A.R.G.O.S. - Niemand lebt für immer - Thomas Finn - E-Book
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A.R.G.O.S. - Niemand lebt für immer E-Book

Thomas Finn

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Beschreibung

Keine Zeit zu sterben - oder doch?

Die geheimste Geheimdienstorganisation ermittelt in ihrem ersten Fall

Nachdem die unauffällige Assistentin Lena Kaufmann miterlebt hat, wie ihr Chef durch ein professionelles Killerkommando umgebracht wurde, kommt sie in Kontakt mit der geheimen europäischen Agentenorganisation A.R.G.O.S., für die ihr Chef offenbar arbeitete. Als Zeugin und im Besitz von wichtigen A.R.G.O.S.-Geheiminformationen ist nun auch Lena im Visier der Killer. Eine Gruppe um den Agenten Perseus übernimmt ihren Schutz. Gemeinsam folgen sie einer Spur, die ihr Chef noch vor seinem Tod für seine Kollegen gelegt hat. Auf der lebensgefährlichen Jagd entdeckt Lena nicht nur ihre Begeisterung und ihr Talent für das Agentenleben, sondern sie steht auch einem Gegner gegenüber, der nur ein Ziel kennt: die Welt, wie wir sie kennen, zu zerstören.

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Seitenzahl: 711

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Inhalt

CoverÜber das BuchÜber den AutorTitelImpressumWidmungPrologGötterdämmerungDas KontorDonauwalzerSecret SocietyOne hundred thirty feet underSchwedenfeuerSpy GamesDer MonarchenballBlackoutNo way outFlug BR 2442Das OrakelBattle RoyaleEpilog

Über das Buch

Keine Zeit zu sterben – oder doch?

Nachdem die unauffällige Assistentin Lena Kaufmann miterlebt hat, wie ihr Chef durch ein professionelles Killerkommando umgebracht wurde, kommt sie in Kontakt mit der geheimen europäischen Agentenorganisation A.R.G.O.S., für die ihr Chef offenbar arbeitete. Als Zeugin und im Besitz von wichtigen A.R.G.O.S.-Geheiminformationen ist nun auch Lena im Visier der Killer. Eine Gruppe um den Agenten Perseus übernimmt ihren Schutz. Gemeinsam folgen sie einer Spur, die ihr Chef noch vor seinem Tod für seine Kollegen gelegt hat. Auf der lebensgefährlichen Jagd entdeckt Lena nicht nur ihre Begeisterung und ihr Talent für das Agentenleben, sondern sie steht auch einem Gegner gegenüber, der nur ein Ziel kennt: die Welt, wie wir sie kennen, zu zerstören.

Die geheimste Geheimdienstorganisation ermittelt in ihrem ersten Fall.

Über den Autor

Thomas Finn, geboren 1967 in Chicago, studierte Volkswirtschaft und war als Journalist und Autor für diverse deutsche Verlage und Magazine tätig, u. a. als Chefredakteur für das Phantastik-Magazin Nautilus. Seit 2001 arbeitet er als Roman-, Spiele-, Theater- und Drehbuchautor. Er ist mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet worden, u. a. mit der Segeberger Feder. Thomas Finn lebt und arbeitet in Hamburg.

Weitere Informationen über den Autor finden Sie auf seiner Homepage: http://www.thomas-finn.de.

THOMASFINN

A•R•G•O•S

NIEMANDLEBT FÜRIMMER

DIE GEHEIMSTENGEHEIMAGENTEN EUROPASIM EINSATZ

Vollständige eBook-Ausgabe

des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes

Dieser Titel ist auch als Hörbuch erschienen

Originalausgabe

  

Dieses Werk wurde vermittelt durch die Michael Meller Literary Agency GmbH, München.

  

Copyright © 2021 by Thomas Finn

Copyright © 2021 by Bastei Lübbe AG, Köln

Titelillustration: © Ensuper/shutterstock.com | © Colin Thomas, London

Umschlaggestaltung: Johannes Wiebel | punchdesign, München

eBook-Produktion: Dörlemann Satz, Lemförde

ISBN 978-3-7517-0986-6

www.luebbe.de

www.lesejury.de

 

Für meine Mutter.

Sowie für Tanja, Dagmar, Wiebke, Flow und Loki alias Agentin Penelope, Agentin Kassandra, Agentin Atropos, Agent Iason sowie Agent Achilles.

Tut mir leid, dass eure Tarnungen jetzt aufgeflogen sind …

PROLOG

GEHEIMES VERSTECK IN DEN ALPEN, SECHS MONATE ZUVOR

Europa stand vor dem Zusammenbruch.

Grund dafür waren nicht mangelnder Mut, Disziplin oder Entschlossenheit. Auch nicht die Vielzahl an Feinden, die sich längst in Stellung gebracht hatten. Verantwortlich war eine halluzinogene Substanz, die in ihren Adern wütete.

Die Geheimagentin blinzelte benommen und zog sich mühsam an einer Korridorwand empor, die sich im Schein der summenden Neonröhren mal klarer, mal trüber abzeichnete. Selbst der Boden schien zu schwanken, so als stünde sie auf einem Schiff, das hohem Wellengang ausgesetzt war. Nur war das hier kein Schiff. Sie befand sich tief im Innern eines Bergmassivs, aus dem es kein Entrinnen zu geben schien. Längst hatte sie es aufgegeben, nach der Halle mit den Bergwerksmaschinen zu suchen, durch die sie vorgestern in die geheime Anlage eingedrungen war.

Oder vor vier Tagen?

Oder vor einer Woche?

Sie hatte ihr Zeitempfinden verloren. Es war auch egal. In ihrem Zustand wäre es ihr vermutlich eh nicht gelungen zu entkommen. Ihre Ausrüstung war fort, sie stolperte barfuß durch das unterirdische Tunnellabyrinth, und alles, was sie trug, war ein armseliges Krankenhaushemd, das ihr ihre Feinde zugestanden hatten. Und doch musste sie die Welt vor dem warnen, was hier vor sich ging.

Irgendwo in dieser Anlage musste es doch eine Kommunikationseinrichtung geben?

Europa stolperte den Korridor weiter entlang, einer sich verschwommen abzeichnenden Treppe entgegen, als hinter ihr eine dumpfe Detonation die Stille zerriss, die selbst die Grubenlampen zum Flackern brachte. Sie wusste, was das bedeutete. Ihre Häscher hatten die Stahltür, die sie so mühsam verriegelt hatte, aufgesprengt. Kommandos ertönten, denen aufgeregte Rufe und hallende Stiefelschritte folgten.

Benommen drehte sie sich um und versuchte, Schwindel und aufkommende Übelkeit abzuschütteln. Mangels Deckung, vornehmlich aber aus Erschöpfung, ließ sie sich flach zu Boden fallen, versuchte, ihren Herzschlag mittels einer tibetischen Atemübung unter Kontrolle zu bekommen, und brachte die erbeutete Waffe in Anschlag. Bei der Pistole handelte es sich um eine Glock 17. Ein Selbstlader aus leichtem Kunststoff mit Safe-Action-Abzugssystem. Bestehend aus bloß dreiunddreißig Teilen, was sie bei Sicherheitsdiensten und Armeeangehörigen in aller Welt beliebt machte. Wobei diese Waffe ganz sicher aus den Beständen des österreichischen Bundesheers stammte. Europa betete die technischen Details der Waffe wie ein Mantra herunter, um die bleierne Schwere in ihrem Schädel zurückzudrängen. Leider steckten in dem Stangenmagazin nur noch zwölf Patronen. Verzweifelt versuchte sie, die Waffe ruhig zu halten.

Es dauerte nicht lange, und hinter einer Gangbiegung tauchten die Umrisse zweier Männer auf, die bei ihrem Anblick lauthals brüllten und ihre Gewehre auf sie anlegten. Ein Schuss donnerte durch den Gang, und irgendwo schräg hinter ihr schlug die Kugel mit peitschendem Knall in die Korridorwand ein.

Europa feuerte ihrerseits dreimal und vernahm undeutliche Schmerzenslaute. Eine der Gestalten ging zu Boden, die andere wirbelte getroffen herum und wurde von Helfern in Sicherheit gezogen. Genaueres konnte sie nicht erkennen, da wieder Schlieren vor ihre Augen zogen.

»Nicht schießen, ihr Idioten!« Die Stimme des Anführers klang zornig.

Mit einer schier übermenschlichen Kraftanstrengung rollte sich Europa zur gegenüberliegenden Gangwand. Abermals ließ sich ein vorwitziger Schatten blicken, den sie mittels eines Schusses zu Boden streckte.

Noch acht Patronen. Wenn sie richtig gezählt hatte.

Eine bedrohliche Ruhe kehrte ein, und Europas Blick klarte sich allmählich wieder.

Verärgerte Rufe waren zu hören, und zwei weitere Bewaffnete rückten geduckt und im Schutz eines verstärkten Schutzschildes in den Korridor vor. Europa biss die Zähne zusammen, senkte den Lauf der Waffe, um so Beine und Füße ihrer Häscher anzuvisieren. Doch ihre Hände zitterten und waren kaum fähig, die Waffe still zu halten. Sie nahm daher die schräg gegenüberliegende Wand ins Visier, wartete, bis die Männer nahe genug herangekommen waren, und feuerte ihr halbes Magazin ab. Eine der an der Wand abprallenden Kugeln hämmerte gegen den Stahlschild, zwei der Querschläger fanden wie erhofft ihren Weg schräg an dem Schutz vorbei. Schmerzensschreie gellten auf, der Schild kippte, und mit zwei weiteren Schüssen streckte sie die Entblößten nieder. Sie hörte das Stöhnen von Verletzten.

»Beeindruckend. Aber wenn ich richtig gezählt habe, verfügen Sie jetzt nur noch über eine einzige Patrone?«, erklang hinten aus dem Gang eine kalte, irgendwie nasal klingende Stimme.

Europa blinzelte angestrengt, denn hinter den Toten und Verletzten kam eine Gestalt in tiefschwarzem Ledermantel hervor. Ein Kleidungsstück, das an die Mäntel einstiger Wehrmachtsoffiziere erinnerte. Der restliche Aufzug des Fremden ähnelte hingegen dem Wichs, also der traditionellen Kleidung von Burschenschaftlern. Angefangen bei einem schräg getragenen schwarzen Cerevis, wie die Verbindungsstudenten ihre eigentümlichen, runden Kopfbedeckungen nannten. Hin zu einer ebenfalls tiefschwarzen Uniformjacke samt schwarzen Handschuhen mit weißen Gamaschen. Der Kerl trug sogar eine Art Schärpe über der Jacke, die sich bei näherem Hinsehen als Patronengurt entpuppte. Am befremdlichsten jedoch war die schwarze Brille, mit der er sein Antlitz verhüllte. Das seltsame Ding erinnerte an die Paukbrillen schlagender Verbindungen, mit denen die Studenten bei der Mensur ihre Augen schützten. Ähnlich einer Halbmaske bedeckte sie Nase und komplette obere Kopfpartie und vermochte es doch nicht, die grässliche rote Narbe zu verbergen, die sich quer über das Gesicht des Mannes zog. Da die Sichtflächen für die Augen vergittert waren, ähnelte sein Blick mehr dem eines lauernden Insekts denn dem eines Menschen.

Europa wusste, wem sie gegenüberstand. Ihr Gegner wurde innerhalb der Organisation unter dem schlichten Aktenvermerk »UKSC-13« geführt. UK für Unknown, SC für Super Criminal. Da das Erscheinungsbild des bislang unidentifizierten Superverbrechers an eine irre Mischung aus Batman, Burschenschaftler und Wehrmachtsoffizier erinnerte, hatten Eingeweihte ihm einen markanten Namen verpasst: der Paukant.

Der Begriff war in Anlehnung an die Kontrahenten all jener schlagenden Verbindungen entstanden, die sich auf den Paukböden ihrer Verbindungshäuser Narben als Erkennungszeichen beizubringen versuchten. Wenn das tatsächlich der Grund für sein verunstaltetes Gesicht war, musste es den Paukanten einst ziemlich schlimm erwischt haben. Leider war es müßig, sich darüber Gedanken zu machen. Relevant war ausschließlich, dass der geheimnisvolle Killer als Meister seines Faches galt und auch auf den Fahndungslisten anderer europäischer Geheimdienste stand. Interpol jagte ihn, ebenso die CIA sowie der russische Geheimdienst FSB. Dass ausgerechnet er hier vor ihr stand, ließ ihre Zuversicht schwinden.

»Eine … Kugel reicht völlig!«, sprach Europa mit schwerer Zunge. Zunehmend bereitete es ihr Mühe, die Waffe auszurichten. Unmöglich hatte sie eine Chance gegen den Kerl. Insbesondere nicht in ihrem jetzigen Zustand. Eine Erkenntnis, die umso demütigender war, als es ihr Gegner nicht einmal für nötig gehalten hatte, eine Waffe zu ziehen.

»Vielleicht.« Der Paukant schürzte spöttisch die Lippen unter der vergitterten Brille und winkte mit einer Kopfbewegung zwei weitere Bewaffnete heran, die sich neben ihm mit Maschinenpistolen aufbauten. »Bedauerlicherweise können Sie nur einen von uns erwischen. Ihre Flucht ist somit gescheitert.«

Europa stöhnte resigniert. Keinesfalls würde sie sich noch einmal in die Gewalt ihrer Peiniger begeben. Wenn das hier schon das Ende sein sollte, dann würde sie dafür sorgen, dass man sich an sie erinnerte. Vor allem würde sie stehend sterben.

Zittrig richtete sie sich wieder auf, kaum fähig, ihr Gleichgewicht zu halten. Noch immer zielte sie auf den Paukanten, richtete die Pistole dann aber unvermittelt gegen ihre Schläfe. Bunte Schleier wallten vor ihren Augen. »Lebend werdet ihr mich nicht …«

Etwas Dunkles schwirrte über den Korridor auf sie zu. Eine Minidrohne?

Europa versuchte noch, den Abzug ihrer Waffe zu betätigen, als das heransausende Etwas mit einem greller Lichtblitz explodierte und sie von einem erschütternden Knall nach hinten gerissen wurde. Sie stürzte, ihr Kopf schlug schmerzhaft gegen Gestein, die Glock wurde ihr aus der Hand geschlagen, dann wurde es schwarz um sie.

Als sie wieder erwachte, fühlte sie sich fast schwerelos.

Nein, die Bastarde trugen sie, und angesichts ihres dröhnenden Schädels wurde ihr erst allmählich bewusst, dass ihre Handgelenke auf dem Rücken zusammengebunden waren. Auf ihrer Zunge schmeckte sie Blut, durch das beständige Fiepen in ihren Ohren waren aufgeregte Stimmen zu vernehmen, und noch immer rang sie mit der Bewusstlosigkeit. Ohne Zweifel war sie Opfer einer Miniaturblendgranate geworden. Mühsam gelang es ihr, die Lider zu öffnen. Man schleppte sie durch eine Halle im Berg. Dicke Stromkabel lagen im Weg, außerdem glaubte sie, im Hintergrund Arbeiter zu erkennen, die respektvoll Platz machten. Nur berührten sie die Entdeckungen kaum. Ihr war so elend zumute, dass sie schlicht eines bereute: nicht die Gelegenheit gefunden zu haben, dem allen ein Ende zu bereiten.

Erneut fiel sie in die Finsternis.

Als sich das nächste Mal Licht in ihr Bewusstsein stahl, vernahm sie statt Männerstimmen … schwungvolle Marschmusik.

Europa blinzelte verwirrt.

Das war der »Radetzky-Marsch« von Johann Strauss.

War das bereits der Beginn der Folter?

Stöhnend richtete sie sich auf und spürte sofort die Fesselung. Man hatte sie auf einem Stuhl fixiert. Und dieser stand inmitten eines großen Raums, der angesichts der vielen Monitore an den Wänden wie eine Kommandozentrale wirkte. Auf den meisten Bildschirmen waren Gänge und Hallen mit Arbeitern und Bewaffneten zu erkennen. Auf anderen jedoch flimmerten Dokumentationen über Trachten- und Tanzgruppen, Sendungen über Schlösser und Barockbauten und ein TV-Bericht über einen Jagdverein. Sogar ein britischer Royalty-Streamingdienst war zugeschaltet, der irgendeinen belanglosen Beitrag über Meghan und Harry brachte.

Über allem lag weiterhin die Klangdecke des »Radetzky-Marsches«, zu der ein leicht korpulenter Mann mit gegelten, dunklen Haaren, lederner Kniebundhose und grauem Lodenjanker im Takt wippte. Er stand wenige Meter von ihr entfernt und hielt die Arme hinter sich verschränkt, während er durch ein großes Panoramafenster das Treiben in einer großen Berghalle verfolgte. Die dortigen Felswände waren mit Gerüsten bedeckt, auf denen Arbeiter Kabel verlegten, und es gab sogar einen Kran, der eigentümliche technische Gerätschaften zu einem Befestigungspunkt unter der Gewölbedecke beförderte.

Was genau ging da drüben vor sich?

Erst jetzt bemerkte Europa die zwei Bewaffneten in dunkler Kakiuniform samt ihren Maschinenpistolen. Die Männer hatten sich rechts und links vom Fenster aufgebaut und behielten sie misstrauisch im Auge – als ihr Kinn grob von einer weiteren Gestalt angehoben wurde, die nur auf eine Regung von ihr gewartet zu haben schien.

Der Paukant.

Der Killer fixierte sie durch seine vergitterte Brille, lächelte spöttisch und marschierte hinüber zu dem Mann vor dem Fenster, der ihm leicht den Kopf zuneigte, während er zu ihm sprach. Der Unbekannte drehte sich schließlich um, und Europa blickte auf eine grinsende Guy-Fawkes-Maske, mit der ihr Gegenüber sein Antlitz verbarg.

»Unsere kleine Ausreißerin ist also erwacht?« Überlegen sah der Dicke auf sie herab. Allerdings war seine Stimme angesichts der tönenden Marschmusik im Raum kaum zu verstehen. Er wandte sich daher kurz von ihr ab.

»Alexa, mach das aus!«

»Du möchtest ein anderes Lied von Strauss?«, fragte die freundliche Stimme des Voice-Services. Jäh erfüllten die heiteren Klänge der »Tritsch-Tratsch-Polka« den Raum. Die Bewaffneten warfen sich knappe Blicke zu, und selbst der Paukant sah kurz auf.

»Nein, das wollte ich nicht«, versuchte der Maskierte seine Contenance zu wahren. »Ich versuche hier ein Gespräch zu führen. Also Ruhe! Silence!«

»Enjoy the silence«, antwortete die freundliche Computerstimme. Die »Tritsch-Trasch-Polka« brach ab, stattdessen setzten die dumpfen Bässe von Depeche Mode ein.

Wütend zog der Unbekannte eine Pistole unter der Trachtenjacke hervor, richtete sie auf den Sprachassistenten und schoss so lange auf das Gerät, bis es vom Tisch kippte und die Musik im Raum verstummte. Eine unangenehme Ruhe kehrte ein.

Der Mann steckte die Waffe weg, rückte sichtlich beherrscht die Guy-Fawkes-Maske zurecht, verschränkte die Arme wieder hinter dem Rücken und nahm erneut mit leicht gegrätschten Beinen Haltung an. »Also, wo waren wir?«

»Ich glaube bei Ihrem seltsamen Musikgeschmack«, ächzte die Agentin. »Würde auch erklären, warum Sie sich nicht offen zeigen.«

Der Paukant trat mit zwei schnellen Schritten vor und verpasste ihr eine harte Ohrfeige. Europa stöhnte.

Der Maskierte beugte sich vor. »Normalerweise behandelt man Damen in meinem Reich wie Prinzessinnen. Nur befürchte ich, dass Sie dieses Recht durch Ihre Verstocktheit verwirkt haben.«

Europa beugte sich, soweit es ihre Fesselung zuließ, vor und spuckte vor ihm auf den Boden.

»Ihre mangelnde Kooperationsbereitschaft macht all das nicht besser.« Ihr Gegenüber blickte zu jemandem in ihrem Rücken auf. »Was wissen wir über sie?«

Ein unterwürfiger, in Weiß gekleideter, hagerer Mann mit Brille trat in Europas Gesichtsfeld, in dem sie sofort den Arzt wiedererkannte, der sich ihrer bereits während der zurückliegenden Gefangenschaft angenommen hatte. Jetzt war seine Oberlippe aufgeplatzt, und er trug einen Kopfverband, was den Umständen ihrer Flucht zuzuschreiben war.

»Sie, äh, hat sich allen Befragungen widersetzt, bis ich es mit einem Drogencocktail versucht habe, der sie etwas gefügiger machte.« Der Arzt sah sie giftig an und reichte seinem Boss eine Mappe. »Hier finden Sie alles, was ich aus ihr herausholen konnte. Also … bis sie mich überlistet hat.« Er räusperte sich. »Offenbar ist sie Geheimagentin.«

Europa sah wütend zu dem Arzt auf und fragte sich, was sie unter dem Einfluss der Drogen alles preisgegeben hatte.

»BND? MI5? DGSE?« Ungehalten schlug der Maskierte die Mappe auf und studierte die darin befindlichen Papiere. »Sagen Sie schon – welcher dieser Vereine ist uns auf die Schliche gekommen?«

»Keiner von denen. Vielmehr handelt es sich um eine Organisation, von der ich noch nie gehört habe.« Der Mediziner nickte knapp in ihre Richtung. »Deren Agenten scheinen alle unter Codenamen zu operieren. Sie hier nennt sich Europa. Sie hat aber auch noch andere Namen erwähnt. Und doch bin ich mir sicher, dass sie allein gehandelt hat. Insbesondere aber scheint sie für jemanden zu arbeiten, der sich Poseidon nennt.«

Sein Boss studierte eine der Seiten genauer. »Und diese Organisation nennt sich AROS? Wie kann es sein, dass wir von der nichts wissen?«

»Könnte auch EROS gelautet haben«, korrigierte ihn der Arzt kleinlaut. »Das war etwas unverständlich …«

»Ich hasse diese Geheimdienste mit ihrer Heimlichtuerei.« Der Maskierte schüttelte unwillig den Kopf. »Diese ganzen Codenamen – das ist doch völlig lächerlich. Haben Piccolo-Nelli, Porsche-Kalle oder der Professor schon mal etwas von denen gehört?«

»Nicht, dass ich w…«

»Nicht AROS«, meldete sich plötzlich der Paukant zu Wort. Lauernd trat der Killer näher. »Sie dürfte A.R.G.O.S. gemeint haben.«

Europa sah zornig auf.

»A.R.G.O.S.?« Der Dicke ließ die Unterlagen sinken.

Der Paukant nickte unmerklich. »Ich hatte bereits vor zwei Jahren eine Begegnung mit einem ihrer Agenten. Diese Organisation operiert europaweit und ist sehr erpicht darauf, dass niemand von ihr Kenntnis erlangt. Inzwischen habe ich aber dennoch das eine oder andere in Erfahrung bringen können. Kleinigkeiten, trotzdem …«

Er nahm seinen Boss zur Seite, und Europa sah misstrauisch dabei zu, wie sich die beiden leise unterhielten. Irgendwann schnaubte der Maskierte und trat wieder vor sie.

»Sieht so aus, als wäre uns mit Ihnen ein interessanterer Fang gelungen, als ich ahnen konnte.« Er kam ihr samt der Guy-Fawkes-Maske so nah, dass sie den markanten Duft seines Haargels riechen konnte.

»Sehen Sie das?« Er machte etwas Platz, damit sie durch das Panoramafenster erneut einen Blick auf die benachbarte Berghalle samt den dortigen Bauaktivitäten erhaschen konnte. »Dort drüben nimmt die Zukunft dieses Kontinents Gestalt an. Wenn wir fertig sind, wird das ein Beben wie zuletzt in Nagasaki auslösen.«

»Was auch immer es damit auf sich hat, wir werden Sie stoppen!«, zischte Europa.

»Ach ja?« Ihr Gegenüber lachte unter der Maske. »Wenn Sie glauben, Ihre lächerliche Organisation könne uns aufhalten, muss ich Sie enttäuschen. Wir werden alles ausradieren, was uns im Weg ist. Und Sie werden uns dabei helfen.«

Er wandte sich dem Arzt zu. »Sie haben mich gehört. Quetschen Sie alles aus ihr raus, was machbar ist. Verpassen Sie ihr meinetwegen die dreifache Dosis. Völlig egal.« Er richtete das Wort nun an den Paukanten. »Und während ich dafür sorge, dass der Zeitplan weiter eingehalten wird, bereiten Sie alles wie abgesprochen vor. Geld spielt keine Rolle.« Die Augen unter der Maske blitzten. »Starten Sie Operation Götterdämmerung!«

GÖTTERDÄMMERUNG

»I got the eye of the tiger, a fighter!

Dancing through the fire

’Cause I am a champion, and you’re gonna hear me roaaaar!«

Lena stand mit der Zahnbürste im Mund vor dem Spiegel ihres Hotelbadezimmers, wiegte sich im Rhythmus der Musik, die aus ihrem Smartphone tönte, und schmetterte ihrem Spiegelbild den Refrain von Katy Perrys »Roar« entgegen:

»Louder, louder than a lion

’Cause I am a champion, and you’re gonna hear me roaaaar

Oh-oh-oh-oh-oh

Oh-oh-oh-oh-oh«

Sicher, die schlanke Gestalt da im Spiegel mit ihren vom Schlaf zerzausten halblangen Haaren und dem schaumverschmierten Mund glich in Wahrheit allem anderen als einer Kämpferin. In ihrem schlabberigen Frottee-Schlafanzug sah sie auch nicht annähernd so aus wie die wandlungsfähige Katy Perry. Vor allem nicht annähernd so gut. Dabei war sie nicht einmal unsportlich. Leider besaß Lena für ihren Geschmack einen viel zu knochigen Körperbau und viel zu wenig Oberweite. Und dass sich ihre hellen, bei näherer Betrachtung wohl doch eher straßenköterblonden Haare immer wieder ihrer Bürste widersetzten, ärgerte sie ebenfalls. Nur war all das im Augenblick egal.

Denn Katy Perrys Song war eine Offenbarung.

Ein Versprechen, dass irgendwann ihre Zeit kommen würde, alle Grenzen zu sprengen. Niemand würde sie dann mehr aufhalten können. Dann würde die Welt allein ihr gehören.

»Oh-oh-oh-oh-oh

You’re gonna hear me roaaaaar!«

Die Zahnbürste noch immer im Mund, tanzte sie mit dem plärrenden Handy in der Hand zurück in den Schlafraum. Dort schlüpfte sie rasch aus ihrem Schlafanzug, beförderte ihn mit dem Fuß neben den offenen Koffer auf dem Bett und sah, dass aus Letzterem ihre Reiseliteratur herausgerutscht war – ein zerlesener Miss-Marple-Sammelband, der dritte Teil der »Outlander«-Saga und ein neuer Ratgeber mit dem Titel »Office-Managerinnen: Die heimliche Macht im Vorzimmer«, den sie bislang noch nicht hatte anfangen können. Die Bücher lagen allesamt auf der großen Stoffmaus, die sie seit ihrer Kindheit überall mit hinschleppte.

»Oh, Minnie!«, nuschelte sie bekümmert. »Das tut mir leid.«

Hastig zog sie die Stoffmaus unter den Büchern hervor, streichelte sie liebevoll hinter den Ohren und drapierte sie zärtlich auf dem Kissen. Üblicherweise schlief sie in Hotelbetten nicht so gut, weswegen sie ihren Talisman aus Kindertagen überall mit hinnahm. Dass manche das für eine Achtundzwanzigjährige für etwas skurril hielten, war ihr egal. Wusste ja niemand. Umso mehr wunderte sie sich darüber, dass sie heute sogar fast verschlafen hatte. Schon aus diesem Grund musste sie sich sputen, denn ihr Chef verließ sich auf sie.

Während Katy Perrys Song allmählich leiser wurde, legte sie die Zahnbürste weg und ging zu den Vorhängen ihres Hotelzimmerfensters, durch das warm und gelb das Licht der aufgehenden Augustsonne fiel. Unbekleidet, wie sie war, zog sie die Vorhänge auf und kam sich dabei äußerst verrucht vor. Natürlich konnte sie hier oben niemand sehen. Umso mehr genoss sie splitterfasernackt die frühmorgendliche Aussicht auf Rotterdam.

Wie schon bei ihren letzten Aufenthalten in der niederländischen Hafenmetropole stach ihr als Erstes die elegante Erasmusbrücke in einiger Entfernung ins Auge. Die Schrägseilbrücke spannte sich über die Nieuwe Maas, einen Hauptstrom im Rhein-Maas-Delta. Auf dem Wasser waren Kreuzfahrtschiffe und Lastkähne auszumachen, vor allem jedoch faszinierte sie die spektakuläre Skyline der Stadt. Denn unweit der Brücke ragten einige aufsehenerregende Hochhäuser in den blauen Himmel. Etwa die beeindruckende Kastenburg De Rotterdam, die aus der Entfernung wie eine Ansammlung aufeinandergestapelter Container anmutete, aber auch der schlanke KPN Tower und das New Orleans, das höchste Wohnhochhaus der Niederlande. Rotterdam verteidigte schon seit geraumer Zeit seinen Ruf als Architektur-Mekka. Und diesmal, so nahm sie sich vor, würde sie sich vor ihrer Abreise auch einige andere Sehenswürdigkeiten ansehen. Etwa die Blaakse Bos, ein Ensemble spielerisch anmutender Kubushäuser nahe am Wasser, die wie übergroße gelbe Würfel auf Stelzen wirkten. Oder das Chabot Museum, ein Museum für internationalen Expressionismus, das in einer der schönsten Villen der Stadt untergebracht war, die selbst als Kulturdenkmal im Stile der internationalen Moderne galt.

Lena reckte sich im Sonnenlicht, schaltete die Musik ihres Handys aus und entsperrte stattdessen den Bildschirm ihres Tablets, das auf dem Tisch der Sitzecke lag. Sofort öffnete sich die Spiele-App »Puzzle Champion« mit einer Kaskade fallender Puzzlestücke. Sie liebte das Spiel. Es hatte inzwischen sogar die Quizsendungen, mit denen sie sich sonst ihre Zeit vertrieb, verdrängt. Das Spielprinzip war recht einfach: Man konnte entweder aus unzähligen Puzzles mit bis zu fünfhundert Teilen wählen – mehr war auf einem Tablet auch nicht sinnvoll – oder spaßeshalber eigene Bilder einstellen, die die App dann in Puzzlestücke zerlegte. Die meisten Nutzer puzzelten vermutlich bloß für sich. Der eigentliche Spaß begann jedoch, wenn man sich mit anderen Spielern in Kombinationsvermögen und Schnelligkeit maß. Und das war genau ihr Ding.

Für diesen Zweck gab es eigene Spielräume, in die man sich gegenseitig einladen konnte. Die App startete dann mitleidlos eine Stoppuhr, sobald einer der Kontrahenten das gewählte Puzzle aufrief und loslegte. Aber man konnte eine Partie auch in kleinere Happen einteilen und zwischendurch spielen, was ihr beruflich sehr entgegenkam. Die Puzzleintervalle wurden am Ende einfach zu einer Gesamtzeit aufaddiert.

Wie erhofft begrüßte sie eine Nachricht von Radbot1045: Mal sehen, wie lange du brauchst?

Hatte ihr Online-Freund die Herausforderung etwa schon angenommen?

Er hatte ihr gestern vier hübsche Städtepanoramen als Puzzlemotive zugeschickt und es ihr überlassen, eines für das anstehende Match auszuwählen. Lena warf einen Blick zum Fenster. Natürlich hatte sie nicht lange nachdenken müssen. Rotterdam war einfach zu schön.

Doch während sie noch gar nicht angefangen hatte, war er in der Nacht bereits fertiggeworden. Und er hatte für die fünfhundert Teile bloß eine Stunde und sechzehn Minuten benötigt, was angesichts der perspektivischen Möglichkeiten eines Tablets verdammt gut war. Andererseits war Radbot1045 hier auf der App auch der beste Spieler – neben ihr natürlich.

Allmählich fragte sie sich, wie es wohl wäre, ihn im realen Leben kennenzulernen. Sie wusste zwar nicht, wie er aussah, aber seit zwei Monaten chatteten sie zwischen den Spielen gelegentlich miteinander. Sie wusste daher, dass er dreißig Jahre alt war, als Fotograf seine Brötchen verdiente, früher mal als Model gearbeitet hatte und nach einer gescheiterten Beziehung allein einen süßen sechsjährigen Jungen großzog. Und ebenso wie sie besaß auch er ein verdammt gutes Auge. Außerdem war er intelligent und irgendwie auch witzig. Ein Gedanke, der ihr ein schwärmerisches Lächeln auf die Lippen zauberte.

Lena hatte sich schon mehrfach überlegt, ihn zu fragen, ob sie vielleicht mal Bilder von sich austauschen sollten. Nur traute sie sich das angesichts all der hübschen Frauen nicht, die er vermutlich Tag für Tag zu Gesicht bekam.

Challenge accepted!, gab sie stattdessen als Antwort ein und überlegte bereits, ob sie das Puzzle starten sollte, um ihn zu unterbieten – als ihr Handy klingelte.

»Hi, Sweety, ich bin es.« Die Stimme ihrer Schwester Sophia ließ Lena das Tablet weglegen.

»Na, Kleine, was gibt es?« Nackt, wie sie war, setzte sich Lena auf das Bett. »Ich muss mich für eine Konferenz fertig machen.«

»Na toll«, schmollte ihre jüngere Schwester, »da rufe ich dich schon zu einer so unchristlichen Uhrzeit an, und dann ist das die Begrüßung?«

Lena grinste. Sie und Sophia waren so unterschiedlich wie Tag und Nacht. Und für eine Nachtschwärmerin wie ihre Schwester war 6.45 Uhr vermutlich tatsächlich mitten in der Nacht.

»Sorry, aber ich bin wirklich …«

»War ein Spaß«, unterbrach Sophia sie und lachte. »Wo treibst du dich gerade rum?«

»Du weißt doch, dass ich das selbst dir nicht verraten darf. Die Viktualia Consulting Group ist eine Lobbyorganisation. Mein Chef besteht daher auf absoluter Diskretion. Aber ich sollte in spätestens zwei Tagen wieder zurück in Bremen sein.«

»Okay, ich wollte nur noch mal sichergehen, dass du an die Party am Samstag denkst. Du bist fest eingeplant. Da will ich dir übrigens einen Bekannten vorstellen.«

»War ja klar, dass es darum geht.« Lena seufzte. »Ganz ehrlich: Du weißt doch, ich bin noch nicht so weit.«

»Mann, Lena«, tönte es aus dem Lautsprecher. »Das mit diesem Andy ist jetzt eineinhalb Jahre her. Der Typ war eh hässlich wie die Nacht. Mit seiner Halbglatze und dem Bauch sah er aus wie Papa – und das ist für einen Mittdreißiger eine erstaunliche Leistung.«

»Andy war neunundzwanzig«, widersprach Lena lahm. »Überhaupt, als ob es bloß auf die Optik ankäme. Er war ziemlich intelligent. Der konnte fünf Fremdsprachen und …«

»Sind wir jetzt bei ›Ein Fisch namens Wanda‹?«, unterbrach sie Sophia brüsk. »Du kannst selbst sieben Fremdsprachen. Im Übrigen hast du damals mit ihm Schluss gemacht. Zum Glück. Darf ich daran erinnern, dass der langweilig wie eine Schlaftablette war? Mal ganz davon ab, dass der dich eh bloß rumkommandiert hat. Dass ausgerechnet du das vergisst, ist für so einen Nerd wie dich echt erstaunlich. Echt, verkauf dich nicht immer unter Wert. Wenn du ein bisschen mehr auf mich hören würdest, dann würden die Typen bei dir Schlange stehen.« Sophia lachte schelmisch. »Dann müsstest du dir auch nicht mehr heimlich so Streifen wie ›Freibeuter aus Leidenschaft‹ reinziehen, um mal einen knackigen Kerl nackt zu sehen.«

»Woher weißt du …?«

»Schon vergessen, dass du meinen Streaming-Account benutzt?«

Lena schoss das Blut ins Gesicht.

»Ehrlich«, fuhr ihre Schwester fort. »Du bist zwar Sekretärin, aber du musst dich nicht unbedingt wie eine aufführen.«

»Ich bin keine Sekretärin«, empörte sich Lena. »Ich bin Assistentin der Geschäftsführung.«

»Dann eben Chefsekretärin. Sei einfach froh, dass jemand deine skurrilen Talente zu würdigen weiß.«

»Ob du es glaubst oder nicht, ich habe bereits jemanden kennengelernt.«

»Und wo?«

»Im Internet.«

»Ach.« Sophia klang wirklich überrascht. »Hast du dich endlich bei Tinder angemeldet?«

»Nein, äh, bei ›Puzzle Champion‹.«

Sophia gab einen undefinierbaren Laut von sich, der sich bestürzend nach unterdrücktem Gelächter anhörte.

»Am Samstag geht es jedenfalls auf die Piste«, legte ihre Schwester wieder los. »Und dann machst du es wie deine Katy Perry und schnappst dir auch einen Orlando Bloom, alles klar?«

»Meinetwegen«, antwortete Lena wenig überzeugt.

»Hast du wenigstens das schicke neue Business-Kleid mitgenommen, das wir für dich gekauft haben?«

»Natürlich«, log Lena und schielte zu dem praktischen Hosenanzug, der über dem Stuhl hing.

»Perfekt! Also melde dich, wenn du wieder zurück bist. Tschüssi.«

Sophia legte auf, und Lena fragte sich, warum sie nicht etwas mehr von ihrer temperamentvollen Schwester hatte. Ihre gute Laune war jedenfalls dahin.

Einen Moment lang überlegte sie, noch einmal »Roar« anzuwerfen. Stattdessen schlüpfte sie ernüchtert in ihren Hosenanzug, kämpfte vor dem Badezimmerspiegel mit ihren Haaren und legte etwas Schminke auf, die mit ihren blassgrünen Augen harmonierte. Jedenfalls wenn sie Sophia traute, denn sie selbst besaß für so etwas kein so gutes Händchen. Sie setzte sich wieder auf das Bett und entschied sich gerade – die Stimme ihrer Schwester noch immer im Ohr – für die eleganteren hochhackigen Pumps statt den bequemeren Wildleder-Mokassins, als das Handy abermals bimmelte. Ohne hinzusehen, nahm sie das Gespräch an.

»Ich sagte doch, dass ich komme«, erklärte sie leicht ungehalten.

»Oh, darauf verlasse ich mich auch, Frau Kaufmann.«

Lena ließ vor Schreck die Pumps fallen. Am anderen Ende der Leitung war nicht etwa Sophia, sondern ihr Chef.

»Oh, Doktor Fink«, aufgeregt stand sie auf und trat dabei auf einen am Boden liegenden Ohrring mit spitzem Haken, woraufhin sie einen schmerzhaften Laut unterdrückte. »Entschuldigen Sie bitte, ich dachte meine Schwester …«

»Alles gut, Frau Kaufmann«, kam es etwas angespannt zurück. »Ich wollte Sie lediglich informieren, dass mein Chauffeur Sie leider nicht abholen kann. Stattdessen habe ich ein Taxi bestellt, das in fünfzehn Minuten eintreffen wird. Ich … möchte Sie bitten, auf dem Weg zur Konferenz noch etwas für mich abzuholen. Der Fahrer ist informiert. Und bitte, das muss in jedem Fall unauffällig geschehen.«

Lena hüpfte ungelenk durch das Zimmer und bekam endlich den Ohrring zu fassen, dessen Haken sich in ihren Fuß gebohrt hatte. »Natürlich, kein Problem. Ganz wie Sie wünschen.«

»Sehr gut. Ich erkläre Ihnen alles Weitere später. Ich erwarte Sie dann am Empfang.«

Ihr Chef legte auf, und Lena, die noch immer leicht humpelte, starrte irritiert ihr Smartphone an. Finks übliche Heimlichtuerei kannte sie ja schon, aber das würde knapp werden. Für ein Frühstück blieb keine Zeit mehr.

Sie warf den Ohrring verärgert aufs Bett, und so schnell es ging, machte sie sich fertig. Rasch legte sie noch etwas Lacoste Pour Femme auf, überprüfte unnötigerweise noch einmal, ob sie alle Unterlagen in ihrer Tasche hatte, packte Tablet und Handy ein und machte sich eilig auf den Weg in die Hotellobby.

Viel hatte sich hier seit ihrem letzten Aufenthalt nicht verändert. Auf dem Hotelflur zum Lift war eines der Rotterdam-Bilder an den Wänden entfernt worden, linker Hand befand sich ein neuer Aushang der Zimmerordnung, und sie war sich sicher, dass in den letzten Monaten einer der Feuermelder unter der Decke ausgetauscht worden war. Unten angelangt, warf sie dem benachbarten Frühstücksraum einen sehnsüchtigen Blick zu, marschierte aber zum Hotelausgang mit der Pförtnerloge. Sie hielt die Sicherheitsbestimmungen des Hotels, in dem die Viktualia Consulting Group sie stets unterbrachte, zwar für etwas übertrieben, aber hier gehörte es zum guten Ton, dass niemand ohne Abmeldung das Hotel verließ und vor allem auch nicht ohne Anmeldung betrat.

Lena klopfte gegen die Scheibe und schreckte so zwei Pförtner in brauner Hoteluniform auf, die gespannt einem Fernsehbericht über die Umweltgruppe Gaia’s Warriors folgten. Die Ökoextremisten suchten Europa bereits seit einem guten Jahr mit immer brutaleren Terroranschlägen heim, und noch immer hatte die Polizei keine Spur. Den älteren der beiden Portiers erkannte sie sofort wieder. Und auch der Mittfünfziger lächelte bei ihrem Anblick erfreut.

»Frau Kaufmann!«, begrüßte er sie in der charmanten Mundart der Niederländer. »Sie weilen wieder bei uns? Was für eine schöne Überraschung.«

»Danke, Herr de Groot. Ich müsste raus.«

»Natürlich, aber da Sie schon mal da sind … Sie haben doch sicher einen Moment, oder?« Er zwinkerte.

Lena ahnte, was folgte, und blickte auf die Uhr. Noch war draußen kein Taxi zu sehen. Außerdem spielten sie das Spiel immer, wenn sie hier einquartiert war.

Der Portier wandte sich seinem Kollegen zu. »Bastiaan, jetzt wirst du was erleben. Pass gut auf.« Er trat vor die Sprechscheibe und grinste. »Sagen Sie mir, auf was ich mich diese Woche am meisten freue.«

Sein Kollege wollte etwas einwenden, doch der Pförtner bedeutete ihm rasch, still zu sein, und blickte sie gespannt an.

Lena seufzte, musterte ihn von oben bis unten, sah sich in dem Kabuff um und wog nachdenklich ihr Haupt. »Hm, ich möchte Ihnen ja nur ungern zu nahe treten, aber wenn Sie mich schon so fragen, dann würde ich darauf wetten, dass Sie sich diese Woche scheiden lassen.«

Ungläubig starrte der Mann sie an, dann lachte er und schlug seinem perplex dreinschauenden jüngeren Kollegen begeistert auf die Schulter. »Das macht sie jetzt schon zum vierten Mal. Zum vierten Mal, kannst du dir das vorstellen? Bei unserer ersten Begegnung konnte sie mir sagen, dass ich Vorbereitungen für den Geburtstag meiner Tochter treffe, beim zweiten Mal, dass ich gerade eine Blinddarm-Operation hinter mir hatte, und bei unserer letzten Begegnung, dass ich eine Kreuzfahrt zu den Malediven planen würde.« Fasziniert sah er sie an. »Bitte, verraten Sie mir, wie Sie das diesmal angestellt haben.«

»Ach, das ist keine Zauberei«, wiegelte Lena geschmeichelt ab. »Das fängt schon mal damit an, dass Sie Ihren Ehering nicht mehr tragen.«

Ertappt nestelte der Mann an seinen Fingern. »Ich bin mir sicher, dass ich den schon bei unserer letzten Begegnung nicht mehr getragen habe. Und das liegt schon eine Weile zurück.«

»Ich weiß. Aber bei den Malen davor. Hinten an der Wand«, sie deutete auf ein großes, mit Zetteln und Fotografien übersätes Pinnbrett, »hängt zwar noch das alte Foto Ihrer Tochter, aber das von Ihrer Frau haben Sie abgenommen. Es war ja schon bei den letzten Malen kaum mehr unter den vielen Zetteln auszumachen.«

»Meine Güte, das ist Ihnen aufgefallen?« Geschäftig wandte er sich seinem Kollegen zu. »Du musst wissen, dass Frau Kaufmann ein fotografisches Gedächtnis besitzt.«

»Ehrlich gesagt spricht man da eher von einem eidetischen Gedächtnis«, korrigierte ihn Lena behutsam. »Und das ist manchmal eher Fluch als Segen. Glauben Sie mir. Hinzu kommt, dass Sie – den Urlaubsbildern da hinten zufolge – Ihre Reise auf die Malediven nur mit Ihrer Tochter angetreten haben. Und der schicke Kugelschreiber hier vorn«, sie deutete auf den Tisch hinter der Glasscheibe, »den haben Sie von einer Anwaltskanzlei hier, die sich vornehmlich mit Scheidungsfällen befasst. Ich bin da vor zwei Jahren mal fälschlicherweise durchgestellt worden, weil es hier in Rotterdam noch eine andere Kanzlei mit ähnlichem Namen gibt. Allerdings für Seerechte. Und wenn ich raten darf, dann haben Sie auch schon jemand Neues kennengelernt. Sie haben nämlich seit unserer letzten Begegnung mindestens zehn Pfund abgenommen.«

»Okaaaay …« Der Pförtner grinste verlegen.

»Echt, du hast schon eine Neue?«, fragte sein Kollege neugierig. »Deine Scheidung ist doch noch gar nicht durch. Wen denn?«

»Ich tippe auf eine Krankenschwester«, antwortete Lena. »Ich vermute, die haben Sie bereits während Ihres Krankenhausaufenthalts kennengelernt. Etwa zehn Jahre jünger als Sie und aus Indonesien, richtig?«

Der Portier starrte sie verdattert an. »Wie zum Teufel …?«

»Das verrate ich Ihnen nachher.« Sie zwinkerte. »Mein Taxi ist nämlich gerade eingetroffen.«

»Ja, sicher. Natürlich.« Die Männer starrten sie an, ein Summer ertönte, und Lena trat lächelnd auf den Hotelvorplatz, auf dem soeben ein weiß-blaues Elektrotaxi vorgefahren war.

Sie hatte eben tatsächlich das Auge des Tigers.

Am Horizont zogen dunkle Wolken über der Stadt herauf. Sie stieg im Heck des Wagens zu, und der Fahrer, ein Mann marokkanischer Abstammung, drehte sich zu ihr um. »Goedemorgen, Frau Kaufmann. Bevor ich Sie zum Millennium Tower bringe, soll ich Sie beim Hauptbahnhof absetzen.«

»Ja, ich weiß Bescheid«, erklärte sie geschäftig. »Ich soll dort etwas ziemlich Wichtiges abholen.«

»Na ja, Ihr Boss wünscht, dass Sie ihm von Gijs Burger ein Frühstücksmenü besorgen. Und zwar das ›Capt. Gijs Bacon & Egg‹, allerdings ohne Bacon, dafür mit Käse. Außerdem ein Schoko-Croissant und einen Master’s Mate Diät-O-Saft extra.«

Ungläubig starrte Lena den Fahrer an. »Sind Sie sich sicher?«

»Aber ja.« Er lächelte unverschämt gut gelaunt. »Ich musste das dreimal wiederholen.«

Lena dachte unwillkürlich an die Vorhaltungen ihrer Schwester zurück. Offenbar taugte sie doch bloß zum Kaffeeholen. Nach dem kleinen Hoch eben war ihr Laune nun endgültig dahin.

»Na los, fahren Sie schon.«

Resigniert ließ sie sich in die Sitzpolster sinken, zückte ihr Tablet und startete »Puzzle Champion«.

*

»Einmal das Capt. Gijs Bacon & Egg, allerdings ohne Bacon, dafür mit Käse. Außerdem ein Schoko-Croissant und einen Master’s Mate Diät-O-Saft extra«, leierte Lena die Bestellung ihres Chefs herunter.

Sie stand am Tresen der kleinen Burgerkette Gijs Burger, die sich zwischen Blumenläden, Bäckereien und Presse-Shops in der Empfangshalle des Rotterdam Centraal befand. Normalerweise wusste sie die elegante neue Bahnhofshalle, die in ihrer Großzügigkeit und Ästhetik den Eindruck einer überdachten Piazza erweckte, durchaus zu schätzen – nur heute nicht. Denn in ihrem Hosenanzug war sie in diesem Laden völlig overdressed. Weiter hinten lümmelten Schüler an einem der Tische herum, ein dicker Kerl stopfte trotz der Uhrzeit bereits ein Vice-Admiral-Double-Cheeseburger-Menü in sich rein, und es roch unangenehm nach Fett und Pommes. Die Frage, ob sie sich vielleicht auch ein Frühstück besorgen sollte, stellte sich daher nicht. Der Appetit war ihr inzwischen vergangen.

Die junge Angestellte in der blau-weißen Seemannskluft gab die Bestellung lustlos in die Kasse ein und seufzte.

»Tut mir leid«, meinte sie Kaugummi kauend. »Der Master’s Mate Diät-O-Saft ist ausverkauft. Wie wäre es stattdessen mit einem Sailmaker-Peppermint-Shake?«

»Ganz sicher nicht«, antwortete Lena angewidert. »Und das Ganze zum Mitnehmen bitte.«

»Wie Sie wünschen.«

Lena zahlte, und die junge Frau machte sich gerade daran, das Gewünschte zusammenzutragen, als sie neben sich eine gedämpfte Stimme vernahm: »Ohne Bacon, dafür mit Käse!«

Einen halben Schritt entfernt vor einer unbesetzten Kasse stand ein leicht abgehetzt wirkender Mittdreißiger in der Kluft eines Fahrradkuriers, der zu der großen Menükarte über dem Tresen aufsah.

»Ohne Bacon, dafür mit Käse!«, wiederholte er eindringlich und musterte sie knapp.

»Ja, das habe ich bestellt«, antwortete Lena befremdet. »Aber ich wüsste nicht, was Sie das angeht.«

»Sie sind Frau Kaufmann?« Nervös blickte sich der Mann um.

»Ja?«

»Hier! Nehmen Sie das.« Aufgeregt zog er einen braunen Umschlag aus der Tasche und steckte ihn ihr zu. »Bitte, wenden Sie Ihren Blick ab. Ich glaube, ich werde verfolgt.«

Lena starrte überrumpelt den Umschlag an. Der seltsame Fahrradkurier hingegen wandte sich eilig von ihr ab, verließ den Burgerladen und mischte sich in der großen Eingangshalle rasch unter die Reisenden.

»So, hier ihr Capt. Gijs Bacon & Egg«, machte die Bedienung wieder auf sich aufmerksam. Eine Bubblegum-Blase zerplatzte vor ihrem Mund, während sie ihr eine gefüllte Papiertüte zuschob. »Ohne Bacon, dafür mit Käse. Außerdem …«

»Jaja, ich weiß. Danke.« Lena, die den Umschlag noch immer verwirrt in der Hand hielt, nahm die Tüte gereizt an sich, fasste die Glasfront des Ladens wieder ins Auge, konnte den seltsamen Kerl aber nicht mehr entdecken.

Der Umschlag selbst war weder beschriftet noch verschlossen, fast so, als habe jemand in großer Eile etwas hineingestopft. Irgendwelche Dokumente, ihren tastenden Fingern zufolge. Hatte ihr Chef sie deswegen hierhin bestellt?

Sie unterdrückte den Impuls, in den Umschlag zu schauen, klemmte ihn sich stattdessen unter die Achsel, verließ den Burgerladen, stiefelte auf ihren Pumps an zahllosen Reisenden vorbei zu einer der Außentüren an der gewaltigen Glaswand der Bahnhofshalle und betrat den riesigen gepflasterten Vorplatz des Hauptbahnhofs.

Obwohl sich der Himmel über Rotterdam weiter zugezogen hatte, fand sie sich unter zahllosen Menschen wieder. Darunter Reisende aus aller Welt, lachende Pärchen und eine Touristengruppe, die sich erläutern ließ, dass sich der neue Hauptbahnhof samt der steil aufragenden Eingangshalle inzwischen zu einem Wahrzeichen der Stadt gemausert hatte.

Ihr eigentliches Ziel, den hohen Millennium Tower Rotterdams, der nur einen Steinwurf vom Hauptbahnhof entfernt zu liegen schien, konnte sie bereits gut erkennen. Der markante Wolkenkratzer wirkte samt der blauen Glasfassade so, als wäre er aus der Stadtkulisse New Yorks direkt hierher versetzt wurden. Theoretisch hätte sie ihn auch zu Fuß erreichen können, nur war sie über die befremdlichen Umstände, die sie an diesen Ort verschlagen hatten, noch immer so verärgert, dass sie sich den Rest der Strecke jetzt erst recht fahren lassen würde. Sollte das Essen in der Tüte doch kalt werden, geschah Doktor Fink recht.

Es sei denn natürlich …

Sie musterte wieder den Umschlag.

Lena hielt nach dem Taxi Ausschau, das noch immer zwischen anderen Taxis auf sie wartete, und beschleunigte ihre Schritte. Sie konnte bereits die marokkanische Popmusik im Wagen hören, als sie mit ihren Absätzen über einen leicht vorspringenden Pflasterstein stolperte. Mit einem Fluch auf den Lippen schaffte sie es zwar, die Tüte festzuhalten, verlor jedoch den Umschlag, der durch die Luft bis zu dem Taxi segelte, wobei mehrere weiße Papiere zum Vorschein kamen.

»Shit!« Lena öffnete hektisch die Beifahrertür des Taxis, stellte die Burger-Tüte auf dem Sitz ab und begann die Dokumente einzusammeln, von denen gleich mehrere mit einem roten Stempel versehen waren:

»Confidential – TOP SECRET – Classified!«

Verblüfft betrachtete sie die Unterlagen, als hinter ihr eine dunkle Männerstimme ertönte. »Kann ich Ihnen helfen?«

Überrumpelt sah sie auf und entdeckte hinter sich einen blonden Mann in anthrazitfarbenem Sakko und dunkler Sonnenbrille, dessen Lächeln aufgesetzt wirkte.

»Danke, geht schon.«

»Aber nicht doch, ich helfe gern.« Der Kerl bückte sich und griff nach einem der Papiere, das Lena ihm rasch entzog, als sich unvermittelt ihr Fahrer einmischte.

»Sie haben die Dame gehört? Sie benötigt keine Hilfe.«

Lena erhob sich ebenso wie der Fremde, während ihr lächelnder Fahrer an ihre Seite trat.

Der Sonnenbrillenträger musterte den Marokkaner knapp, blickte sich zu einem Begleiter in einiger Entfernung um, der ebenfalls Sonnenbrille trug, und schürzte überheblich die Lippen.

»Ich denke, das kläre ich mit Ihrer Kundin selbst.«

»Achmed, irgendein Problem?« Aus gleich zwei benachbarten Taxis stiegen Männer, die sich argwöhnisch zu ihrem Kollegen gesellten. Auch die Inhaberin eines vierten Taxis sah sich stirnrunzelnd zu dem Geschehen um.

Das Grinsen des Kerls mit der Sonnenbrille zerfaserte. »Ich wollte bloß freundlich sein.«

Er entfernte sich zögernd, nicht ohne sich mehrfach zu ihnen umzusehen.

»Alles in Ordnung?«, erkundigte sich Achmed.

»Ja, alles gut. Danke.« Lena, die den Umschlag instinktiv umklammerte, runzelte die Stirn. »Ich denke, er wollte tatsächlich bloß helfen.«

»Weiß man nie«, meinte ihr marokkanischer Fahrer. »Viel zu viele Ausländer hier.« Er deutete freundlich zum Wagen. »Kommen Sie, der Millennium Tower ist gleich dahinten.«

Während Achmed die Haltebucht verließ und mittels eines Schlenkers den überbauten Weena-Tunnel in Richtung Tower querte, sah sich Lena noch einmal misstrauisch um, entdeckte den Fremden mit der Sonnenbrille aber nicht mehr. Irgendetwas war hier im Gange, was sie noch nicht so recht durchschaute. Und das ärgerte sie. Ihr Chef würde ihr jedenfalls einige Fragen zu beantworten haben.

Kurz kämpfte sie mit ihrer Neugier, die Unterlagen noch einmal zu begutachten. Doch in dem Moment stoppte das Taxi auch schon wieder.

»So, da sind wir.« Sie standen jetzt in einer Seitenstraße unmittelbar neben dem Tower, und ihr schwarzhaariger Fahrer nickte ihr zu. »Goede werkdag!«

»Danke.« Lena griff zu ihrer Tasche sowie der Papiertüte mit dem Fast Food, stieg aus und sah zu dem imposanten Gebäude mit den blauen Fensterfronten auf, das sich dem wolkenverhangenen Himmel entgegenreckte. Dann marschierte sie über einen begrünten Vorplatz auf den halbrunden Haupteingang zu. Sie passierte eine Drehtür und gelangte so in die elegante Eingangshalle des Marriott Hotels, das sich über die ersten vierzehn Etagen des Wolkenkratzers erstreckte. Der Boden des vornehm eingerichteten Empfangsbereichs war mit Marmor ausgekleidet, die hohe Decke wurden von Säulen gestützt, und vor der Rezeption im hinteren Bereich befanden sich hohe Grünpflanzen und gepolsterte Sitzgruppen.

Sie hatte die Halle kaum betreten, als sich einer der dort sitzenden Männer erhob, seine Hornbrille zurechtrückte und ihr lächelnd entgegenkam: Doktor Fink.

Trotz, vielleicht aber auch gerade wegen seiner grau melierten Haare war ihr Chef eine stattliche Erscheinung. Wie immer trug der Dreiundsechzigjährige einen hanseatisch blauen Zweireiher mit goldenen Knöpfen, dem ein weißes Hemd mit violetter Krawatte den notwendigen Akzent verlieh. Obwohl sie ihn noch nie in anderer Kleidung gesehen hatte, wusste sie von Rechnungen, die über ihren Schreibtisch gewandert waren, dass er mehrere identische Anzüge besaß, die allesamt von einem sündhaft teuren Schneider in Hamburg maßgefertigt wurden. Allein bei den schwarzen Lackschuhen verließ er sich auf einen Herrenausstatter aus Bremen.

»Frau Kaufmann, schön, dass Sie da sind. Ich wusste, dass ich mich auf Sie verlassen kann.« Der ausdrucksstarke Blick seiner blauen Augen lag längst auf dem Umschlag, den sie aus ihrer Tasche kramte.

»Bitte sehr, ich schätze, das hier war es, warum Sie mich zum Hauptbahnhof geschickt haben?« Sie händigte ihm den Umschlag aus. »Der war übrigens schon offen«, entschuldigte sie sich. »Und, äh … falls die Papiere etwas schmutzig sind, liegt das daran, dass ich vorhin gestürzt bin.«

»Gestürzt?« Argwöhnisch musterte er sie.

»Meine Schuhe.« Unglücklich lächelnd deutete sie auf ihre Pumps. »Sie hätten mir übrigens ruhig sagen können, dass es Ihnen gar nicht um das Frühstück ging.«

»Sie haben recht. Ich entschuldige mich für die Umstände, aber es ging nicht anders. Die Besprechung wird in einem der Konferenzräume über der Executive Lounge in der zehnten Etage stattfinden.«

Er zog die Unterlagen aus dem Umschlag, während er geistesabwesend fortfuhr. »Das Frühstück ist übrigens für Sie, da ich annahm, dass Sie angesichts meines außerplanmäßigen Anrufs kaum dazu kommen würden. Kein Bacon, dafür Käse. Ich hoffe, ich hatte das richtig in Erinnerung?«

»Äh, ja«, antwortete Lena überrumpelt.

Sie begleitete ihn zu der Sitzgruppe, und hinter einer der Säulen trat nun sein Chauffeur Ralf hervor. Der Enddreißiger mit dem kantigen Gesicht und den kurzgeschnittenen, dunklen Haaren trug wie immer einen schwarzen Anzug mit der dazu passenden Chauffeursmütze und fiel schon deswegen auf, weil er für einen Mann seines Berufsstandes ungewöhnlich breit gebaut war. Abgesehen von ihr gab es vermutlich sonst niemanden, der Fink so häufig auf seinen Geschäftsreisen begleitete wie er.

Ralf nickte ihr freundlich zu, schien aber vor allem die Glasfassade des Eingangs hinter ihr im Auge zu behalten.

»Gab es irgendwelche Probleme, als Sie das hier in Empfang nahmen?«, wollte Fink beiläufig wissen. Er studierte die Dokumente zunehmend besorgt.

»Na ja …« Lena berichtete ihm von den Vorfällen seit der merkwürdigen Übergabe bei Gijs Burger.

»Und?« Fink nestelte an seiner Brille. »Wurden Sie auf dem Weg hierher verfolgt?«

»Nein, ich denke nicht.« Verblüfft starrte sie ihn an. »Wieso?«

»Unwichtig«, wiegelte er ab, warf seinem Chauffeur jedoch einen eindringlichen Blick zu. »Sie wissen ja, als Lobbyist hat man vielerlei Feinde. Da kann man nicht vorsichtig genug sein.«

»Gibt es irgendetwas, das ich wissen sollte?«, fragte Lena beunruhigt nach.

Ihr Chef blätterte die Unterlagen weiter durch, und Lena war sich inzwischen sicher, ihn noch nie so aufgewühlt erlebt zu haben.

»Nein«, murmelte er. »Nur befürchte ich, dass ich mich heute dringend einer weiteren Angelegenheit zuwenden muss. Und das heißt, dass ich nicht lange oben bleiben kann. Sie werden mich also vertreten müssen.«

»Ich?«

»Sie haben die Zahlen doch drauf, oder?« Er sah sie an.

»Ja, sicher.« Lena nickte verunsichert. »Aber da oben erwarten uns heute die Vertreter der bedeutendsten europäischen Transport- und Logistikunternehmen. Und Sie wissen doch, wie viel Mühe es uns gekostet hat, auch die Briten zum Kommen zu bewegen. Gerade bei der Frage zu den Zollkontrollen in der Irischen See warten alle auf Ihr …«

Ihr Chef schüttelte den Kopf und verstaute den Umschlag in seiner Aktentasche. »Sie überschätzen meine Rolle. Jeder da oben weiß, dass diese ständigen neuen Ansprüche des Vereinigten Königreichs völlig unrealistisch sind. Die Briten können ihren Wählern ja gern weiter etwas vormachen, aber wenn die Regale erst mal leer sind, dann erwartet sie eine harte Bauchlandung.« Er schloss die Tasche. »Heute geht es vornehmlich darum, diesen windigen britischen Zahlenjongleuren Paroli zu bieten. Louis le Blanc von der Cosmo Shipping Co Ltd und Clarista Esteves von der MIL wissen, was zu tun ist. Aber wenn es hitzig wird, dann benötigen die jemanden, der die Details so präsent hat wie Sie. Zuvor müssen Sie mir lediglich noch dabei helfen, mich frühzeitig zu verabschieden.«

Er blickte aufmerksam auf seine Armbanduhr, eine ebenso teure wie verspielte Piguet, deren Ziffernblatt von dem vergoldeten Schiffsmodell einer mittelalterlichen Kogge geziert wurde. »In exakt vierzig Minuten werden Sie mich da rausholen. Tun Sie so, als hätten Sie einen Anruf für mich. Machen Sie es dringlich, das gibt mir die Gelegenheit, mich aus der Affäre zu ziehen.«

»Wie Sie wünschen.« Lena checkte ihrerseits die Uhr.

Doktor Fink zog seinen Chauffeur beiseite, Lena setzte sich und beobachtete die beiden skeptisch. Längst fragte sie sich, was hier in Wahrheit vor sich ging. Widerwillig griff sie in die Tüte. Leider war der Kaffee inzwischen lauwarm. Allerdings merkte sie nun doch, dass sie Hunger hatte. Während sie das pappige Schoko-Croissant verspeiste, hörte sie leise Gesprächsfetzen der beiden Männer.

»… auf gar keinen Fall! Wenn das stimmt, dann …«

»Über das Netzwerk?«

»Zu unsicher! … ausschließlich Perseus! Niemand anderen. Und dann …«

Mehr konnte sie nicht verstehen, aber Ralf marschierte nun hinüber zu einem Münzfernsprecher nahe der Rezeption, während ihr Chef zu ihr zurückkam und sich räusperte. »Gut. Ich befürchte, wir müssen dann mal.«

Lena warf die Papiertüte mit den Essensresten in einen Abfalleimer, schnappte sich ihre Tasche und begleitete ihren Chef zu den Aufzügen, während ihr unzählige Fragen durch den Kopf schossen. Nur kam sie leider nicht dazu, diese zu stellen, da sich ausgerechnet jetzt der Vertreter der Italia Logistic Group in den Lift schob, der Doktor Fink überschwänglich begrüßte.

Als der Lift das dreizehnte Stockwerk des Wolkenkratzers endlich erreichte, eröffnete sich ihnen ein ebenso geräumiger wie geschmackvoll eingerichteter Empfangsbereich mit Designermöbeln, farbenfrohen Tulpenbouquets und abzweigenden Fluren. Überall standen und saßen Anzugträger aus allen Gegenden der EU, und Lena vernahm Gesprächsfetzen auf Deutsch, Englisch, Spanisch und Französisch. Wie erwartet waren neben den britischen Emissären auch Vertreter der EU-Kommission zugegen, die allesamt umlagert wurden. Bedienstete des Hotels reichten den Anwesenden Kaffee, Sekt und Goudahäppchen, und Doktor Fink wurde sofort von der Geschäftsführerin eines belgischen Transportunternehmens in Beschlag genommen. Lena selbst begrüßte zwar die eine oder andere Assistentin sowie einen Dolmetscher, den sie aus Brüssel kannte. Davon abgesehen blieb sie jedoch unbeachtet. Immerhin gelang es ihr, endlich einen heißen Kaffee zu ergattern. Wenig später öffneten Hotelangestellte eine große Doppeltür, und umgehend strömten die Anwesenden in einen großen Konferenzsaal mit hohen Fenstern, die einen herrlichen Ausblick auf den Hafen Rotterdams gestatteten.

Fink warf Lena einen bedeutungsvollen Blick zu, und so folgte sie ihm in den Saal, in dem die Tische zu einem großen Rund aufgebaut waren. Für jeden Delegierten standen gepolsterte Stühle bereit. Lena hingegen nahm wie die anderen Angehörigen der Entourage hinter den Geladenen an der Saalwand Platz. Die Gespräche im Saal verstummten allmählich, die Türen wurden wieder geschlossen, und ihr Gastgeber, CEO der niederländischen A.N.T.J.E. Group, richtete warme Willkommensworte an die Anwesenden, bevor er zu einem Monolog über die Schwierigkeiten des Brexits für die gemeinsame Zukunft ausholte. Eine Belgierin löste ihn ab, die die Ergebnisse der letzten einundvierzig Verhandlungsrunden und die Änderungen, auf die die Briten diesmal bestanden hatten, noch einmal zusammenfasste.

Lena unterdrückte ein Gähnen. Längst hatte sie sich heimlich ihr Tablet gegriffen und sich, die Uhr im Blick, bei »Puzzle Champion« eingeloggt – als ein dumpfer Donnerschlag zu hören war.

Alle Blicke richteten sich auf die Fenster, und Lena sah erschrocken mit an, wie irgendwo über dem Industriehafen eine dunkle Wolke zum Himmel stob. Sofort war der Saal von erregtem Gemurmel erfüllt.

Lena tat es den vielen Neugierigen gleich und drängte zu den hohen Saalfenstern, um einen besseren Blick auf das Geschehen zu erhaschen. Vom Millennium Tower aus hatte man zwar einen hervorragenden Ausblick auf den Hafen, und doch war außer Rauch nicht viel mehr zu erkennen.

Was mochte dort vorgefallen sein?

Der eine oder andere Delegierte checkte bereits die Newssender, andere versuchten, Kollegen an die Strippe zu bekommen, die im Rotterdamer Hafen arbeiteten, und hinter ihnen meinte jemand, dass es an der Zeit wäre, die Konferenz fortzusetzen, als unvermittelt zwei weitere schwere Detonationen den Hafen erschütterten. Lena sah erschrocken mit an, wie gewaltige Druckwellen über das Hafenareal hinwegfegten. Sogar die Scheiben des Konferenzsaals vibrierten leicht.

Spätestens jetzt glich die Versammlung einem aufgeregten Bienenstock. Tische wurden verschoben, und mehr Menschen drängten nach vorn.

Lena hingegen schreckte aus ihrer Starre hoch und kämpfte sich zu Doktor Fink durch, der wie ein Fels in der Brandung inmitten des Raums stand, als sich eine laute Frauenstimme auf Englisch Gehör verschaffte. »Die von NTBN haben bereits etwas!«

Viele Köpfe flogen herum, und es wurde eine Sondersendung des Netherland Broadcasting Networks auf einem großen Bildschirm an der Stirnseite des Saals eingeblendet. Eine blonde Nachrichtenmoderatorin war vor der rauchgeschwängerten Live-Aufnahme einer Überwachungskamera irgendwo im Hafen zu sehen. Sie hielt die Hand an einen In-Ear-Lautsprecher, während ein Textlaufband am unteren Rand auf die Dringlichkeit der Sendungsunterbrechung verwies. Endlich war auch ihre Stimme zu hören.

»… nicht exakt sagen, was genau vor wenigen Minuten im Hafen Rotterdams vorgefallen ist, doch alles deutet darauf hin, dass die Explosionen im Bereich der petrochemischen Anlagen stattgefunden haben.« Ihr aufgewühlter Blick wanderte nach links. »Und gerade kommt die Nachricht rein, dass der Katastrophenschutz die Bewohner der Stadt auffordert, Fenster und Türen geschlossen und die Straßen der Stadt für die Rettungskräfte frei zu halten. Schon jetzt gehen offenbar zahllose Notrufe bei Polizeidienststellen und Feuerwehren ein, die das Schlimmste vermuten lassen. Insbesondere müssen wir uns wohl auch die Frage stellen, ob es sich bei dieser Katastrophe um einen Unfall oder nicht vielleicht doch um einen …« Die Moderatorin verstummte, lauschte einer Stimme in ihrem Ohr, und ihr Gesichtsausdruck verdüsterte sich. »Die Frage scheint offenbar geklärt, denn soeben erfahre ich, dass dem Sender ein Bekennervideo von den Gaia’s Warriors zugespielt wurde. Da sich NTBN jedoch seiner hohen journalistischen Standards bewusst ist, werden wir darauf verzichten, dieses terroristische Propaganda-Video ungeprüft …«

Irgendjemand im Sender schien dies anders zu sehen, denn die Aufnahme der Moderatorin brach jäh ab, und stattdessen wurde der Bildschirm von einer grünen, computerbewegten Fahne ausgefüllt, auf der eine Weltkugel samt Delphin prangte, der eine Bombe in seinem lächelnden Maul trug. Lena schluckte, als sie das Emblem der Ökoterroristen erkannte. In Bern hatten die Warriors vor einigen Monaten die Produktionsanlagen eines Schweizer Lebensmittelkonzerns in die Luft gesprengt, der durch den rücksichtslosen Aufkauf von Wasserrechten in die Kritik geraten war. In Sevilla hatten sie tausende Schweine aus einer industriellen Mastanlage befreit – und zahllose Mitarbeiter mit Bolzenschüssen hingerichtet. In Turin hatten sie das Werk eines bekannten italienischen Autoherstellers in Flammen aufgehen lassen, nachdem dieser sich geweigert hatte, die komplette Produktion auf Saatgutmaschinen umzustellen. Und in Aberdeen hatten sie eine im Bau befindliche Ölbohrplattform versenkt.

Unmittelbar vor der Fahne bezogen nun drei Ökoterroristen mit Sturmgewehren Aufstellung. Die beiden hinteren, ein Mann und eine Frau, waren mit schwarzen Sturmhauben maskiert. Vor ihnen jedoch hatte sich offen die berüchtigte Anführerin der Umwelt-Terrorgruppe aufgebaut: One-Eye-Dawn.

Die aus Großbritannien stammende Halbpakistanerin trug wie ihre Mitstreiter eine kakifarbene Militärkluft, und ihr dunkles Haar wurde streng von einem schwarzen Barett zusammengefasst. Ihr Markenzeichen jedoch war die schwarze Augenklappe, die ihr rechtes Auge verhüllte.

Lena hatte die brutalen Terroranschläge der Warriors in den letzten Monaten natürlich verfolgt, und so wusste sie, dass die Terroristin mit wahrem Namen Shabana Dawn hieß und die komplette Laufbahn von einer engagierten Umweltaktivistin hin zur menschenverachtenden Ökoextremistin absolviert hatte. Seit ihr bei einer Demo vor fünf Jahren durch ein Gummigeschoss ein Auge ausgeschossen worden war, hatte sich ihr Hass gegen das Establishment ins Maßlose gesteigert. Seitdem war sie in der Szene als One-Eye-Dawn bekannt, und ihr Konterfei schmückte T-Shirts und andere Devotionalien wie einst jenes von Che Guevara.

»Europa! Welt!«, rief One-Eye-Dawn mit hörbarem Triumph in der Stimme. »Richtet euren Blick auf Rotterdam! Wenn ihr die heutigen Bilder seht, sind wir ein weiteres Mal Gaias Ruf gefolgt. Denn sie ist die alles umspannende ewige Weltenmutter, und wir sind ihre Töchter.«

Der Kerl hinter ihr zuckte kurz.

»Ein weiteres Mal haben die Warriors ihr Recht auf Selbstverteidigung wahrgenommen«, proklamierte sie weiter, »um unseren geliebten Planeten vor der Ausbeutung selbst ernannter Eliten und der Tyrannei des Kapitals zu bewahren. Ein weiteres Mal haben wir den Vergewaltigern unserer aller Heimat Erde gezeigt, dass die Zeit um ist, da sie straflos Verbrechen an unserer Mutter begehen können. Erhebt euch, denn jetzt ist die Zeit der Abrechnung gekommen. Die Zeit des Zurückschlagens. Auge um Auge. Und wir sind noch lange nicht fertig.« In ihrem intakten Auge lag ein fanatisches Glitzern. »Denn mit Rotterdam wird es nicht enden. Auch künftig werden wir keine Gnade mit all den Schmarotzern walten lassen, die sich dem System der Ausbeutung blind unterwerfen. Niemand ist vor uns sicher. Weder Politiker und Wirtschaftsbosse noch Arbeiter und Angestellte.«

»Und Rechtsanwälte«, wandte die Kämpferin im Hintergrund ein.

»Und BWL-Studenten«, ergänzte ihr Kamerad.

»Ja, auch Rechtsanwälte, BWL-Studenten und jeder andere sonst«, ergänzte One-Eye-Dawn ungehalten, bevor sie pathetisch mit der bekannten Weissagung der Cree endete. »Denn erst wenn der letzte Baum gerodet, der letzte Fluss vergiftet, der letzte Fisch gefangen ist, werdet ihr merken, dass man Geld nicht essen kann.«

Alle drei hoben die Fäuste. »Gaia’s Warriors!«

Das Video brach ab, und die Moderatorin war wieder zu sehen.

Inzwischen hatte Doktor Fink Lena erreicht.

»Was machen wir jetzt?«, fragte sie.

Fink wollte gerade etwas antworten, als sein Smartphone klingelte. Er nahm an, und die Augen hinter seiner Hornbrille verengten sich. »Alles klar, wir treffen uns unten.«

Rasch steckte er das Gerät ein und deutete zu Lenas Tasche, die noch immer neben ihrem Stuhl lag. »Schnappen Sie sich Ihre Sachen«, zischte er, »wir müssen hier weg. Scheint so, als sei der Anschlag noch nicht zu Ende.«

»Wie meinen Sie das?«

»Ralf berichtete gerade, dass unten in der Lobby ein Trupp Feuerwehrleute eingetroffen sei, der auf dem Weg zu uns rauf ist.«

»Aber hier ist doch gar nichts passiert.«

»Eben. Beeilung!«

Lena warf sich verstört ihre Tasche über, und gerade als Fink seine nehmen wollte, setzte hinter den Scheiben des Konferenzsaals ein immer lauter werdendes Wummern ein. Dem seltsamen Geräusch folgte ein großer Schatten, der sich vor dem Wolkenkratzer allmählich zu ihrer Etage absenkte: ein Helikopter der NTBN. Was wollten die Reporter hier?

Der Hubschrauber drehte sich, kaum dass er auf ihrer Höhe war, wurde eine Seitentür geöffnet, und Lena glaubte zunächst einen Kameramann samt seinem Filmgerät zu sehen – bis sie begriff, dass der Fremde im Hubschrauber hinter einem schweren Maschinengewehr saß.

»Runter!«

Lena wurde keine Sekunde zu spät von Fink zu Boden gerissen, denn schon hämmerte die Waffe im Hubschrauber los. Das Stakkato an Kugeln verwandelte die riesigen Fensterscheiben in einen berstenden Scherbenregen und mähte die Reihen der noch immer perplex dastehenden Wirtschaftsvertreter gnadenlos nieder. Gellende Schreie ertönten, Lena sah entsetzt mit an, wie gleich mehrere der Delegierten brutal von Kugeln durchsiebt wurden, während der ihr bekannte Dolmetscher weiter hinten schwer gegen die Wand gefegt wurde und in einer breiten Blutspur zu Boden rutschte. Auch Lena schrie vor lauter Angst, bis eine harte Ohrfeige Finks sie aus ihrer Erstarrung riss.

»Reißen Sie sich zusammen, wenn Sie überleben wollen!«, herrschte er sie an.

Noch immer beherrschten das laute Dröhnen des Hubschraubers und das beständige Rattern des Maschinengewehrs die unwirkliche Szenerie. Der von den Rotoren verursachte Wind fegte wie ein Sturm durch den Saal, überall flogen Glassplitter und Papiere herum, Tische stürzten um, und mehr Menschen fielen im Kugelhagel. Zwar hatten viele ebenfalls Deckung gesucht, dennoch lagen überall Verletzte und Sterbende, deren Schreie an Lenas Nerven zerrten. Fink hingegen versuchte, an seine Aktentasche zu gelangen, doch diese rutschte im Wind über den Boden und blieb unerreichbar zwischen einer Leiche und einem umgekippten Tisch liegen. Nur am Rande nahm Lena wahr, wie Fink an seiner Armbanduhr nestelte, und plötzlich ging die Aktentasche in Flammen auf.

Er rief ihr etwas zu und robbte an einem umgekippten Stuhl und einer weiteren Leiche vorbei in Richtung Saaltür. Eine der Servierkräfte hatte sie zwar noch öffnen, aber nicht mehr hindurchgehen können. Die junge Frau lag in einer immer größer werdenden Blutlache am Boden, und Lena erkannte an ihrem starren Blick, dass auch sie längst tot war. Doch angesichts des Grauens um sie herum siegte ihr Überlebensinstinkt.

Verzweifelt robbte sie hinter Fink her, während schräg über ihr eine weitere Kugelsalve Wände und Türen perforierte. Sie hatte das Gefühl, dass der Schütze inzwischen vor allem den Ausgang unter Beschuss nahm. Dennoch schafften sie es, in den Eingangsbereich zu gelangen, wo sich einige verängstigte Hotelmitarbeiter hinter Möbeln und Tresen verschanzt hatten. Der Rest war bereits rüber zur Treppe neben den Fahrstühlen gestürmt.

Ihr Chef zog sie hoch, und ein Querschläger zischte an ihrem Kopf vorbei, bevor das Rattern des Maschinengewehrs endete, und sie hörten, wie sich der Hubschrauber vom Wolkenkratzer entfernte. Lena wollte zurück in den Saal stürzen, um den Verletzten zu helfen, als Fink sie brüsk aufhielt.

»Nicht! Hier entlang.«

Geduckt zog er sie in Richtung eines abzweigenden Flurs, als sich weiter hinten die Lifttüren öffneten. Ein halbes Dutzend Männer in schwerer Feuerwehrmontur und Rauchmasken stürmte heraus und schlug brutal einen Verletzten nieder, der aus dem Konferenzsaal wankte. Fink hatte recht behalten, denn auch diese Männer waren mit Maschinenpistolen bewaffnet. Vier von ihnen stürmten in den Saal, während die beiden übrigen einen der verbliebenen Hotelbediensteten packten und ihm ein Handy vor das Gesicht hielten. Der Mann glotzte drauf und deutete verstört in ihre Richtung.