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Der Aktienmarkt ist in Zeiten turbulenter Welt- und Wirtschaftspolitik nichts für schwache Nerven. Wie kann der durchschnittliche Anleger auf beängstigende Volatilität reagieren? Die Antwort: sich an Burton G. Malkiel wenden. Denn in seinem Mega-Bestseller leitet er den angehenden Aktionär mit Sachlichkeit und Ruhe durch den Anlageprozess. »A Random Walk Down Wall Street« hat sich nach seinem Erscheinen schnell als ein maßgebliches Buch für den Aktieneinsteiger etabliert und wird seinem Ruf bis heute gerecht. In dieser aktualisierten Jubiläumsausgabe findet sich zudem neues Material über die aktuelle Bitcoin-Blase und Robo-Advisors sowie ein brandneues Kapitel über Factor Investing und Risikoparität. Und wie schon bei der Erstausgabe werden Malkiels Kernerkenntnisse – über Aktien und Anleihen, aber auch über Immobilieninvestmentfonds, Wohneigentum und Sachwerte wie Gold und Sammlerstücke – sowie über die Random-Walk-Theorie, die nicht-vorhersehbarkeit der Kurse, jedem, der einen ruhigen Weg durch die heutigen Finanzmärkte sucht, Vertrauen und Gelassenheit zurückzugeben. Ein Klassiker, den jeder gelesen haben muss, der an der Börse aktiv ist.
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Seitenzahl: 579
Veröffentlichungsjahr: 2023
BURTON G. MALKIEL
WARUM BÖRSENERFOLG KEIN ZUFALL IST
Die bewährte Strategie für erfolgreiches Investieren
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie. Detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
Für Fragen und Anregungen
Originalausgabe
1. Auflage 2023
© 2023 by FinanzBuch Verlag, ein Imprint der Münchner Verlagsgruppe GmbH
Türkenstraße 89
80799 München
Tel.: 089 651285-0
Fax: 089 652096
Die englischsprachige Originalausgabe dieser komplett überarbeiteten Neuausgabe erschien 2023 bei W.W. Norton.
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Die im Buch veröffentlichten Ratschläge wurden von den Verfassern und Verlag sorgfältig erarbeitet und geprüft. Eine Garantie kann jedoch nicht übernommen werden. Ebenso ist die Haftung des Verfassers beziehungsweise des Verlages und seiner Beauftragten für Personen-, Sach- und Vermögensschäden ausgeschlossen.
Übersetzung: Petra Pyka
Redaktion: Judith Engst
Korrektorat: Manuela Kahle
Umschlaggestaltung: Pamela Machleidt, in Anlehnung an das Cover der englischsprachigen Originalausgabe
Umschlagabbildung: Pfeil: timurockart/shutterstock.com
Satz: Carsten Klein, Torgau
eBook: ePUBoo.com
ISBN Print 978-3-95972-681-8
ISBN E-Book (PDF) 978-3-98609-309-9
ISBN E-Book (EPUB, Mobi) 978-3-98609-310-5
Weitere Informationen zum Verlag finden Sie unter
www.finanzbuchverlag.de
Beachten Sie auch unsere weiteren Verlage unter www.m-vg.de
Danksagung
Geleitwort zur Jubiläumsausgabe
Erster Teil: Aktien und was sie wert sind
Erstes Kapitel: Solide Grundlagen und Luftschlösser
Zweites Kapitel: Der Massenwahn
Drittes Kapitel: Spekulationsblasen von den 60ern bis in die 90er-Jahre
Viertes Kapitel: Die explosiven Blasen der ersten Jahrzehnte des 21. Jahrhunderts
Zweiter Teil: Wie die Profis am ganz großen Rad drehen
Fünftes Kapitel: Die technische und die fundamentale Analyse
Sechstes Kapitel: Die technische Analyse und die Theorie vom Zufallsweg
Siebtes Kapitel: Was taugt die Fundamentalanalyse? Die Effizienzmarkthypothese
Dritter Teil: Die neue Investmenttechnologie
Achtes Kapitel: Ein neuer Wanderschuh – die moderne Portfoliotheorie
Neuntes Kapitel: Wie es sich auszahlen kann, mehr Risiken einzugehen
Zehntes Kapitel: Die Verhaltensökonomie (Behavioral Finance)
Elftes Kapitel: Neue Methoden des Portfolioaufbaus – Smart Beta, Risikoparität und ESG-Investments
Vierter Teil: Ein praktischer Leitfaden für Anleger, die den Zufallsweg beschreiten – und für alle anderen auch
Zwölftes Kapitel: Ein Fitness-Ratgeber für Anleger auf dem Zufallsweg – und für alle anderen
Dreizehntes Kapitel: Finanzwettbewerb mit Handicap – wie Sie die Erträge aus Aktien und Anleihen verstehen und hochrechnen können
Vierzehntes Kapitel: Ein Anlageratgeber fürs Leben
Fünfzehntes Kapitel: In drei Riesenschritten über die Wall Street
Epilog
Für Nancy und Piper
Mein Dank gilt insbesondere den vielen Menschen, die mir die nötigen Daten geliefert haben, um die empirischen Analysen zu aktualisieren, die den Empfehlungen dieses Buches zugrunde liegen. Heute, 50 Jahre nach der Erstausgabe von A Random Walk Down Wall Street, bin ich von der ursprünglichen These des Buches sogar noch mehr überzeugt. Die aus dem vergangenen halben Jahrhundert an Anlageerfahrung bezogenen Daten stützen eindeutig die Auffassung, dass möglichst breit aufgestelltes Index-Investing die optimale Strategie zur Vermögensverwaltung darstellt.
Den bereits in früheren Ausgaben erwähnten Personen bin ich weiterhin dankbar. Darüber hinaus möchte ich die Namen etlicher Menschen erwähnen, die mir mit speziellen Beiträgen zu dieser Jubiläumsausgabe besonders geholfen haben. Kristen Perleberg von der Leuthold Group lieferte aktualisierte Berechnungen, die historische Muster von Wertpapiererträgen erläutern. Larry Swedroe überließ mir seine Daten zur Faktorstruktur von Wertpapiererträgen sowie die historischen Ergebnisse einer ausdrücklichen Berücksichtigung der Aspekte Umwelt, Soziales und Unternehmensführung in Bezug auf Portfolioanlagen. Jeremy Schwartz und Jeremy Siegel aktualisierten ihre Berechnungen langfristiger Aktienrenditen. Scott Donaldson lieferte aktuelle Notierungen für die Jahresrenditen.
Andrew Schulman von der Vanguard Group erfasste Daten zu Investmentfonds, die den Berechnungen für viele der Grafiken und Simulationen zugrunde liegen, auf denen die Anlageempfehlungen der folgenden Seiten beruhen. Bei der Analysearbeit unterstützte mich meine studentische Hilfskraft Shazra Raza aus Princeton. James Lange engagierte sich auf vielerlei Weise für diese Jubiläumsausgabe.
Mit W. W. Norton arbeite ich nach wie vor hervorragend zusammen und möchte mich bei Brendan Curry und Caroline Adams bedanken, die unverzichtbare Beiträge dazu leisteten, dass diese Ausgabe veröffentlicht werden konnte.
Mit Abstand am meisten zur erfolgreichen Fertigstellung der bisherigen neun Ausgaben hat meine Frau Nancy Weiss Malkiel beigetragen. Neben liebevollem Zuspruch und Rückhalt hat sie auch aufmerksam verschiedene Manuskriptfassungen gelesen und mit unzähligen Anmerkungen für Klarheit und enorme Verbesserungen gesorgt. Sie kann nach wie vor Fehler finden, die mir und anderen in verschiedenen Korrektur- und Redaktionsdurchläufen entgangen sind. Vor allem aber bringt sie unglaublich viel Freude in mein Leben. Niemand verdient es mehr als sie und ihre zweitbeste Freundin Piper, in einem Buch mit einer Widmung bedacht zu werden.
Burton G. Malkiel
Princeton University
Juli 2022
Fünfzig Jahre sind vergangen, seit A Random Walk Down Wall Street erstmals aufgelegt wurde. Die Anlageempfehlung der Urausgabe war ganz einfach: Anleger könnten deutlich bessere Ergebnisse erzielen, wenn sie einen breit aufgestellten Indexfonds kaufen und halten, statt zu versuchen, einzelne Wertpapiere oder aktiv verwaltete Investmentfonds zu kaufen und zu verkaufen. Ich behauptete kühn, dass sich alle Informationen mit Einfluss auf die Aussichten einzelner Unternehmen rasch in den Kursen ihrer Aktien niederschlagen würden. Unter diesen Umständen könnte ein Schimpanse, der mit verbundenen Augen Dartpfeile auf eine Kursliste wirft, ein Portfolio auswählen, dass sich ebenso gut entwickeln würde wie ein von Fachleuten zusammengestelltes. Natürlich lautete die Empfehlung nicht, tatsächlich Pfeile zu werfen. Die passendere Analogie wäre ohnehin, gar nicht auf die Kursliste zu schauen und ein Portfolio zu halten, dass sich aus allen Aktien zusammensetzt, die in einem breiten Aktienmarktindex vertreten sind. Ein solches Portfolio dürfte professionell verwaltete Aktienfonds überrunden, deren hohe jährliche Gebühren, erhebliche Handelskosten und die Besteuerung die Anlagerendite mindern.
Heute, fünfzig Jahre später, bin ich von meiner ursprünglichen These sogar noch mehr überzeugt – und kann das mit siebenstelligen Gewinnen untermauern. Das Portfolio eines Anlegers, der Anfang 1977 (als der erste Indexfonds auf den Markt kam) mit 10.000 US-Dollar Anlagekapital ins Rennen ging, hätte Anfang 2022 einen Wert von 2.143.500 US-Dollar gehabt – unter der Voraussetzung, dass alle Dividenden reinvestiert wurden. Ein zweiter Anleger, der stattdessen Anteile an einem durchschnittlichen aktiv verwalteten Investmentfonds gehalten hätte, hätte ein Wachstum seiner Anlage auf 1.477.033 US-Dollar verzeichnet. Die Differenz ist gewaltig. Bis einschließlich 1. Januar 2022 hätte der Indexanleger einen Vorsprung von atemberaubenden 666.467 US-Dollar verbucht – zwei Drittel einer Million!
Die Auffassung, dass Index-Investing die optimale Anlagestrategie darstellt, ist heute weit verbreitet. Mittlerweile entfällt über die Hälfte des in Aktienfonds angelegten Kapitals auf Indexfonds. Weitere Billionen werden in börsengehandelte Indexfonds investiert (die sogenannten Exchange-Traded Funds, kurz ETFs – Indexfonds, die an öffentlichen Wertpapiermärkten gehandelt werden). Anfangs wurde der Gedanke, Anleger sollten Indexfonds kaufen, aber als verrückt und unklug verlacht.
Zu sagen, Random Walk hätte auf Anhieb wenig Anklang gefunden, wäre drastisch untertrieben. Die Erstausgabe wurde in einer von einem Börsenprofi verfassten Rezension in der Zeitschrift BusinessWeek gründlich verrissen. Der Rezensent vertrat den Standpunkt, die vorgestellten Ideen seien bestenfalls naiv, schlimmstenfalls unausgegoren. Der Rezensent konnte nicht begreifen, weshalb sich Anleger mit »garantierter Mittelmäßigkeit« zufriedengeben sollten. Andere Rezensenten bezeichneten die Vorstellung, unsere Finanzmärkte seien einigermaßen effizient, als »einen der himmelschreiendsten Irrtümer in der Geschichte des Wirtschaftsdenkens«.
Glücklicherweise focht mich das nicht an. Ich dachte mir, wenn keiner kritisiert, was ich schreibe, dann hätte ich mir die Mühe gleich sparen können. Wer nichts sagt und nichts tut, wird auch nicht kritisiert.
Drei Jahre nach der Erstveröffentlichung des Buches führte Jack Bogle, CEO der Vanguard Group, den ersten Indexfonds ein, in den das breite Publikum investieren konnte. Dieser »First Index Fund« stieß ebenso wenig auf Gegenliebe wie Random Walk. Vanguard legte seinen neuen Fonds auf und beauftragte etliche Wall-Street-Investmentbanker damit, Anteile im Gesamtvolumen von 250 Millionen US-Dollar zu verkaufen. Sie konnten aber nur Anteile im Wert von 11 Millionen US-Dollar an den Mann bringen. Vanguard war sogar bereit, Fondsanteile hinfort ohne Provision anzubieten, aber dennoch ließen sich nur wenige Käufer auf den Plan locken. Im Scherz sagte ich zu Jack Bogle, er und ich seien wohl die einzigen Anteilsinhaber. Der Fonds wurde von vielen als Flop bezeichnet – als »Bogles Schnapsidee«, »zum Scheitern verurteilt« oder gar als »unamerikanisch«. Viele Jahre lang floss nur wenig Kapital in den Indexfonds. So optimistisch Jack Index-Investing beurteilte – selbst er hätte sich nicht vorstellen können, dass Indexfonds irgendwann Billionen Dollar Anlagekapital auf sich ziehen würden.
Auf den folgenden Seiten finden Leserinnen und Leser glaubhaft bestätigt, dass unsere Märkte neue Informationen unverzüglich und hoch effizient widerspiegeln. Mehr noch: Die über Jahre hinweg gesammelten stichhaltigen Belege sollten auch Skeptiker von der Indexing-Theorie überzeugen, die ich vertrete. Vor allem aber ist das Buch seit jeher als umfassender Anlageratgeber zu verstehen – und die ausgesprochen praktischen Einsatzmöglichkeiten der dargelegten Ideen werden genau erläutert. Vorweg möchte ich Ihnen jedoch gern so einfach wie möglich erklären, was mit dem Begriff »effiziente Märkte« gemeint ist und wie er in den Medien häufig falsch interpretiert wird. Und ich möchte klarstellen, welche vernünftigen Argumente dafür sprechen, Indexfonds zum Kerninvestment jedes Anlegers zu machen, der Vermögen aufbauen will, um einen sorglosen Ruhestand zu genießen oder sich finanziell abzusichern.
Die Theorie, die hinter der Auffassung steht, dass Index-Investing die beste Methode ist, um den Kern ihres Portfolios zu bilden, trägt den hochtragenden Titel »Markteffizienzhypothese« (Efficient Market Hypothesis oder kurz EMH). Albert Einstein sagte einst über Hypothesen und Theorien, wer sie einem sechsjährigen Kind nicht erklären könne, der habe sie selbst nicht verstanden. Hier also meine einfache Erklärung der Theorie.
Die Markteffizienzhypothese setzt sich aus zwei Grundsätzen zusammen, nämlich zum einen, dass sich öffentlich verfügbare Informationen unverzüglich in den Aktienkursen niederschlagen. Informationen, die sich positiv (oder negativ) auf den künftigen Kurs eines Finanzinstruments auswirken sollten, gehen demzufolge schon heute aus dem Preis des Vermögenswerts hervor. Erhält ein Pharmaunternehmen, das derzeit für 20 US-Dollar pro Aktie gehandelt wird, die Zulassung für ein neues Medikament, das den Unternehmenswert morgen auf 40 US-Dollar pro Aktie ansteigen lässt, wird der Aktienkurs sofort auf 40 US-Dollar klettern – nicht erst nach und nach. Weil jedem, der die Aktie zu einem Kurs unter 40 US-Dollar erwirbt, ein unmittelbarer Gewinn winkt, dürfen wir davon ausgehen, dass die Marktteilnehmer den Kurs unverzüglich auf 40 US-Dollar in die Höhe treiben werden.
Es kann natürlich vorkommen, dass sich die neuen Informationen den Marktteilnehmern nicht sofort in letzter Konsequenz erschließen. Manche Marktteilnehmer unterschätzen womöglich die Bedeutung des Medikaments, andere überschätzen sie dagegen vielleicht. Daher könnten die Märkte auf Neuigkeiten unter- oder überreagieren. Die COVID-19-Pandemie hat idealtypisch vorgeführt, wie die Anlegerstimmung und die Problematik, das Ausmaß und die Schwere der resultierenden wirtschaftlichen Verwerfungen die Marktvolatilität anheizen können. Längst nicht so klar ist jedoch, dass systematische Unter- oder Überreaktionen auf Nachrichten für Aktienmarktanleger eine Gelegenheit darstellen, außergewöhnliche Gewinne zu erzielen. Aus genau diesem Aspekt der EMH ergibt sich der zweite – und meines Erachtens grundlegendste – Grundsatz der Hypothese: Auf einem effizienten Markt eröffnen sich keine Möglichkeiten, außergewöhnliche Gewinne zu erzielen, ohne außergewöhnliche Risiken einzugehen.
Dieser Mangel an Gelegenheiten für den großen Reibach wird oft mit einem Witz erklärt, der unter Finanzprofessoren kursiert. Ein Professor, der die EMH vertritt, geht mit einem Studenten die Straße entlang. Der Student findet einen Hundertdollarschein auf dem Boden und bückt sich, um ihn aufzuheben. »Die Mühe können Sie sich sparen«, sagt der Professor. »Wäre das ein echter Hundertdollarschein, würde er nicht hier liegen.« In einer etwas abgeschwächten Version der Geschichte würde der Professor dem Studenten vielleicht raten, den Schein möglichst schnell aufzuheben, weil er sicher nicht mehr lange herumliegen würde. Auf einem effizienten Markt sorgt der Wettbewerb dafür, dass Chancen auf außergewöhnlich hohe risikoadjustierte Gewinne nicht lange bestehen.
Die EMH besagt nicht, dass die Kurse immer »richtig« sind oder die Marktteilnehmer stets rational handeln. Es gibt reichlich Indizien dafür, dass viele (vielleicht sogar die meisten) Marktteilnehmer alles andere als rational handeln und bei der Informationsverarbeitung und ihren Handelsvorlieben unter systematischen Verzerrungen leiden. Doch selbst wenn die Preise stets von rationalen Anlegern bestimmt würden, können die Kurse (die auf unvollkommenen Prognosen beruhen) nie »richtig« sein. Sie sind ständig »falsch«. Die EMH besagt, dass wir nie sicher sein können, ob sie zu hoch oder zu niedrig sind. Und sämtliche Erträge, die auf Einschätzungen beruhen, die besser zutreffen als der Marktkonsens, stellen keine Gelegenheiten für außergewöhnliche Gewinne dar, ohne dass damit weitaus höhere Risiken verbunden wären als mit dem Erwerb eines breit aufgestellten Indexfonds.
Mir ist absolut bewusst, dass die Aktienmärkte mitunter ungeheuerliche Fehler begehen. So trieb beispielsweise im Januar 2021 eine Horde außer Rand und Band geratener Internetinvestoren den Kurs von GameStop von 15 auf fast 500 Dollar pro Aktie, bevor er im Februar dann wieder auf dem Boden der Tatsachen landete. Anfang 2000 kletterte der gesamte Aktienmarkt in nie dagewesene Höhen. In der Folgezeit brachen die Werte, die diesen Anstieg angeführt hatten, um 90 Prozent oder mehr ein. Doch selbst diese spektakuläre Blase (die als »vernichtendes Urteil« über die EMH gewertet wurde) lieferte keinen leichten Weg zu Überrenditen.
Niemand hätte sagen können, wie stark sich die Blase aufblähen und wann sie aller Voraussicht nach platzen würde. 1996 hatten Aktienkurse und Bewertungskennzahlen bereits ein außergewöhnliches Niveau erreicht. Das Kurs-Gewinn-Verhältnis ging förmlich durch die Decke. Das veranlasste den US-Notenbankchef Alan Greenspan zu seiner berühmten Rede, in der er vom Blasenterritorium des Aktienmarktes und vom »irrationalen Überschwang« der Anleger sprach. Danach kletterte der Aktienmarkt noch vier Jahre kräftig weiter. Langfristig orientierte Anleger, die nach der Rede Aktien gekauft hatten, erzielten reichlich Rendite.
Heute (im Rückblick) wissen wir, dass die Marktkurse Anfang 2000 das Höchstniveau der Blase erreicht hatten. Doch keiner hatte den Zeitpunkt im Vorfeld genau bestimmen können. Tatsächlich gibt es fundierte Belege dafür, dass sowohl Privatanleger als auch institutionelle Investoren, die versuchen, auf dem Markt den richtigen Zeitpunkt zu erwischen, unweigerlich in die Irre gehen. Sie kaufen zu Höchstkursen, wenn allenthalben Optimismus herrscht, und sie verkaufen am Tiefpunkt, wenn überall Pessimismus um sich greift. Zwar haben manche Anleger über bestimmte Zeiträume durchaus Überrenditen erzielt, indem sie treffsicherer urteilten als der Marktkonsens, doch solche Gewinne stellten keineswegs ungenutzte Arbitragechancen auf risikolose außergewöhnliche Erträge dar. Diese Geschäfte waren vielmehr hochriskant, und für viele andere, die gegen den Markt agierten, bedeuteten sie den finanziellen Ruin. Selbst manche Hedgefonds, die gegen GameStop wetteten, als der Titel noch im Höhenflug war, erlitten ruinöse Verluste.
Die Vorstellung, dass die Märkte in der Lage sind, neue Informationen einigermaßen schnell und zeitnah zu verarbeiten, steht mit der Ansicht in Zusammenhang, dass sich die Aktienkurse über längere Zeit eher zufällig entwickeln. Der Begriff der »Zufallsbewegung« (englisch: Random Walk) ist ein mathematisches Modell, demzufolge die nächste Zahl in einer Zahlenfolge von der vorangegangenen unabhängig und nicht vorhersehbar ist. Der Begriff taucht offenbar erstmals in einem Schriftwechsel auf, der 1905 im Fachmagazin Nature erschien. Gegenstand war das optimale Suchverfahren, um einen Betrunkenen zu finden, der mitten auf einem Feld zurückgelassen worden war. Die Lösung war recht kompliziert, doch der Ausgangspunkt war schlicht der Ort, an dem sich der Betrunkene zuletzt gesichert aufhielt – denn sobald er sich in Bewegung setzte, würde er vermutlich auf planlose, unvorhersehbare Weise herumwanken.
Ebenso gilt: Beziehen die Aktienkurse die Informationen und Markterwartungen sämtlicher Marktteilnehmer komplett ein, folgen Preisveränderungen unweigerlich dem Zufallsprinzip. Natürlich verändern sich die Preise, wenn neue Informationen auf dem Markt eingehen, doch echte Neuigkeiten entstehen zufällig. Sie lassen sich nicht aus vorausgegangenen Ereignissen extrapolieren. Daher sind Preisveränderungen auf einem informationseffizienten Markt grundsätzlich nicht prognostizierbar. Zufällige Kursbewegungen bedeuten aber nicht, dass der Aktienmarkt launenhaft wäre. Die Zufälligkeit ist vielmehr ein Indiz dafür, dass ein Markt gut und effizient funktioniert und sich nicht irrational verhält.
Gehen aus den Kursen sämtliche bekannten Informationen hervor, so erzielen selbst uninformierte Anleger, die sich zu Marktpreisen ein breit gestreutes Portfolio zulegen, eine genauso hohe Rendite wie Fachleute.
Natürlich kann es vorkommen, dass der Aktienmarkt ein bestimmtes nachrichtenwürdiges Ereignis nicht vollständig einpreist. Auch können tägliche Kursveränderungen manchmal vom Zufallsprinzip abweichen. Deshalb ist mit Blick auf den Aktienmarkt vermutlich eher von einer »relativen« Effizienz auszugehen als von einer absoluten. Dem Ökonomen Andrew Low vom Massachusetts Institute of Technology zufolge würde kaum ein Ingenieur auf den Gedanken kommen zu prüfen, ob ein bestimmter Motor vollkommen effizient läuft. Allerdings würde ein solcher Ingenieur durchaus zu messen versuchen, wie effizient sich dieser Motor im Vergleich zum reibungsfreien Idealbetrieb verhält. Ebenso unrealistisch ist es, unseren Finanzmärkten als Voraussetzung für die Akzeptanz der EMH absolute Effizienz abzuverlangen. Ich bin aber überzeugt, dass die Märkte Informationen ganz hervorragend einpreisen und dass unsere Aktienmärkte ausgesprochen effizient funktionieren. Den Beweis dafür liefert unwiderlegbar, dass kostengünstige Indexfonds keinesfalls mittelmäßig abschneiden. Indexfonds liefern Anlegern Renditen, die um 1 vollen Prozentpunkt höher ausfallen, als die von einem durchschnittlichen aktiv verwalteten Investmentfonds erzielten.
Dass die Marktkurse immer mal wieder Kapriolen schlagen, lässt viele an der EMH (und selbst an der relativen Effizienz) zweifeln. Doch auch die Zweifler sollten zu Indexfonds als optimale Portfolioanlagen greifen. Indexfonds sollten nämlich auch dann weiterhin besser abschneiden als aktiv gemanagte Fonds, wenn die Märkte nicht effizient sind.
Beziehen Sie folgende Logik in Ihr Kalkül ein: Unbestreitbar müssen sämtliche Aktien eines beliebigen Marktes von irgendjemandem gehalten werden. So befinden sich alle Aktien des US-amerikanischen Marktes in den Händen von Privatanlegern oder Institutionen. Das gesamte Anlegerpublikum erzielt demnach einen Bruttoertrag, der dem entspricht, was der Aktienmarkt abwirft. Als Gruppe erwirtschaften Indexfonds gleichfalls den Marktertrag, indem sie alle auf dem gesamten Markt befindlichen Aktien halten. Daraus folgt jedoch zwingend, dass sämtliche übrigen Anleger, die ihre Portfolios aktiv verwalten, ebenfalls den Bruttomarktertrag erzielen, weil die ihnen zur Verfügung stehenden Aktien einen Teil des gesamten Marktportfolios darstellen.
Durch den Wettbewerb wurden die von Indexfonds erhobenen Kosten im Grunde gegen null gedrückt. Dagegen zahlen die Anleger aktiv verwalteter Investmentfonds Gebühren von annähernd 1 Prozent pro Jahr (die durchschnittliche Kostenquote, die von Anlegern aktiver Fonds verlangt wird). Anlegern, die in Indexfonds investieren, bleibt daher ein Nettoertrag, der die Rendite, die Anleger aktiver Fonds erzielen, im Schnitt um fast 1 Prozentpunkt pro Jahr übersteigt. Dass für Indexfonds (die nicht so oft von einem Wertpapier in ein anderes umschichten) außerdem niedrigere Transaktionskosten und Steuern anfallen, ist in dieser Rechnung noch gar nicht berücksichtigt.
Der überzeugendste Beleg dafür, dass unsere Aktienmärkte äußerst effizient funktionieren, besteht meiner Ansicht nach darin, dass sie so schwer zu schlagen sind. Würden die Marktkurse generell von irrationalen Anlegern bestimmt und wären vorhersagbare Muster von Wertpapierrenditen oder ausnutzbare Fehlbewertungen von Wertpapieren leicht zu ermitteln, sollten professionelle Manager eigentlich in der Lage sein, den Markt zu schlagen. An anderer Stelle in diesem Buch werde ich noch ausführlich nachweisen, wie schlecht die Manager aktiver Fonds wirklich abschneiden. Im Moment will ich es dabei bewenden lassen, dass rund zwei Drittel aller professionell verwalteten Aktienportfolios weniger Rendite abwerfen als ein einfacher Indexfonds. Dabei sind die Portfolios aus dem einen Drittel, das den Markt in einem bestimmten Jahr übertrifft, gewöhnlich nicht dieselben, denen dieses Kunststück im Folgejahr gelingt. Ein Blick auf die Wertentwicklung aktiv verwalteter Investmentfonds über 10 und 15 Jahre ergibt daher, dass 90 Prozent der aktiv verwalteten Produkte schlechter abschneiden als der Markt. Es gibt durchaus Fonds, die mehr abwerfen als der Markt. Doch den Star unter den Stockpickern zu finden, gleicht der sprichwörtlichen Suche nach der Nadel im Heuhaufen. Wer versucht, auf den künftigen Spitzenreiter zu setzen, erzielt höchstwahrscheinlich ein schlechteres Ergebnis als mit einem einfachen Indexfonds. Und dass ein bestimmter Fondsmanager den Markt im vergangenen Jahr oder Jahrzehnt geschlagen hat, heißt noch lange nicht, dass ihm das auch im nächsten Jahr oder Jahrzehnt gelingen wird. Direkte Messgrößen für die Renditen, die tatsächlich von Profis erzielt werden, deren Vergütung starke Anreize enthält, Überrenditen zu erwirtschaften, liefern den besten Beweis für die Effizienz des Marktes. Wie heißt es noch an der Wall Street? Sobald einer sicher ist, die Schlüssel in der Hand zu haben, um den Markt zu schlagen, werden die Schlösser ausgewechselt.
Stellt sich die Frage: Trifft die grundlegende Aussage dieses Buches zu (dass die Märkte effizient sind und Indexing die beste Strategie für Anleger), warum brauchte es in seiner 50-jährigen Geschichte dann 13 Ausgaben? Die Antwort lautet, dass sich die Finanzinstrumente, die dem Anlegerpublikum zur Verfügung stehen, stark verändert haben und dass sich die Indizien gehäuft haben, die für die von mir empfohlenen Anlagestrategien sprachen. Zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung gab es noch gar keine Indexfonds. Jeder umfassende Anlageratgeber für Privatanleger muss immer wieder aktualisiert werden, um die gesamte Palette aller verfügbaren Anlageprodukte abzudecken. Außerdem können Anleger auch von einer kritischen Auseinandersetzung mit der Fülle neuer Informationen von Wissenschaftlern und Marktexperten profitieren – in Worten, die wirklich jeder verstehen kann, der sich für die Kapitalanlage interessiert. Es kursieren so viele irreführende Behauptungen über den Aktienmarkt, dass ein Buch, das die Dinge richtigstellt, dringend gebraucht wird.
In den vergangenen 50 Jahren haben wir uns an ein rasantes Tempo des technischen Wandels in unserer physischen Umwelt gewöhnt. Heute konsumieren wir Filme und Videospiele viel häufiger zu Hause über Streaming-Dienste, als ins Kino zu gehen oder uns eine DVD zu kaufen. Auch nach dem Abklingen der COVID-19-Pandemie finden viele soziale Kontakte weiterhin im virtuellen Raum statt. Wir beziehen unsere tagesaktuellen Informationen immer öfter aus dem Internet. Medizinischer Fortschritt wirkt sich wesentlich auf unsere Lebensqualität aus. Elektrofahrzeuge und selbstfahrende Autos gehören nicht länger ins Reich der Science-Fiction. Unsere Lernfähigkeit wird durch künstliche Intelligenz verstärkt und die Cloud-Technologie ermöglicht es Unternehmen, innovativer und agiler zu werden und Kosten zu sparen.
Parallel dazu gab es ebenso rasante Innovationen im Finanzsektor. 1973, als dieses Buch erstmals aufgelegt wurde, gab es weder Geldmarktfonds noch Geldautomaten, Indexfonds, ETFs, steuerbegünstigte Fonds, Schwellenländerfonds, Lebenszyklusfonds, variabel verzinste Floater, Volatilitätsderivate, inflationsgeschützte Wertpapiere, Aktien-REITs, forderungsbesicherte Wertpapiere, Roth IRAs, 529 College Saving Plans (steuerbegünstigte Altersvorsorgepläne in den USA, Anmerkung der Redaktion), Nullkuponanleihen, Finanz- und Rohstoff-Futures und -Optionen oder neue Handelstechniken, um nur ein paar Veränderungen in unserer Finanzwelt zu nennen.
Heute können wir provisionsfrei über das Smartphone mit Aktien handeln. In Indizes kann man über Fonds und ETFs investieren, für die fast keine jährlichen Kosten anfallen. Viel von diesem neuen Stoff wurde bereits in Folgeausgaben dieses Buches verarbeitet, welche die Finanzinnovationen erklären und zudem aufzeigen sollten, welche davon der Privatanleger nutzen kann. Doch in diese Jubiläumsausgabe ist so viel Neues eingeflossen, dass sie auch für Leserinnen und Leser interessant sein könnte, die im College oder auf der Business School bereits eine frühere Ausgabe gelesen haben.
Das Buch ist und bleibt vom Grundsatz her ein lesbarer Investmentratgeber für Privatanleger. Es hebt hervor, wie wichtig es ist, regelmäßig Geld auf die Seite zu legen und in Indexfonds zu investieren – als einzig verlässlichen Weg zum Vermögensaufbau. Erkenntnisse über Diversifizierung und Neugewichtung werden als effektive Methoden zur Risikobegrenzung angeführt. Das Buch zeichnet nach, wie hohe Kostenquoten Investmenterträge aufzehren können und welchen Interessenkonflikten sogenannte Vermögensverwalter ausgesetzt sind, die ihre eigenen Interessen so oft vor die Interessen ihrer Kunden stellen. Außerdem macht es deutlich, wie wichtig Steuerplanung ist, und liefert verschiedene Pläne, die es Privatanlegern ermöglichen, ihre Renditen im Zeitverlauf zu steigern und dabei Steuern zu vermeiden.
Vor allem aber soll Ihnen dieses Buch Unabhängigkeit verschaffen. Sie erfahren darin nicht nur, wie die Börse funktioniert, sondern können sich ein für alle Mal des Eindrucks entledigen, Sie könnten ohnehin keine optimale Anlageentscheidung treffen. Börsenprofis behaupten oft, Kapital richtig anzulegen, sei für normale Menschen zu kompliziert. Nichts liegt der Wahrheit ferner. Die besten Anlagestrategien sind erstaunlich einfach. Ich möchte Ihnen zeigen, wie leicht Sie fundierte, effektive Anlageentscheidungen treffen können, um Ihre Ziele zu erreichen und sich finanziell abzusichern. Lassen Sie sich bloß nicht einreden, dass Sie das nicht alleine schaffen. Sie können Ihr Finanzleben selbst gestalten. Wenn Sie erst merken, dass Sie Ihre Spar- und Anlageentscheidungen eigenständig treffen können, wird Ihnen das nicht nur mehr Zufriedenheit und Stolz verschaffen, sondern auch zu Ihrem emotionalen Wohlbefinden beitragen.
Das ist gar nicht so kompliziert. Als Anleger überdurchschnittlichen Erfolg zu erzielen, geht nämlich ganz einfach. Nicht oft im Leben ist der einfachste Weg auch der intelligenteste. Paradoxerweise gilt aber, dass ein einfaches Anlageprogramm einen umso sichereren Weg zum Investmenterfolg darstellt, je komplexer die Welt wird. Das Schwierigste daran ist, die Disziplin aufzubringen, regelmäßig kleinere Beträge zu sparen und sich auch dann nicht davon abbringen zu lassen, wenn es gelegentlich zu den unvermeidlichen Krisen kommt und wenn die Nachrichten vermuten lassen, dass uns der Himmel auf den Kopf fällt und die wirtschaftliche Katastrophe auf dem Fuße folgt. Dabei werden Sie Ihre rentabelsten Anlagegeschäfte genau dann machen, wenn um Sie herum der größte Pessimismus herrscht.
Das lässt sich sehr überzeugend mit einer Illustration belegen, die die Netto-Ist-Erträge des Aktienmarkt-Indexfonds von Vanguard ausweist. Nehmen wir an, eine Anlegerin oder ein Anleger entscheidet sich in jungen Jahren für einen breit gestreuten Aktienindexfonds als einziges Anlageinstrument. (Ich empfehle jungen Menschen übrigens ausdrücklich, genau das zu tun und sich zur Vermögensbildung einen Aktienindexfonds auszusuchen.) Wer vor 45 Jahren eingestiegen wäre, als die ersten echten Indexfonds auf den Markt kamen, hätte auf diese Weise ein beachtliches Ergebnis erzielt. Nehmen wir an, der Anleger hat ursprünglich 500 Dollar angelegt und diese seither jeden Monat um 100 Dollar aufgestockt. Insgesamt hätte er 53.200 Dollar investiert. Am 1. Januar 2022 wäre das Portfolio knapp 1,5 Millionen Dollar wert gewesen, wenn sämtliche Dividenden in dem Fonds wiederangelegt worden wären.
In den 45 Jahren sah es mehrfach so aus, als stünde das Ende der Welt bevor, wie wir sie kannten. 1987 verlor der Aktienmarkt an einem Tag 20 Prozent. Als im Jahr 2000 die Dotcom-Blase platzte, büßten manche der bekanntesten Wachstumsunternehmen den Großteil ihres Wertes ein. Apple stürzte um 80 Prozent ab, Amazon um über 90 Prozent. Während der Finanzkrise der Jahre 2007 und 2008 wurde das kapitalistische System für tot erklärt. Und als sich 2020 die COVID-19-Pandemie ausbreitete, versicherten uns zahlreiche Presseberichte, die Welt habe sich grundlegend und unwiederbringlich verändert.
Doch sei es, wie es sei: Ein Anleger, der jeden Monat 100 Dollar in einen Aktien-Investmentfonds gesteckt hat, wurde zum Millionär.
Wohlgemerkt sind die oben angeführten Berechnungen, die auf dem Indexfonds von Vanguard beruhen, lediglich eine fiktive Veranschaulichung. Ich kann Ihnen aber versichern, dass sich zahllose Anleger an diesen Rat gehalten haben und heute die Früchte ernten. Die Briefe, die ich von dankbaren Leserinnen und Lesern erhalte, bestätigen mir, dass sich mit den hier empfohlenen einfachen Anlagestrategien in der Realität ähnliche Ergebnisse erzielen lassen.
Ich freue mich, dass sich Random Walk schon so lange hält. Das Buch hat dazu beigetragen, die Vorzüge des passiven Investierens in der Investmentbranche bekannt zu machen. Es hat der Akzeptanz von Exchange Traded Funds (fortlaufend börsengehandelter Indexfonds, kurz ETFs) Vorschub geleistet. Das Buch wurde an Colleges und Business Schools in aller Welt eingesetzt und hat verschiedene zeitlose Portfoliotipps wie Kostenminimierung, regelmäßiges Sparen, Diversifizierung, Neugewichtung und Steuermanagement unter die Leute gebracht. Wichtiger als all das ist jedoch die Befriedigung, dass die Ratschläge dieses Buches zahllosen Normalbürgern geholfen haben, ihre Finanzziele zu erreichen.
Persönlich hat mich in den 50 Jahren, seit dieses Buch erstmals veröffentlicht wurde, nichts glücklicher gemacht als die zahllosen Briefe von Leserinnen und Lesern, die meine Ratschläge befolgt und sich mit wenig Mitteln ein beträchtliches Vermögen aufgebaut haben. Wenn mir jemand schreibt, er habe sein gesamtes Arbeitsleben lang nur ein bescheidenes Gehalt bezogen, jedoch jeden Monat einen kleinen Betrag abgezweigt und in Indexfonds investiert und könne heute einen gesicherten, sorgenfreien Ruhestand genießen, so verschafft mir das eine enorme Genugtuung.
Jeder hofft doch, dass die eigene berufliche Tätigkeit letztlich zum Wohle der Gesellschaft beiträgt. Sollte das Kriterium für einen nützlichen Ratgeber lauten, ob er etwas bewirkt, dann hat Random Walk diesen Test fraglos bestanden.
Was ist ein Zyniker? Ein Mann, der den Preis von allem und den Wert von nichts kennt.
Oscar Wilde, Lady Windermeres Fächer
Mit diesem Buch möchte ich mit Ihnen auf dem Zufallsweg (Random Walk) über die Wall Street spazieren, Ihnen eine Führung durch die komplexe Finanzwelt geben und praktische Ratschläge zu Anlagechancen und -strategien erteilen. Viele sagen, als Privatanleger habe man heute kaum noch eine Chance gegen die Börsenprofis, und verweisen dabei auf professionelle Anlagestrategien, die komplexe Derivate und Hochfrequenzhandel einsetzen. Es gibt vielfache Meldungen über Bilanzbetrug, milliardenschwere Übernahmen und die Aktivitäten finanzkräftiger Hedgefonds. So viel Komplexität lässt vermuten, dass für den Privatanleger auf den Märkten von heute kein Platz mehr ist. Dabei stimmt das ganz und gar nicht. Sie können genauso gut abschneiden wie die Fachleute – vielleicht sogar besser. Es waren die standhaften Anleger, die nicht in Panik verfielen, als die Börse im März 2020 zum Sturzflug ansetzte, die im Anschluss erlebten, wie sich der Wert ihrer Bestände schließlich erholte und diese nach wie vor attraktive Renditen abwarfen. 2008 verspekulierten viele Profis ihr letztes Hemd, indem sie Derivate kauften, die sie nicht durchblickten, wie schon zu Anfang des neuen Jahrtausends, als sie ihre Portfolios mit überteuerten Tech-Werten überluden.
Bei diesem Buch handelt es sich um einen kurz gefassten Ratgeber für Privatanleger. Er deckt alle Themen ab, von Versicherungen bis zu Einkommensteuern. Er erklärt Ihnen, wie Sie eine Lebensversicherung abschließen und wie Sie es vermeiden können, sich von Banken und Maklern über den Tisch ziehen zu lassen. Sie erfahren sogar, was Sie mit Gold, Diamanten und Kryptowährungen anfangen sollten. Vor allem aber geht es in diesem Buch um Aktien – ein Anlageinstrument, das nicht nur in der Vergangenheit großzügige langfristige Erträge abwarf, sondern auch für die kommenden Jahre allem Anschein nach gute Chancen bietet. Der Anlageratgeber für alle Lebenslagen im vierten Teil erteilt Menschen aller Altersgruppen konkrete Portfolioempfehlungen, um ihre Finanzziele zu erreichen – auch dazu, wie Sie Ihr Geld anlegen sollten, wenn Sie bereits im Ruhestand sind.
Ein Zufallsweg liegt vor, wenn sich die weiteren Schritte oder die künftige Richtung nicht auf der Grundlage der bisher zurückgelegten Strecke vorhersagen lassen. Auf den Aktienmarkt angewandt bedeutet der Begriff, dass die kurzfristigen Veränderungen der Aktienkurse unvorhersehbar sind. Anlageberatungsdienste, Ertragsprognosen und Chartformationen sind demzufolge nutzlos. An der Wall Street ist der Zufallsweg oder »Random Walk« ein Schimpfwort. Der von Akademikern geprägte Begriff wird den professionellen Wahrsagern beleidigend ins Gesicht geschleudert. Auf sein logisches Extrem getrieben bedeutet er, dass ein Affe, der mit verbundenen Augen Dartpfeile auf eine Kurstabelle schleudert, auf diese Weise ein Portfolio zusammenstellen könnte, das nicht schlechter abschneidet, als ein von den Experten aufgebautes.
Nun lassen sich die Finanzanalysten in ihren Nadelstreifenanzügen aber ungern mit nacktärschigen Affen vergleichen. Sie kontern, die Wissenschaftler seien so in ihre Gleichungen und griechischen Buchstaben vertieft (von ihrem hochtrabenden Geschwurbel ganz zu schweigen), dass sie einen Bullen nicht von einem Bären unterscheiden könnten – noch nicht einmal im Porzellanladen. Die Börsenprofis wehren sich mit einer von zwei Methoden gegen die Kritik der Akademiker – der fundamentalen und der technischen Analyse, auf die wir im zweiten Teil genauer eingehen. Die Wissenschaft pariert diese Taktiken, indem sie die Theorie vom Zufallsweg mit drei Versionen (einer »schwachen«, einer »halbstarken« und einer »starken«) vernebelt und ihre eigene Theorie aufstellt, die sogenannte moderne Investmenttheorie. Dazu gehört ein Konzept namens Beta einschließlich »Smart Beta«, das ich etwas genauer unter die Lupe nehmen werde. In den ersten Jahren des neuen Jahrtausends hatten sich manche Vertreter von Forschung und Lehre sogar den Profis angeschlossen und behauptet, der Aktienmarkt sei zumindest ein Stück weit prognostizierbar. Doch wie Sie sehen, ist eine gewaltige Schlacht im Gang, die mit allen Mitteln geführt wird, weil für die Akademiker Lehrstühle und für die Börsenprofis Bonuszahlungen auf dem Spiel stehen. Das erfüllt alle Voraussetzungen für ein ausgewachsenes Drama – einschließlich gewonnener und verlorener Vermögen und klassischer Auseinandersetzungen um die Ursachen.
Bevor wir einsteigen, sollte ich mich aber vielleicht kurz vorstellen und auf meine Qualifikationen verweisen, damit Sie wissen, mit wem Sie es zu tun haben. Als Autor dieses Buches berufe ich mich auf drei Aspekte meines Hintergrundes, von denen jeder einen anderen Blickwinkel auf den Aktienmarkt eröffnet.
Da sind zunächst einmal meine beruflichen Erfahrungen auf dem Gebiet der Investmentanalyse und der Portfolioverwaltung. Ich fing als hauptberuflicher Börsianer bei einer der führenden Investmentfirmen der Wall Street an. Später leitete ich den Investmentausschuss einer multinationalen Versicherungsgesellschaft und fungierte viele Jahre lang als Verwaltungsratsmitglied einer der größten Investmentgesellschaften der Welt. Diese Einblicke waren für mich unerlässlich. Manche Dinge des Lebens kann jemand, der noch nie damit in Berührung gekommen ist, nie so ganz einordnen oder begreifen. Das gilt sicherlich auch für den Aktienmarkt.
An zweiter Stelle stehen meine derzeitigen Positionen als Ökonom und Vorsitzender mehrerer Investmentausschüsse. Mit Schwerpunkt auf den Wertpapiermärkten und dem Anlageverhalten habe ich detaillierte Kenntnisse der akademischen Forschungsergebnisse und neuesten Erkenntnisse zu Anlagechancen erworben.
Abschließend, doch sicherlich nicht zuletzt, bin ich selbst mein Leben lang Anleger und erfolgreicher Marktteilnehmer. Wie erfolgreich, behalte ich für mich, denn in der akademischen Welt gilt das eigentümliche ungeschriebene Gesetz, dass ein Professor nicht so viel verdienen darf. Er kann beliebig viel Geld erben, es sich erheiraten oder durchbringen, doch auf keinen Fall darf er es selbst erarbeiten, denn das wäre unakademisch. Dennoch wird von Lehrenden »Engagement« erwartet. So formulieren das jedenfalls Politiker und Bürokraten häufig – vor allem, wenn sie versuchen, die kümmerlichen Gehälter zu rechtfertigen, die im tertiären Bildungssektor gezahlt werden. Ein Akademiker soll nach Erkenntnis streben, nicht nach finanziellen Vorteilen. Wenn ich daher über meine Erfolge an der Wall Street berichte, dann unter dem Aspekt des Erkenntnisgewinns.
Dieses Buch enthält eine Menge Fakten und Zahlen. Lassen Sie sich davon nicht abschrecken. Es ist ausdrücklich für finanzielle Laien gedacht und liefert praktische, bewährte Anlagetipps. Sie benötigen keinerlei Vorkenntnisse, um diese zu befolgen. Sie müssen lediglich das Interesse und den Wunsch mitbringen, Ihr Geld für sich arbeiten zu lassen.
An dieser Stelle sollte ich vielleicht erklären, was ich unter »Kapitalanlage« verstehe und wie ich sie von »Spekulation« unterscheide. Kapitalanlage ist für mich eine Methode, Vermögenswerte zu erwerben, um damit Gewinne in Form von einigermaßen vorhersagbaren laufenden Erträgen (wie Dividenden, Zinsen oder Mieten) und/oder langfristigem Kapitalzuwachs zu erzielen. Von Spekulation unterscheidet sich die Kapitalanlage in erster Linie dadurch, dass ein Zeitraum festgelegt wird, in dem die Anlagerendite erwirtschaftet werden soll, und dass die Erträge vorhersagbar sind. Ein Spekulant kauft Aktien und hofft, damit über die nächsten Tage oder Wochen einen kurzfristigen Gewinn zu machen. Ein Anleger will damit eher über Jahre oder Jahrzehnte einen verlässlichen künftigen Strom an Barerträgen und Kapitalzuwachs zu erzielen.
Um eines ganz klar zu sagen: Dies ist kein Buch für Spekulanten und auch kein Buch für Day Trader, die provisionsfrei auf stündliche Schwankungen der Aktienkurse setzen möchten. Der Untertitel für dieses Buch hätte auch lauten können: Wie man langsam, aber sicher reich wird. Sie wissen ja: Um Ihr Kapital auch nur auf gleichem Stand zu halten, müssen Ihre Anlagen zumindest eine Rendite abwerfen, die der Inflation entspricht.
In den ersten Jahrzehnten des 21. Jahrhunderts fiel die Inflation in den Vereinigten Staaten und den anderen Industrieländern auf 2 Prozent oder weniger. Anfang der 2020er-Jahre bildete sie zwar Spitzen aus, doch viele Analysten meinen, dass die relative Preisstabilität zurückkehren wird. Sie gehen davon aus, dass Inflation eher die Ausnahme ist, nicht die Regel. Es kann sein, dass es in den kommenden Jahrzehnten nur geringe Inflation geben wird, doch meiner Ansicht nach sollten die Anleger die Möglichkeit in Betracht ziehen, dass sich künftig eine spürbare Teuerung einbürgert. Die Produktivität nahm in den 1990er- und frühen 2000er-Jahren zwar beschleunigt zu, doch das Wachstum verlangsamt sich in letzter Zeit und wir wissen aus der Geschichte, dass das Steigerungstempo schon immer ungleichmäßig war. Außerdem sind Produktivitätssteigerungen in manchen dienstleistungsorientierten Tätigkeiten schwerer zu erzielen. Für ein Streichquartett wird man auch im 21. Jahrhundert weiterhin vier Musiker brauchen, und für eine Blinddarmoperation einen Chirurgen. Steigen die Gehälter von Musikern und Chirurgen im Laufe der Zeit, so verteuern sich auch Konzertkarten und Blinddarmoperationen. Ein Aufwärtsdruck auf die Preise ist daher nicht auszuschließen.
Läge die Inflation künftig bei 2 bis 3 Prozent – und damit deutlich niedriger als in den 1970er- und frühen 1980er-Jahren –, so wäre die Auswirkung auf unsere Kaufkraft trotzdem verheerend. Die Tabelle auf der folgenden Seite zeigt, was eine durchschnittliche Inflationsrate von um die 4 Prozent im Zeitraum von 1962 bis 2021 bewirkt hat. Meine Morgenzeitung hat sich um 5900 Prozent verteuert. Der Schokoriegel von Hershey, den ich mir nachmittags gönne, ist 20-mal so teuer geworden und dabei heute kleiner als 1962, als ich noch Doktorand war. Bei gleichbleibenden Inflationsraten würde die Morgenzeitung 2030 über 5 ½ Dollar kosten. Es steht daher fest: Wollen wir auch nur eine mäßige Teuerung verkraften, müssen wir Anlagestrategien wählen, die unsere reale Kaufkraft erhalten. Ansonsten sind wir zu einem ständig sinkenden Lebensstandard verurteilt.
Kapitalanlage macht Arbeit, keine Frage. Viele Liebesromane erzählen von großen Familienvermögen, die aus Nachlässigkeit oder mangelnden Kenntnissen über Kapitalverwaltung dahingeschmolzen sind. Wer könnte vergessen, wie in Tschechows großartigem Theaterstück der Kirschgarten abgeholzt wird? Die freie Marktwirtschaft, nicht das marxistische System, löste den Niedergang der Familie Ranewski aus: Sie hatte nichts dafür getan, ihr Vermögen zu bewahren. Selbst wenn Sie Ihr ganzes Geld einem Anlageberater oder Investmentfonds anvertrauen, müssen Sie dennoch entscheiden, welcher Berater oder welcher Fonds am besten geeignet ist, um Ihre Mittel zu verwalten. Gerüstet mit den Informationen aus diesem Buch, sollten Ihnen Ihre Anlageentscheidungen etwas leichter fallen.
DIE AUSWIRKUNG DER INFLATION
Durchschnitt 1962
Durchschnitt 2021
Prozentualer Anstieg
Durchschnittliche jährliche Inflationsrate
Verbraucherpreisindex
30,2
273
804,0
3,8 %
Schokoriegel (Hershey)
0,05 $
1,00 $
1900,0
5,3 %
New York Times
0,05
3,00
5900,0
7,2 %
Briefporto
0,04
0,55
1275,0
4,5 %
Benzin (Gallone)
0,31
3,18
925,8
4,0 %
Hamburger (McDonald’s Doppel)
0,28*
4,79
1611,0
4,9 %
Chevrolet
2529,00
27.500,00
987,40
4,1 %
Kühl-Gefrier-Kombination
470,00
1498,00
218,70
2,0 %
*Daten von 1963
Quelle: Für Preise von 1962 Forbes, 1. Nov. 1977, für Preise von 2021 verschiedene staatliche und private Quellen
Vor allem aber sollte Kapitalanlage Freude machen. Es macht Spaß, mit dem eigenen Grips gegen das breite Anlegerpublikum anzutreten und sich durch ein wachsendes Vermögen belohnt zu sehen. Es ist spannend, die eigenen Anlageerträge zu verfolgen und zu sehen, wie sie schneller steigen als das Gehalt. Und es ist auch anregend, von neuen Ideen für Produkte und Dienstleistungen und von Innovationen in Form von Finanzanlagen zu erfahren. Ein erfolgreicher Anleger ist in aller Regel ein vielseitig interessierter Mensch, der seine natürliche Neugier und ein intellektuelles Interesse für sich arbeiten lässt.
Sämtliche Anlageerträge – ob aus Aktien oder Edelsteinen – hängen in unterschiedlichem Maß von künftigen Ereignissen ab. Das macht die Kapitalanlage so faszinierend: Sie ist eine Tätigkeit, deren Erfolg sich an der eigenen Fähigkeit orientiert, die Zukunft vorherzusehen. In der Vergangenheit haben die Investmentprofis zur Bewertung von Vermögenswerten einen der beiden folgenden Ansätze herangezogen: die Solide-Grundlagen-Theorie oder die Luftschlosstheorie. Mit beiden haben sie Millionen verdient und verloren. Für zusätzliche Dramatik sorgt, dass sich die beiden Ansätze gegenseitig ausschließen. Beide zu kennen, ist eine Grundvoraussetzung für vernünftige Anlageentscheidungen – und auch dafür, sich vor schwerwiegenden Fehlern zu schützen. Gegen Ende des 20. Jahrhunderts setzte sich an der Börse eine dritte, aus der Wissenschaft stammende Theorie durch, die moderne Investmenttheorie. Diese Theorie und ihre Anwendungen auf die Investmentanalyse werde ich an anderer Stelle in diesem Buch noch beschreiben.
Die Solide-Grundlagen-Theorie besagt, dass jedes Anlageinstrument, ob Aktie oder Immobilie, einen festen sogenannten inneren Wert aufweist, der sich durch sorgfältige Analyse der aktuellen Bedingungen und der Zukunftsaussichten ermitteln lässt. Fallen die Marktpreise unter diese solide innere Wertgrundlage (oder steigen sie darüber), ergibt sich daraus eine Kauf- beziehungsweise Verkaufsgelegenheit, weil sich diese Schwankung früher oder später korrigieren wird – so zumindest die Theorie. Die Kapitalanlage wird demnach zu einer ebenso drögen wie klaren Angelegenheit: Man stellt den aktuellen Preis eines Wertgegenstands seiner soliden Wertgrundlage gegenüber.
In The Theory of Investment Value lieferte John Burr Williams eine Formel zur Ermittlung des inneren (intrinsischen) Werts einer Aktie. Williams’ Ansatz stützte sich auf die Dividendenerträge. In einem teuflisch cleveren Versuch, die Dinge zu verkomplizieren, führte er das Konzept der »Abzinsung« ein. Es rollt Erträge im Grunde von hinten auf. Statt darauf zu schauen, wie viel Geld Sie nächstes Jahr haben werden (sagen wir, 1,05 Dollar, wenn Sie 1 Dollar mit einer Rendite von 5 Prozent anlegen), blicken Sie auf künftig erwartete Beträge und rechnen sich aus, wie viel weniger diese heute wert sind (also, dass 1 Dollar, den Sie nächstes Jahr erhalten, heute nur rund 95 Cent wert ist, die zu 5 Prozent angelegt werden könnten, um sich bis dahin auf rund 1 Dollar zu vermehren).
Das meinte Williams wirklich ernst. Er behauptete weiter, der innere Wert einer Aktie entspräche dem Gegenwartswert (beziehungsweise Abzinsungswert) aller ihrer künftigen Dividenden. Anlegern wurde empfohlen, den Wert später eingehender Beträge »abzuzinsen« (oder zu diskontieren). Weil diesen Begriff nur wenige wirklich verstanden, setzte er sich durch. Heute ist die »Abzinsung« in der Investmentwelt in aller Munde. Einen weiteren Impuls bekam er unter der Ägide von Professor Irving Fisher aus Yale, einem renommierten Ökonomen und Investor.
Die Logik der Solide-Grundlagen-Theorie ist nicht so leicht von der Hand zu weisen und lässt sich an Aktien veranschaulichen. Die Theorie betont, dass der Wert einer Aktie auf dem Ertragsstrom fußen sollte, den ein Unternehmen in der Zukunft in Form von Dividenden oder Aktienrückkäufen ausschütten kann. Logischerweise ist der Wert der Aktie umso höher, je höher die aktuellen Dividenden und ihre Steigerungsrate sind. Unterschiedliche Wachstumsraten sind daher ein wesentlicher Faktor für die Bewertung von Aktien. An dieser Stelle kommt die schwer fassbare kleine Einflussgröße der Zukunftserwartungen ins Spiel. Wertpapieranalysten müssen nicht nur die langfristigen Wachstumsraten schätzen, sondern auch, wie lange sich diese aufrechterhalten lassen. Beurteilen die Märkte zu optimistisch, wie lange sich das Wachstum noch fortsetzt, so geht die gängige Meinung an der Wall Street dahin, dass Aktien nicht nur die Zukunft diskontieren, sondern sogar das Jenseits. Das soll heißen, dass sich die Solide-Grundlagen-Theorie auf verschiedene knifflige Vorhersagen zu Ausmaß und Dauer des künftigen Wachstums stützt. Die intrinsische Wertgrundlage könnte daher weniger verlässlich sein, als behauptet wird.
Die Solide-Grundlagen-Theorie beschränkt sich aber nicht auf Ökonomen. Dem ausgesprochen einflussreichen Werk von Benjamin Graham und David Dodd Die Geheimnisse der Wertpapieranalyse ist es zu verdanken, dass eine ganze Generation von Wall-Street-Wertpapieranalysten dazu bekehrt wurde. Solides Investmentmanagement, so erfuhren die praktizierenden Analysten, bestand schlicht im Erwerb von Wertpapieren, deren Kurse vorübergehend unter ihren inneren Wert gefallen waren, und im Verkauf von Papieren, deren Kurse vorübergehend zu hoch waren. So einfach war das. Der möglicherweise erfolgreichste Anhänger des Ansatzes von Graham und Dodd war ein ausgefuchster Investor aus dem mittleren Westen namens Warren Buffett, oft auch als das »Orakel von Omaha« bezeichnet. Buffett kann auf eine legendäre Investmentbilanz zurückblicken, die er angeblich aufstellte, indem er sich nach dem Ansatz der Solide-Grundlagen-Theorie richtete.
Die Luftschlosstheorie der Kapitalanlage konzentriert sich auf psychologische Werte. Der berühmte Ökonom und erfolgreiche Investor John Maynard Keynes erläuterte diese Theorie 1936 besonders einleuchtend. Seiner Ansicht nach widmen professionelle Investoren ihre Energie nicht so sehr der Einschätzung des inneren Werts, sondern vielmehr der Analyse, wie sich die Masse der Anleger vermutlich künftig verhält und wie sie in optimistischen Phasen ihre Hoffnungen in aller Regel auf Luftschlösser setzt. Der erfolgreiche Anleger versucht, sich einen Vorteil zu verschaffen, indem er einschätzt, welche Investmentsituationen das Publikum wohl am stärksten zum Luftschlösserbauen anregen, und dann vor allen anderen einsteigt.
Keynes zufolge macht die Solide-Grundlagen-Theorie zu viel Arbeit und ist von zweifelhaftem Wert. Keynes praktizierte selbst, was er predigte. Während sich Londons Finanzfachleute viele ermüdende Stunden in stickigen Büros abschufteten, erledigte er seine Börsengeschäfte jeden Morgen eine halbe Stunde lang vom Bett aus. Mit dieser gemütlichen Investmentmethode erwirtschaftete er ein Depot im Wert von mehreren Millionen Pfund und verzehnfachte das Kapital der Stiftung seines Colleges, des King’s College in Cambridge.
In den Jahren der Weltwirtschaftskrise, in denen Keynes sich seinen Ruhm erwarb, konzentrierten sich die meisten auf seine Ideen zur Ankurbelung der Wirtschaft. Es war damals schwer, selbst Luftschlösser zu bauen oder sich vorzustellen, dass andere das taten. Dessen ungeachtet widmete Keynes der Börse und der Bedeutung der Anlegererwartungen in seinem Buch Allgemeine Theorie der Beschäftigung, des Zinses und des Geldes ein ganzes Kapitel.
Zum Thema Aktien stellte Keynes fest, dass niemand sicher weiß, was sich auf künftige Ertragsaussichten und Dividendenzahlungen auswirkt. So schrieb er (Seite 131-133, A. d. R.): »Tatsächlich befassen sich nämlich die meisten dieser Menschen überwiegend nicht damit, bessere langfristige Voraussagen der wahrscheinlichen Erträge einer Investition während ihrer gesamten Lebensdauer zu machen, sondern damit, die Änderungen in der konventionellen Grundlage der Bewertung mit einem kurzen Vorsprung vor dem allgemeinen Publikum vorauszusehen.« Anders ausgedrückt wendete Keynes auf das Studium des Aktienmarktes psychologische Prinzipien an anstelle einer finanziellen Beurteilung. Er schrieb: »Denn es hat keinen Sinn, für ein Investment 25 zu bezahlen, von dem man glaubt, dass sein voraussichtlicher Ertrag einen Wert von 30 rechtfertigt, wenn man gleichzeitig glaubt, daß der Markt es nach drei Monaten mit 20 bewerten wird.«
Um es für seine englischen Landsleute möglichst verständlich zu erklären, beschrieb Keynes das Börsengeschäft folgendermaßen: Er verglich es mit den Zeitungswettbewerben, bei denen die Teilnehmer die sechs hübschesten Gesichter aus hundert Fotos auswählen mussten, wobei der Preis demjenigen zugesprochen wurde, dessen Wahl am ehesten der Entscheidung der ganzen Gruppe entsprach.
Der kluge Teilnehmer erkennt, dass persönliche Schönheitskriterien bei der Ermittlung des Gewinnerfotos keine Rolle spielen. Eine bessere Strategie ist es, die Gesichter auszuwählen, die den anderen Teilnehmern vermutlich am meisten zusagen. Diese Logik löst einen Schneeballeffekt aus. Schließlich dürften die übrigen Teilnehmer nicht minder scharfsinnig an die Sache herangehen. Die optimale Strategie ist daher, nicht die Gesichter auszuwählen, die der Teilnehmer selbst für die hübschesten hält, und auch nicht diejenigen, die andere Teilnehmer favorisieren dürften, sondern vielmehr zu prognostizieren, wie die durchschnittliche Meinung dazu ausfallen dürfte, was der Durchschnitt denkt – und so weiter. So viel zu britischen Schönheitswettbewerben.
Der Vergleich mit dem Zeitungswettbewerb stellt die ultimative Form der Luftschlosstheorie zur Kursermittlung dar. Eine Geldanlage ist für eine Käuferin einen bestimmten Preis wert, weil sie davon ausgeht, dass sie sie jemand anderem zu einem höheren Preis verkaufen kann. Die Anlage zieht sich sozusagen am eigenen Schopf aus dem Sumpf. Der neue Käufer nimmt seinerseits an, dass ihr künftige Kaufinteressenten einen noch höheren Wert beimessen.
In einer solchen Welt wird jede Minute ein Dummkopf geboren – nur zu dem Zweck, Ihre Anlage zu einem höheren Kurs zu kaufen, als Sie selbst dafür gezahlt haben. Jeder Preis ist recht, solange andere bereit sein könnten, noch mehr dafür zu zahlen. Dem liegt keine Logik zugrunde, sondern reine Massenpsychologie. Der clevere Anleger muss nur vorn dran sein – und ganz am Anfang einsteigen. Diese Theorie könnte man etwas unfreundlicher auch als die Theorie vom »größeren Dummkopf« bezeichnen. Ihr zufolge ist es absolut in Ordnung, dreimal so viel zu bezahlen, wie die Sache wert ist, solange man noch einen Ahnungslosen finden kann, der das Fünffache dafür auf den Tisch legt.
Die Luftschlosstheorie hat viele Fürsprecher – sowohl in der Finanzwelt als auch in akademischen Kreisen. Nobelpreisträger Robert Shiller stellt in seinem Buch Irrationaler Überschwang die These auf, dass sich die Begeisterung für Internet- und High-Tech-Aktien Ende der 1990er-Jahre nur durch Massenpsychologie erklären lässt. An den Universitäten wurden Anfang der 2000er-Jahre die sogenannten Verhaltenstheorien zur Erklärung des Börsengeschehens populär, die um die Massenpsychologie kreisten. Der Psychologe Daniel Kahneman wurde 2002 für seine bahnbrechenden Beiträge zum Gebiet der »Verhaltensökonomie« mit dem Wirtschaftsnobelpreis ausgezeichnet. Zuvor war Oskar Morgenstern deren führender Vertreter. Er verglich die Suche nach dem inneren Wert von Aktien mit der Jagd auf ein Trugbild. Er fand, jeder Anleger sollte sich folgenden lateinischen Sinnspruch über den Schreibtisch hängen:
Res tantum valet quantum vendi potest.
(Nur so viel ist eine Sache wert, zu wie viel sie verkauft werden kann.)
Nach dieser Einleitung möchte ich Sie auf einem Zufallsweg durch die Investmentlandschaft begleiten, der uns am Ende auch über die Wall Street führt. Als Erstes muss ich Sie dafür mit historischen Preismustern und deren Einfluss auf zwei Theorien zur Bepreisung von Geldanlagen vertraut machen. Santayana hat uns davor gewarnt, dass wir dazu verdammt sind, immer wieder dieselben Fehler zu begehen, wenn wir aus der Vergangenheit nichts lernen. Deshalb will ich zunächst ein paar spektakuläre Auswüchse beschreiben – die teils schon länger zurückliegen, teils noch nicht so lange. Der Tulpenwahn, der die Menschen im 17. Jahrhundert befiel und sie wie verrückt Tulpenzwiebeln kaufen ließ, oder die Südseeblase im England des 18. Jahrhunderts belächeln manche Leserinnen und Leser womöglich noch. Den »Nifty-Fifty«-Wahn der 1970er-Jahre, den unglaublichen Boom der Grundstückspreise und Aktienkurse und den nicht minder spektakulären Crash Anfang der 1990er-Jahre in Japan, die »Internetmanie« von 1999 und Anfang 2000 und die Immobilienblase in den USA von 2006/2007 nehmen sie schon eher ernst. Die wilde Spekulation mit sogenannten Meme-Aktien und Kryptowährungen in den 2020er-Jahren schließlich macht uns wieder einmal bewusst, dass sich die Märkte zwar verändern, aber im Grunde immer gleich bleiben. All diese Entwicklungen sind laufende Warnsignale, dass weder Privatanleger noch Investmentprofis gegen Fehler aus der Vergangenheit gefeit sind.
Oktober. Einer der besonders gefährlichen Monate für Börsenspekulationen. Die anderen sind Juli, Januar, September, April, November, Mai, März, Juni, Dezember, August und Februar.
Mark Twain, Querkopf Wilson
Ungezügelte Gier ist bisher ein wesentliches Merkmal eines jeden spektakulären Booms gewesen. In ihrer Euphorie ignorieren die Marktteilnehmer solide Wertgrundlagen und geben sich stattdessen der ebenso unsicheren wie aufregenden Vorstellung hin, sie könnten steinreich werden, indem sie Luftschlösser bauen. Solche Überzeugungen haben schon ganze Nationen erfasst.
Die Psychologie der Spekulation ist absurdes Theater, wie es im Buche steht. In diesem Kapitel werden gleich mehrere solche Stücke präsentiert. Den jeweils auf der Bühne erbauten Luftschlössern lagen niederländische Tulpenzwiebeln, englische »Blasen« und gute alte amerikanische Standardwerte zugrunde. In jedem Fall verdienten manche Leute eine Zeit lang ganz gut, doch die wenigsten kamen am Ende mit heiler Haut davon.
In diesem Fall kann man tatsächlich aus der Geschichte lernen: Wenngleich die Luftschlosstheorie solche spekulativen Exzesse sehr gut erklären kann, ist es ein hochriskantes Spiel, auf die potenziellen Reaktionen einer launenhaften Masse zu setzen. „Die Masse nimmt nicht den Geist, sondern nur die Mittelmäßigkeit in sich auf“, stellte Gustave Le Bon in seinem Klassiker über Massenpsychologie von 1895 fest. Offenbar haben dieses Buch aber nur wenige Menschen gelesen. Märkte im Höhenflug, die ausschließlich von psychologischen Faktoren angetrieben wurden, fielen unweigerlich dem Gesetz der finanziellen Schwerkraft zum Opfer. Kurse können jahrelang auf unhaltbarem Niveau bleiben, doch irgendwann kommt die Trendwende – manchmal so plötzlich wie ein Erdbeben. Dabei gilt: Je wilder das Gelage, desto größer der Katzenjammer danach. Nur wenige der kühnen Luftschlosserbauer waren so reaktionsfähig, dass sie die Wende kommen sahen und sich retten konnten, bevor um sie herum alles zusammenbrach.
Der Tulpenwahn gehört zu den spektakulärsten Orgien des schnellen Geldes in der Geschichte. Das ganze Ausmaß der Exzesse wird noch deutlicher, wenn man sich vorstellt, dass sich das alles im seriösen alten Holland des frühen 17. Jahrhunderts zutrug. Die Ereignisse, die diesem Spekulationswahn vorausgingen, wurden 1593 in Gang gesetzt, als ein frisch berufener Botanikprofessor aus Wien eine Sammlung ungewöhnlicher Pflanzen nach Leyden brachte, die ursprünglich aus der Türkei stammten. Die Niederländer waren zwar fasziniert von diesen gärtnerischen Neuerungen, nicht aber von den Preisen, die der Professor aufrief (der gehofft hatte, die Zwiebeln mit einem erklecklichen Gewinn zu verkaufen). Eines Nachts brach ein Dieb in des Professors Haus ein und entwendete die Zwiebeln, die später zu einem niedrigeren Preis, doch mit höheren Gewinnen verkauft wurden.
Im Verlauf des folgenden Jahrzehnts entwickelte sich die Tulpe zu einem beliebten, aber kostspieligen Bestandteil niederländischer Gärten. Viele der Blumen wurden von einem nicht tödlichen Erreger befallen: dem Tulpenmosaikvirus. Das Virus sorgte dafür, dass die Blütenblätter der Tulpen kontrastfarbene Streifen oder »Flammen« entwickelten. Diese infizierten Zwiebeln – die sogenannten Bizarden – standen bei den Niederländern hoch im Kurs. Nach kurzer Zeit diktierte der Massengeschmack: Je bizarrer die Tulpe, desto mehr Geld musste locker machen, wer sie besitzen wollte.
Nach und nach griff der Tulpenwahn um sich. Zunächst versuchten die Zwiebelhändler schlicht, die populärsten Buntfärbungen für die kommende Saison vorherzusagen – ähnlich wie die Modehersteller einzuschätzen versuchen, welche Gewebe, Farben und Saumhöhen dem Zeitgeschmack entsprechen. Im Anschluss legten sie in Erwartung steigender Preise besonders große Bestände an. Die Preise für Tulpenzwiebeln explodierten förmlich. Je teurer die Zwiebeln, desto mehr Menschen erachteten sie als kluge Anlageobjekte. Charles Mackay, der die Ereignisse in seinem Buch Zeichen und Wunder: Aus den Annalen des Wahns nachzeichnete, berichtete, dass die normale Industrie des Landes zugunsten der Spekulation mit Tulpenzwiebeln vernachlässigt wurde. Adlige, Bürger, Bauern, Mechaniker, Seeleute, Bedienstete, ja, sogar Schornsteinfeger und Lumpensammlerinnen spekulierten mit Tulpen. Jeder dachte, die Leidenschaft für Tulpen würde ewig anhalten.
Leute, die einwandten, noch weiter könnten die Preise unmöglich steigen, mussten zu ihrem Verdruss zusehen, wie ihre Freunde und Verwandten astronomische Gewinne erzielten. Der Versuchung, selbst in das Geschäft einzusteigen, war schwer zu widerstehen. In den letzten Jahren der Tulpenmanie, die etwa von 1634 bis Anfang 1637 dauerte, fingen die Leute an, persönlichen Besitz wie Land, Edelsteine und Möbel als Tauschobjekte einzusetzen, um sich Zwiebeln zu sichern, die sie noch reicher machen sollten. Tulpenzwiebeln erzielten Mondpreise.
Ein genialer Zug der Finanzmärkte ist: Besteht echte Nachfrage nach einer Methode, die Spekulationschancen zu verbessern, kann man sich darauf verlassen, dass der Markt eine solche liefert. Die Instrumente, die es den Tulpenspekulanten ermöglichten, mit ihrem Geld möglichst große Geschäfte zu machen, waren »Kaufoptionen«, die den heute auf dem Aktienmarkt populären Instrumenten stark glichen.
Eine solche Kaufoption übertrug ihrem Inhaber das Recht, zu einem festgelegten Preis (der gewöhnlich ungefähr dem aktuellen Marktpreis entsprach) während eines bestimmten Zeitraums Tulpenzwiebeln zu kaufen (also deren Lieferung einzufordern). Ihm wurde die sogenannte Optionsprämie berechnet, die bei 15 bis 20 Prozent des aktuellen Marktpreises liegen konnte. Eine Option auf eine Tulpenzwiebel, die aktuell 100 Gulden wert war, kostete den Käufer beispielsweise nur rund 20 Gulden. Stieg der Preis auf 200 Gulden, übte der Optionsinhaber sein Recht aus. Dann kaufte er zu 100 und verkaufte zeitgleich zum inzwischen gestiegenen Preis von 200 weiter. Sein Gewinn betrug 80 Gulden (die 100 Gulden Wertzuwachs abzüglich der für die Option gezahlten 20 Gulden). Auf diese Weise vervierfachte er sein Kapital. Hätte er die Zwiebeln direkt gekauft, hätte er es lediglich verdoppelt. Optionen boten die Möglichkeit, die eigene Anlage zu hebeln, um den potenziellen Ertrag zu steigern – aber eben auch die Risiken. Solche Instrumente trugen dazu bei, dass sich sehr viele Menschen am Handel beteiligten. Und das gilt auch heute noch.
Die Geschichte dieser Zeit war angefüllt mit tragikomischen Episoden. Ein solcher Vorfall betraf einen Seemann, der von einer Seereise zurückkehrte und einem wohlhabenden Kaufmann die Ankunft einer neuen Schiffsladung meldete. Der Kaufmann ließ ihm zum Dank leckeren Räucherhering zum Frühstück servieren. Der Seemann sah auf dem Ladentisch des Kaufmanns etwas liegen, das er für eine Zwiebel hielt, die ihm zwischen den Seiden- und Samtstoffen sicherlich deplatziert vorkam. Er griff danach und schnitt sie sich über seinen Hering. Nie hätte er sich träumen lassen, dass von dieser »Zwiebel« eine ganze Schiffsmannschaft ein Jahr lang hätte leben können. Es handelte sich um eine sündteure Zwiebel der Tulpensorte Semper Augustus. Der Seemann bezahlte seine Beilage teuer – sein nicht mehr so dankbarer Gastgeber bezichtigte ihn eines Verbrechens und brachte ihn für mehrere Monate ins Gefängnis.
Historiker deuten die Vergangenheit immer wieder um. Manche Finanzhistoriker behaupten nach neuerlicher Untersuchung der vorliegenden Indizien zu verschiedenen Finanzblasen, dass die Preise dennoch einigermaßen rational gewesen sein könnten. Einer dieser revisionistischen Historiker war Peter Garber. Er vertritt die Ansicht, dass die Bepreisung der Tulpenzwiebeln im Holland des 17. Jahrhunderts weit rationaler war, als gemeinhin angenommen wird.
Garber argumentiert durchaus stichhaltig, und ich will nicht sagen, dass die Preisstruktur von Tulpenzwiebeln seinerzeit jeglicher Rationalität entbehrte. Die Semper Augustus war beispielsweise eine besonders seltene und schöne Tulpe und, wie Garber verrät, auch schon in den Jahren vor der Tulpenmanie hoch bewertet. Darüber hinaus lassen Garbers Forschungsergebnisse vermuten, dass einzelne Zwiebeln auch nach dem allgemeinen Verfall der Zwiebelpreise noch hohe Preise erzielten – wenngleich diese nur noch ein Bruchteil der auf dem Höhepunkt aufgerufenen Summen betrugen. Doch auch Garber kann ein Phänomen wie den Anstieg der Tulpenzwiebelpreise um das 20-Fache im Januar 1637, gefolgt von einem noch stärkeren Preiseinbruch im Februar nicht rational erklären. Offenbar erreichten die Preise wie in allen Spekulationsexzessen solche Höhen, dass manche es klug fanden, ihre Zwiebeln zu verkaufen. Bald folgten andere ihrem Beispiel. Wie ein abwärts rollender Schneeball beschleunigte sich der Preisverfall bei Tulpenzwiebeln rapide, und plötzlich herrschte Panik.
Staatsminister erklärten qua ihres Amtes, es gebe keinen Grund für die sinkenden Preise bei Tulpenzwiebeln – doch niemand hörte auf sie. Händler gingen pleite und weigerten sich, ihren Verpflichtungen nachzukommen und Tulpenzwiebeln zu kaufen. Der Plan der Regierung, sämtliche Kontrakte zu 10 Prozent ihres Nennwerts glattzustellen, lief ins Leere, als die Zwiebeln selbst diese Marke unterschritten. Und die Preise purzelten weiter. Sie stürzten ins Bodenlose, bis die allermeisten Zwiebeln quasi wertlos waren – und nicht mehr einbrachten als eine normale Küchenzwiebel.
Stellen Sie sich vor, Ihr Makler ruft Sie an und rät Ihnen, in eine neue Firma zu investieren – ohne Umsätze oder Erträge, nur mit guten Aussichten. »Aus welcher Branche?«, fragen Sie. »Bedaure«, sagt Ihr Makler, »das darf niemand wissen. Aber ich kann Ihnen versprechen, dass Sie damit sehr reich werden.« Sie wittern Betrug – und zu Recht. Doch in England war das vor 300 Jahren eine der heißesten Neuemissionen ihrer Zeit. Und wie Sie schon vermutet hatten, verbrannten sich die Anleger daran übel die Finger. Die Geschichte macht deutlich, wie Betrüger gierige Menschen dazu verleiten können, sich noch bereitwilliger von ihrem Geld zu trennen.
Zur Zeit der Südseeblase waren die Briten an der Reihe, ihr Geld aus dem Fenster zu werfen. Eine lange Phase des Wohlstands hatte ihnen hohe Ersparnisse beschert, für die es nur wenige Anlagemöglichkeiten gab. In jenen Tagen galt Aktienbesitz als Privileg. Noch 1693 profitierten beispielsweise nur 499 Personen vom Eigentum an der East-India-Aktie. Sie genossen gleich in mehrerlei Hinsicht Vorteile, nicht zuletzt dadurch, dass sie ihre Dividenden nicht versteuern mussten. Zum Aktionärsstamm zählten übrigens auch Frauen, denn Aktien stellten eine der wenigen Vermögensarten dar, die britische Frauen eigenständig besitzen durften. Die South Sea Company, die den Bedarf an Anlageinstrumenten bereitwillig deckte, war 1711 gegründet worden, um das Vertrauen in die Fähigkeit der Regierung wiederherzustellen, ihren Verpflichtungen nachzukommen. Die Gesellschaft übernahm Staatsschulden in Höhe von fast 10 Millionen Pfund. Im Gegenzug erhielt sie das Monopol für den gesamten Südseehandel. Die Leute glaubten, dass dieser Handel unermesslichen Reichtum versprach, und fanden die Aktie entsprechend attraktiv.
Von Anfang an machte die South Sea Company Gewinne auf Kosten anderer. Inhaber von Staatsanleihen, die die Gesellschaft übernehmen sollte, tauschten ihre Wertpapiere einfach gegen Titel der South Sea Company. Wer schon im Vorfeld in das Vorhaben eingeweiht war, kaufte im Stillen Staatspapiere für nur 55 Pfund auf und schichtete sie dann zum Nennwert von 100 Pfund in South-Sea-Aktien um, sobald die Gesellschaft gegründet war. Kein einziges Verwaltungsratsmitglied der Gesellschaft hatte auch nur die leiseste Erfahrung im Handel mit Südamerika. Das hielt das Gremium aber nicht davon ab, in aller Eile Sklavenschiffe für Afrika auszurüsten (denn der Sklavenhandel war eine der lukrativsten Sparten des Südamerikahandels). Doch auch dieses Projekt erwies sich als unrentabel, weil die Sterblichkeit auf den Schiffen so hoch war.
Womit sich die Verwaltungsratsmitglieder jedoch gut auskannten, war die Kunst der Repräsentation. In London wurde eine prestigeträchtige Immobilie angemietet und die Chefetage mit 30 schwarzen spanischen Polsterstühlen ausgestattet, die mit ihren Buchenholzrahmen und vergoldeten Nägeln zwar hübsch anzuschauen, aber nicht sehr bequem waren. Währenddessen landete eine Schiffsladung Wolle der Gesellschaft, die in Vera Cruz verzweifelt erwartet wurde, stattdessen in Cartagena, wo sie keine Käufer fand und am Kai verrottete. Die Aktie des Unternehmens konnte sich dennoch gut behaupten und legte über die Folgejahre sogar noch zu – und das, obwohl »Bonusdividenden« verwässernde Effekte hatten und ein Krieg mit Spanien die Handelsmöglichkeiten vorübergehend zunichtemachte. John Carswell schrieb in seinem hervorragenden historischen Abriss The South Sea Bubble über John Blunt, ein vordringlich für die Vermarktung der Wertpapiere der South Sea Company zuständiges Verwaltungsratsmitglied, er habe weitergelebt mit einem Gebetsbuch in der rechten und einem Verkaufsprospekt in der linken Hand, wobei die Rechte nie wusste, was die Linke tat.
Auf der anderen Seite des Ärmelkanals gründete ein im Exil lebender Engländer namens John Law ein weiteres Unternehmen. Laws Lebensziel war es, das Metallgeld zu verdrängen und durch eine nationale Papierwährung mehr Liquidität zu schaffen. (Die Bitcoin-Befürworter stehen in einer langen Tradition.) Zu diesem Zweck übernahm Law eine abgehalfterte Unternehmensgruppe namens Mississippi Company und baute sie zu einem Konzern um, der zu einer der größten Kapitalgesellschaften aller Zeiten werden sollte.