A.R.G.O.S. - Lizenz zum Sterben - Thomas Finn - E-Book

A.R.G.O.S. - Lizenz zum Sterben E-Book

Thomas Finn

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Beschreibung

Der neue Band der Agententhriller-Reihe um die geheimste Geheimdienstorganisation Europas

Keine Zeit zu sterben? Wir machen das schon!

In ganz Europa häufen sich rätselhafte Satellitenfehlfunktionen mit dramatischen Folgen. Das ruft den geheimsten europäischen Geheimdienst A.R.G.O.S. auf den Plan. Lena Kaufmann als neue Agentin Helena sowie die Agenten Perseus, Kirke und Elektra werden auf den Fall angesetzt. Was sie herausfinden, lässt ihnen das Blut in den Adern gefrieren. Denn die unbekannten Angreifer haben nicht nur die Satellitensysteme der europäischen Staaten unter Kontrolle, sondern auch die hochgeschützten A.R.G.O.S.-Satelliten gehackt. Und es gibt nur eine Organisation, die über die Ressourcen und das Wissen dafür verfügt: die längst vernichtet geglaubte Verbrecherorganisation H.A.D.E.S. Doch der H.A.D.E.S. ist zurück ...

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INHALT

CoverÜber das BuchÜber den AutorTitelImpressumWidmungPrologHelenaStation 3La FamiliaLondon CallingScorpio ClubCode 13Papadopoulos IslandAtomic BlondesOperation EmpusaÜber den Dächern von NizzaHephaistosSpace OddityHadesEpilog

ÜBER DAS BUCH

Der neue Band der Agententhriller–Reihe um die geheimste Geheimdienstorganisation Europas Keine Zeit zu sterben? Wir machen das schon! In ganz Europa häufen sich rätselhafte Satellitenfehlfunktionen mit dramatischen Folgen. Das ruft den geheimsten europäischen Geheimdienst A.R.G.O.S. auf den Plan. Lena Kaufmann als neue Agentin Helena sowie die Agenten Perseus, Kirke und Elektra werden auf den Fall angesetzt. Was sie herausfinden, lässt ihnen das Blut in den Adern gefrieren. Denn die unbekannten Angreifer haben nicht nur die Satellitensysteme der europäischen Staaten unter Kontrolle, sondern auch die hochgeschützten A.R.G.O.S.–Satelliten gehackt. Und es gibt nur eine Organisation, die über die Ressourcen und das Wissen dafür verfügt: die längst vernichtet geglaubte Verbrecherorganisation H.A.D.E.S. Doch der H.A.D.E.S. ist zurück …

ÜBER DEN AUTOR

Thomas Finn, geboren 1967 in Chicago, studierte Volkswirtschaft und war als Journalist und Autor für diverse deutsche Verlage und Magazine tätig, u. a. als Chefredakteur für das Phantastik-Magazin Nautilus. Seit 2001 arbeitet er als Roman-, Spiele-, Theater- und Drehbuchautor. Er ist mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet worden, u. a. mit der Segeberger Feder. Thomas Finn lebt und arbeitet in Hamburg.

Weitere Informationen über den Autor finden Sie auf seiner Homepage: http://www.thomas-finn.de.

THOMASFINN

A•R•G•O•S

LIZENZZUMSTERBEN

DIE GEHEIMSTENGEHEIMAGENTEN EUROPASIM EINSATZ

Vollständige eBook-Ausgabe

des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes

Dieser Titel ist auch als Hörbuch erschienen

Originalausgabe

  

Dieses Werk wurde vermittelt durch die Michael Meller Literary Agency GmbH, München.

  

Copyright © 2023 by Thomas Finn

Copyright © 2023 by Bastei Lübbe AG, Köln

Textredaktion: Dr. Frank Weinreich, Bonn

Titelillustration: © stock.adobe.com: Ulia Koltyrina | Igor Kovalchuk | imagosrb; © shutterstock.com: Ensuper | C Design Studio | SERVER; © Colin Thomas, London

Umschlaggestaltung: Johannes Wiebel | punchdesign, München

eBook-Produktion: Dörlemann Satz, Lemförde

ISBN 978-3-7517-2860-7

luebbe.de

lesejury.de

 

Für Flow.

Dank dir für ein paar tolle Ideen.

Sowie für Tanja, Wiebke und Philipp alias

Agentin Penelope, Agentin Kassandra und

Agent Priamos. Alle mit der Lizenz,

mir in den Waffenarm zu fallen.

PROLOG

GEHEIMES TREFFEN DES VERBRECHERSYNDIKATS H.A.D.E.S., CHÂTEAU DE DURBUY IN BELGIEN

Die Unterwelt würde erbeben.

Und das Verbrechen würde triumphieren.

Demeter war sich dessen hundertprozentig sicher, während sie vom Heck ihres schwarzen Mercedes-Benz CLS aus die nahe Wasserburg mit ihren schlanken Türmen und hohen Mauern musterte, die sich düster im Abendrot abzeichnete: das Château de Durbuy.

Nur wenige wussten, dass auf der Festung bereits kurz vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs Pläne geschmiedet worden waren, die das Schicksal Europas nachhaltig beeinflusst hatten. Dabei hatte es sich um Geheimabsprachen im Rahmen des flämisch-wallonischen Konflikts gehandelt, bei denen flämische Kollaborateure ihren Kampf gegen die damalige französische Herrschaft im Königreich Belgien mit den späteren Führern der reichsdeutschen Besatzungsmacht abgestimmt hatten.

Auch heute würden in den Mauern des Châteaus Ränke gesponnen werden. Und so wie einst, würden auch sie das Zeug dazu haben, die bestehende Ordnung Europas in Trümmer zu legen. Der einzige Unterschied zu damals bestand darin, dass die Burg diesmal von einer Schattenmacht als Treffpunkt auserkoren worden war. Von einem Verbrechersyndikat, das noch vor zwei Jahrzehnten die Unterwelt Europas beherrscht, die Polizeidienste zahlloser Länder genarrt und kurz davorgestanden hatte, die politische Kontrolle auf dem Kontinent zu übernehmen. Zumindest, bis es dem verdeckt operierenden supranationalen europäischen Geheimdienst A.R.G.O.S., der ›Agency for Research, Guarding, Offensive and Security‹, gelungen war, diese Organisation auszulöschen.

Der Name des Syndikats ließ Eingeweihte heute noch erzittern: H.A.D.E.S.!

Und das aus gutem Grund.

Denn H.A.D.E.S. hatte überdauert.

Demeter wusste schon lange, dass die Verbrecherorganisation nie wirklich besiegt worden war. Dabei war sie in ihrer Zeit als Mitglied des Olymps, der Führungsebene von A.R.G.O.S., selbst diesem Trugschluss aufgesessen. Tatsächlich hatte das Syndikat aber im Verborgenen seine Wunden geleckt, die Reihen über die Jahre geschlossen und nur auf die Gelegenheit gewartet, erneut sein Haupt aus dem Abgrund zu erheben.

Und diese Gelegenheit war heute gekommen.

Demeter lächelte bei dem Gedanken böse, denn Europa hatte es nicht anders verdient. Eine Überzeugung, zu der sie gelangt war, gerade weil sie den Kampf gegen die inneren und äußeren Feinde des Staatenverbundes allzu lange selbst mitorchestriert und ihm ihre besten Jahre geopfert hatte. Sie war heute zweiundsechzig Jahre alt, und die vielen Jahrzehnte hatten sie längst ernüchtert.

Europa … das war bloß eine seelenlose Hülle. Inhaltslos und leer.

Unterhalb des dünnen Firnisses dessen, was die Europäische Union unter Zivilisation und Fortschritt verstand, wucherten in Wahrheit Habgier, Egoismus und Selbstgerechtigkeit. Regiert von Politikern, die sich kaufen ließen. Gesteuert von Wirtschaftsmagnaten, denen kurzfristige Aktiengewinne wichtiger als die Märkte waren, auf denen sie operierten. Bevölkert von Menschen, die ihre Freiheit bereitwillig an diejenigen verkaufte, die ihr Ego mit den größten Lügen zu umschmeicheln wussten.

Sicher, man konnte auch weiterhin versuchen, all diese Krankheiten wie Geschwüre aus den Ländern des Staatenverbundes herauszuschneiden. Doch in Wahrheit gehörten sie wohl zum menschlichen Naturell. Und damit waren sie ebenso unausrottbar wie die Köpfe einer Hydra, von denen stets zwei nachwuchsen, kaum dass man einen abgeschlagen hatte.

Die Entscheidung, die Seite zu wechseln, war lange überfällig gewesen.

Europa war nicht zu retten. Demeter war schon lange davon überzeugt, dass die Legende um die phönizische Königstochter als Namensgeberin des Kontinents missinterpretiert worden war. In Wahrheit musste man sie als Warnung verstehen. Europa, dieses verkommene Miststück, war nie entführt worden, sie hatte sich bereitwillig rauben lassen.

Doch all das gehörte der Vergangenheit an. Dass sie bei A.R.G.O.S. aufgeflogen war und ihre einstigen Kollegen im Olymp sie nun als Verräterin jagten, war zwar ärgerlich, aber letztlich nicht zu vermeiden gewesen. Wenn sie etwas bereute, dann nur, ihre Wahl nicht schon viel früher getroffen zu haben.

Tief atmete Demeter daher ein, als ihr Leibwächter mit der Limousine auf eine verschattete Allee einscherte, die geradewegs auf eine Brücke zuführte, die den breiten Wassergraben vor dem Burgtor des Châteaus überspannte. Die rotschwarze Wasserfläche erinnerte sie auf unwirkliche Weise an den Styx, jenen mythischen Fluss, der die Unterwelt von der Welt der Lebenden trennt. Sobald sie diese Grenze überschritt, gab es auch physisch kein Zurück mehr. Denn danach würde sie erstmals dem geheimnisvollen Führungszirkel von H.A.D.E.S. gegenübertreten.

Noch befand er sich im Aufbau, und ihren Informationen nach, trat er hier und heute überhaupt das erste Mal leibhaftig zusammen.

Allein das kündigte die Zeitenwende an.

Bislang war ihr Kontakt nur über Mittelsmänner erfolgt. Doch wenn H.A.D.E.S. seine einstigen Traditionen bewahrte, bestand dieser Kreis aus neun sorgsam ausgewählten Mitgliedern. Die Elite des europäischen Verbrechens, und das aus allen Teilen der Gesellschaft: Politiker, Wirtschaftsmagnaten, Bänker, Anwälte und andere Schwerkriminelle. Ein jeder von ihnen herrschte über eine eigene Domäne der Unterwelt; seien es nun Drogen- und Waffenhandel, Prostitution und erpresserischer Menschenraub, Diebstahl oder Falschgeldbetrug. Die Organisation deckte quasi alle profitversprechenden Bereiche der internationalen Kriminalität ab. Bei alledem bestand die eigentliche Schlagkraft des Syndikats darin, dass es – im Gegensatz zu rivalisierenden Mafiaclans – die Kräfte all dieser Geschäftsfelder bündelte. H.A.D.E.S. würde so auch diesmal jeden Rivalen auf dem Kontinent verdrängen.

Nur ein Aspekt ließ Demeter noch immer rätseln. Denn der einstige Erfolg dieser Verbrecherorganisation wäre damals ohne das brillante Superhirn an seiner Spitze kaum denkbar gewesen. Ein Verbrechergenie, das lange Zeit unerkannt unter dem Codenamen Alpha firmiert hatte.

A.R.G.O.S. hatte Jahre damit zugebracht, herauszufinden, welcher Größenwahnsinnige hinter dem Code steckte. Als einstiges Mitglied des Olymps wusste Demeter natürlich, wer sich damals unter dieser Maske verborgen hatte. Allerdings war der Gründer von H.A.D.E.S. schon lange tot. Gefallen im Kampf gegen A.R.G.O.S.

Umso gespannter war sie, herauszufinden, wer heute die Macht, den Einfluss und auch das Durchsetzungsvermögen besaß, seinen Platz einzunehmen. Und das nicht bloß, um einzufordern, was ihr das Syndikat für ihre bisherigen Dienste versprochen hatte.

»Ma’am, Sie sind sich sicher, dass wir hier richtig sind?«, schreckte ihr Bodyguard sie aus ihren Gedanken.

Demeter blickte auf und sah nun selbst, dass das Tor des Châteaus weit offen stand. Jenseits des Torbogens war ein überraschend bunt beleuchteter Innenhof zu erkennen, auf dem sich eine Vielzahl parkender Pkw abzeichnete. Ebenso längs der Allee, die sie gerade entlangfuhren. Nur waren das alles nicht unbedingt die Art von Fahrzeugen, die sie hier erwartet hätte. Stattdessen wirkten die vielen Mittelklassewagen am Straßenrand so, als habe sich hier die halbe Einwohnerschaft des Nachbarorts versammelt.

War das Tarnung?

H.A.D.E.S. galt immerhin als Meister der Konspiration und Verschleierung, und übertraf damit sogar die Geheimniskrämerei von A.R.G.O.S.

»Doch … wir sollten hier richtig sein«, antwortete Demeter zögernd. »Fahren Sie weiter.«

Ihr Leibwächter und Chauffeur nickte, verlangsamte das Tempo, und kurz darauf rumpelten die Bohlen der Brücke unter den Reifen des Benz – als am Tor plötzlich ein Endfünfziger mit Schirmmütze, kariertem Hemd und leichter Sommerhose in den Lichtkegel der Scheinwerfer trat. Er winkte etwas unbeholfen.

Demeter sah, wie ihr Begleiter seine Anzugjacke aufknöpfte, um im Notfall rasch an seine Waffe zu kommen. Fragend warf er ihr einen Blick zu, während der Fremde neben die Fahrertür der Limousine trat und gegen das Fenster klopfte.

Vorsichtshalber setzte Demeter ihre Sonnenbrille auf. Dann summte es, und ihr Bodyguard ließ die getönte Scheibe ein Stück herunterfahren. Von der Burg her war gedämpfte Tanzmusik zu hören.

»Hochzeit oder Sternenfreunde?«, schlug ihnen die Stimme des Fremden entgegen.

»Wie bitte?« Demeters Leibwächter spannte sich.

»Na ja.« Der Mann da draußen senkte sein Haupt, um einen neugierigen Blick in den Wagen zu werfen. »Hochzeit oder Sternenfreunde? Ich, äh, bin der Burgverwalter. Es ist da heute bedauerlicherweise zu einer Doppelbuchung gekommen.«

»Eine Doppelbuchung?« Demeter beugte sich irritiert vor.

»Ja, aber die Herrschaften haben sich zum Glück geeinigt. Die Hochzeitsgesellschaft bleibt im Rittersaal und auf dem vorderen Burghof, der Vereinigung der Sternenfreunde gehört das ganze hintere Burgareal samt Planetarium. Für das Malheur entschuldigen wir uns natürlich. Um Mitternacht erhalten Sie daher alle einige kostenlose Platten mit Schnittchen.«

»Schnittchen?«

»Ja, die guten mit Schinken und Spargel natürlich.«

Demeter und ihr Fahrer wechselten Blicke.

»Zumindest nehme ich mal an …«, der Verwalter räusperte sich nach einem Blick auf die Limousine, »dass Sie, äh, eher zu den Sternenfreunden gehören.«

»Geben Sie jetzt endlich den Weg frei?«, knurrte Demeters Leibwächter.

»Sicher. Natürlich.« Der Verwalter lächelte verlegen. »Ich wünsche viel Spaß! Unser Planetarium wurde gerade erst renoviert. Bitte einfach an der Bühne und dem Waffelstand vorbei, und dann durch das innere Tor nach hinten durch.«

Der Typ trat beiseite, Demeters Begleiter ließ die Scheibe wieder hochfahren und steuerte die Limousine durch das Brückentor auf einen von bunten Lampions erhellten Burghof.

Mehrere Fahrzeuge parkten dort vor einem Bedienstetenhaus. Dominiert wurde die kopfsteingepflasterte Freifläche jedoch von einer Bühne unter einem der historischen Wehrgänge, auf der sich drei belgische Live-Musiker mit ihren Instrumenten abmühten. Außerdem belagerten etwa zwei Dutzend leicht angetrunkene Gäste einen mittelalterlich gestalteten Ausschank sowie zwei Fressbuden mit Pommes und Waffeln. Kopfschüttelnd verfolgte Demeter, wie die Musiker eine schwungvolle Instrumentalversion von Bella Ciao anstimmten, dessen Text die Gäste auf dem Hof lärmend mitsangen. Auch aus dem nahen Rittersaal strömten jetzt Feiernde nach draußen, unter ihnen tatsächlich ein Brautpaar.

Das mit der Fehlbuchung schien zu stimmen.

Demeters Fahrer steuerte den Benz ungerührt von der ausgelassenen Menschenansammlung auf die gegenüberliegende Toranlage zu, und sie erreichten einen deutlich kleineren und auch deutlich verschatteteren Innenhof nahe dem Bergfried. Die dort parkenden Fahrzeuge entsprachen schon eher ihren Erwartungen. Unter ihnen ein offensichtlich gepanzerter Rolls-Royce Phantom, ein Bentley Bentayga und andere Nobelmarken mit abgedunkelten Scheiben. Und wie erwartet, drückte sich in den Schatten der Mauern, Treppen und Aufgänge eine kleine Heerschar breitschultriger Anzugträger herum, die nicht nur einander, sondern auch ihre Ankunft misstrauisch beäugten.

Demeters Bodyguard stoppte den Benz, da er auf dem beengten Hof selbst bei bestem Willen keinen Parkplatz mehr fand. Verärgert stieg er aus und blickte sich argwöhnisch um, während er ihr die Hecktür öffnete.

Es war so weit. Die Stunde der Entscheidung war gekommen.

Demeter glättete ihren dunklen Blazer, strich eine silberne Strähne ihres Ponys zurück und trat ins Freie. Die Musik und das gedämpfte Grölen der Gäste auf dem benachbarten Burghof waren noch immer zu hören, doch ihre Miene blieb steinern. Interessant, einer der muskulösen Anzugträger weiter hinten war ein Kerl mit auffälliger Sattelnase. Er hielt einen kurzschnäuzigen Pekinesen mit rosa gefärbtem Fell in den Armen. Wenn sie sich nicht irrte – und sie irrte nur selten –, gehörte die markante Töle Chang Chen Lu, einer Hongkong-Chinesin mit britischem Pass. Offiziell war sie als Hauptaktionärin eines chinesisch-britischen Herstellers für Traktoren bekannt, inoffiziell leitete sie die Geschicke eines einflussreichen Waffenkartells.

Und bei dem Glatzkopf da drüben handelte es sich ohne Zweifel um den international gesuchten spanischen Auftragskiller Pablo Fernández. Die letzten nachrichtendienstlichen Meldungen besagten, dass er im Sold des ›Kardinals‹ stand, wie der einstige Aufsichtsratsvorsitzende der Vatikanbank, Monsignore Lorenzo Rossi, in Geheimdienstkreisen genannt wurde. Der gewiefte Finanzjongleur hatte erst für Kirche und Mafia dreistellige Millionenbeträge veruntreut, bis er sich dazu entschieden hatte, nur noch in die eigene Tasche zu wirtschaften. Er war schon lange untergetaucht – bis jetzt.

Damit hatte sie bereits zwei mutmaßliche Mitglieder der H.A.D.E.S.-Führungselite identifiziert. Der Abend versprach interessant zu werden.

Demeter sah sich suchend nach einer Art Empfangskomitee um, als sie bemerkte, dass einige der Bewaffneten auf dem Hof hastig beiseitetraten. Nahe dem mächtigen Bergfried löste sich in diesem Moment eine Gestalt in schwarzer Lederkombination aus dem Schatten, die sich ihr mit katzenhafter Eleganz näherte.

Sie besaß einen südländischen Teint, ihr schulterlanges schwarzes Haar war an der linken Seite ausrasiert, und ihre Sonnenbrille verbarg nur unzureichend eine aus Titan bestehende Knochenprothese, die sich über Stirnansatz und die linke Augenhöhle bis hinunter zum Wangenknochen spannte. Demeter atmete scharf ein, denn sie wusste genau, wem sie gegenüberstand.

Die Unheimliche wurde bei A.R.G.O.S. unter dem Aktenvermerk ›KSC-7‹ geführt. K für Known, SC für Super Criminal. Sie selbst nannte sich ›Shadow‹.

Sie war eine einstige A.R.G.O.S.-Agentin, der nach einem schweren Unfall experimentelle Cyberimplantate neuester Generation zur Wiederherstellung ihrer Leistungskraft eingesetzt worden waren. Unglücklicherweise hatte ihre neuronale Regulation durch die Einbauten Schaden genommen. Sie galt seitdem als unberechenbar. Was für den Geheimdienst umso schwerer wog, da sie wenig später die Seiten gewechselt hatte.

»Demeter, nehme ich an«, begrüßte Shadow sie ausdruckslos und mit französisch klingendem Akzent.

»So ist es«, antwortete Demeter betont gleichgültig.

»Ich muss Sie durchsuchen.«

Ansatzlos schob Shadow sie zurück zum Benz, als ihr Leibwächter auch schon dazwischen ging. »Hey! Mal halblang, Kleine!«

»Pierre, nicht …«

Demeters Warnung kam zu spät. Bevor der kräftige Mann Shadow zu fassen bekam, war diese auch schon zu ihm herumgewirbelt. Unter dem linken Glas ihrer Sonnenbrille, auf Höhe der Pupille, flammte ein diabolisches rotes Licht auf. Demeter glaubte, die Hydraulik der Cyberware in Shadows linkem Arm zu hören, als diese ihren überrumpelten Leibwächter blitzschnell am Hals packte, mühelos und mit nur einem Arm emporhob und ihn mit einer beiläufigen Bewegung bis hinüber zu dem gepanzerten Rolls schleuderte. Krachend landete der Hüne auf der Karosserie, rutschte hilflos aufs Pflaster und blieb keuchend dort liegen.

Ausdruckslos wandte sich Shadow ihr wieder zu. Noch immer gloste der rote Lichtpunkt hinter dem Brillenglas. »Haben Sie ebenfalls vor, Widerstand zu leisten?«

»Das war kein Widerstand, sondern ein Missverständnis.« Verärgert hob Demeter die Hände, bevor sie sich mit leicht gegrätschten Beinen gegen ihren Wagen lehnte.

Professionell tastete Shadow sie ab, anschließend nahm die Kriminelle ihre Sonnenbrille ab. Demeter erblickte so erstmals das vercyberte künstliche weiße Auge mit der rot leuchtenden Pupille, das inmitten der Titanapplikation ihres Schädels prangte. Von dem Auge ging jetzt ein breitgefächerter roter Lichtschein aus, der über ihren Körper wanderte. Das Licht verebbte, und Shadow setzte die Sonnenbrille wieder auf. Sie schürzte spöttisch die Lippen.

»Mitkommen! H.A.D.E.S. erwartet Sie im Observatorium.«

Demeter runzelte die Stirn. Warum wählte H.A.D.E.S. gerade einen solchen Ort für das Treffen? Kurz blickte sie noch einmal zu ihrem Bodyguard, der mühsam wieder auf die Beine kam, dann folgte sie Shadow zwischen den Limousinen und den respektvoll Abstand haltenden anderen Leibwächtern hindurch zu einer Treppe, die in den mächtigen Bergfried des Châteaus führte.

Dort erwartete sie ein mittelalterliches, jedoch von blauen LED-Lichtern beleuchtetes Treppenhaus, und die abtrünnige Agentin signalisierte ihr, den steinernen Stufen nach oben zu folgen. Demeter folgte der Anweisung, wohl wissend, dass Shadow ihr jederzeit das Genick brechen konnte. Und trotz der dicken Mauern waren auch weiterhin die ausgelassenen Hochzeitsgäste auf dem Nachbarhof zu hören. Dass sie ausgerechnet jetzt Dr. Albans Sing Hallelujah mitgrölten, erleichterte es ihr nur nicht gerade, ihre übliche Maske der Gleichmut aufrechtzuerhalten.

Sie erreichten ein Obergeschoss, in dem Plakate eines örtlichen Astronomieclubs verrieten, dass hier das Observatorium der Burg lag. Durch einen Durchlass ging es in einen Vorraum, in dem Schautafeln von Sternen und Planeten hingen. An der Stirnseite des Zimmers hingegen war eine schmale Doppeltür zu erkennen, vor der zwei weitere Anzugträger mit Sonnenbrillen Wache hielten.

»Nicht so schüchtern«, wisperte Shadow hinter ihr. »H.A.D.E.S. weiß Kompetenz zu schätzen. Andernfalls lernt er oder sie mich kennen …«

Grinsend bleckte sie die Zähne.

Demeter würdigte die einstige Agentin keines weiteren Blickes, sondern marschierte geradewegs zu der Tür, deren Flügel die Anzugträger öffneten, und hinter der Stufen nach oben führten. Zu ihrer Verwunderung vernahm sie von dort die leisen Klänge der Titelmusik von Star Wars, auch wenn sie leider nicht ganz das Sing Hallelujah übertönte. Sie folgte den Stufen nach oben und erreichte so das abgedunkelte Observatorium des Châteaus. Nicht bloß die gewählte Musik ließ sie innehalten, sondern auch die Abbildungen wandernder Tierkreiszeichen und anderer Sternbilder in mythischer Ausgestaltung, die der Projektor an die Kuppel warf. Alles in allem eine beeindruckende Kulisse für eine konspirative Zusammenkunft.

Größeres Interesse weckten bei ihr die acht Personen in schwarzen Roben, die links und rechts von ihr die unteren Besucherränge ausfüllten und von denen ein jeder sein Gesicht hinter einer schlichten weißen Theatermaske verborgen hielt. Abfällig schürzte Demeter die Lippen. Zwei von ihnen hatte sie bereits identifiziert, das Gleiche sollte ihr auch beim Rest des Kaders gelingen. Wichtig war nur, dass die neunte Stelle noch unbesetzt war. Denn diesen Platz würde sie für sich beanspruchen.

Hinter ihr schloss sich die Tür, und eine der maskierten Gestalten erhob sich.

»Agentin Demeter«, nuschelte der Mann hinter der Maske mit jovialer Stimme, und Demeter war sich sicher, diese schon einmal gehört zu haben, »wir haben nur auf Ihr Eintreffen gewartet.«

»Dann waren Sie es, der in den letzten Monaten Kontakt mit mir gehalten hat?«, fragte sie geradeheraus.

Sie ahnte, wer er war.

»Das ist leider nicht korrekt. Es war Gamma, der bei der Operation Pichler mit Ihnen Verbindung hielt.« Der Maskierte nickte einem der Anwesenden auf der gegenüberliegenden Sitzreihe zu.

»Sie Idiot. Ich bin nicht Gamma, sondern Eta«, antwortete die maskierte Gestalt unterkühlt. Eine Frauenstimme. Ohne Zweifel war das Chang Chen Lu, die Waffenhändlerin. »Vielleicht ist es Ihnen entgangen, aber Gamma sitzt zwei Plätze neben mir.«

»Ich?«, korrigierte sie der korpulente Maskierte, auf den sie deutete. »Nein, ich bin Epsilon.« Dem harten Spracheinschlag zufolge war er Deutscher. Mühsam drehte er sich zu seiner Lehne um. »Es war offenbar keine gute Idee, dass wir uns hier nicht besser umgesehen haben. Gerade bemerke ich, dass die Plätze mit römischen Ziffern ausgestattet sind.«

»Meine Güte, ich bin Gamma«, machte ein weiterer Maskierter auf sich aufmerksam. Er saß direkt neben dem Stehenden. »Und ja, ich war es, der den Kontakt mit Ihnen gehalten hat. Im Auftrag von Alpha.«

»Ich verstehe eh nicht, was das mit diesen Masken soll«, erklärte einer der anderen Maskierten mit italienischem Akzent. Vermutlich der ›Kardinal‹. »Wäre es nicht für jeden von uns besser, wenn wir wüssten, auf welche Kollegen wir uns hier eigentlich verlassen müssen?«

»Das haben Sie nicht zu entscheiden«, klärte ihn der Stehende auf. »Sollten Sie je gefasst werden, wird es Ihnen auf diese Weise unmöglich sein, uns Übrige zu verraten.«

»Ich werde schon nicht gefasst«, gab der Italiener verschnupft zurück.

»Dann sind Sie … Alpha?«, fragte Demeter den Stehenden.

»Oh nein, ich bin Beta«, antwortete der Angesprochene geschmeichelt. »Alpha wird noch erscheinen.«

Demeter verengte die Augen und zählte ein weiteres Mal durch. Dass hier bereits acht Maskierte saßen, bedeutete zweifellos, dass der H.A.D.E.S.-Führungszirkel bereits vollbesetzt war.

»Mir wurde ein Platz in diesem Zirkel versprochen«, presste sie wütend hervor.

»Ja, das hörte ich«, antwortete Beta gleichmütig. »Allerdings war das, bevor Sie zuließen, dass die Operation Pichler scheiterte.«

»Das war Umständen geschuldet, die ich nicht zu verantworten hatte«, zischte Demeter. »Im Ausgleich habe ich dafür gesorgt, dass sich die Reihen des A.R.G.O.S.-Olymps gelichtet haben.«

»Positionen, die inzwischen neu besetzt sein dürften«, antwortete ihr Gegenüber ungerührt. »Aber ja, H.A.D.E.S. hat nicht vergessen, wie wichtig Sie sind. Allerdings ist es nicht an mir, Sie über Ihre weitere Verwendung aufzuklären. Dieses Privileg obliegt allein Alpha persönlich. Bitte setzen Sie sich.« Er blickte auf seine Armbanduhr und deutete dann auf einen der Sitze neben dem Eingang. »Er wird uns jede Sekunde beehren.«

Verärgert nahm Demeter Platz, als das Theme von Star Wars verebbte. Schlagartig kehrte Dunkelheit im Saal ein. Die einsetzende Stille war jedoch nicht perfekt, denn jetzt war auch wieder der leise Lärm der Hochzeitsgesellschaft auf dem benachbarten Burghof zu hören.

»Verrät mir mal jemand, warum wir mit denen da drüben nicht einfach kurzen Prozess gemacht haben?«, zischte eine Stimme – als der kugelförmige Projektor schlagartig den aktuellen Sternenhimmel an die Kuppel projizierte. Zugleich sprang ein weiterer Projektor an, und schräg über ihnen, inmitten des Sternenmeeres über ihren Häuptern, erschien der quadratische Ausschnitt einer Fernübertragung.

Dort trat jetzt ein hohlwangiger Mann mit Mittelscheitel, hoher Stirn und stechenden Augen hinter einer runden Brille in die Kamera, bei dessen Anblick sich Demeter überrascht anspannte.

»Ich freue mich, dass Sie alle meinem Ruf gef…«

Die Tonübertragung wurde jäh unverständlich, und weißer Schnee zog über das Bild. Sofort machte sich leichte Unruhe im Raum breit, auf die Demeter jedoch kaum achtete. Denn das da oben war in der Tat Alpha. Allerdings der echte Syndikatsgründer. Aber das konnte unmöglich sein.

Wie hatte der Kerl überlebt?

»Was, zum Teufel, ist da los?«, fluchte Beta laut, da die Übertragung kurz davor schien, gänzlich abzubrechen.

»Tut mir leid, aber die Netzabdeckung hier lässt zu wünschen übrig«, war eine panisch klingende Stimme bei den Lichtblenden über dem Ausgang zu hören. »Einen Moment …«

Kurz darauf klärte sich das Bild an der Sternenkuppel, und die Stimme des Syndikatsgründers war wieder deutlich zu hören. »… liegt maßgeblich an Ihnen, von denen manche schon damals auf die eine oder andere Weise H.A.D.E.S. gedient haben. Und dieser Dienst ist nicht vergessen. Sie alle sind nicht nur zu Erben einer alten Macht bestimmt worden, sondern zu ihren neuen Vollstreckern! H.A.D.E.S. mag eine Schlacht verloren haben, aber nicht den Krieg. Und wer mit dem Mythos vertraut ist, weiß, dass Hades nicht nur über die Unterwelt herrschte, sondern auch über den Tod. Es liegt also an uns, wiederaufzuerstehen und eine Macht zu entfesseln, die morgen Europa und übermorgen die ganze Welt beherrscht.«

Einzelne Mitglieder des Zirkels klatschten verhalten.

»Mehr noch, diesmal wissen wir, wo der Gegner steht«, schwor Alpha die Versammelten mit ernstem Blick hinter den Brillengläsern ein. »Dieses Mal werden wir ihn zerschmettern, bevor er sich uns erneut in den Weg stellen kann. Gemeinsam. Vereint. Und mit nie dagewesener Entschlossenheit!«

Demeter ballte die Faust, denn sie wusste, von wem der H.A.D.E.S.-Führer sprach. Er meinte A.R.G.O.S.!

Kein anderer Geheimdienst war so gut über die Verbrecherorganisation informiert wie ihr einstiger Arbeitgeber. Doch diesmal war die Organisation ahnungslos. Und an dieser Stelle würde sie mit ihren intimen Kenntnissen ins Spiel kommen.

»Bei alledem werden wir natürlich nicht unsere eigentlichen Absichten aus dem Blick verlieren.« Alpha lächelte triumphierend. »Ein meisterhafter Plan, geschmiedet bereits vor über zwei Jahrzehnten, der heute nach seiner endgültigen Erfüllung verlangt. Eine Operation von nie dagewesener Dimension, die uns allen zu ungeahntem Einfluss und Reichtum verhelfen wird.«

Diesmal klatschten alle Anwesenden.

»Das ist auch der Grund für unser heutiges Treffen«, fuhr der Syndikatsführer mit gebieterischem Blick fort, »denn die Aufgaben, die ich Ihnen bislang zugewiesen habe, sind jede für sich Teile eines großen Mosaiks, dessen Gesamtbild ich Ihnen heute enthüllen werde. Ein Vorhaben, das uns im wahrsten Wortsinne zu den Sternen greifen lässt: das Projekt Black Knight 2.0!«

Im Observatorium brach erwartungsvoller Jubel aus.

Alpha sorgte mit einer raschen Handbewegung dafür, dass wieder Ruhe einkehrte.

»Theta, ich hoffe, die Gewächshäuser stehen?«

»Ja, Alpha«, war eine weibliche Stimme mit portugiesischem Akzent zu hören. »Allein in Spanien kommen wir auf gute vierhundert Hektar Anbaufläche. Weitere dreihundert Hektar kommen in Frankreich und Portugal hinzu. Abgesehen von denen, die uns schon zur Verfügung stehen. Wir können jederzeit im großen Stil loslegen.«

»Eta«, wandte sich Alpha an Chang Chen Lu. »Wie steht es um unseren … Flankenschutz?«

»Die Waffen werden noch diesen Monat verschifft«, erklärte die Waffenhändlerin. »Die eine oder andere Spezialausrüstung ist schwerer zu besorgen. Die folgt etwas später.«

»Meine Männer«, meldete sich ungefragt einer der anderen Maskierten zu Wort, der unzweifelhaft einen griechischen Spracheinschlag hatte, »sind bereits dabei, die geeigneten Einheiten aufzustellen.«

»Beta, wie steht es um die Bohrinsel?«, hakte Alpha nach.

»Umgerüstet und einsatzbereit!«, vermeldete sein Adlatus und ätzte sogleich in Richtung des ›Kardinals‹. »Allerdings hapert es mit der finanziellen Unterstützung, um den Transport abzusichern.«

Demeter folgte den aufgeschnappten Informationsbrocken konzentriert, konnte sich aber noch immer keinen Reim darauf machen, um welches Vorhaben es hier genau ging. Aber wenn H.A.D.E.S. sich dessen annahm, mussten es dabei um Gewinne im Größenverhältnis des Bruttosozialprodukts von Luxemburg gehen. Mindestens.

Insbesondere aber fühlte sie sich zunehmend weiter an den Rand gedrängt.

»Was ist mit mir?«, platzte es irgendwann aus ihr heraus. »Mir wurde für meine Mühen ein Platz in diesem Kreis versprochen. Wenn Sie A.R.G.O.S. zerstören wollen, benötigen Sie mich.«

Die Übertragung an der Kuppel über ihnen flimmerte, und der Syndikatschef blickte scheinbar in ihre Richtung. Auch die Maskierten im Raum wandten sich ihr zu, und kurz war im Hintergrund wieder die Musik von dem benachbarten Burghof zu hören.

»Ich habe Sie nicht vergessen, Demeter.« Alpha fixierte sie vom Sternenhimmel herab. »Zwar haben Sie dabei versagt, mir zu beschaffen, was ich wollte, aber bei meinem Vorhaben spielen Sie weiterhin eine zentrale Rolle. Ihr Blick wird dafür sogar absolut entscheidend sein.«

Am künstlichen Nachthimmel über ihren Köpfen erstrahlten einige der Sternbilder deutlicher. Zunächst das Sternbild des Perseus, dann das Sternbild der Kassiopeia und schließlich das des Orion.

»Es ist absolut notwendig«, fuhr Alpha an alle gewandt fort, »dass H.A.D.E.S. in den kommenden Monaten mit höchster Effizienz und Gewissenhaftigkeit vorgeht. Jede unserer Aktionen muss mit der Präzision eines Uhrwerks ablaufen. Nicht ein Staubkörnchen darf ins Getriebe geraten.« Er lächelte maliziös. »Bei alledem hilft natürlich, dass unser einziger relevanter Gegner ebenso ahnungslos wie berechenbar ist.«

Auf dem benachbarten Burghof hörte es sich jetzt so an, als würden die da drüben zu einer Polonaise ansetzen …

Da begannen die Sterne über ihnen an der Kuppel zu erlöschen. Eine bedrohliche Finsternis stellte sich ein, die auch vor den Sternbildern des Perseus und der Kassiopeia nicht Halt machte – bis allein das markante Sternbild des Orion übrig blieb.

Demeter fragte sich noch immer, was Alpha mit Ihr Blick gemeint hatte?

Sie starrte das verbliebene Sternbild an.

Orion?

Plötzlich ahnte sie, worauf es H.A.D.E.S. abgesehen hatte.

Woher wusste der Syndikatsgründer davon? Die Durchführung dieses Protokolls galt heutzutage als völlig unmöglich. Und als Flüchtige konnte sie dabei schon gar nicht helfen.

»Sie haben es ja gehört, allein Ihr Blick ist entscheidend«, war in ihrem Rücken überraschend Shadows Flüsterstimme zu hören.

Erschrocken schreckte Demeter herum – besser gesagt, sie versuchte es. Doch es blieb bei dem Versuch, da die Irre sie längst mit ihrem Cyberarm gepackt hatte und ihren Kopf nun wie einen Schraubstock umfasst hielt. Demeter wollte schreien, stattdessen spürte sie einen kräftigen Ruck und hörte noch das Knacken ihres Genicks.

HELENA

Lena setzte zu einem beherzten Sprung an, zog sich kraftvoll auf die hohe Mauer und sah sich unmittelbar dahinter mit einem tiefen Graben konfrontiert. Geschickt hangelte sie über den Sims, stemmte ihre Beine so gegen die rückwärtige Mauerseite, dass sie ihre volle Sprungkraft einsetzen konnte, und katapultierte sich mit einem wuchtigen Stoß auf die gegenüberliegende Seite der Grube, wo sie sich gekonnt abrollte und wieder auf die Beine kam. Noch im Aufstehen löste sie eine Handgranate von ihrem Gürtel und schleuderte diese auf die mehr als sieben Meter entfernte Zielmarkierung.

Treffer!

»Yessss!« Triumphierend reckte Lena ihre geballte Faust und stöhnte schmerzerfüllt auf, da sich sofort der elende Muskelkater in ihrem Oberarm bemerkbar machte. Derweil hüpfte ihr elektronisches Alter Ego auf dem Bildschirm der Spielekonsole noch immer begeistert auf und ab.

»Das hört sich so an, als hättest du die Hindernisstrecke geschafft«, quäkte neben ihr Elektras Stimme aus dem Handy, während im Hintergrund das leise Klappern einer Tastatur zu hören war.

»Ja, in acht Minuten und sechzehn Sekunden. Allerdings muss ich den blöden Militärparcours jetzt auch noch in echt schaffen.«

Lena schaltete die Spielekonsole ernüchtert aus und strich die halblangen blonden Haare beiseite, um sich das Smartphone ans Ohr zu klemmen. Anschließend setzte sie sich auf das schmale Bett ihres Rekrutenzimmers, wo sie gequält die Muskulatur ihres Arms massierte. Dabei gab es streng genommen überhaupt keine Stelle ihres Körpers, die nach den zurückliegenden Monaten harten Agententrainings nicht schmerzte.

Zugegeben, ihr Hinterteil war dadurch knackiger geworden. Deutlich knackiger sogar. Dafür schaffte sie es derzeit ohne Schmerzen kaum noch in eine Hose. Mal davon abgesehen, dass es hier oben, in der Abgeschiedenheit der Südtiroler Bergwelt, wo das geheime A.R.G.O.S.-Ausbildungscamp lag, eh fast niemanden gab, den sie mit so was beeindrucken konnte. Schon gar nicht die übrigen sechs Rekruten, die hier zusammen mit ihr trainiert wurden. Allesamt Kraftpakete, die schon bei ihrer Ankunft so gewirkt hatten, als könnten sie problemlos eine Flasche Hair-Conditioner mit ihren Oberschenkeln zerdrücken.

»Das ist eine ganz hervorragende Zeit«, meinte ihre lettische Agentenfreundin anerkennend.

»Schon«, antwortete Lena. »Aber seien wir ehrlich: Ich bin noch immer so sportlich wie eine welke Primel.«

Sie seufzte schwer. Dabei hatte alles so gut begonnen. Schließlich war es erst ein knappes halbes Jahr her, dass sie diesen durchgeknallten Monarchenbräukönig Carl Pichler fast im Alleingang gestellt und Europa so vor dem Zusammenbruch bewahrt hatte.

Und was hatte sie sich doch über die offizielle Aufnahme bei dem Geheimdienst und die versprochene Ausbildung zur A.R.G.O.S.-Agentin gefreut. Sogar einen richtigen Codenamen hatte sie erhalten: Helena!

Ein Name, der Erwartungen weckte – und nebenbei natürlich auch ziemlich cool war. Ihre berühmte Namenspatronin galt immerhin als schönste Frau ihrer Zeit, und dass Lena in Schweden ebenfalls von einem Paris entführt worden war, passte doch wie die Faust aufs Auge. Okay, der Mistkerl war zwar ein Verräter gewesen, dennoch …

Wenn Lena jedoch ehrlich zu sich war, dann hatte sie sich all das hier irgendwie anders vorgestellt. Wie genau, wusste sie zwar selbst nicht so recht zu sagen, aber doch zumindest weniger … anstrengend.

Und auch nicht so öde.

Das fing schon bei dem ewig gleichen Tagesablauf an, der im Camp streng durchgetaktet war. Morgens, fünf Uhr früh, Morgenappell. Bettruhe ab 23 Uhr. Dazwischen waren die Stunden vollgepackt mit unterschiedlichen Trainings- und Ausbildungseinheiten, die leider nicht bloß den Geist, sondern vor allem ihren geschundenen Körper forderten. Und gerade bei Letzteren war sie ehrlich gesagt … weniger gut.

Das animierte Übungsprogramm, das die aktuellen Trainingspläne grafisch umsetzte, war Elektras Idee gewesen. Ihre lettische Agentenfreundin war eine begnadete Computerspezialistin und Hackerin, und sie hatte das als Spiel getarnte Programm eigens für sie entwickelt, um ihr so einen kleinen Startvorteil für die anstehende Woche zu verschaffen.

Gebracht hatte es bislang leider wenig.

Abgesehen davon vielleicht, dass Lena so wenigstens wusste, welche Schikanen sie erwarteten. Aber es sollte wohl auch eher der mentalen Vorbereitung dienen.

Mental reichte aber leider nicht. Nur wagte Lena ihre Zweifel nicht zur Sprache zu bringen, da sich Elektra doch solche Mühe gab, sie zu unterstützen.

»Hey, ich bin mir sicher, du wirst mit jedem Tag besser«, gab sich ihre Freundin zuversichtlich. »Ich bin ja ebenfalls nicht gerade der Sportcrack. Trotzdem habe ich das Camp damals überstanden. Und das will was heißen.«

Lena erinnerte sich nur zu gut an die pummelige Figur ihrer Freundin. Allerdings tröstete sie das nicht, sondern frustrierte sie nur noch mehr – als sie ein leises Geräusch an der Tür ihrer Rekrutenstube vernahm.

Da war jemand. Mist!

»Warte, Elektra!«, wisperte sie alarmiert.

Telefonate waren im Camp zwar nicht grundsätzlich verboten, blieben jedoch auf wenige Stunden am Abend beschränkt und durften auch nur mit speziellen, nicht zu ortenden Geräten geführt werden. Erwischte man sie hier mit ihrem Privathandy, konnte sie gleich die Koffer packen. Wie auch immer Elektra dafür gesorgt hatte, dass sie hier oben überhaupt eine Verbindung bekam, Lena wollte keinesfalls riskieren, dass sie am Ende noch mit ihr aufflog. Oder noch schlimmer, dass gar herauskam, dass sich die Lettin für sie illegal Zutritt zu den Computern des Ausbildungscamps verschaffte, um so an die Trainingspläne zu gelangen.

Lena versteckte das Handy daher hastig unter dem Kissen, straffte ihren blauen Trainingsanzug und trat vor die Zimmertür.

»Wer ist da?«

Da sich niemand meldete, öffnete sie die Tür draufgängerisch. Doch anstelle einer ihrer Kameraden, stand im Gang bloß Jupiter, der mit treuen Hundeaugen zu ihr aufblickte.

»Ach, du bist das, du Schlingel.« Lena lächelte bei dem Anblick des Schäferhundes und fuhr dem einstigen Sprengstoffspürhund, der in der geheimen Einrichtung seinen Alterssitz hatte, liebevoll über das Fell.

Jupiter schlüpfte an ihr vorbei in das spartanisch eingerichtete Zimmer und schnüffelte sogleich an der Schublade ihres Nachttisches. Lena sah sich draußen noch einmal misstrauisch um, doch alles, was sie wahrnahm, waren leise Gesprächsfetzen aus Richtung des Aufenthaltsraums am Ende des Ganges. Dort saßen vermutlich zwei oder drei ihrer Kameraden und genossen die Trainingspause. Ohne sie.

Wie so häufig.

Rasch schloss sie die Tür und fischte das Handy unter dem Kissen hervor.

»Sorry. Bin wieder da. Hab bloß gerade Besuch bekommen.«

»Besuch?«, fragte Elektra alarmiert.

Lena richtete ihren Blick auf Jupiter, der sie erwartungsvoll anhechelte. Der Schäferhund erinnerte sie stets ein wenig an sie selbst, denn er wurde im Trainingscamp ebenfalls hauptsächlich als lästiges Faktotum betrachtet. Niemand kümmerte sich richtig um ihn, und seine Wachdienste waren in dieser Abgeschiedenheit auch eher nutzlos.

»Ja, mein bester Freund hier: vier Beine, ständig feuchte Schnauze und stets einen riesigen Appetit.«

»Ah, verstehe«, meinte Elektra deutlich entspannter. »Lass dich nicht aufhalten. Ich muss hier eh noch was vorbereiten.«

Lena wandte sich wieder an Jupiter. »Sweety, du weißt doch ganz genau, dass du bei den Unterkünften nichts zu suchen hast. Und Schokolade ist Gift für dich.«

Mahnend hob sie einen Finger, nur um ihre Nachttischschublade schließlich doch aufzuziehen und einen Schokoriegel hervorzukramen, den Jupiter gierig beäugte. Lena riss ihn auf und brach vorsichtig ein winziges Stückchen davon ab. Jupiter schnappte danach, verschlang die Leckerei begierig und wartete sehnsüchtig auf einen weiteren Happen.

»Nix da, kommt nicht in Frage!« Sie legte den Rest des Riegels zurück in die Schublade, strubbelte Jupiters Fell und schob den Hund wieder raus auf den Gang, wo er leise winselte.

»Wir gehen später Gassi, okay? Und jetzt fort mit dir, bevor noch jemandem auffällt, wo du dich schon wieder rumtreibst.«

Jupiter trottete in Richtung Aufenthaltsraum. Lena schloss die Tür, wechselte das Handy auf die andere Kopfseite und setzte sich wieder auf ihr Bett.

»Wo waren wir?«

»Bei deiner Ausbildung«, erklärte die Lettin. »Erzähl, wie war deine letzte Woche?«

»Okay«, antwortete Lena lahm.

»Okay?«, fragte Elektra misstrauisch. »Letzte Woche hattet ihr doch Training im Feld, richtig? Meintest du nicht, dass du froh wärst, mal rauszukommen?«

»Ich sagte doch«, sagte Lena mürrisch, »war okay.«

»Warte, da ich eh gerade bei euch im System bin, kann ich mir die Bewertungsbögen auch gleich mal … oh.«

»Was machst du da?« Lena fuhr aufgeschreckt hoch, was ihr Körper sofort wieder mit Schmerzen quittierte.

»Ernsthaft?«, fragte ihre Freundin fassungslos. »Du bist beim Abseilen in diesem Steinbruch fast abgestürzt? Trotz Sicherung?«

»Na ja, ich hatte mich da vielleicht etwas ablenken lassen«, entschuldigte sich Lena kleinlaut. »Du wirst es kaum glauben, aber ich habe in der Wand Versteinerungen gefunden. Trilobiten. Die gibt es seit dem Massenaussterben vor 251 Millionen Jahren nicht mehr. Daher …«

»Und bei der Überquerung dieses Wasserhindernisses bist du …«

»Das war kein einfaches Wasserhindernis, sondern ein reißender Wildbach«, fuhr ihr Lena gereizt ins Wort. »Hier oben im Gebirge ist es übrigens auch saukalt. Steht da nicht, dass ich es selbst wieder rausgeschafft habe?«

»Doch«, murmelte ihre Freundin. »Knappe dreihundert Meter bergabwärts. Und bei der Bergungsübung mit dem Hubschrauber hast du ernsthaft …«

»Echt, Elektra. Ich gebe mir hier wirklich alle Mühe.« Lena schnaubte niedergeschlagen. »Wir dürfen hier zwar alle nicht viel über uns verraten, aber es ist ziemlich klar, dass die anderen allesamt aus dem Militär- oder Polizeidienst rekrutiert wurden. Jemand wie ich hat es da wirklich nicht leicht.«

»Na ja, du könntest die doch mal fragen, ob sie dir nicht vielleicht irgendwie helfen könnten?«, schlug die Lettin vor.

»Helfen?«

»Ja, ich meine, du hast ja auch einiges zu bieten. Gerade bei den eher drögen Schulungseinheiten wie Dienstrecht, Buchhaltung oder Verfassungs- und Verwaltungsrecht bist du als Sekretärin doch bestens …«

»Ich war Assistentin der Geschäftsleitung!«, korrigierte Lena sie verstimmt.

»Meine ich ja. Gerade als Assistentin der Geschäftsleitung hast du doch Sachen drauf, die umgekehrt den anderen wahrscheinlich schwerfallen.«

»Sagt sich so leicht.« Lena erhob sich mühsam und trat geknickt vor das Fenster ihrer Stube, auf dem sich nicht bloß vage ihre schlanke Gestalt mit den halblangen blonden Haaren spiegelte, sondern das auch einen beeindruckenden Blick auf die verschneite Bergwelt außerhalb bot.

Der geheime Ausbildungskomplex befand sich in einem einsam gelegenen Hotelbau, der von A.R.G.O.S. bewusst als ewige Bauruine getarnt worden war. In der Ferne, unter einem strahlend blauen Himmel, konnte sie die mächtigen Kuppen der Dolomiten ausmachen, und nicht zum ersten Mal erwischte sie sich bei dem Gedanken, wie schön es wäre, wieder in die Zivilisation zurückzukehren. Nicht einmal zu Weihnachten war ihr gestattet worden, ihre Familie zu besuchen. Stattdessen hatte sie krude Ausreden bemühen müssen, warum sie ausgerechnet an den Festtagen geschäftlich unterwegs war. Ihre jüngere Schwester Sophia wunderte sich bereits. Lena war nur froh, dass die mit ihrem neuen Model- und Jetsetter-Leben, das sie streng genommen ebenfalls A.R.G.O.S. zu verdanken hatte, so ausgelastet war, dass sie kaum Zeit zur Entwicklung weiteren Misstrauens hatte.

»Die protzen hier unter der Hand alle mit irgendwelchen Auszeichnungen oder Einsätzen«, fuhr Lena unglücklich fort. »Da komme ich kaum gegen an.«

»Die geben allen Ernstes Details ihrer einstigen Verwendungen preis?«, hakte die Lettin ungläubig nach. »Wenn das rauskommt, dann …«

»Nein«, korrigierte sich Lena rasch. »Natürlich ohne Details zu nennen.«

»Dann mach das doch auch so. Du hast doch gezeigt, dass du es draufhast. Sonst wärst du nicht da oben.«

»Hab ich doch.«

»Und?«

»Irgendwie nehmen die mich trotzdem nicht so richtig ernst, glaube ich. Wären du und Jupiter nicht, dann hätte ich vermutlich schon längst … ach, ich weiß auch nicht.«

»Mädel, du warst als Einzige von denen bei einem echten A.R.G.O.S.-Einsatz dabei. Du hast als Zivilistin den brutalen Anschlag auf deinen Chef überlebt, hast in mehreren Ländern gegen Terroristen und Söldner gekämpft, ein Flugzeug vor dem Absturz bewahrt und, und, und … Und am Ende warst du es, die Pichler so richtig in den Arsch getreten hat.«

»Na ja, wenn wir ehrlich sind, bloß beim Puzzeln besiegt.«

»Das kommt auf das Gleiche raus. Wie können die dich also nicht ernst nehmen?«

»Aber all das unterliegt doch strengster Geheimhaltung«, klagte Lena.

Elektra schnaubte. »Okay, das alles musst du natürlich, sagen wir mal, anonymisieren. Allerdings frage ich mich, was du ihnen bitte sonst erzählt hast?«

»Na ja, all meine anderen Erfolge«, meinte Lena begeistert. »Zum Beispiel, dass ich es fehlerfrei auf weit über siebenhundert Anschläge in einer Minute bringe. Und dass ich schon zweimal einen Steno-Wettbewerb gewonnen habe.«

»Was bitte …?«

»Ja, da staunst du. Es gibt eben Dinge in meinem Leben, die nicht mal du weißt. Nur, dass ich mit so was halt eben nicht ständig pose. Oder wusstest du, dass ich 2016 zur besten Sekretärin Deutschlands gewählt worden bin?«

Lena glaubte, am anderen Ende der Leitung ein kurzes Röcheln zu vernehmen. »Elektra?«, fragte sie besorgt.

»Sorry, hatte mich bloß verschluckt«, japste ihre Freundin, die sich nun räusperte. »Ich wusste gar nicht, dass es solche Wettbewerbe überhaupt gibt. Egal. Wir lotsen dich da schon irgendwie durch. Nur müssen wir zunächst einmal ein anderes Problem lösen.«

»Und welches?«

»Na ja, ich vermute, die haben bemerkt, dass jemand die Trainingspläne runterlädt, und daher die Firewall verstärkt. Ich komme zwar noch über einen anderen Port rein, aber auf den Taktik- und Trainingsserver habe ich im Augenblick keinen Zugriff. Ich überspiele dir daher mal ein Mirror-Programm auf dein Handy.«

»Mirror wie Spiegel? Wenn ich mal dazu komme, mich zu schminken, dann kann ich doch auch einfach die Selfie-Funktion …«

»Lena!«, unterbrach Elektra sie harsch. »Ich spreche von einem hochmodernen Spionageprogramm, das sich via Bluetooth mit anderen Handys verbindet, um so illegal dessen Daten runterzusaugen. Allerdings muss das Zielhandy dafür entsperrt sein. Und du musst auch recht nahe an das Gerät herankommen.«

»Und wozu?«

Elektra stöhnte. »Weil wir auch bei A.R.G.O.S. nicht mehr in den Neunzigern leben, wo alles über Papier läuft. Eure Ausbilder ziehen sich die aktuellen Trainingsdaten zum Wochenende auf ihre Smartphones, und so können wir den Server umgehen. Jetzt verstanden?«

»Okay.« Lena sah, wie auf dem Display ihres Handys ein Ladebalken erschien und das angekündigte Mirror-Programm übertragen wurde.

»Wie geht es eigentlich den anderen?«, fragte Lena verzagt. »Ehrlich gesagt vermisse ich euch alle ja schon ein wenig. Und hier verrät man mir ja nichts.«

»Tja.« Elektra seufzte. »Kirke war angeblich zuletzt in Südamerika. Und Perseus treibt sich meines Wissens auf einem Undercover-Einsatz in Italien herum. Die beiden melden sich nur sporadisch.«

»Echt? Perseus ist in Italien?«, meinte Lena verzückt. »Hat er … ich meine, haben die beiden vielleicht mal nach mir gefragt?«

»Na klar«, erklärte Elektra amüsiert, die natürlich schon lange wusste, wie sehr ihre Freundin heimlich für den Algerienfranzosen schwärmte. Insgeheim hatte Lena ja gehofft, Perseus bei ihrem zurückliegenden Gruppenurlaub auf Tahiti näherzukommen, den A.R.G.O.S. ihnen nach ihrem Erfolg über Pichler spendiert hatte. Doch leider hatte sie sich dort bereits zwei Tage nach ihrer Ankunft eine Fischvergiftung zugezogen, die sie tagelang ausgeschaltet hatte. Inzwischen kam ihr das alles wie ein böses Omen vor.

»Glaub mir«, machte ihr Elektra Mut, »jeder von uns ist schon sehr gespannt, ob du die Ausbildung … also, wann du fertig bist.«

»Und Daedalos?«, fragte Lena.

»Daedalos? Tja … Ja nun, also der … Oh, was sehe ich denn da?«, unterbrach sich Elektra. »Im elektronischen Terminplaner des Prinzipals eures Camps steht, dass für diese Woche dein Name für ein Vier-Augen-Gespräch eingetragen ist.«

»Mein Name?« Lena beugte sich besorgt vor. »Du weißt jetzt aber nicht zufällig, warum, oder? Bislang hat der mich nämlich nicht gerade beachtet.«

»Na, wenn du dir jetzt nicht irgendwelche weitere Verfehlungen erlaubt hast …«

Lena schwieg.

»… dann könnte das dein erstes Verwendungsgespräch sein. Wäre gegen Ende des ersten halben Ausbildungsjahrs nicht ungewöhnlich.«

»Echt?« Lena schlug sich aufgeregt vor den Mund. »Du meinst, dann geht es endlich bald wieder richtig los?«

»Gemach. Keine Ahnung, aber ja. Vielleicht. Ein Grund mehr, dich nicht mehr kleinkriegen zu lassen.«

»Versprochen!«, erklärte Lena kämpferisch.

»Ah, gerade sehe ich, dass die Übertragung des Mirror-Programms abgeschlossen ist«, meinte Elektra zufrieden. »Die App befindet sich jetzt auf deinem Handy. Es liegt nun an dir, ob wir weiter an die Trainingspläne gelangen.«

»Okay.«

»Also, von jetzt ab gilt es, voll aufzudrehen und zu zeigen, was in dir steckt!«

»Logo. Werde ich. Schon wegen des Verwendungsgesprächs!«

»Sehr gut! Wie lautet die A.R.G.O.S.-Losung?«

»Treue, Tapferkeit und Tod!«

»So muss das! Und jetzt sieh zu, dass du dir den Respekt deiner Kameraden verdienst. Du bist Agentin Helena. Du rockst die alle!«

»Na gut.«

»Geht das auch mit etwas mehr Enthusiasmus?«

»Ja.«

»Wie meinen?«

»Jaaa.«

»War das alles?«

»JAAAAAAAAA!«

Lena hämmerte mehrmals bekräftigend gegen die Wand – als es unvermittelt an der Tür klopfte.

»Scheiße. Ich muss Schluss machen«, flüsterte sie erschrocken. Sie drückte das Gespräch weg, versteckte das Handy unter dem Kopfkissen und erhob sich von ihrem Bett.

»Ja?« Sie öffnete die Stubentür einen Spalt breit.

Draußen im Gang stand einer ihrer Kameraden, ein dunkelhaariger und ziemlich breitschultriger Schotte mit dem Codenamen Autolykos. Er bezeichnete sich selbst allerdings lieber als ›War-Machine‹ und war hier definitiv einer der Besten.

Amüsiert blickte er erst sie an, dann an ihr vorbei zu dem zerwühlten Bett.

»Bist du fertig?« Er grinste breit. »Die Wände sind hier übrigens ziemlich dünn. Ich soll dir Bescheid sagen, dass in zehn Minuten das Kampftraining losgeht. Wir sollen pünktlich sein.«

Er zwinkerte ihr anzüglich zu und zog sich noch immer feixend in Richtung Gruppenraum zurück.

Lena blickte ihm verwirrt hinterher – als sie plötzlich begriff.

Das Blut schoss ihr ins Gesicht.

Wieso musste so was immer ihr passieren? Andererseits … Sollte der Kerl doch denken, was er wollte. Schon bald war sie hier weg. Aber vorher würde sie ihm und den anderen noch zeigen, was in ihr steckte.

Verärgert wechselte sie das muffig riechende Handtuch in ihrer bereitliegenden Sporttasche aus, steckte das Handy in die Tasche, verließ die Stube und marschierte den Gang rüber in den Gruppenraum, der jetzt bis auf einen Tisch und mehrere herumstehende Stühle leer war. Auf dem Tisch lag eine ausgelesene italienische Zeitung, die über den kürzlichen Tod von Antonio Cuffaro berichtete, einem berüchtigten Drogenbaron der Cosa Nostra. Überhaupt schien in Europa ein Drogenkrieg entbrannt zu sein, denn das war nicht der erste Artikel zu dem Thema, den sie zu Gesicht bekam.

Schlimmer war, dass keiner ihrer Kameraden auf sie gewartet hatte.

Immerhin lachte ihr der Snackautomat entgegen – und der war zu ihrer Überraschung endlich mal komplett aufgefüllt. In den untersten Fächern befanden sich sogar einige diese Schweizer Nougatleckereien, die sie so gern mochte.

»Visby!«, sprach sie die omnipräsente A.R.G.O.S.-KI an, die auch hier im Ausbildungscamp alle elektronischen Vorgänge lenkte. »Einmal die siebzehn und zweimal die neunzehn.«

»Stimmauthentifizierung erfolgreich, Agentin Helena«, ertönte über ihr an der Decke die bekannte weibliche Computerstimme. »Ich freue mich, Sie im Pausenraum zu begrüßen. Aufgrund der hohen Nachfrage mussten die Zugriffsrechte auf die Imbisse der Fächer fünfzehn bis zwanzig mit einem höheren Level versehen werden. Sie verfügen bedauerlicherweise nur über Clearance 1. Ich empfehle daher die Salzstangen. Fach 4.«

Fassungslos starrte Lena den Snackautomat an. Die allgemeine Knausrigkeit bei A.R.G.O.S. kannte sie ja schon. Der Geheimdienst war ja nicht ohne Grund einst von Buchhaltern und Prokuristen gegründet worden. Aber die Ausgabe der Snacks an ihre Sicherheitsstufe zu koppeln, übertraf an Schikane alles, was sie hier bislang erlebt hatte. Wie Visby sie auf solch schäbige Weise daran erinnerte, dass sie ihren einstigen Götterstatus verloren hatte, war zudem mehr als demütigend. Er war ihr damals von ihrem Chef Doktor Fink kurz vor seinem Tod übertragen worden. Lena hatte erst später erfahren, dass dieser innerhalb von A.R.G.O.S. unter dem Codenamen Poseidon firmiert hatte, und somit ein geheimes Mitglied des Olymps, des aus zwölf Männern und Frauen bestehenden Führungszirkels der Agentenorganisation, gewesen war.

Betrachtete man ihren jetzigen Status, hatte sie tiefer eigentlich nicht sinken können.

Gewissermaßen unter den Wert eines Schokoriegels.

Lena blickte sich verstohlen nach etwaigen Kameras um, trat wütend gegen den Automaten und verließ den Raum endgültig, um über einen der kahlen Hotelflure nach unten zu den Sporträumen zu gelangen. Die Doppeltür der Sporthalle stand einen Spalt auf, und so konnte sie von dort bereits die schneidende Stimme ihrer neuen Zweikampfausbilderin hören: Agentin Otrere.

Die versierte A.R.G.O.S.-Veteranin war erst vor drei Wochen auf dem Stützpunkt eingetroffen und genoss bereits vom ersten Tag an den ungeteilten Respekt ihrer Kameraden.

»… ist Mitleid das Letzte, was sie erwarten dürfen, Ladys und Gentlemen. Und auch Ihnen werde ich jede dieser Regungen abtrainieren. So lange, bis Sie eines begreifen: Gott kennt Gnade, A.R.G.O.S. nicht!«

Lena schlüpfte hastig in die kleine Halle, in deren Mitte einige Matten zu einem großen Quadrat ausgelegt worden waren. Sie sah, dass die übrigen sechs Anwärter dort bereits samt ihren blauen Trainingsanzügen und hinter den Rücken verschränkten Armen Aufstellung genommen hatten. Vier Männer, zwei Frauen. Und natürlich waren ihre Blicke fest auf Agentin Otrere gerichtet, die sich in derselben martialischen Pose vor ihnen aufgebaut hatte, und deren roter Bürstenschnitt sich deutlich von jenen der Umstehenden abhob.

Der drahtigen, etwa vierzig Jahre alten Italienerin eilte der Ruf voraus, für den Geheimdienst bereits Einsätze geleitet zu haben, als sich Lena noch im Teenageralter befand. Da die Besatzung hier oben im Gebirge eher klein ausfiel, war Otrere sowohl für die Taktik- als auch die Nahkampfausbildung der Rekruten zuständig. Und dafür war sie als Meisterin zahlloser Kampftechniken, darunter Karate, Krav Maga und Eskrima, wie geschaffen. Dass sie hierher versetzt worden war, hatte dem Flurfunk nach damit zu tun, dass Otrere irgendwann gegen einen russischen Agenten den Kürzeren gezogen hatte. Angeblich mit der Folge eines Trommelfellrisses. Seitdem kam sie für den aktiven Dienst nicht mehr in Frage. Etwas, was vermutlich auch ihre dauernde schlechte Laune und natürlich den Umstand erklärte, warum sie sich ständig veranlasst sah, sie anzubrüllen.

»Aus diesem Grund werden wir heute …«

Otrere brach ab und wandte sich verärgert zu ihr um, während Lena mit ihrer Tasche in die Halle schlich.

»Agentin Helena, wie schön, dass Sie uns die Ehre erweisen.«

»Bin ich etwa zu spät?«, fragte Lena zaghaft.

»Aber nein, wir haben uns hier bloß zu einem kleinen Willkommenskomitee für Sie versammelt.«

»Echt?« Lena lächelte unsicher, als Otrere auch schon wieder losbrüllte.

»ALLERDINGS SIND SIE ZU SPÄT! Und zwar«, sie blickte geringschätzig auf ihre Armbanduhr, »eine Minute und sechzehn Sekunden! Und jetzt hierher mit Ihnen. Und zwar pronto!«

Lena warf ihre Tasche auf eine der Bänke und nahm rasch neben Autolykos Aufstellung, dessen Lippen zuckten, als sie an seine Seite trat.

»Sie glauben vielleicht, gut zu sein«, wandte sich Otrere nun wieder an alle. »Sie glauben vielleicht, dass es reicht, was Ihnen Ihre einstigen Ausbilder beigebracht haben – sofern Sie da überhaupt etwas gelernt haben …« Ihr Blick wanderte hinüber zu Lena. »Nur muss ich Sie enttäuschen. Denn gut ist für A.R.G.O.S. eben nicht gut genug. Und heute werden wir die Spreu vom Weizen trennen. Das gilt insbesondere für jene unter Ihnen, die glauben, dass eine gewisse Protektion durch die Führungsetage reicht, um zur Elite zu gehören.«

Lena ahnte, wen sie meinte.

»Sie werden mir daher heute zeigen, was in Ihnen steckt. Was Sie abseits der Regeln draufhaben! Denn da draußen auf der Straße kämpft niemand fair. Da geht es allein ums nackte Überleben. Also«, einladend deutet sie in Richtung Waffenwand mit den dort hängenden Schlagstöcken, Nunchakus und anderen stumpfen Waffen, in deren Gebrauch sie hier unterwiesen wurden, »bedienen Sie sich an allem, was Sie als nützlich erachten. Anschließend suchen Sie sich einen Partner, mit dem Sie heute einen Kampf wie in den guten alten Zeiten austragen werden.«

»Und das heißt was genau?«, fragte Lena verunsichert.

»Bis aufs erste Blut, Agentin Helena!« Otrere musterte sie herrisch. »Aber machen Sie sich keine Sorgen, die Krankenabteilung wurde angewiesen, sich bereitzuhalten.«

Lena sackte das Herz in die Hose, als sie sah, wie all die Kraftpakete um sie herum losmarschierten, um sich mit den unterschiedlichsten Schlagwaffen auszurüsten. Sie selbst entschied sich nach einigem Zögern für zwei schlichte Kampfstöcke, bei denen es sich um die einzigen Waffen handelte, deren Gebrauch sie in den zurückliegenden Monaten zumindest grundlegend beherrscht hatte. Dabei sah sie, wie ihre Kameradin Ariadne, eine an Armen und Oberkörper stark tätowierte Spanierin mit halblangen dunklen Haaren, heimlich auch noch einen kleinen Hartgummiball einsteckte.

»Das habe ich alles schon mal schneller gesehen!«, brüllte hinter ihnen Otrere. »Los jetzt, suchen Sie sich Ihre Sparringspartner!«

Lena wollte Ariadne bereits ansprechen, doch die ignorierte sie geflissentlich und tat sich stattdessen mit Myrina zusammen, der einzigen anderen Frau hier, und nach Lena selbst auch die einzige andere Deutsche. Bei ihr handelte es sich um eine brünette Kampfschwimmerin, mit der Lena leider nur sehr wenig gemeinsam hatte.

Es war überhaupt wie sonst auch. Denn relativ schnell fanden die Paarungen zusammen – nur sie blieb allein.

Allerdings war das diesmal vermutlich sogar von Vorteil.

»Agentin Helena!«, dröhnte auch schon die laute Stimme Otreres an ihre Ohren.

»Wie ich sehe, sind Sie allein.«

Lena blickte ihre Ausbilderin gekränkt an, während die übrigen Rekruten ihr mehr oder minder offen mitleidige Blicke zuwarfen.

»Na ja«, Lena deutete zu einem Boxsack in der Hallenecke. »Ich kann ja da hinten in der Zwischenzeit mit meinen Übungen weitermachen.«

»Kommt überhaupt nicht in Frage!« Otrere verengte mitleidlos ihre Augen und nickte Autolykos zu.

»Autolykos, ich weiß, einige hier betrachten das als Zeitverschwendung, aber wären Sie so freundlich, sich Ihrer Kameradin anzunehmen? Ich möchte sicherstellen, dass die Agentin ein für alle Mal begreift, worauf es bei uns ankommt. Danach dürfen Sie und Glaukos«, sie nickte dem drahtigen Tschechen an seiner Seite zu, »sich gern ebenfalls auf ein Tänzchen in unsere Mitte wagen. Ich bin mir sicher, Ihr Kamerad wird Ihnen diese Aufwärmminute gerne gewähren.«

Der Schotte schnaubte und lockerte seinen Stiernacken knackend, während er Lena bedauernd betrachtete.

Lena schluckte.

»Und nun, nehmen Sie Aufstellung.« Otrere fixierte Lena mit bösem Lächeln. »Myrina, Adriane, Sie beide bestreiten die erste Runde. Zeigen Sie uns, was in Ihnen steckt!«

Lena trat wie alle Übrigen an den Rand des Kampfplatzes und sah zunehmend eingeschüchtert dabei zu, wie ihre beiden Mitstreiterinnen einander lauernd umkreisten. Ariadnes Blick wirkte hart, und als Hauptwaffe hatte die Spanierin ein Nunchaku gewählt. Die Deutsche erwiderte ihren Blick ebenso mitleidlos, während sie sich mit einem Bokutō, einem japanischen Holzschwert, kampfbereit machte.

Otrere schürzte die Lippen, und Lena war sich absolut sicher, dass sie der Schaukampf nur noch mehr verunsichern sollte. Offenbar legte es die Italienerin darauf an, dass sie verängstigt die Flucht ergriff. Und kurz überlegte Lena tatsächlich, klein beizugeben. Aber lieber würde sie sich hier verprügeln lassen, als ihr diese Genugtuung zu geben.

Schon stürzten die beiden Rekrutinnen los und droschen mit ihren Waffen aufeinander ein. Und das schneller, als Lena mit den Blicken folgen konnte. Die Halle war jetzt von wüsten Kampfschreien erfüllt, während die Waffen der beiden Frauen rasend schnell aufeinander krachten. Der harte Klang von Holz gegen Holz ertönte, beide Frauen wichen kunstvoll Hieben aus und entgingen mit beherzten Sprüngen Schlägen, wann immer eine der beiden glaubte, die Deckung der anderen durchbrechen zu können. Dann wickelte sich der Nunchaku Ariadnes plötzlich um den Schaft des Bokutōs ihrer Gegnerin. Wüst zerrte die Tätowierte an ihm, um Myrina so die Holzklinge zu entreißen, doch überraschend überlistete die ehemalige Kampfschwimmerin die Spanierin. Sie verpasste ihr einen wüsten Tritt gegen die Brust und entriss ihr ihrerseits die tückische Schlagwaffe. Bevor sie jedoch weiter auf ihre Gegnerin eindreschen konnte, hielt Ariadne den Hartgummiball in der Hand, den sie der Deutschen brutal ins Gesicht schleuderte. Myrinas Nasenbein knackte, die überrumpelte Deutsche schrie gequält auf, und Ariadne nutzte die kurze Ablenkung gnadenlos dazu aus, aufzuspringen, den Bokutō beiseitezuprellen und Myrina mit zwei, drei harten Schlägen gegen den Kopf den Rest zu geben.

Die Deutsche stürzte mit blutbesudeltem Gesicht zu Boden, und Ariadne nahm sie unbarmherzig in den Würgegriff.

»Sehr gut!« Otrere nickte zufrieden und brach den Kampf fast bedauernd ab.

Ariadne erhob sich, und es dauerte eine Weile, bis ihre stöhnende Gegnerin wieder auf die Beine kam. Blut troff aus Nase und Mund der Deutschen und benetzte rot die Matten.

»Du Miststück, das mit dem Ball war nicht fair«, ächzte Myrina.

»Schieben Sie sich Ihre Fairness sonst wo hin«, kommentierte Otrere die Äußerung erbarmungslos. »So lautete die Ansage. Und jetzt die nächsten beiden.«

Die Italienerin warf Lena und dem Schotten einen scharfen Blick zu.

»Tut mir leid, aber ich kann dich leider nicht schonen«, wisperte Autolykos leise. »Diese Woche stehen gerüchtehalber erste Verwendungsgespräche an. Ich hoffe, dafür hast du Verständnis.«

Woher, zum Teufel, wusste auch er davon?

»Schon okay«, meinte Lena mit dünner Stimme. »Ich werde dich … natürlich auch nicht schonen.«

Zittrig trat sie auf das blutbesudelte Mattenfeld und hob ängstlich ihre Kampfstöcke.

Autolykos baute sich derweil gegenüber mit einem Langstock auf, den er zweimal kunstvoll um seinen Oberkörper wirbelte, bevor er in eine federnde Haltung wechselte, sie fixierte und die Waffe nun wie einen Speer auf sie richtete.

Lena begann zu schwitzen, ohne sich auch nur ein Stück bewegt zu haben.

Schon sprang Autolykos auf sie zu und stach dabei unbarmherzig mit dem Langstock auf sie ein.

Lena begriff kaum, wie ihr geschah, doch irgendwie übernahmen ihre Reflexe, und sie schaffte es tatsächlich, den schnell ausgeführten Stichen standzuhalten, indem sie diese mit ihren Kampfstöcken irgendwie am Körper vorbei lenkte. Ihr gelang sogar selbst ein halbherziger Schlag – als ihr Kampfglück auch schon endete. Denn im nächsten Moment zuckte der Langstock des Schotten wie der Kopf eine Kobra vor, nur, um ihr erst den einen, dann den anderen Stab schmerzhaft aus den Händen zu prellen.

Schockiert wich Lena zurück, als sie sah, wer sich in die Halle Einlass verschaffte. Laut stieß sie einen Pfiff aus.

Im nächsten Moment wirbelte die Waffe ihres Gegners abermals durch die Luft, und der Schotte säbelte ihr fast beiläufig die Beine weg – als hinter ihm auch schon ein Schatten heranhuschte und ihn knurrend anfiel: Jupiter!

Autolykos wirbelte erschrocken herum, versuchte, den Schäferhund noch abzuwehren, und rutschte auf der Blutlache aus. Hart stürzte auch er zu Boden, während sich Jupiter knurrend in seinem linken Arm verbiss.

»Verdammtes Mistvieh!« Aufgebracht prügelte Autolykos auf den Hund ein, als Lena auch schon wieder auf und heran war.

»Wage es nicht, Jupiter wehzutun!«

Mit aller Kraft trat sie Autolykos in die Kronjuwelen und riss den Schäferhund von ihm fort. Der Schotte heulte auf und krümmte sich schmerzerfüllt.

»Gewonnen!«, jubelte Lena voller Genugtuung, während sie Jupiter weiter mühsam zurückhielt. Noch immer fletschte der Schäferhund die Lefzen und knurrte drohend.

In der Halle herrschte eine ohrenbetäubende Stille, die nur von dem Ächzen des Schotten durchbrochen wurde, der sich wechselnd die malträtierte Stelle zwischen seinen Beinen und die blutende Bisswunde hielt.

»Ich fasse es nicht!«, brüllte Otrere plötzlich los. »Wo kommt die verdammte Töle her?! Agentin Helena, Sie glauben doch wohl nicht, dass …«

»›Bedienen Sie sich an allem, was Sie hier finden‹«, unterbrach Lena sie trotzig, während sie Jupiter mit mahnend erhobenem Zeigefinger Platz nehmen ließ. »Ihre Worte. Der Kampf auf der Straße ist eben nicht fair!«

Sprachlos starrte ihre Ausbilderin sie an, und auch die Kameraden warfen sich ungläubige Blicke zu – als die angenehme Stimme Visbys von der Hallendecke hallte.

»Agentin Helena, bitte finden Sie sich umgehend im Büro des Prinzipals ein.«

Die KI wiederholte ihre Aufforderung, und fragend blickte Lena Otrere an.

»Los, verschwinden Sie!«, giftete diese. »Und nehmen Sie den verdammten Köter mit!«

»Also habe ich gewonnen?«

»RAUS!«

Lena trat an Autolykos heran und reichte ihm ihre Hand, doch der Schotte schüttelte wütend den Kopf. Mühsam kam er von alleine wieder auf die Beine.

»Jupiter, bei Fuß!«

Hocherhobenen Hauptes sammelte Lena ihre Sporttasche ein und marschierte flankiert von Jupiter und unter den Blicken aller anderen aus der Halle.

»Boah, waren wir beide gut!«, jubelte sie leise, kaum dass sie die Hallentür hinter sich geschlossen hatte. Diesmal richtig.

Liebevoll knuddelte sie den Schäferhund, der ihr einmal quer über das Gesicht leckte. »Ich verspreche dir, Sweety, das gibt nachher ein weiteres Leckerli.«

Noch immer sah Lena die fassungslosen Gesichter von Otrere und all den anderen im Geiste vor sich. Und erstmals seit Langem fühlte sie sich wieder so energiegeladen wie damals, als sie mit Perseus, Elektra, Kirke und Daedalos ihren ersten Einsatz erlebt hatte.

Jupiter kläffte und lief sogleich in Richtung der Unterkünfte, doch Lena wiegelte ab. »Tut mir leid, aber ich habe jetzt ein wichtiges Gespräch. Nachher, okay?«

Unter den traurigen Blicken des Schäferhundes marschierte sie zum Trakt der Geschäftsführung, bis sie schließlich vor einer Tür stand, über der eine Überwachungskamera in Gestalt eines Auges inmitten eines auf dem Kopf stehenden Dreiecks zu sehen war.

Das Erkennungszeichen von A.R.G.O.S.

Das Auge stand sinnbildlich für das vieläugige Monster gleichen Namens aus der griechischen Mythologie, die drei Spitzen des Dreiecks hingegen für die Eide, die jeder Agent zu leisten hatte: Treue, Tapferkeit und Tod.

Und sie war bereit dafür.

Schon lange.

Die Tür summte und sprang auf. Gespannt betrat sie einen Korridor, dessen Wände ähnlich wie bei den Kontoren des Geheimdienstes, den verborgen über ganz Europa verstreut liegenden Stützpunkten von A.R.G.O.S., von historischen Gemälden geziert wurden. Eines zeigte eine dieser dickbäuchigen Hansekoggen auf hoher See, jene altertümlichen Handelsschiffe des Hansebundes, in dessen Tradition sich der Geheimdienst wähnte. Auf den übrigen Gemälden waren Wagenzüge vor der Kulisse stolzer Gebirgspässe sowie die altertümlichen Porträts dreier Tiroler Hansegrafen zu sehen. Lena hob interessiert eine Augenbraue, denn Letzteres deutete darauf hin, dass die Männer einst nicht nur die Interessen ihres Landes gewahrt hatten.