreichen Bewerber aus Pakistan und Bangladesch waren hier im Vorteil, da Englisch in ihren Heimatländern eine zweite Amtssprache war. Allerdings wurden sie selber wegen ihrer eigenwilligen Aussprache nicht immer von ihren Fahrgästen verstanden. Das war aber auch keine TLC-Voraussetzung. Saidi nahm die Sprachhürde ohne große Probleme. Er war als junger Mann von Mosambik nach Amerika gekommen und hatte am Anfang in diversen Jobs gearbeitet. Dabei hatte er die neue Sprache schnell aufgeschnappt. Nach Fitnesstest und polizeilichem Unbedenklichkeitstestat stand seiner Zulassung zur Taxischule nichts mehr im Wege.

    Heute hatte er sein eigenes Taxi, einen neuen Ford Escape Hybrid, bereits ausgestattet mit einem Terminal für Kreditkarten, die in diesem Jahr für alle New Yorker Taxen eingeführt worden waren. Und er verdiente gut. Ein Medallion, die Lizenz für ein Taxi, besaß er allerdings nicht. Die kostete bereits über 100.000 Dollar, als er als Taxifahrer anfing. Das war unerschwinglich. Auch wenn er sich mit einem oder zwei Kollegen zusammen getan hätte. Und heute war der Preis auf mehrere hunderttausend Dollar geklettert. Daher musste er sich, wie viele seiner Kollegen, die Lizenz von einem Medallionbesitzer mieten.

    Saidi Calhoun konnte mit seinem Leben zufrieden sein. Seit 14 Jahren war er mit Elvira verheiratet, einer Puerto Ricanerin. Sie arbeitete als Krankenschwester im Lenox Hill Hospital. Mit ihren zwei Kindern, Jazmin und Roy wohnten sie in Queens, im Stadtteil Astoria. Obwohl beide Schichtarbeiter waren, hatten sie sich so organisiert, dass sie wenigstens an zwei Tagen in der Woche ein normales Familienleben führten mit gemeinsamen Mahlzeiten, Einkäufen und Freizeitgestaltung. Jazmin, inzwischen 13 Jahre alt, hatte jetzt als Teenager schon ihren eigenen Zeitplan und verbrachte mehr Zeit mit ihren Freundinnen als mit Eltern und Bruder. Elvira, eine typische latinische Madre , legte jedoch Wert darauf,  möglichst viel Zeit mit ihrer heranwachsenden Tochter zu verbringen und  als Gesprächspartnerin immer für sie da zu sein.

    Roy war nur anderthalb Jahre jünger, aber noch recht kindlich. Er freute sich immer riesig, wenn sein Vater ihn an Wochenenden zu lokalen Baseballspielen mitnahm oder – seltener - gar zu Ligaspielen der Mets. Manchmal kickten sie auch selber im nahegelegenen Astoria Park.

Saidi war heute unkonzentriert. Zu aufgewühlt war er noch nach dem, was er gestern erlebt hatte. Es war wie ein Alptraum. Es schien, als würde sein Leben erneut an einem Wendepunkt stehen.

    Was war geschehen.

    Er hatte gegen Abend gerade Fahrgäste am Hilton in der Avenue of the Americas abgeliefert und fädelte sich in den Verkehr Richtung Norden ein. An der Ecke 56. Straße auf der rechten Seite standen zwei Herren, die in ihren dunklen Anzügen und Krawatte ohne Mantel wie Geschäftsleute aussahen. Es konnten auch Banker oder Anwälte sein.  Der eine von ihnen winkte  mit der einen Hand sein Taxi zum Halten, mit der anderen zeigte er in die 56. Straße, um die gewünschte Fahrtrichtung anzuzeigen. Saidi kreuzte drei Fahrspuren nach rechts, was trotz Blinker ziemlich riskant war. Da aber jeder in New York mit solchen erratischen Manövern rechnet – insbesondere bei Taxis – passiert kaum etwas.

    “Pine Street, bitte !”  Thomas Kirsten schaute auf die Uhr.

    “Lars, wir sind spät dran, aber auf unsere Limousine hätten wir bestimmt noch eine Viertelstunde warten müssen.”

    “Übernimm du bitte die Gesprächsführung am Anfang, ich melde mich, wenn es zu den Knackpunkten kommt”.

    Saidi bog gerade in die Fifth Avenue Richtung downtown ein, als es ihn wie ein Keulenschlag traf. Das Blut wich aus seinem Kopf. Er fühlte sich plötzlich hundeelend. Die Stimme kannte er doch !  Sie gehörte zu dem Mann, den der andere Lars nannte. Eine Stimme, die er nie vergessen würde. Er blickte in den Rückspiegel. Der Mann in dem feinen Businessanzug, den gewellten, nach hinten gekämmten Haaren, dem etwas brutalen Gesicht – das war doch … Nein, unmöglich ! Sowas gibt es nicht. Und doch: Es war Gerd Kutschinski. Obwohl sein Gesicht durch die Plexiglastrennwand mit den Aufschriften und Stickern etwas verdeckt war, war er fast sicher. Es war der Ostdeutsche aus Maputo, der Verbrecher, der so viel Leid über ihn und seine Familie gebracht hatte.

    Oder war es nur eine Täuschung ? Ein Albtraum, wie er ihn noch bis vor ein paar Jahren regelmäßig hatte. Träume, in denen er mit diesem Mann wild gerungen hatte. Gekämpft bis zur völligen Erschöpfung. Er wollte ihn töten, wusste aber nie genau, ob ihm dies gelungen war. Meistens wachte er vorher schweißgebadet auf.

    Dies war heute jedoch kein Traum. Es war Wirklichkeit.

    Durch die Öffnung der Trennwand versuchte er, noch mehr von der Unterhaltung seiner Fahrgäste aufzuschnappen. Die wechselten vom Englischen zwischendurch in eine andere Sprache, die Saidi zwar nicht verstand, aber an deren Klang er sich nur zu gut erinnerte. Es war Deutsch. Insbesondere lauschte er auf die Stimme des einen. Dabei schaute er immer wieder in den Rückspiegel – soweit es der dichte Verkehr erlaubte.

    Ja, er war es ! Ein Mörder !

    Saidi war eigentlich immer ein friedlicher Mensch gewesen, aber Kutschinski hatte er bittere Rache geschworen. Daran hatte sich auch in den vergangenen 20 Jahren nichts geändert. Sein Schmerz und seine Rachegefühle hatten sich zwar etwas abgeschwächt, nachdem seine Nachforschungen über das deutsche Generalkonsulat ergeben hatten, dass Kutschinski verschollen und für tot erklärt worden war. Aber der Zorn und der tiefe Schmerz saßen wie ein Stachel in seiner Seele. Und jetzt hatte das Schicksal eine nie erwartete neue Situation geschaffen.

8.

    “Noch ein Bier, bitte !“ Werner Rehbein saß in einer Eckkneipe in der Auguststraße. Die Kneipe gab es auch schon vor der Wende an gleicher Stelle. Das hatte einen gewissen Seltenheitswert. Fast überall neue Geschäfte, Restaurants, Cafes, neue Kunstgalerien – die feinen Namen aus dem Westen und sogar ein nobles Hotel. Dieser Teil von Berlin war ’in’ geworden.

    Rehbein hatte zur Zeit keinen Job. Dies beunruhigte ihn nicht sonderlich. Er bekam Arbeitslosenunterstützung, hatte eine billige Wohnung um die Ecke und lebte jetzt allein, nachdem sich seine Frau kurz nach der Wende von ihm hatte scheiden lassen. Ein paar Jahre hatte er für eine Sicherheitsfirma gearbeitet. Einen solchen Job konnte er jederzeit wieder bekommen. Trotz seiner fast 48 Jahre und seiner Vergangenheit. Wollte er aber nicht. Jedenfalls nicht zur Zeit. Er hatte ein neues Hobby entdeckt, mit dem er sich täglich ein paar Stunden beschäftigte: Die Börse. Bei einem Online-Broker hatte er sich ein Portfolio eingerichtet, mit dem er sich akribisch beschäftigte. Er las die Analyseberichte der Banken, kaufte sich Anlegermagazine und Finanzzeitungen und surfte im Internet nach allem, was mit dem Aktienmarkt zu tun hatte.

    Die Grundlage seines Portfolios waren seine Ersparnisse, die noch aus der DDR-Zeit stammten. Beim MfS verdiente er gut und konnte jeden Monat etwas zurücklegen. Nicht zuletzt wegen der gelegentlichen Prämien bei Sonderaufträgen. Und dann war es wie ein Lotteriegewinn, als seine Ersparnisse nach der Wende eins zu eins in D-Mark getauscht wurden.

    Als er anfing, sich mit Aktien zu befassen – so Mitte der 90er – lief es sehr gut. Sein Portfolio wuchs. Dann allerdings musste er auch erfahren, dass die Reise nicht immer nur in eine Richtung läuft , und er verlor eine Menge Geld, insbesondere mit Technologieaktien.

    Er hatte jetzt Hunger.

    “Otto, machst du mir den Nudelauflauf ?” rief er in Richtung Tresen und wollte seine Zeitung, die ‘Financial Times Deutschland’ gerade beiseite legen, als sein Blick auf einen Artikel fiel: ‘US-Anleger verunsichert’. Rehbein hatte sein Geld überwiegend in deutsche Aktien investiert. Er hatte aber auch gelernt, dass man sich als Anleger diversifizieren sollte und hatte jetzt auch ein paar Dollarwerte in seinem Depot. Daher interessierte er sich auch für den US-Markt.  Er las sogar manchmal Analysen auf Englisch. Es war zwar lange her, aber Einiges ist hängen geblieben: In der Hauptabteilung II des MfS gab es für besondere Kader Englischunterricht.

    Diesmal richtete sich sein Interesse jedoch nicht in erster Linie auf den Artikel, sondern auf ein Foto daneben, das jetzt halb verdeckt war.  Er nahm die rosafarbene Zeitung wieder in die Hand und klappte die Seite mit dem Foto auf.  Es zeigte drei Herren im Gespräch am Rande einer Veranstaltung der NASDAQ,  dem elektronischen Freiverkehrsmarkt in New York, an dem vor allem Aktien aus dem Technologiesektor gehandelt wurden.  Einer der Herren, links im Bild, kam ihm bekannt vor.

    “Das gibt es nicht !” murmelte er und wurde ganz rot vor Aufregung.                    

    “Das ist nicht möglich”, wiederholte er sich.

    “Stimmt ‘was nicht ?” hörte er Otto neben sich mit dem dampfenden Nudelauflauf in der Hand. “Auch noch ‘n Bier ?” 

    “Ja, und dazu einen Kurzen !” 

    Das ist er ! Kutschinski ! Aber es konnte eigentlich nicht sein, Kutschinski war tot. Rehbein erinnerte sich noch genau an den Tag, als in der Hauptabteilung II die Nachricht verbreitet wurde, dass der Leiter der Wirtschaftsabteilung der DDR-Botschaft in Maputo plötzlich verschwunden sei. Zur Aufklärung dieses mysteriösen Verschwindens hatte das MfS damals eine vierköpfige Delegation nach Mosambik geschickt. Deren Recherchen blieben jedoch ergebnislos. So hieß es jedenfalls. Es kursierten seinerzeit jedoch allerlei Gerüchte. Es war von Korruption, von Sexeskapaden und sogar von Mord die Rede. Offiziell wurden diese Gerüchte jedoch zunächst strikt dementiert. Das Verschwinden des Wirtschaftsattachees wurde vielmehr in Zusammenhang mit dem Bürgerkrieg gebracht, in dem auch kriminelle Gruppen mitmischten.  Langsam sickerten dann aber immer mehr Informationen durch und MfS-intern gab es kaum noch Zweifel, dass der Genosse in Maputo ein krimineller Schurke war.