A Pets World - Christoph Güsken - E-Book

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Christoph Güsken

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Beschreibung

Baskerville ist eine Promenadenmischung. Obwohl er sich gern Privatdetektiv nennt, beschäftigt er sich im Großen und Ganzen mit dem, was die meisten Hunde tun: fressen, schlafen, aufreiten und seine Ruhe haben. Als ein Kumpel ihn damit beauftragt, dessen Freund Kaminski zu suchen, ist er zunächst nicht begeistert. Und kurz darauf wird die Leiterin eines Hundeasyls, ermordet. Stehen die beiden Vorfälle in einem Zusammenhang? Und was steckt hinter dem harmlos klingenden Begriff Kalter Hund – etwa ein geheimer Plan, den die Menschen gegen die Hunde schmieden? Gern würde Baskerville gemeinsam mit dem Menschen Hauptkommissar Pütz ermitteln, aber der ist ein erklärter Hundehasser, und Baskerville gelingt es gerade noch zu fliehen, bevor er in Haft genommen und eingeschläfert wird. Er flüchtet zu Google, einem Hundeaktivisten, der für die Abschaffung des menschlichen Sklavenhalterregimes kämpft. Google gewährt ihm Asyl, aber nur unter der Bedingung, dass Baskerville am politischen Kampf teilnimmt. So lernt der Privatdetektiv Ché Corazon kennen, den strahlenden Revolutionsführer und Schwarm aller Hundefrauen. Auch Lukrezia, Tochter des stadtbekannten Boxers Bertolucci, ist hin und weg von ihm. Bertolucci hält nichts von der Hunderevolution. Er kleidet sich wie ein Mensch, beschäftigt menschliche Angestellte und macht mit mit De Vito, dem millionenschweren Besitzer der DeVito Fastfood AG, halbseidene Geschäfte. Auch Baskerville arbeitet bald für ihn, auch wenn er den Revolutionären damit praktisch in den Rücken fällt. Als Schwarzenbeck, der Chefentwickler bei DeVito, ermordet wird, Baskerville wegen Mordes verhaftet. Alles scheint schon verloren, aber dann kommt Baskerville wieder frei, ausgerechnet mit Pütz' Hilfe, und jetzt überschlagen sich die Ereignisse: Hunde und Menschen einigen sich auf die Errichtung einer freien Republik Kanidistan. Die Hundebefreiung ist geschafft. Schließlich ist es ein tragischer Zufall, der den infamen Plan offenbar macht: Mithilfe eine neuen Enzyms ist es der De Vito-Fastfood AG gelungen, Hundefleisch zur Delikatesse zu tunen. Die Demokratiebewegung, die Unabhängigkeit – all das war nur Ablenkung. Dank Baskerville und Hauptkommissar Pütz gelingt es, das schändliche Treiben zu unterbinden. Die Verantwortlichen werden teilweise zur Verantwortung gezogen, und der Weg ist frei für eine bilaterale Koexistenz zwischen Mensch und Hund.

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Christoph Güsken

A Pets World

In der Hundeschaft rumort es. Der Ruf nach Freiheit vom Menschenjoch wird immer lauter. Und als die Betreiberin eines Hundeasyls ermordet wird, kochen die Emotionen hoch. In den revolutionären Wirren kommt Baskerville, vierbeiniger Privatdetektiv, einer teuflischen Intrige auf die Spur.

Inhaltsverzeichnis

Impressum

1

Seit jeher gilt der Hund als bester Freund des Menschen. Darauf kann er sich etwas einbilden. Menschen haben nämlich alle mögli­chen Sorten Freunde - alte Freunde, Busenfreunde, Freunde der Fa­milie, Freunde des Hauses, Studienfreunde, verflossene Freunde, Sportsfreunde - sogar Geschäftsfreunde. Aber meistens ist da nur ei­ner, den sie ihren besten Freund nennen.

Was um alles in der Welt hat ausgerechnet dem Wauwau den ers­ten Platz eingebracht? Die Antwort lautet: vielerlei, das seinem Freund und Gebieter von Nutzen sein kann. Zum Beispiel sein ner­venzerrüttendes Gekläff, das dem angeblich besten Freund auch dann noch den Schlaf raubt, nachdem alle Nachbarn längst umgezo­gen sind oder Selbstmord begangen haben. Oder die knuffige Ange­wohnheit, über seines besten Freundes Gesicht mit derselben Zunge zu schlecken, die er gerade zur Reinigung von Hintern und Ge­schlechtsorgan benutzt hat. Nicht zu vergessen die bewundernswer­te Virtuosität, mit der er seine Speichelfäden lassogleich durch die Luft zu schleudern vermag – die Liste ist lang …

Als ich diese Zeilen in einem Artikel las, abgedruckt in der renom­mierten Zeitschrift Nature Today, war ich eher amüsiert als beunru­higt. Na gut, ein wenig Gekränkt sein war schon dabei. Sprach man etwa so über einen alten Weggefährten? Keine Frage, in einer offe­nen Beziehung muss es erlaubt sein, auch peinliche Dinge zur Spra­che zu bringen, doch war es eine Art, sich öffentlich über Schwächen wie Haarausfall oder überdurchschnittliche Speichelproduktion aus­zulassen? War ein solcher Artikel etwa der Ort, seinem Ekel Aus­druck zu verleihen über unsere Angewohnheit, Nahrung zu erbre­chen und gleich darauf wieder zu verzehren? Es zeugte von schlech­tem Stil, trotzdem scherte ich mich nicht sonderlich darum. Men­schen schreiben so etwas an einem Tag, am nächsten haben sie es schon wieder vergessen, es sei denn, es wird im Fernsehen wieder­holt. Sie nennen das freie Presse.

„Nein, ich schwöre dir, da steckt mehr dahinter“, mahnte Salomon. „Das ist eine gut organisierte Kampagne. Die wollen uns kleinkrie­gen.“

Salomon ist ein alter Freund von mir. Er bildet sich etwas darauf ein, eine Nase für Skandale und Verschwörungen zu besitzen. Was soll ich sagen? Hunde und ihre Nasen, das ist ein spezielles Kapitel.

„Früher waren es die Russen, dann ein Loch im Ozon, und jetzt wir“, beharrte er. „Die Sapienze brauchen immer was, wovor sie sich fürchten.“

Sapienze, so nennt Salomon die Menschen. Von ihnen hat er auch seinen eigenen Namen, so wie die meisten von uns. Unter sei­nen Artgenossen nennt man Salomon oft ‚den Weisen’ und behan­delt ihn mit Respekt, dabei gibt es dazu nun wirklich keinen Anlass. Seine früheren Besitzer betrieben eine Lachszucht und der korrekte Name lautet nicht Salomon, sondern Salmon. Aber so sind wir eben: Für uns macht das keinen Unterschied.

„Denk an meine Worte“, sagte Salomon. „Die wollen uns fertig machen.“

Ich hatte aber keine Lust, an seine Worte zu denken, denn schließlich war ich derjenige, der als Menschenkenner galt, nicht er. „Was regst du dich auf?“, gab ich zurück. „Kein Mensch liest so et­was. Zweibeiner wickeln Fisch darin ein. Der Einzige, der es sich zu Herzen nimmt, bist du.“

An diesem Abend hatte ich mich mit Salomon im De Vito’s getrof­fen, dem berühmten Feinschmeckerrestaurant. Wie immer hingen wir im Hinterhof des Lokals ab, der sich zum Stadtpark hin öffnete. Das De Vito’s ist ein schöner Ort, um seinen Feierabend zu verbringen, besonders im Sommer. Es gibt Müll in Hülle und Fülle, und die Men­schen lassen einen in Ruhe. Sie sitzen auf der anderen Seite des Hauses im Restaurant und genießen die Aussicht auf den See.

„Genau das hat Kaminski auch immer gesagt“, beharrte Salomon. „Menschen reden heute dies und morgen das. Drauf geschissen.“

„Na, siehst du, was habe ich dir gesagt.”

„Aber jetzt redet er anders. Die Sache stinkt gewaltig, meint er. Und eins kann ich dir sagen: Der weiß, wovon er spricht, er hat schließlich studiert.”

„Kaminski? Wer ist das überhaupt?“

„Ein Beagle. Außerdem mein Lieblingsneffe. Ich hab euch doch neulich erst bekannt gemacht.”

„Ein Beagle namens Kaminski“, wiederholte ich amüsiert. Es war allgemein bekannt, dass Beagles sich gern wichtig machten. „Und was weiß er so?”

„Zum Beispiel, dass es einen geheimen Plan gibt, den die Men­schen Operation Kalter Hund nennen. Oder so ähnlich.“

„Noch nie davon gehört.”

„Klar, dass du nie davon gehört hast. Sonst wär er ja wohl auch nicht geheim.”

„Was hat er denn damit gemeint?“

„Er doch nicht! Kaminski hat nur davon gehört. Es geht um Hunde­futter, vermutet er.“

„Hundefutter, das hört sich ja wirklich bedrohlich an!“ Mir wurde es langsam zu bunt. „Wie wollen die uns denn mit Hundefutter klein kriegen?“

„Ich habe nicht die geringste Ahnung.“ Mit gieriger Zunge schleck­te Salomon sein Bier. „Aber wenn alles harmlos ist, kannst du mir dann mal verraten, wieso dieser Plan so geheim ist?”

Für meine Begriffe trank er zu viel. Ich wollte ja nichts sagen, aber es schien mir kein Wunder zu sein, dass man überall Intrigen witter­te, wenn man ständig einen in der Krone hatte.

„Okay“, meinte ich. „Dann reden wir doch einfach mit Kaminski.“

„Tja, gute Idee, aber das geht leider nicht.“

„Wieso nicht?“

„Vor drei Tagen ist er verschwunden. Wir hatten uns hier verabre­det. Kaminski wollte mir brisantes Material übergeben. Er dachte, ich wäre noch bei der Presse und deswegen …”

„Du, bei der Presse?”, wieherte ich amüsiert.

„Ich hab's ihm mal erzählt, um anzugeben. Und er hat es mir ab­gekauft.” Salomon musste aufstoßen. „Aber dann ist er einfach nicht gekommen. Keine Ahnung, wo der Kerl steckt. Kalypso macht mir die Hölle heiß.”

„Wer ist das jetzt wieder?”

„Seine Freundin. Sie macht sich Sorgen. Und ich hab ihr gesagt, ich kenne einen Profi, der sich darum kümmern kann.“

Ich gab der Kellnerin, einer rassigen Dalmatinerin, ein Zeichen, dass ich noch ein Bier haben wollte. „Na, dann ist ja alles so weit ge­klärt.“

„Gar nichts ist geklärt. Diese Sache geht uns alle an! Jeden einzel­nen von uns.“ Salomon rülpste. „Davon abgesehen bist du Detektiv.“

Das stimmte. Mein Name ist Baskerville, ich bin Privatschnüffler. Und zwar ein echter, nicht das, was die Menschen, die von Schnüf­feln soviel Ahnung haben wie Flusskrebse von Differenzialrechnung, darunter verstehen. Im Gegensatz zu dem alten Trunkenbold verfüge ich über ein professionell geschultes Riechorgan, und es gibt wohl kein Unheil, das hereinbricht, ohne dass ich schon vorher davon Wind bekommen habe.

Was diesen Kaminski anging, so roch ich gar nichts.

Die Dalmatinerin brachte mein Bier.

„Kurz gesagt, ich hätte einen Auftrag für dich“, meinte Salomon.

„Einen Auftrag?“

„Du sollst Kaminski finden.“

„Wie stellst du dir das vor? Ich kenne den Kerl ja nicht mal.“

Salomon verzog seine Lefzen zu einem schiefen Grinsen. „Su­chen Privatschnüffler etwa nur Leute, die sie kennen?“

Das nicht, aber trotzdem: Die Sache war mir zu windig. Ein Trun­kenbold, der von einem zur Aufschneiderei neigenden Kumpel ver­setzt worden war, glaubte an ein Verbrechen, weil er mit seiner noto­rischen, durch Alkohol verstärkten Paranoia nicht anders konnte. Ich wimmelte Salomon ab, indem ich versprach, mir die Sache mal durch den Kopf gehen zu lassen. Am Wochenende würden wir uns hier, an der gleichen Stelle, noch mal treffen. Und dann würden wir sehen.

***

Salomon kam aber nicht.

Die Dalmatinerin brachte mir ein Bier und eine Nachricht von Salo­mon. Er lasse ausrichten, alles sei in Ordnung: Kaminski befände sich wahrscheinlich im Urlaub, allerdings undercover. Näheres würde er mir morgen Abend erzählen. Dafür hätte ich dann ein Bier bei ihm gut.

Ein Bier, das war ein Wort. Am nächsten Abend saß ich wieder im De Vito’s. Wer aber nicht kam, war Salomon. Was hatte er mit under­cover gemeint? Und was sollte das mit dem Urlaub?

Die Sache war schon etwas seltsam, das musste ich zugeben.

Wäre ich ein Zweibeiner gewesen, hätte ich die Angelegenheit nicht auf die lange Bank geschoben. Menschen packen Dinge an, lassen nie etwas auf sich beruhen und gehen deshalb meist als Erste durchs Ziel. Allerdings auch dann, wenn man fragt, wer die mit Ab­stand höchste Herzinfarktrate aller Lebewesen auf diesem Planeten aufzuweisen hat.

Hunde verhalten sich wesentlich philosophischer. Fälle, die ihnen spanisch vorkommen, überstürzen sie nicht, denn unnötige Eile bringt einem im ungünstigen Fall nur Ärger ein. Und wer mag schon Ärger?

In den nächsten Tagen dachte ich nicht mehr an Salomon. Wer wusste schon, weshalb er mich versetzt hatte? Cockerspaniels wa­ren bekanntlich für ihre wechselnden Stimmungen berüchtigt. Ich verbrachte meine Zeit damit, zu Hause zu schlafen, abends hin und wieder auszugehen und ansonsten fernzusehen.

Das Haus gehörte praktisch mir, denn mein Frauchen bekam ich nie zu Gesicht. Sie war Flugbegleiterin und immer auf Reisen. Mit der Lieferung meines Mittag- und Abendessen hatte sie ihre Nachba­rin Penelope beauftragt. Es war kein spannendes Leben, das ich leb­te, aber auch alles andere als das, was man im Allgemeinen als Hun­deleben bezeichnet. Es war eher ein kleinbürgerlich-spießiges Idyll.

Eines Abends jedoch, als ich lustlos durch die TV-Kanäle zappte, kam mir der alte Trunkenbold wieder in den Sinn. Ein gewisser Dr. Kronenberg, international anerkannter Professor für Kynologie an der weltberühmten Harvard University, widmete unserer Spezies eine ei­gene Sendung im Abendprogramm.

Wir Hunde, so behauptete er, seien die eigentlichen Gewinner der Evolution. Nicht der Mensch, dem über kurz oder lang kaum mehr bleiben werde als die fromme Illusion, Krone der Schöpfung zu sein. Für uns nämlich sei der Homo Sapiens nichts weiter als ein dienstba­res Wesen, das uns das Leben erleichtere, indem es nicht nur für unser leibliches Wohl sorge, sondern auch für Unterhaltung, Gesundheit und den täglichen Spaziergang. Ein nützlicher Idiot, der sich unbegreiflicherweise für die überlegene Spezies halte und ge­schmeichelt fühle, wenn man ihm auf der Tasche liege.

„Vor etwa zwanzigtausend Jahren“, erklärte Kronenberg und dreh­te einen Hundeschädel in der Hand, der als Studiodekoration herhal­ten musste, „hat die Domestikation des Menschen begonnen. Der Wolf fand es praktischer, sich in der Nähe des Zweibeiners herumzu­drücken und dessen Müll zu fressen, statt tagelang Rentiere zu het­zen und das auch noch meist vergeblich. Er bekam von des Men­schen Beute ab und schlief an dessen warmen Feuer. Ein Hauch von dolce far niente, doch das reichte ihm nicht. Über die Jahrtausende gelang es ihm allmählich, den Lebensrhythmus seines angeblichen Herrchens perfekt den eigenen Bedürfnissen anzupassen: Er be­stimmte den Zeitpunkt, wann sein Mensch morgens aufstand, das Urlaubsziel, das er wählte, wen er zum Abendessen einlud, wohin er ausging und mit wem, wie er seine Wohnung einrichtete, ja, selbst wann und mit wem er ins Bett ging.“ Kronenberg legte den Schädel weg, machte ein paar Schritte, bis hinter ihm das Foto eines blutigen Wolfsgebisses in Nahaufnahme auftauchte. „Dabei achtete er tun­lichst darauf, seine Führungsrolle nicht an die große Glocke zu hän­gen“, grinste der Professor spitzbübisch. „Spielte immer das ergebe­ne Haustier, das brav mit dem Schwanz wedelt und niemals auf­muckt. Womit er beachtlichen Erfolg hatte: Während der wildlebende Wolf weltweit nur noch jämmerliche 100 000 Exemplare zählt, bevöl­kern heutzutage an die dreihundert Millionen Köter den Erdball, Ten­denz steigend. Allein ihre täglichen Exkremente würden, aneinander­gereiht, eine Kotschlange ergeben, die von Hamburg bis nach Istan­bul reicht, oder einen Berg, der den Kahlen Asten um einige hundert Meter überragt.“

Es sei nur eine Frage der Zeit, so Kronenberg, bis sich das Ver­hältnis Mensch-Hund seines schönen Scheins entledige. Bis der sab­bernde Vierbeiner darauf verzichte, mit devotem Hecheln neben sei­nem angeblichen Gebieter herzutraben und ihn mit hochgezogenen Lefzen anzugrinsen.

Der Professor war sehr überzeugend. Als der Abspann über den Bildschirm flimmerte, empfand ich mich selbst als Bedrohung und schämte mich für den Kotberg, den ich mitverursachte, auch wenn er nur als Rechenexempel existierte. Eins stand fest: Wenn überhaupt irgendetwas diesen Planeten bedrohte, dann waren es keine Kome­ten, die auf die Erde zurasten, keine abschmelzenden Polkappen, sondern eine schleichende und von der Öffentlichkeit unbemerkte Canidisierung der Welt. In dieser Überzeugung döste ich ein.

2

Abends, so gegen zehn, schreckte ich aus dem Halbschlaf auf. Ich hatte von Salomon, dem Bedauernswerten, geträumt. Von den schrecklichen Dingen, die seiner Ansicht nach auf die Hundewelt zu­kamen, weil andere schreckliche Dinge, Kronenbergs Ansicht nach, auf die Menschen zukamen. Der alte Cockerspaniel hatte mir leid ge­tan. Eine gescheiterte Existenz, das war er. Von seinem Herrchen ausgesetzt, zum Dasein als räudiger Straßenhund verdammt, der schließlich ins Tierheim eingeliefert wurde, aus dem er später aus­brach, um anschließend Jahre in Obdachlosigkeit zuzubringen. Salo­mon brauchte diese Horrormärchen, um Aufmerksamkeit zu erlan­gen. Und ich, der biedere Haushund, der vor vollen Futternäp­fen döste, war ihm beinahe auf den Leim gegangen.

Ein Schlüssel drehte sich im Schloss, die Tür öffnete sich. Penelo­pe Pütz, eine Blondine mit unangenehm hoher Stimme, brachte das Abendessen. „Baskerville, mein Süßer!“, schrillte sie wie eine Türglo­cke. „Wo steckst du denn? Hier ist dein Fresschen. Außerdem gibt es wichtige Neuigkeiten!“

In ihrem Schlepptau betrat Apollo, ein hochnäsiger Pekinese mit parfümiertem Fell, die Wohnung. Apollo mischte sich in alles und je­des ein, das ihn nicht das Geringste anging.

„Hi, Superschnüffler“, quatschte er mich an. „Wie geht’s denn so?“

Ich ignorierte ihn. Mit Sofakissen rede ich grundsätzlich nicht.

„Gestern, als du nicht da warst, stand ein Besucher für dich vor der Tür.“

„Wie kommst du bloß darauf, dass er zu mir wollte?“

Der Designerhund grunzte abfällig. „Ein abgetakelter Cockerspani­el mit einer kilometerlangen Alkoholfahne. Wen sollte der wohl besu­chen wollen? Faselte irgendwas vom Grünapfel-Hundeinternat.“ Apollo zog sein gepudertes Näschen hoch. „Er wohnt doch nicht etwa in dieser Absteige?“

„Das ist ein Internat und keine Absteige.“

„Es nennt sich nur so. In Wirklichkeit ist es ein abgetakeltes Hun­deasyl.“ Der Pekinese zog eine abfällige Grimasse, was sein ver­drücktes Gesicht noch hässlicher aussehen ließ. „Und ich sage dir eins: Sei ein wenig netter zu mir, lieber Freund, sonst ergeht es dir nicht anders als diesem bedauernswerten Cocker.“

Um ihm klarzumachen, was ich von seiner Freundschaft hielt, schnappte ich nach ihm, aber der Pekinese hatte genau diese Reak­tion erwartet und suchte mit einem Aufschrei Schutz bei seinem Frauchen.

„Wirst du wohl brav sein!“, tadelte mich Penelope mit ihrer unan­genehm schrillen Stimme, dass es mir in den Ohren klingelte. Dann informierte sie mich, dass mein Frauchen sich auf einer ihrer Reisen Hals über Kopf verliebt habe und zu ihrem Angebeteten nach Spani­en ziehen würde. Das Haus, auf das ich aufpasste, würde verkauft werden. Und mich hatte sie ihrer Nachbarin geschenkt.

„Das ist der Beginn einer wunderbaren Freundschaft“, trötete sie und zwinkerte Apollo spitzbübisch zu.

Apollo kam aus seinem Versteck und zwinkerte mir zu. „Sie hat vergessen zu erwähnen, dass es wegen einer Katze ist.“

„Wegen einer Katze“, erkundigte ich mich. „Was denn?“

„Der neue Lover hat eine Katze. Die hat auf Ausstellungen schon Preise abgeräumt. Da hattest du keine Chance.“ Er grinste. „Das wollte sie dir nicht sagen, um dich nicht zu verletzen, verstehst du?“

Jetzt erst dämmerte mir, dass sich das Blatt gewendet hatte. Es ist ganz selten, dass sich ein Blatt so plötzlich und unerwartet wendet, doch in diesem Fall war es passiert. Eben noch hatte ich gemütlich ferngesehen und über Salomons Verschwörungstheorien geschmun­zelt, und auf einmal war ich vogelfrei, einem menschlichen Monstrum ausgeliefert, dessen gellende Stimme jeden das Fürchten lehrte, der über ein Gehör verfügte. Kim, die Flugbegleiterin, hatte sich neu ver­liebt, da war ich überflüssig geworden und passte nicht mehr in ihre Lebensplanung. Also hatte sie mich verschenkt. In solchen Dingen sind Menschen sehr pragmatisch.

„Sie hätte dich lieber verkauft, weißt du“, raunte mir Apollo zu. „Aber du bist eine Promenadenmischung. Die kann man nur ver­schenken.“

Eins stand fest: Wenn der Pekinese den nächsten Tag überleben sollte, musste einer von uns weg hier.

***

In der Schule hat man uns beigebracht, dass die Menschen viel mit uns gemeinsam haben. Wie wir leben sie in Gruppen, halten gro­ße Stücke auf die Familie und sind wohltätige, soziale Wesen. Mag sein, dass die Menschen das tun, aber wie steht’s denn mit uns? Wir leben zwar in Gruppen, aber das heißt noch lange nicht, dass wir wohltätig sind. Im Gegenteil: Voller Schadenfreude weiden wir uns am Unglück des anderen. Dass einer meiner besten Freunde in ei­nem Asyl gestrandet war, hatte sich wie eine wohlige, warme Decke um mein Selbstgefühl gewickelt. Wie oft hatte ich Salomon, den ar­men Tropf, bedauert und mich gleichzeitig über seine Vergesslichkeit und die Angewohnheit, alles fünfmal zu erzählen, amüsiert? Gut, dass es den Säufer gab und noch besser, dass ich nicht so war wie er – das hatte mich immer aufgerichtet, wenn ich einen tristen Fern­sehabend hinter mir hatte.

Jetzt war ich selbst ohne Obdach, ein Straßenköter, schutzlos der Willkür des zwei- und vierbeinigen Pöbels ausgeliefert. Es geschah mir recht so.

Noch in der gleichen Nacht kehrte ich meinem neuen Zuhause, das diesen Namen nicht verdiente, den Rücken. Trottete einsam in die Nacht hinaus, überquerte eine vierspurige Straße und durchstreif­te die Grünanlage. Beim De Vito’s wurden gerade die letzten Gäste verabschiedet, der Mond stand hoch über dem See und bei den Tret­booten prügelten sich zwei Katzen. Für mich, den Heimatlosen, Bil­der einer versunkenen Idylle. Wehmütige Erinnerung an längst ver­gangene Zeiten. Ich streifte ziellos umher, ließ mich von einem Men­schen als verdammter Mistköter beschimpfen und mit einer Bierfla­sche bewerfen, nur weil ich gegen sein Fahrrad uriniert hatte. Sollte er doch, mir war es egal. Mein Leben zählte keinen Penny mehr und kein Hahn auf der Welt krähte danach, wie es mir erging. Es hat seine Vorteile, ein einsamer Wolf zu sein, redete ich mir ein. Wenn du nichts hast, dann hast du auch nichts mehr zu verlieren. Es tat gut, sich das klarzumachen. Man bekam eine Vorstellung davon, was Freiheit bedeutet. Der Groll gegen die ganze Welt und die Gewissheit erlittenen Unrechts gaben mir außerdem ein warmes, schmollendes Gefühl. Erst gegen Morgen klang es ab, als es anfing zu nieseln. Es war genau das Wetter, in das man keinen Hund hinausjagen sollte. Und dennoch hatte man es getan, indem man mir mein Heim genommen hatte. Der Regen wurde stärker und das Gefühl erlittenen Unrechts wärmte schon lange nicht mehr.

Noch bevor es hell wurde, kratzte ich, Einlass begehrend, an der Zwingertür des Grünapfel-Internats.

3

Ich hatte Glück im Unglück: Was der parfümierte Pekinese als Ab­steige bezeichnet hatte, erwies sich als besser als sein Ruf. Das Grünapfel-Hundeinternat war alles andere als eine Bleibe für ge­strandete Existenzen. Viel eher eine Zuflucht für Vierbeiner aus aller Welt. Für Haustiere, die man bei Regenwetter hinausgejagt, grausam verstoßen oder - wie in meinem Fall - kurzerhand an die Nachbarin verschenkt hatte.

Gesine Grünapfel – von den Asylbewohnern liebevoll Filzpantoffel genannt, weil sie eine Vorliebe für dieses Schuhwerk hatte - war ein Mensch von der Sorte Hundenarr. Tieraktivistin und Mutter von zwei Kindern, die inzwischen im Ausland studierten. Ihr Mann Frederic hatte bei Greenpeace mit Schlauchbooten Supertanker gerammt und im Kampf gegen das Abschlachten der Buckelwale sein Leben gelas­sen. Gesine hatte sich seitdem den Haustieren gewidmet. In freier Wildbahn lebende Tiere, fand sie, hatten ihre Lobby. Bengalische Ti­ger, Streifenhörnchen, Seekühe und rote Waldameisen. Aber Haus­tiere hatten keine Lobby. Meerschweinchen zum Beispiel, Hamster, Katzen und Kaninchen. Das waren Lebewesen ohne Rechte. Und Hunde vor allem. Eltern kauften sie ihren Kindern zu Weihnachten, ließen sie aufwendig als Geschenk verpacken und drei Fünftel aller Hunde, so hatte sie recherchiert, kamen allein schon im nachweih­nachtlichen Umtauschgeschäft abhanden. Landeten auf den Tischen der Versuchslabore. Endeten auf Autobahnraststätten, angebunden neben der Herrentoilette. Hundeleben, die schmachvoll endeten.

Frau Grünapfel hatte sich der Geschöpfe angenommen, die tropf­nass und mit verlaustem Fell draußen auf der Terrasse gestanden und vor Kälte gezittert hatten. Sie hatte ihre Hundeschule zu einem Internat umfunktioniert und sich zur Aufgabe gemacht, ihren Schütz­lingen nicht nur eine Allgemeinbildung, sondern auch eine faire Chance im Leben zu ermöglichen. Also hatte sie Zwinger gebaut, um ihnen ein Dach über dem Kopf zu geben. Und schon ein halbes Jahr später hatte sie weitere, größere Zwinger bauen müssen.

Mir gab sie einen Schlafplatz neben einer fetten Bulldogge, die mit ihrem Schnarchen die Gitterstäbe zum Klingeln brachte. Die Nächte waren kurz, und das süße Nichtstun, die TV-Serien und Berge von Leckerlies gehörten der Vergangenheit an: Morgens um sechs riss uns der Wecker aus dem Schlaf, wir schlangen unser Frühstück hin­unter und tobten anschließend auf der Wiese. Ab halb acht war Un­terricht angesagt.

Salomon war schon seit Tagen verschwunden. Niemand hatte seitdem mehr etwas von ihm gehört. Die Hunde vermissten ihn und seine allabendlichen Geschichten von den finsteren Machenschaften der Zweibeiner.

„Für ihn waren das nicht nur Geschichten“, klärte ich sie auf. „Sa­lomon hielt sie für die Wirklichkeit.“

„Ausgeschlossen“, grunzte mein Schlafnachbar, der Schnarch­sack. „Der Alte war schließlich nicht total verblödet.“

„Ich fürchte, genau das war er”, sagte ich. „So gern ich den alten Schwätzer mochte.“

„Du irrst dich”, widersprach Lassie, eine fünfzehnjährige Retriever­hündin, die etwas Besserwisserisches hatte. „Und soll ich dir sagen, woher ich das weiß? Wenn wir hier gebüffelt haben - lesen und schreiben und so weiter - dann war er nie dabei. Zuerst habe ich mir gedacht: Wer den Hintern nicht hochkriegt, ist selbst schuld, dass er dumm bleibt. Aber dann wurde mir klar, wieso er nie mitgemacht hat: Weil er's schon konnte.”

„Nie im Leben”, sagte ich. Offenbar meinten wir nicht denselben Salomon. „Wenn er auch nur einen Buchstaben von einem Vogel­schiss unterscheiden konnte, dann bin ich der Kaiser von Russland.”

„Es heißt Kaiser von China”, verbesserte mich die Retrieverin spitzmäulig. „In Russland regierte der Zar.”

„Trotzdem”, sagte ich. „Woher willst du denn wissen, dass er lesen kann?”

„Er hat sich was zum Lesen mitgebracht.”

Da ich ihr nicht glauben wollte, führte sie mich zu Salomons Schlafplatz. „Sagt dir der Name Kaminski irgendwas?”, erkundigte ich mich. „Oder hat er ihn vielleicht mal erwähnt?”

„Es heißt Kandinski”, verbesserte Lassie. „Wassily Kandinski, ex­pressionistischer Maler und Wegbereiter der abstrakten Kunst. Na­türlich sagt mir der Name etwas.”

Da zeigte sich mal wieder, dass übersteigerte Allgemeinbildung eine zielgerichtete Ermittlung geradezu behindern kann. Lassie zog Salomons muffige Schlafdecke zur Seite und förderte einen Papier­umschlag zutage. „Da ist ein Reiseführer drin”, sagte sie. „Offenbar hat sich Salomon mit fremden Kulturen beschäftigt.”

„Hast du ihm etwa nachspioniert?”

„Keine Spur!”, schnappte sie gekränkt ein. „Ganz zufällig bin ich darauf gestoßen, als ich hier ein kleines Nickerchen machen wollte.”

Ich schüttelte ein Hochglanzheft aus dem Papierumschlag. Es handelte sich um einen bunten Prospekt. Von wegen Reiseführer! Bei aller Klugscheißerei war es mit Lassies Lesekünsten wohl nicht besonders weit her. It's a dogs world, stand da in fetten, knallroten Buchstaben. Für die Verwegenen, denen Gassi gehen allein nicht genug ist …

„Es ist kein Reiseführer.”

„Woher willst du das wissen?”

„Ich war auf einer Schule für Polizeihunde. Da ist Lesen Pflicht­fach. Außerdem bin ich Privatdetektiv”, protzte ich. „Da musst du so etwas drauf haben.”

Endlich war sie still, und ich konnte mir das Heft genauer ansehen. Es wimmelte von Fotos, auf denen schillernde Metropolen der Welt wie Paris, Berlin, New York und Peking abgebildet waren, andere zeigten Sehenswürdigkeiten wie den Grand Canyon, den Petersdom und die Pyramiden von Gizeh. Dazwischen große weiße Kreuzfahrt­schiffe, ausgestattet mit allen erdenklichen Annehmlichkeiten: ein Sonnendeck mit Tausenden von Liegestühlen, alle säuberlich aufge­reiht, ein blauer Pool, auf dessen blitzblankem Wasser das Sonnen­licht tanzte, Longdrinks in allen Farben, serviert von breit lächelnden weiß livrierten Stewards, blutjunge Hundefrauen im verführerischen Outfit. Ein Paradies. Ferien vom Mensch!, schwärmte der Prospekt. Du bist es dir wert.

„Vielleicht ist er ja gar nicht verschwunden, sondern macht eine Weltreise”, vermutete Lassie.

„Möglich”, sagte ich, wenig überzeugt. Dass ein alter, versoffener Köter wie Salomon sich eine Luxuskreuzfahrt leisten konnte, war ge­nauso unwahrscheinlich wie die Annahme, dass er auch nur ein Wort von dem, was da stand, entziffern konnte. Also musste man davon ausgehen, dass es sich hier um das handelte, was er als 'brisantes Material' bezeichnet hatte, das ihm Kaminski angeblich hatte anver­trauen wollen. Nur, was war an einem Reiseprospekt brisant? Um das zu erfahren, musste ich den Kerl erst mal auftreiben.

„Vielleicht ist er ja bei Google untergekrochen, wer weiß?“, vermu­tete die Bulldogge, die den Schlafplatz neben mir hatte.

„Google?“

„Ein Freak, der draußen am See wohnt. Leben in Freiheit und so weiter.“ Der krummbeinige Hund rümpfte seine fette Nase. „Einer von diesen linken Spinnern, ziemlich verbohrt, wenn du mich fragst.“

Wäre ich ein Zweibeiner gewesen, hätte ich die Sache nicht auf die lange Bank geschoben. Schon am nächsten Tag hätte ich diesen Google aufgesucht und mich nach dem Verbleib des Trunkenbolds erkundigt. Aber ich fühlte mich gar nicht so schlecht im Grünapfel-In­ternat. Einmal abgesehen vom umfangreichen Unterrichtsprogramm: Wir bekamen Nachhilfe in Allgemeinbildung und Fremdsprachen, darunter sogar mensch. Abends hockten wir vor dem Fernsehen und sahen De Vito TV. Da gab es nicht nur interessante Beiträge über die richtige Hundeernährung und Tipps zur Stubenreinheit, sondern auch spannende Serien über heldenhafte Bernhardiner, die im Rettungs­einsatz für Menschen ihr Leben ließen, und Lanzelot, den Höllen­hund, der es mit seiner tapferen Schar Straßenhunde mit einer Ban­de skrupelloser Hundefänger aufnahm. Hin und wieder wandte sich De Vito selbst an uns, ein kleiner, dicklicher Mensch mit roten Bäck­chen und breitem Grinsen. Er erklärte uns, dass auch der Hund Rechte habe, aber um sie wahrzunehmen, müsse er unbedingt erst einmal begreifen, was das Wort ‚Rechte’ überhaupt bedeute und dass deshalb Bildung wichtiger als alles andere sei, sogar wichtiger als Fressen und Sex.

Wieder so ein Mensch, der meinte, uns Hunden sagen zu können, was abging. Für Menschen - das war ja offenkundig - mochte es vie­le Dinge geben, die ihnen wichtiger waren als Fressen und Sex. Und darunter auch eine Menge, die vor Bildung kamen. Für uns sah die Sache aber völlig anders aus und wir hatten es auch nicht nötig, uns von dem dicklichen Chef eines Privatsenders, der an Bluthochdruck litt, die Welt erklären zu lassen.

Trotzdem hockten die meisten Internatsbewohner mit offenem Maul vor der Glotze - beschränkte Gemüter, die sie waren, begriffen sie nicht, dass auch De Vito einer von denen war, die sich im Zwei­felsfall immer als unser 'Herrchen' aufspielten. Ich hatte keine Lust mehr, mir den Schwachsinn anzusehen, und spielte mit dem Gedan­ken, mir eine neue Bleibe zu suchen. Aber dann tat ich es doch nicht.

Seit Jahren hatte ich nämlich nicht mehr so viel Bewegung gehabt und so viele Dinge in so kurzer Zeit gelernt. Warum also nicht noch ein oder zwei Tage bleiben und zusehen, wie sich die Sache entwi­ckelte? Oder ein oder zwei Wochen? Warum die Sache überstürzen?

Und dann kam die Nacht, die alles veränderte.

4

Es war gegen dreiundzwanzig Uhr, und auch den anderen Inter­natshunden schien klar zu sein, dass der Abend nicht so war wie die anderen davor. Etwas Ungutes lag in der Luft, man konnte nicht sa­gen, was es war. Anfangs versuchte ich es zu ignorieren, aber aus Erfahrung wusste ich nur zu gut, dass mich meine Nase niemals trog. Nicht, wenn es um Unannehmlichkeiten ging, und genau nach diesen roch es. Es fragte sich nur noch, für wen dieser Abend unannehmlich werden würde.

Wir waren zwölf Hunde in unserem Zwinger. Lassie bemerkte als erste, dass die Tür nicht verriegelt war. „Wenn die Tür offen ist, kön­nen wir doch nach draußen“, meinte sie.

Viele waren skeptisch. Nach dem Abendessen noch nach drau­ßen, das erlaubte Filzpantoffel nicht. Darauf stand möglicherweise Fernsehverbot.

„Na und?“, meinte Lassie. „Wenn sie vergessen hat abzusperren, dann ist das ihre Schuld.“ Sie schien auf ihre alten Tage nicht mehr einsehen zu wollen, dass es für uns Hunde verbindliche Verhaltens­regeln gab.

Ob Versehen oder nicht, die Tür war nun mal offen, also verließen die Hunde, einer nach dem anderen, den Zwinger. Auch ich schloss mich ihnen an. Vertrat mir die Beine im Garten, verrichtete ein Ge­schäft und fraß ein paar Grashalme, dann lauschte ich an der ange­lehnten Terrassentür.

Gesine Grünapfel telefonierte mit einer Stimme, die schriller als sonst klang.

„Das ist eine unserer größten Errungenschaften, und Sie machen etwas Schändliches daraus. Einen Virus, der den Tod bringt, nicht die Freiheit ... - Oh nein, das können Sie vergessen. Ich werde dafür sorgen, dass alle davon erfahren, verlassen Sie sich darauf ...“

Frau Grünapfel konnte energisch sein, wenn sie wollte. Hunde brauchen eine klare Ansprache, trichterte sie ihren menschlichen Kunden ein, nur ja und nein und nichts dazwischen. Offenbar tat dies einigen Menschen auch gut.

Ich hielt die Nase in die Luft. Es roch nach Zweibeinern in dunklen Mänteln, die sich unbefugt Zutritt zu Frau Grünapfels Grund und Bo­den verschafften. Aber auch Vierbeiner, die nicht hierher gehör­ten. Ich versuchte, sie schnüffelnd zu lokalisieren, als urplötzlich mit einem Plopp das Licht im Haus verlöschte.

„Hallo?“, hörte ich Gesine, die immer noch telefonierte, alarmiert fragen. „Hallo!“

Irgendetwas ging da drinnen vor. Vorsichtig schlich ich zur Terras­sentür. Es polterte, ein Stuhl fiel um. Glas klirrte. Ein erstickter Schrei drang nach draußen.

Da waren sie, die Unannehmlichkeiten. Menschen-Unannehmlich­keiten.

***

„Warum liegt sie so da?“, fragte Lassie ängstlich. „Sie rührt sich nicht.“

Wir alle standen um die Internatsleiterin herum, die reglos auf dem Boden neben ihrem Schreibtisch lag. Den Telefonhörer, aus dem ein vernehmlicher Dauerton drang, hielt sie noch in der Hand. Frau Grünapfel starrte an die Decke, und an ihrem Hals klaffte eine böse Bisswunde.

„Sie ist höchstwahrscheinlich tot“, sagte ich. In diesen Dingen ver­traute man auf mein Urteil, denn die anderen wussten inzwischen, dass ich vor langer Zeit eine Ausbildung zum Polizeihund absolviert hatte, na ja, beinahe. Die Abschlussprüfung hatte ich vermasselt, weil angeblich meine Kletterkünste nicht ausgereicht hatten. Dabei war es nur die Tatsache, dass ich nicht reinrassig bin.

„Wir müssen etwas unternehmen“, meinte Schnarchnase.

„Das ist nicht unsere Sache.“ Lassie schüttelte den Kopf. „Toter Mensch - da kümmern sich Menschen drum.“

„Es ist doch nicht nur irgendein toter Mensch. Das ist Frau Grün­apfel, unsere Gönnerin. Wir sollten wenigstens die Polizei verständi­gen.“

Er hatte, verdammt noch mal, recht. Also führten wir eine halb­stündige Debatte, die kein Ergebnis brachte, aber irgendwann be­stimmten wir einen, der sich auf den Weg machte, die Kripo herzuho­len. Natürlich war ich derjenige.

Nicht nur, weil ich als Beinahe-Polizeihund Fachmann in solchen Dingen war. Sondern weil ich als Einziger einen Kripomenschen kannte: Heino Pütz, Penelopes Männchen und mein ehemalig lang­jähriger Nachbar.

5

Menschen halten sich für neugierig, für geborene Wissenschaftler, Geister, die stets verneinen. Ihre Fragerei und das fast manische Be­dürfnis, Dingen auf den Grund zu gehen, hat sie angeblich groß ge­macht. Hört man ihnen zu, muss man annehmen, die Menschheit be­stehe ausschließlich aus großen Denkern, Philosophen, Empirikern und mathematischen Genies, die bahnbrechende Dinge erfunden ha­ben wie das Feuer und die Missionarsstellung. Nur ihrer Neugier ver­danken sie, dass sie sprechen und lachen können. Und dass sie gleich neben Gott persönlich auf der Bank sitzen dürfen. Alle ande­ren haben nach ihrer Pfeife zu tanzen, ganz besonders wir Hunde.

Sieht man freilich genauer hin, stellt man fest, dass Menschen gar nicht neugierig sind. Wie sollten sie es auch sein, wo sie nicht einmal über Sinnesorgane verfügen, die ihre Neugier zu entfachen vermö­gen? Ihre Ohren benutzen sie als Steckdosen, um ihren Kopf rund um die Uhr mit lästigen Geräuschen zu beschallen. Die Augen sehen nur, was sie sehen wollen, und von einer Nase kann man im eigentlichen Sinne gar nicht sprechen. Menschen haben keine Nase. Auch wenn sie gern erzählen, dass sie auf Gerüche stehen. Sie wis­sen nicht, was ein Geruch ist, denn der kolbenförmige Wulst zwi­schen ihren Augen ist kaum mehr als Dekoration, ohne jeden prakti­schen Wert.

Neugier ist keine menschliche Tugend. Menschen verdienen lieber Geld, bis sie genug für einen Fernseher mit großem Bildschirm zu­sammen haben, vor dem sie dann wenn möglich den restlichen Teil ihres Lebens verbringen.

Was meinen ehemaligen Nachbarmenschen, den Hauptkommis­sar, anging, so war er ein Musterbeispiel des arroganten, selbstherrli­chen Homo erectus. Ich spähte durch das Wohnzimmerfenster und entdeckte ihn schon. Pütz war gerade damit beschäftigt, Trinkgläser im Schrank zu ordnen.

„Heino, Liebling!“ Von oben drang die grässliche Stimme Penelo­pes, seiner Lebensgefährtin, zu ihm und ließ einige der Gläser leise klingeln. „Hast du Apollo gesehen?“

Es war kein Kunststück zu beobachten, dass Pütz es nicht leiden konnte, wenn sie ihn Heino, Liebling! rief. Heino oder Liebling, aber nicht beides. Also tat er, als hätte er nichts gehört und ordnete weiter das Geschirr. Über den Gläsern befand sich ein Schranklicht, und die Vitrine kam nur dann optisch zur Geltung, wenn die Trinkgefäße in Reih und Glied standen.

Der Kommissar war ein Ordnungsfanatiker. Nicht, dass er das zu­gegeben hätte. Ordnungsfanatiker waren in seinen Augen zwanghaf­te Menschen, die niemals freiwillig handelten, sondern einem eher­nen Gesetz folgten, das irgendwann gewaltsam auf ihre Persönlich­keit gestanzt worden war. Pütz hingegen hatte sich erst langsam, über die Jahre, mit der Ordentlichkeit angefreundet. Sie faszinierte ihn. Geordnete Dinge hatten eine Struktur, sie waren beschreib- und berechenbar. Dadurch strahlten sie Ruhe aus. Ein ordentliches Leben war nicht langweilig, es lebte sich angenehmer als ein chaotisches, so wie es auch erholsamer ist, durch einen gut gepflegten Garten zu lustwandeln, als sich mit einer Machete in der Hand durch den Dschungel zu kämpfen.

Penelope betrat endlich das Wohnzimmer. „Ich frage mich, wo der Hund ist“, sagte sie.

Hunde waren in jeder Hinsicht das Gegenteil von Ordnung, das wusste der Hauptkommissar aus Erfahrung. Sie bestanden fast aus­schließlich aus Haaren, klebrigem Sabber und Kot. Apollo, der parfü­mierte, schien auf den ersten Blick eine Ausnahme zu sein, aber auf den zweiten entpuppte er sich als ein besonders schlimmes Exem­plar, ein verwöhntes Stofftier, das ständig herumgetragen wurde, ob­wohl es laufen konnte. Dass es in einer Wolke süßlichen Parfums lebte, machte die Sache nicht besser, im Gegenteil. Das Spray hatte den Köter heimtückisch gemacht, ihn zu einer Ratte mutieren lassen, die zuschnappte, wenn man ihr den Rücken zukehrte.

„Ich habe überall nachgesehen“, beklagte sich Penelope. „Auch im Wäschekorb. Du weißt, wie gern er sich dort ein Nest baut.“

„Heute hat er Pech. Ich habe die Wäsche in die Maschine ge­stopft. Da war ganz schön was zusammengekommen.“

„Waschmaschine? Was hast du damit zu schaffen?“, fragte Pene­lope schnippisch.

„Ich habe Wäsche gewaschen, wenn du nichts dagegen hast.“

Es klingelte an der Tür.

Pütz ging öffnen, während Penelope sich kontrollhalber in den Kel­ler begab.

Ich rannte um ein Gebüsch herum, bis ich die Haustür im Blick hatte.

„Hi, Lars“, begrüßte Pütz den Ankömmling, einen Mann ohne Haa­re, der etwas größer war als er.

„Tut mir leid, dass ich dir den Feierabend vermassele“, sagte der Glatzkopf.

„Was gibt’s denn?“

„Eine Leiche. Alles sieht nach einem tragischem Unfall aus, aber die Ärztin meint, es sei Mord.“

„Wo?“

„Annette-Allee. Schicke Gegend. Da ist so was wie ein Tierheim.“

Ich kam zu spät. Die Menschen wussten schon Bescheid über Frau Grünapfels tragisches Ende. Also hatte ich hier nichts mehr ver­loren.

„Na schön, gehen wir.“ Der Hauptkommissar trat an die Kellertrep­pe. „Penny? Ich muss mit dem Kollegen Bonneck leider noch mal weg. Am besten, du gehst ohne mich in die Pizzeria. Kann spät wer­den. - Penelope?“

Keine Antwort.

Pütz zuckte mit den Achseln und zog seine Jacke über. Als er ge­rade aus dem Haus trat, hörte er einen gellenden Schrei. Er gellte so sehr, dass nicht nur ich, sondern auch der Hauptkommissar und der Glatzkopf zusammenzuckten.

Der Schrei kam unten aus der Waschküche.

„Am besten, du fährst schon mal los“, meinte Pütz zu seinem Kol­legen.

***

Erst fünfzig Minuten, nachdem ich ins Grünapfelinternat zurückge­kehrt war, traf der Kommissar dort ein. Die Leiche war längst fotogra­fiert und auf dem Weg in die Gerichtsmedizin.

Pütz begab sich in Gesine Grünapfels Arbeitszimmer und begut­achtete das Chaos auf ihrem Schreibtisch.

„Hast du im Stau gesteckt, oder was?”, beschwerte sich Lars Bonneck, weil er die ganze Arbeit allein hatte machen müssen.

„Hör schon auf.” Pütz qualmte geradezu vor schlechter Laune. „Es ging nicht schneller. Penelope hat mich verlassen.”

„Tut mir leid.” Der Andere verzog das Gesicht und ich konnte nicht sagen, ob es mitfühlender Schmerz war oder hämisches Grinsen. „Hat sie einen anderen oder was?”

„Sie hält mich für ein Monster, bloß weil ich aus Versehen ihren Köter in der Waschmaschine gewaschen habe.”

Jetzt war es eindeutig ein Grinsen, das auf Bonnecks Gesicht lag. „Hast du nicht.”

„Doch, habe ich. Gewaschen und geschleudert. Die geschminkte Ratte ist mausetot. Ersoffen wie eine Katze.”

„Aber du hast es nicht aus Versehen getan, gib’s zu.”

Pütz zuckte die Achseln. „Wer ist die Tote?”

„Gesine Grünapfel. Eine Tierrechtlerin. Sie hat eine Menge Bücher geschrieben, letztes Jahr hat sie dafür einen Preis bekommen.”

Die beiden Beamten beugten sich über einen Laptop, der mit auf­geplatztem Gehäuse auf dem Boden lag. Offenbar hatte jemand ver­sucht, ihn zu zerstören. „Stellt fest, ob man die Festplatte noch lesen kann”, meinte Pütz. Er deutete auf einen Terminkalender, der aufge­schlagen auf der Schreibtischplatte lag. 15:30 – Bertolucci, zum Es­sen, las er. „Rausfinden, wer das ist. Den Typ hat sie heute Nachmit­tag noch getroffen.” Er deutete auf die offene Terrassentür. „Was ist da draußen?”

„Der Garten.”

Sie traten hinaus.

„Und die Hunde”, fügte Bonneck hinzu.

„Hunde?”

„Frau Grünapfel betrieb eine Hundeschule mit Hundeasyl.”

Es war ein schöner Sommerabend, die Mücken schwirrten und im Garten roch es nach Jasmin.

„Hunde haben mir gerade noch gefehlt”, meinte Pütz. „Die bringen nichts als Ärger.”

„Nicht nur das”, bestätigte sein Kollege. „In diesem Fall brachten sie sogar den Tod.”

„Was soll das heißen?”

„Dass ein Hundebiss möglicherweise die Todesursache war.”

„Ein Hundebiss?”, wunderte sich Pütz. „Wie interessant.”

„Vielleicht haben wir es gar nicht mit Mord zu tun, sondern mit ei­nem tödlichen Unfall.”

Pütz verzog das Gesicht. „Glaube ich nicht.”

„Warum nicht?”

„Wenn du, so wie ich, Schnüffler mit Leib und Seele bist, dann weißt du, wann du einen Mord vor dir hast. Du kannst es förmlich rie­chen.”

„Du glaubst also, ein Tier wurde zum Töten abgerichtet?”

„Hunde”, belehrte Pütz seinen Kollegen, „muss man nicht zum Tö­ten abrichten. Sie tun es von selbst.”

„Von selbst? Aus welchem Grund?”

„Weil sie heimtückisch sind. Hinterlistig, bösartig und unberechen­bar, deshalb. Lass dich von ihrem mitleiderregenden Äußeren nicht täuschen.”

Lars Bonneck musterte den Anderen von der Seite. „Mal abgese­hen von dem Köter, der in deiner Waschmaschine ersoffen ist - hast du irgendwas gegen die Viecher?”

„Nicht das Geringste.” Pütz schnaufte abfällig. „Aber wenn ich ir­gendwas nicht leiden kann, dann dass einer eine solche Schweinerei wie diese hier begehen und damit durchkommen kann. Glaub mir, die angeblich so kuscheligen Wauwaus verwandeln sich hinter dei­nem Rücken in Tötungsmaschinen. Sie sind nicht wie wir Menschen, die wenigstens ein Motiv zum Töten brauchen. Hunde brauchen keins, deshalb begehen sie das, was Menschen unmöglich ist: den perfekten Mord.” Er deutete zu den Gruppenunterkünften auf der an­deren Seite des Gartens. „Was ist da drüben?”

„Das sind die Zwinger”, erklärte sein Kollege. „Hier leben fast zwanzig Tiere.”

„Alle einsammeln”, entschied Pütz. „Wir machen das Asyl dicht und finden heraus, welcher von den Viechern zugebissen hat.”

„Und was machen wir mit den anderen?”

„Einschläfern.” Pütz grinste böse. „Eine solche Gelegenheit bietet sich so schnell nicht wieder.”

6

„Hey, das kannst du nicht machen”, sagte Bonneck.

„So, kann ich nicht? Und wieso, wenn ich fragen darf?”

„Weißt du, ich habe ein wenig Erfahrung mit Hunden. Man muss sie nicht gleich einschläfern. Wenn man sie richtig anspricht, kann man sie um den Finger wickeln.”

„Ach, wirklich?”

„Am besten, du hast immer ein Leckerchen dabei. Dafür tun sie al­les.”

„Was ist los mit dir, Lars? Bist du neuerdings so ein scheiß Tier­freund geworden?”

So wie der Kommissar das aussprach, hörte es sich wie eine Be­leidigung an.

„Was spricht denn dagegen?”

„Hunde sind die schlimmsten Opportunisten, die es gibt”, sagte Pütz. „Von wegen bester Freund des Menschen – das ist alles haar­sträubender Blödsinn. Hab ich neulich erst im Fernsehen gesehen. Also wenn du einen Funken Verstand hast, schaff sie dir vom Hals.”

***

Ich hatte genug gehört und zögerte keinen Augenblick. Nun ja, wenngleich ein winziger Moment des Zögerns vielleicht angebracht gewesen wäre. Selbst den Menschen ist unsere Rudelkultur ein Be­griff. Was das Tierreich angeht, gilt unser Sozialverhalten als einzig­artig und vorbildlich für alle. Einer für alle und alle für einen. Gemein­sam jagen, gemeinsam fressen und gefressen werden. Das bedeu­tet, dass keiner von uns auf die Idee käme, einfach abzuhauen und seine Artgenossen im Stich zu lassen. Menschen tun so etwas viel­leicht. Sie sind auch kein Rudel, sondern eine unüberschaubare Masse drängelnder und schubsender Menschenexemplare.

Aber, mal ehrlich: Wem hätte es denn genützt, wenn ich gezögert hätte? Wenn ich auch verhaftet worden wäre? Wer hätte dann Hilfe geholt? Einmal abgesehen davon, dass die meisten aus dem Hun­deasyl noch gar nicht begriffen hatten, was vorging, da sie höchstens ein paar Brocken mensch verstanden.

Bestimmt hätte ich Hilfe geholt. Auch wenn ich in diesem Moment nicht im Entferntesten daran dachte. Hund zu sein, bedeutet in einer solchen Situation: Wenn Gefahr im Verzug ist, dann ist dir das Rudel egal. Jeder sieht, wo er bleibt. Und deshalb machte ich, dass ich weg kam.

Beinahe hätte ich es auch geschafft. Ich kannte eine Stelle, wo man mühelos unter dem Zaun hindurchkriechen konnte, weil wir uns hier so manches Mal die Pausen damit vertrieben hatten, ein Loch zu buddeln. Aber auf der anderen Seite des Zauns angekommen, pack­te mich eine Hand am Kragen und wollte mich hochheben. Instinktiv schnappte ich nach ihr und wurde fallengelassen.

„Mistköter! Na warte …”, zischte eine Stimme. Aber ich wusste, dass ich nicht in Menschenfleisch gebissen hatte. Es schmeckte nach Baumwollhandschuh. Und sowie mir das klar wurde, schnappte mich die Hand ein zweites Mal, hob mich hoch und drehte mich, so­dass ich direkt in Hauptkommissar Pütz' wutentbranntes Gesicht blickte.

„Na, wen haben wir denn da?”, sagte er.

„Lassen Sie mich sofort herunter!”

„Ach nein”, spielte der Mensch den Verwunderten. „Sind wir am Ende ein Papagei oder was?”

„Mein Name ist Baskerville”, sagte ich. „Ich bin Privatdetektiv.”

„Detektiv?” Pütz gab sich nicht mal Mühe, das spöttische Gluck­sen zu unterdrücken. Er lachte und hätte mich vor Lachen beinahe wieder fallen lassen.

„Was ist daran komisch?”

„Ihr seid doch bloß dämliche Köter. Vierbeinige, flohstrotzende Kläffer, die sich einbilden, zu Höherem geboren zu sein. Hundeschu­le, Hundesauna, HundeTV - was denn noch?”

„Hören Sie”, sagte ich, „auch als Hund habe ich Rechte …”

„Rechte!”, brüllte Pütz und hielt nach seinem Freund Ausschau. „Hey, Lars, hör dir das an. Das hast du nun davon!” Er wandte sich wieder mir zu. Sein Gesicht kam näher. „Seien wir ehrlich: Ihr Köter könnt doch nur eins wirklich: pupsen. Keine Frage, darin seid ihr gott­verdammte Weltmeister. Aber mit der Pupserei macht ihr die Atmo­sphäre kaputt. Sämtliche Erdenbewohner haben darunter zu leiden, wenn dieser Planet demnächst abschmiert. Tja, und wo wollt ihr dann Gassi gehen, habt ihr euch das schon mal überlegt?”

„Wollen Sie damit andeuten, Herr Kommissar”, sagte ich, „dass Sie mich hier aus rein ökologischen Gründen aufgegriffen ...”

„Rechte!”, ereiferte sich Pütz. „Wenn es mir gefällt, euch nichtsnut­ziges Viehzeug abzumurksen, dann wird mich keiner daran hindern. Na gut, man könnte mich wegen Sachbeschädigung dran kriegen, aber nur, wenn ihr jemandem gehört. Ganz schön blöd, was? Ihr ar­men Teufel gehört niemandem. Kein Halsband, keine Hundemarke. Also wäre ich an deiner Stelle ganz still, wenn es um Rechte geht.”

Völlig klar, durchfuhr es mich blitzartig. Es muss diese Sache mit Apollo sein. Menschen zu verstehen, war keine Hexerei, sondern rei­ne Psychologie, nichts weiter. Der Mann kam nicht damit klar, dass er den Pekinesen in die Waschmaschine gesteckt hatte. Natürlich wusste er, dass er schuldig war, deshalb spielte er den harten Kerl. Vielleicht war er sonst gar nicht so übel. Man musste eben nur an­ders mit ihm reden.

„Ich verstehe Sie doch”, sagte ich. „Ihre Lebensgefährtin ist auf eine, sagen wir, infantile Art und Weise auf einen verzogenen Peki­nesen fixiert, da ist es ganz normal, wenn man eine pathologische Aversion entwickelt, die man irgendwann nicht mehr im Griff hat. Ich selbst hätte an Ihrer Stelle nicht anders gehandelt ...”

Der Blick des Hauptkommissars brachte mich zum Schweigen. Er war kalt und grausam. Ein Menschenblick der tödlichen Sorte. Mich fröstelte. So zeigte sich, dass Pütz nicht zu den Menschen gehörte, die es schätzen, wenn man Verständnis für sie äußert. „Der einzige Grund, weshalb du noch keine Bekanntschaft mit dem Schleuder­gang gemacht hast”, zischte er wie eine böse Schlange, „ist, dass ihr nicht alle gleichzeitig in die verdammte Waschtrommel hineinpasst.” Mit seiner freien Hand winkte er seinem Kollegen, Hauptkommissar Bonneck. „Und merk dir eins: Bilde dir bloß nicht ein, du könntest bei mir Eindruck schinden, indem du mich anquatschst! Hunde, die sprechen können - na und? Von mir aus kannst du hier im Rolls Royce vorfahren oder ein Computergenie sein, das ändert nichts daran, dass du nur ein dämlicher haariger Köter bist!”

***

Ich hatte trotzdem Glück. Da Pütz die Ermittlungen leitete, konnte er sich nicht um den Abtransport der Hunde kümmern und übertrug diese Aufgabe Lars Bonneck. Der war ein ganz anderer Typ als Pütz und mir war bald klar, dass er nur deswegen nicht mit einem Hund redete, weil er mit Pütz befreundet sein wollte.

„Warum lassen Sie mich nicht frei?”, fragte ich, sobald wir allein waren. „Wollen Sie etwa mitschuldig werden am Tod dieser unschul­digen Hunde?”

Bonneck tat so, als hätte er mich nicht gehört. Wenigstens trug er mich nicht weiter herum und setzte mich auf dem Boden ab. „Platz!”, sagte er und ich nahm Platz, um ihm ein gutes Gefühl zu geben.

„Brav”, sagte er. „Guter Hund.” Zur Belohnung warf er mir ein so­genanntes Leckerchen hin, eins von diesen zu Pillen gepressten Stü­cken Abfall aus der Nahrungsindustrie. Ich schnupperte daran, aber nein, danke.

„Na schön, wie du willst.” Bonneck hob den Arm zum Kommando. „Und jetzt: bei Fuß!” Damit setzte er sich in Bewegung und schien al­len Ernstes zu erwarten, dass ich einfach so neben ihm her trottete. Für wen hielt er mich? Für eins dieser braven Schnüffeltierchen aus der Hundeschule? Diese Zeit hatte ich endgültig hinter mir gelassen.

„Heh! Komm sofort zurück!”, rief er hinter mir her, sobald ich Gas gab. „Hierher! Aber sofort!”

Das Gute an den Tierfreunden ist, dass man sie so leicht austrick­sen kann.

7

Nicolai Sergejewitsch Pawlow, brillanter Kulturhistoriker und so ziemlich der beste Menschenexperte unserer Art, entwickelte schon vor langer Zeit die Theorie vom Homo Defectus. Die vielgepriesene menschliche Intelligenz, so gelang ihm nachzuweisen, ist lediglich eine Panne der Evolution, entstanden aus dem Versuch, den durch den Makel der Zweibeinigkeit entstandenen Nachteil auszugleichen. Anstatt etwas gegen den aufrechten Gang zu unternehmen, erklärte das menschliche Hirn die in der Natur ziemlich umstrittene Fortbewe­gungsart kurzerhand zum non plus Ultra und entwickelte daraus eine Form ignoranter Selbstüberschätzung, Intellekt genannt. Diesem ver­danken wir typisch menschliche Irrtümer: beispielsweise dass es nur eine vernünftige Spezies auf dem Planeten gibt, nämlich den Men­schen. Das ist ungefähr so, als würde ich mir die Augen zuhalten und daraus den Schluss ziehen, ich sei allein auf der Welt.

Oder ich würde aus der Tatsache, dass kein Lebewesen auf die­sem Planeten mit mir spricht, folgern, dass niemand außer mir der Sprache mächtig ist. Menschen sind wie ein Klassenprimus, der ständig die Nase hochträgt und selbstverständlich annimmt, dass ihm keiner das Wasser reichen kann; dabei will es nur keiner. Man spricht eben nicht mit einer Spezies, die sich für etwas Besseres hält und einen nur dann braucht, wenn es darum geht, Knochenbrüche bei Auffahrunfällen zu erforschen oder Medikamente mit tödlichen Nebenwirkungen zu testen.

Pawlows Theorien füllen etliche Bücher, die ich nie aufgeschlagen habe. Wie die der meisten meiner Artgenossen sind meine Interes­sen überschaubar: Fressen, Sex und Schlafen, wobei mit zunehmen­dem Alter Letzteres immer mehr Vorletztes verdrängt.

---ENDE DER LESEPROBE---