A River of Golden Bones (The Golden Court 1) - A.K. Mulford - E-Book
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A River of Golden Bones (The Golden Court 1) E-Book

A.K. Mulford

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Beschreibung

Zwei Schwestern, ein verlorenes Königreich und eine große Liebe Die Zwillinge Calla und Briar leben im Verborgenen – versteckt vor der Zauberin, die einst ihre Eltern tötete und deren Thron bestieg. Und vor den Menschen, die nicht wissen, dass die Schwestern Gestaltenwandler-Wölfe sind. Das soll sich nun ändern. Während Briar sich auf eine politische Heirat vorbereitet – ausgerechnet mit Grae, Callas Freund aus Kindertagen –, bleibt Calla als ihre Leibwache weiterhin im Schatten. Doch dann wird Briar Opfer eines Fluchs der Zauberin, und um sie zu retten, tritt Calla endlich ins Licht. Auf einer gefährlichen Reise zurück in ihr gestohlenes Reich muss sie sich nicht nur der Feindin stellen, sondern auch ihren Gefühlen für Grae. Und der vielleicht wichtigsten Frage von allen: Wer will ich wirklich sein? Eine aufregend facettenreiche Friends-to-Lovers-Romantasy, die mit viel Tiefgang und einer guten Portion Spice zwei Gestaltenwandler zusammenbringt. Calla und Grae sind der Inbegriff von Fated Mates! Mit Band 1 der Golden-Court-Serie erschafft A.K. Mulford eine neue, vielschichtige High-Fantasy-Welt, in der starke Protagonist*innen um ihren Platz in der Gesellschaft kämpfen.  »Inmitten von Kämpfen gegen Monster und dunkle Magie entfaltet sich eine leidenschaftliche Romanze zwischen Calla und Grae. ... Ein spannender Serienauftakt.« Publishers Weekly

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Veröffentlichungsjahr: 2025

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Cover

Über dieses Buch

A. K. Mulford

A River of Golden Bones (The Golden Court 1)

Aus dem Englischen von Birgit Niehaus

Die Zwillinge Calla und Briar leben im Verborgenen – versteckt vor der Zauberin, die einst ihre Eltern tötete und deren Thron bestieg. Und vor den Menschen, die nicht wissen, dass die Schwestern Gestaltenwandler-Wölfe sind. Das soll sich nun ändern. Während Briar sich auf eine politische Heirat vorbereitet – ausgerechnet mit Grae, Callas Freund aus Kindertagen –, bleibt Calla als ihre Leibwache weiterhin im Schatten. Doch dann wird Briar Opfer eines Fluchs der Zauberin, und um sie zu retten, tritt Calla endlich ins Licht. Auf einer gefährlichen Reise zurück in ihr gestohlenes Reich muss sie sich nicht nur der Feindin stellen, sondern auch ihren Gefühlen für Grae. Und der vielleicht wichtigsten Frage von allen: Wer will ich wirklich sein?

Mit Band 1 der Golden-Court-Serie erschafft A.K. Mulford eine neue, vielschichtige High-Fantasy-Welt, in der starke Protagonist*innen um ihren Platz in der Gesellschaft kämpfen.

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Glossar (Handelnde Figuren & Königreiche)

Danksagung

Viten

Widmung

Dieses Buch ist allen gewidmet, die versuchen, sich selbst in einer Welt zu entdecken, die gnadenlos und unerbittlich sein kann. Möge euch diese Geschichte daran erinnern, dass die Antworten, die ihr sucht, nicht außerhalb von euch liegen, sondern in euch selbst schlummern. Hört nicht auf, die Brillanz und Schönheit ans Licht zu bringen, die euch ausmachen.

CONTENT NOTE

In dieser Geschichte werden Gegebenheiten geschildert, die manchen Leser*innen Probleme bereiten könnten, etwa Tod, Verlust, Blut, Gewalt, Feuer, Transphobie, Misgendern und explizite Sexszenen.

Landkarte

1

In einer großen Staubwolke rollten die zwei goldenen Kutschen durch Allesdale. Die Dorfbewohner drängten sich am Straßenrand, standen auf den Treppenstufen, lehnten sich aus den Fenstern. Sie schwenkten Taschentücher und verrenkten sich die Hälse, um einen Blick auf den Kronprinzen zu erhaschen. Sie hatten keine Ahnung, was ihn herführte – anders als ich. Weshalb mir das Herz vor Aufregung bis zum Hals klopfte. Ich wusste, dass ich das Dorf morgen in einer der beiden goldenen Kutschen verlassen und zu seinem Palast fahren würde.

Krächzend landete eine Krähe auf einem Ahornzweig über mir. Ich sah den Mitternachtsvogel mit dem schillernden Gefieder finster an. Ein schlechtes Omen. Sawyns Wachsoldaten, von denen sie eine ganze Armee unterhielt, hießen im Volksmund auch Krähen – weil sie in ihren schwarzen Umhängen so aussahen. Jedes Mal wenn ich eine Krähe sah, stieß es mir bitter auf. So auch jetzt.

Ich sprang von meinem Ausguck. Heute konnte ich nun wirklich kein schlechtes Omen gebrauchen. Ich landete in der Hocke, mit kribbelndem Magen, vom Wind zerzaust. Obwohl ich wusste, dass sich hier oben keine Menschenseele herumtrieb – das hätte ich in dem trockenen Sommerwald gerochen –, blickte ich kurz über die Lichtung.

Und dann spähte ich noch einmal in den Ahorn hinauf, aber das dichte Laub verbarg die Krähe. Ich klopfte die Blätter von meinem fadenscheinigen Kleid, stopfte die Bernsteinkette in den Ausschnitt zurück und rannte den Hügel hinunter. Unter meinen nackten Füßen knackten die Zweige. Mein Kleid verfing sich in einem Dornenstrauch, und als ich es befreite, riss es. Vellia würde es mal wieder flicken müssen. Ich hasste Kleider, aber Vellia bestand darauf, dass ich außerhalb der Hütte welche trug, weil ich in Tunika und Reithose nur unnötig Aufmerksamkeit erregen würde.

Als ob man mich – eines der zwei seltsamen, im Wald lebenden Mädchen – nicht sowieso die ganze Zeit anstarrte.

Beim Rennen hielt ich angestrengt Ausschau, nicht nach der Krähe, obwohl sie mir immer noch etwas Angst einjagte, vor allem heute, sondern nach den königlichen Kutschen. Ein umgestürzter Baum führte über den Bach, und meine Zehen krallten sich in seine raue Rinde. In einer der beiden Kutschen saß Graemon Claudius, Kronprinz von Damrienn, dem Königreich der Silberwölfe. Er war mein Freund und endlich wieder da.

Mein Herz hämmerte. Ob er wohl immer noch so ausschaute, wie ich ihn in Erinnerung hatte? Als wir uns das letzte Mal gesehen hatten, waren wir im Grunde noch Welpen gewesen, dreizehn Jahre alt. Sein Vater, König Nero, hatte ihm nur an Vollmonden erlaubt, uns in unserem Wald zu besuchen, und auch nur in Wolfsgestalt. Alles andere wäre zu riskant gewesen. Denn wenn irgendjemand zwei Goldwölfinnen in diesem Dorf erspäht hätte, dann hätte Sawyn ganz sicher Wind davon bekommen.

Ein letzter prüfender Blick in die Bäume – nein, da war keine Krähe, die mich ansah. Also sprang ich aus dem Wald und rannte über das staubige Kopfsteinpflaster auf die Schaulustigen zu. Ein letztes Mal würde ich die Welt durch ihre Menschenaugen betrachten, dachte ich, nicht ohne Genugtuung. Ein letztes Mal würde ich so tun, als wäre ich eine von ihnen. Ich sauste an kaputten Fuhrwerken und Säcken mit verdorbenem Getreide vorbei zur Hauptstraße. Meine Haare peitschten hinter mir her, die Luft kam mir herrlich süß vor.

Ich kürzte durch eine kleine Gasse ab und hörte bereits das Geschrei der Menge. Kurz abgelenkt von dem Lärm rannte ich prompt gegen ein Hindernis – eine verhüllte, ziemlich unnachgiebige Gestalt. Meine Füße rutschten weg und ich ruderte mit den Armen, um nicht auf die Steine zu knallen. Doch zwei kräftige Hände packten mich und stellten mich wieder hin.

»Entschuldigung«, murmelte ich und tastete instinktiv nach dem Messer in meiner Kleidtasche. Einen Dolch zu tragen, erlaubte Vellia mir nicht, aber wenn ich vorgab, auf Nahrungssuche zu gehen, konnte sie mir ein kleines Universalmesser schlecht verbieten.

Die Gestalt gluckste – ein tiefes, kehliges Geräusch, das meine Hand in der Tasche erstarren ließ.

»Hallo, Füchslein.«

Diese raue Stimme! Und mein Spitzname! In meinem Magen flatterte alles. Ich strich mir die Locken aus dem Gesicht und spähte ins Dunkel unter der Kapuze. Es gab nur eine Person, die mich jemals so genannt hatte – und die hatte ich seit sieben Jahren nicht gesehen.

Außerdem sollte diese Person in einer der Kutschen sitzen, anstatt hier vor mir zu stehen.

»Grae?« Ich ließ den Messergriff in meiner Kleidtasche los.

Grae setzte seine Kapuze ab und sein Anblick rüttelte mich stärker durch als unser Zusammenstoß eben. Vor mir stand nicht der Junge, den ich kannte. Vor mir stand überhaupt kein Junge – sondern der umwerfendste Mann, dem ich je begegnet war. Er hatte die klassischen Damrienn-Merkmale: Haare, die schwarzgrau glänzten wie Obsidian und zu einem kleinen, hohen Knoten zusammengefasst waren, goldbraune Haut und umbrabraune Augen. Er war ein ganzes Stück größer als ich und seine breiten Schultern waren die eines Kriegers. Er war absolut atemberaubend – und selbst in seiner menschlichen Gestalt noch wölfisch, mit blitzenden Eckzähnen und einer harten, markanten Kieferpartie. In seinen Wangen blitzten Grübchen auf, als er zu mir heruntergrinste.

»Was machst du denn hier?«, fragte ich und blickte mich hektisch um. Doch weit und breit war niemand zu sehen.

»Euch besuchen, was sonst?«

»Ich meine, was machst du hier, in dieser Gasse?«

Sein Grinsen wurde breiter. »Ich wollte mir unauffällig das Dorf ansehen, in dem du aufgewachsen bist.« Seit unserem letzten Treffen war seine Stimme mindestens eine Oktave nach unten gerutscht. »Aber ich war wohl ein bisschen zu unauffällig – sonst hättest du mich nicht über den Haufen gerannt.«

Diese Stimme. Hilfe! Während seiner früheren Besuche hatten wir – beide in Wolfsgestalt – nur mental kommuniziert, direkt von Kopf zu Kopf. Und damals waren wir dreizehn gewesen. Seine Stimme jetzt laut zu hören … warf mich völlig aus der Bahn.

»Briar und Vellia warten in der Hütte auf dich«, flüsterte ich.

Wie war es möglich, dass Grae jetzt so aussah?

»Begleitest du mich?« Er zwinkerte mir zu und sofort stellten sich die feinen Härchen auf meinen Armen auf.

Lächelnd folgte ich ihm bis zur nächstbreiteren Gasse. Jubel und Pfiffe hallten uns entgegen, als wir über die abgewetzten Pflastersteine liefen. Mein Herz klopfte wie wild. Er war hier. Er war wirklich hier.

Ich räusperte mich. »Woher wusstest du, dass ich es bin?«

Mit flatterndem Umhang drehte sich Grae zu mir. Hilfe, jedes Mal wenn mich diese umbrabraunen Augen ansahen, bekam ich weiche Knie.

»Deine Haare.«

»Meine Haare?«, prustete ich, schnappte mir eine braune Ringellocke und zog sie glatt. »In meiner anderen Gestalt habe ich doch gar keine Locken.«

Ängstlich schoss mein Blick zu den geschlossenen Türen und den Fenstern mit den zugezogenen Vorhängen. Zum Glück war niemand in der Nähe, der mich hätte hören können. Außerdem hatte ich »andere Gestalt« gesagt – und nicht »Wolfsgestalt«. Sawyn hatte ein hohes Kopfgeld ausgesetzt, um die letzten Goldwölfe aufzuspüren. Deshalb war ich wie immer auf der Hut – da konnte mein Gesprächspartner noch so attraktiv sein. All die Jahre hatten wir unser Geheimnis bewahrt, durch Wachsamkeit und konsequente Vermeidung des Wolf-Wortes. Wir hatten es nicht mal geflüstert – nicht ein einziges Mal. Und das sollte sich auch nicht ändern.

»Ich meine nicht das Aussehen deiner Haare.« Ich spürte Graes leises Lachen bis in meine Zehenspitzen. »Ich meine ihren Duft.«

»Den Duft?« Die Menschen rochen eigentlich alle gleich für mich, wie aufgehendes Brot und gepflügte Erde. Wölfe hingegen hatten einen individuellen Duft. Wie eine Art Fingerabdruck, der jedem Wolf eigen war.

Und Grae erinnerte sich an meinen Duft!

Jetzt nahm er einen tiefen, schnuppernden Atemzug und ich errötete. Er schmeckte die Luft geradezu, mit geblähten Nasenflügeln. Dann stieß er sie wieder aus. »Wie Lilien in der Sommersonne. Mit einem Hauch von Gewürzen. Zimt vielleicht?«, murmelte er, und es klang genießerisch.

Mein ganzes Gesicht kribbelte, von den Lippen bis zu den Ohren. Wahrscheinlich war ich knallrot.

Ja, er kannte meinen Geruch. Und ich kannte seinen. Er hatte schon immer nach feuchter Erde und brennendem Holz gerochen. Wie ein Lagerfeuer nach einem Regenschauer. Mächtig und urgewaltig. Nach etwas Unvereinbarem, das doch eins war. Ich nahm diesen Wesenskern wieder voll wahr und gleichzeitig kamen all die Kindheitserinnerungen hoch. Ich hörte wieder unser Lachen. Sah uns übermütig durch den nächtlichen Wald tollen. Sah uns, erschöpft vom Toben, am Fluss sitzen, während er mir Geschichten aus allen Ecken seines Königreiches erzählte.

Ich schloss die Augen und atmete tief ein. Als Wölfin konnte ich Kuchen riechen, die in offenen Fenstern abkühlten. Frisches Heu, das zu den Ställen gekarrt wurde. Und auch die Wildblumen dahinter. Ich stellte mir vor, wie der Wind, statt durch meine Locken zu wehen, mein goldrotes Fell zauste, denn ich realisierte langsam, dass Graes Anwesenheit das Ende unseres Versteckspiels bedeutete – und dass meine Wölfin endlich frei sein konnte. Bei diesem Gedanken wurde mir ganz schwindelig. Hoffentlich waren die Wälder in der Hauptstadt größer als hier. In Allesdale musste ich immer im Kreis rennen, um Auslauf zu bekommen. Den östlichen Wald, der unser kleines Häuschen umgab, hatte ich auf vier Pfoten in weniger als zehn Minuten durchquert. Ich kannte jeden umgestürzten Baum und jeden trüben Bach in- und auswendig. Ich fühlte mich dort mittlerweile wie eine vor dem Schlachterladen angeleinte Hündin.

Aber jetzt würde sich alles ändern. Schon bald würde ich mich nicht mehr gefangen fühlen.

Grae blickte auf meine nackten Füße und wieder blitzten seine Grübchen auf. »Deine Füße sind mindestens ebenso robust wie deine Pfoten.« Sein Lachen hatte sich verändert. Es war jetzt ein tiefes Donnergrollen, das aus seiner Brust aufstieg und alles in mir zum Beben brachte.

Wieder warf ich einen ängstlichen Blick über die Schulter. Nein, niemand hatte seine Worte gehört, die Gasse war leer. Bald würden die Kutschen aus dem Dorf rollen und die Leute zu ihrer Arbeit zurückkehren, aber im Moment waren sie noch völlig gefesselt von dem Spektakel.

»Du musst vorsichtiger sein«, murmelte ich und bereute sofort, dass ich den Kronprinzen zurechtwies. Ich meine, ich gehörte zwar auch einem Königshaus an, aber trotzdem. Wenn Briar hier wäre, hätte sie meine Respektlosigkeit sofort gerügt. Grae war schließlich nicht mehr der verspielte Welpe, der im östlichen Wald Kaninchen jagte.

»Wenn wir erst mal in Highwick sind, musst du deine Identität nicht mehr verheimlichen, nie mehr«, versprach er, und es klang so aufrichtig, dass ich vor Rührung die Lippen zusammenpresste. »Dort wirst du stolz auf deine Wölfin sein.« Er reckte das Kinn zur Mondgöttin empor. »Dort kannst du genau das sein, was du bist, Füchslein.«

Ich schnaubte empört. Genau das sein, was ich bin? Das war nicht gerade viel. Briar, groß und geschmeidig, mit wallendem roten Haar, war die »Purpurprinzessin«. Die Mondgöttin hatte sie perfekt für das Leben am Königshof geschaffen. Und ich? Ich war in jeder Hinsicht Briars Gegenstück. Die Rückseite derselben Medaille. Niemand würde uns je für Zwillinge halten. Nur eine Handvoll Leute wusste überhaupt, wer ich war. Grae und sein Vater waren zwei davon. Ich war einen ganzen Kopf kleiner als Briar und deutlich kräftiger gebaut, wobei meine weiblichen Kurven die Muskeln kaschierten, die ich mir in jahrelangem Kampftraining zugelegt hatte. Selbst als Goldwölfin wirkte ich neben meiner Zwillingsschwester gedrungen und irgendwie schmuddelig. Und mein Fell hatte einen Rotstich. Weshalb Grae mich Füchslein nannte. Und weshalb sich sein Versprechen, ich könnte endlich ich selbst sein, wie eine Enttäuschung anfühlte.

»Ich bin ein Niemand«, platzte es aus mir heraus.

Sofort trat mir Grae in den Weg. Fast wäre ich schon wieder in ihn hineingelaufen. Er drehte sich zu mir und ich spürte seinen Blick wie ein schweres Gewicht. Mit seinem schwieligen Zeigefinger hob er mein Kinn an, sodass ich ihm in die Augen sehen musste, was sich aufregend und vertraut zugleich anfühlte.

»Auch du wirst in Highwick heimisch werden, Füchslein.« Sein Atem strich über meine Wange. »Sobald deine Schwester und ich verheiratet sind, wirst auch du deinen Platz haben. Einen erhabenen Platz, der dir als königlichem Familienmitglied gebührt. Niemand wird mehr an deiner Person zweifeln.«

Das Herz schlug mir bis zum Hals. Nicht wegen seines Versprechens, sondern wegen dem, was er davor gesagt hatte: Sobald deine Schwester und ich verheiratet sind.

Das war der Anlass, der ihn hergeführt hatte. Sobald der Vollmond am Himmel stand, würden Briar und ich unseren zwanzigsten Geburtstag feiern, und dann würden Grae und sie endlich die Ehe schließen, die schon vor unserer Geburt arrangiert worden war. Die Purpurprinzessin würde den Silberwolf-Kronprinzen von Damrienn heiraten – zum Wohle des Rudels.

Ich schämte mich für meine Verbitterung. Wir waren alle drei keine Kinder mehr – obwohl ich immer noch lieber auf Bäume kletterte, als mir die Wangen zu pudern. Mir war klar, dass wir alle eine Rolle spielen mussten. Ich hatte verinnerlicht, was Vellia meiner Schwester und mir immer wieder eingetrichtert hatte: dass das Schicksal unseres Königreiches von dieser Heirat abhing. Und vom Geld und den Soldaten, die damit verbunden waren. Mit der mächtigen Armee von Damrienn konnten wir unser gefallenes Goldwolfreich zurückerobern. Das war der einzige Weg, wie Königstöchter zu Macht kamen: durch Ehen und Bündnisse. Briar würde auf Teepartys und Bällen um Unterstützung werben, und ich, als ihre Leibwache, würde dieses Ziel mit dem Schwert verfolgen. Ich hatte definitiv das bessere Stück vom Kuchen abbekommen – ich musste keine anmutige, dauerlächelnde Prinzessin sein, ich war heimlich zur Soldatin ausgebildet worden.

Das war auch der Grund, warum wir uns überhaupt in diesem ruhigen Dorf versteckt hatten.

Trotzdem, mir all dies zu vergegenwärtigen, machte mich jedes Mal wieder fassungslos.

Wie aufs Stichwort krächzte plötzlich auch noch eine Krähe über mir, als wollte sie mich verhöhnen. Ich lief weiter und Grae passte sich meinem Schritt an.

»Mir wärs dennoch lieber, wir würden diese Dinge nicht besprechen, bevor wir in Highwick sind«, murmelte ich.

Grae gluckste. »Wie du willst, Füchslein.«

Füchslein. Er sagte es schon wieder – und es klang anders als früher, obwohl es immer noch derselbe Spitzname war. Der einzige, den ich je hatte. Wie traurig, dass es Briar nicht wichtig sein würde, von jemandem wie Grae wahrgenommen und geschätzt zu werden.

Ich ballte die Fäuste im Gehen. Ich wusste, ich sollte mich mehr auf die bevorstehenden Kämpfe konzentrieren als auf den attraktiven Prinzen an meiner Seite. Das Rudel war wichtiger als meine Sehnsüchte.

Um mich abzulenken, blickte ich mich um. Auf den Straßen herrschte wieder das normale Treiben, die königlichen Kutschen mussten Allesdale verlassen haben. Nur Grae und ich wussten, dass sie nicht das nächste Dorf ansteuerten, sondern zu Vellias Hütte im Wald abbiegen würden. Grae und seine Gardesoldaten würden die Nacht dort verbringen und bei Tagesanbruch würden wir dann die lange Reise zurück in die Hauptstadt antreten.

Grae verbarg sein Gesicht wieder im Schatten seiner Kapuze, während ich die trostlosen Steingebäude betrachtete. Ich würde dieses triste kleine Kaff nicht vermissen. Die Blicke der verhärmten Menschen folgten uns, als wir den Hügel hinaufstiegen.

Im Dorf war man schon immer argwöhnisch gegenüber Vellia gewesen – und damit auch gegenüber Briar und mir. Eine alte Frau, die allein im Wald lebte – da kamen schnell Hexen-Gerüchte auf. Doch die Leute hatten ja keine Ahnung. Sie wussten nicht, dass Vellia zwar Magie besaß, aber deswegen noch lange keine Hexe war.

Der Weg wurde mit jedem Schritt steiler. Meine Muskeln brannten angenehm, als ich versuchte, mit Graes langen Beinen mitzuhalten. Ich genoss diesen letzten gemeinsamen Moment – nur wir beide. Ich beobachtete ihn, und obwohl ich seine Augen im Schatten der Kapuze nicht sehen konnte, wusste ich, dass auch er mich ansah.

Sosehr ich darauf brannte, endlich von hier wegzukommen, ich würde das hier vermissen – mit meinem Freund durch die Gegend zu streifen, wie früher, ohne Adelstitel oder große Vorsehung. Aber ich wusste, dass dieser Tagtraum enden würde, sobald wir die verborgene Hütte im Wald erreichten, in der seine Braut auf ihn wartete.

Wir beeilten uns, dabei hätte ich so gerne getrödelt, mir alle Zeit der Welt gelassen. Doch das konnte ich Grae nicht antun. Und auch Briar nicht.

Alles hatte einmal ein Ende – selbst ein simpler Waldspaziergang.

2

Unter dem dichten Blätterdach war es angenehm schattig und kühl. Während wir uns unterhielten, strich ich mit den Händen über die bemoosten Baumstämme. Unter unseren Füßen raschelte das Laub. Wir folgten den dünnen Rillen, die die Kutschenräder in den Boden gegraben hatten. Grae erzählte mir die neuesten Nachrichten aus Damrienn. Eine schwere Dürre hatte die Bauern diesen Sommer getroffen und sein Vater war noch mürrischer als sonst. Wenigstens hob die bevorstehende Hochzeit die Stimmung im Land. Die Nachricht, dass die Purpurprinzessin am Leben war und obendrein den Kronprinzen von Damrienn heiraten wollte, hatte sich wie ein Lauffeuer verbreitet.

Seit Jahren kursierten Gerüchte, dass der letzte Spross der Goldwolflinie noch lebte, dass die Marriel-Prinzessin Briar die schicksalhafte Nacht ihrer Geburt überlebt hatte. Aber der Name ihrer Zwillingsschwester Calla tauchte in keinem dieser Gerüchte auf. Zwanzig lange Jahre hatte die Welt nach Briar gesucht – und zwanzig lange Jahre war ich nichts als ein Schatten hinter dem Wunschtraum von der Purpurprinzessin gewesen. Nach zwei Jahrzehnten würden wir unser Geheimnis nun endlich lüften. Nicht eine Marriel-Tochter hatte jene Nacht überlebt, sondern zwei.

Nicht dass ich glaubte, die Welt würde sich allzu sehr für mich interessieren – alle Blicke würden weiterhin auf Briar gerichtet sein, so wie es sein sollte. Und ich hatte nicht das geringste Problem damit, sie im Rampenlicht des Hoflebens stehen zu lassen. Ich würde genug damit zu tun haben, aus dem Hintergrund zu beobachten – und zu planen.

Grae streckte seine Hand aus, hakte einen Finger unter meine Halskette und zog daran, bis der Bernsteinanhänger zum Vorschein kam. »Du trägst ihn noch«, stellte er lächelnd fest.

»Natürlich.« Da, wo sein Fingerknöchel mein Schlüsselbein berührt hatte, kribbelte die Haut. »Wenn ein Prinz dir einen Schutzstein schenkt, dann trägst du ihn.«

Wieder diese Grübchen auf seinen Wangen. »Trägt Briar ihren auch noch?«

»Ja.«

»Du bist eine schlechte Lügnerin.« Er lachte leise, pflückte eine weiße Blütenknospe von einem niedrigen Ast und reichte sie mir. »Ich rieche es, wenn du lügst. Genauso wie ich diese Blüte rieche.«

Ich ließ meinen Blick über all die Sommerblumen ringsum schweifen. Der Wald, der unsere Hütte umgab, war mit ebenso vielen Erinnerungen gefüllt wie die Hütte selbst. Unsere ganze Kindheit und frühe Jugend über waren Briar und ich an jedem Vollmond in den dunklen Wald gerannt, um Grae dort zu treffen. Zuletzt vor sieben Jahren. Ich bewahrte seinen Abschiedsbrief noch immer in meiner Kommodenschublade auf. Zusammen mit den zwei Briefen waren zwei Halsketten gekommen – ein Rubin für Briar und ein Bernstein für mich. Bei jeder Lektüre meines inzwischen völlig zerknitterten Briefes hatte ich mich gefragt, ob Grae die Steine nach unseren Haarfarben ausgesucht hatte. Briars Brief war zwei Seiten lang, meiner nur ein paar Zeilen.

Mein Vater hat mich zur Ausbildung nach Valta geschickt. Ich werde Euch auf absehbare Zeit nicht mehr besuchen können, aber wenn ich irgendwann komme, werde ich noch mehr Geschichten zu erzählen haben, da bin ich sicher. Dies ist ein Schutzstein. Trage ihn immer bei Dir. Es tut mir leid, Füchslein. Vergiss mich nicht. G.

Ich spielte mit dem Bernsteinanhänger an der dünnen Goldkette. Wie konnte Grae glauben, dass ich ihn vergessen würde? Er war mein erster und einziger Freund, mit dem ich nicht den Mutterleib geteilt hatte. Sieben Jahre war es jetzt her, dass ich ihn zuletzt gesehen und seinen Geschichten über Monster und Magie gelauscht hatte. Sieben Jahre, seit wir uns durch die Wälder gejagt und unsere Hoffnungen auf die Zukunft geteilt hatten. Dass danach keine weiteren Briefe mehr gekommen waren, hatte mich mehr geschmerzt, als ich mir eingestehen wollte.

Der pralle Sommermond, der im klaren blauen Himmel hing, zog mich magisch an. Bald würde er voll sein, und der Drang, mich zu verwandeln, würde mich einmal mehr überkommen. Meistens konnte ich ihn kontrollieren, aber die Tage vor dem Vollmond brachten jeden Wolf in Aufruhr – und jetzt war ich obendrein in einem besonders empfindlichen Zustand.

»Erinnerst du dich noch an die Geschichte der Halskette?«

Ich drehte den Blumenstängel zwischen meinen Fingern, während wir weiter durch den Wald schlenderten. Der liebliche Blütenduft schwebte zwischen uns. »Natürlich erinnere ich mich. Als deine Urgroßmutter auf dem Sterbebett lag, war ihr letzter Wunsch, dass ihre Kinder stets vor Schaden bewahrt sein sollten. Jetzt ist es ein Familienerbstück.« Ich musste an die Tragödie denken, die er zuletzt erlebt hatte, und legte eine Hand auf seinen Unterarm – was meine Haut erneut kribbeln ließ. »Ich habe vom Tod deiner Mutter gehört. Es tut mir so leid.«

»Ach, das ist schon viele Jahre her.« Er sah mich forschend an, dann löste er sich aus meiner Berührung.

Ich spürte, dass er nicht über seine Mutter reden wollte, und mein Herz zog sich zusammen. Eine Woche nachdem wir unsere Halsketten erhalten hatten, war Königin Lucrecia gestorben, das hatte mir der Bäcker erzählt. Ich wäre am liebsten sofort nach Highwick aufgebrochen, um Grae zu besuchen, und hätte es vermutlich auch getan, wenn Briar mich nicht so fest umarmt und mir tröstende Worte ins Ohr geflüstert hätte. Ich war am Boden zerstört gewesen.

»Erinnerst du dich noch an andere Geschichten, die ich dir erzählt habe?«, wechselte er das Thema.

»An jede einzelne«, murmelte ich. Wieder blitzten seine Wangengrübchen auf und ich musste mich räuspern, bevor ich weitersprechen konnte. »Der gespaltene Gipfel, Das ewig segelnde Schiff, Die Goldminen von Sevelde, die Geschichten über die Juvlecks und Ostekken und all die anderen Monster, die nicht mal mehr in den alten Liedern und Legenden auftauchen.«

Natürlich erinnerte ich mich an seine Geschichten. An alle, ausnahmslos. Schließlich hatte ich ihn ständig gedrängt, mir etwas zu erzählen, hatte immer wieder um neuen Stoff gebettelt. Und in den vergangenen sieben Jahren, seit unserer letzten Begegnung, hatte ich die Geschichten im Stillen wiederholt – und mir dabei seine Stimme vorgestellt.

Ich klemmte mir die weiße Blume hinters Ohr. »Was ist dir von deinen Besuchen hier in Erinnerung geblieben?«

Er seufzte und schloss die Augen. »Das Fangenspielen. Der Klang deiner Stimme.« Er grinste. »Und die vielen geheimen Ausdrücke, die du dir ausgedacht hast.«

»Du meinst die Codewörter? Falls wir hätten fliehen müssen.«

»›Renn!‹ oder ›Nichts wie weg!‹ zu rufen, hätte es wahrscheinlich auch getan.« Lachend verschränkte er die Arme hinter dem Rücken. Er ging jetzt so langsam, dass er fast auf der Stelle trat. Ob er den Moment genauso hinauszögern wollte wie ich?

»Aber ›Renn!‹ oder ›Nichts wie weg!‹ zu rufen, ist nicht gerade unauffällig.« Ich tippte mit dem Zeigefinger gegen mein Kinn, als würde ich nachdenken. »Unser aktuelles Codewort lautet übrigens ›Köcher‹.«

Er prustete los. »Wie soll man das Wort ›Köcher‹ denn bitte unauffällig in einen Satz einbauen?«

»Ich bin sicher, uns fällt etwas ein.« Ich zwinkerte ihm zu und er wäre um ein Haar gegen einen Baumstamm geknallt, er konnte gerade noch ausweichen. Da war er wieder, der verspielte Welpe, an den ich mich so intensiv erinnerte.

Nach einer Weile blieb Grae stehen und starrte auf die Stelle, wo sich der Pfad im dichten Wald verlor. »Wo ist die Hütte?«

Lachend deutete ich auf eine dünne Schicht aus verzerrter, verzogener Luft. Der Wald wirkte an der Stelle leicht flirrend, so als würde man an einem heißen Tag in verdunstende Feuchtigkeit schauen. »Du hast so viele Märchen erzählt und noch nie einen echten Zauber gesehen?«

Mit gerunzelter Stirn streckte Grae den Arm aus und berührte die verschobene Luft. Sein Mund klappte auf, als seine Fingerspitzen plötzlich verschwanden.

Kichernd hakte ich ihn unter. Bei der Berührung wurde mir heiß und ich versuchte, meine Verlegenheit durch Forschheit zu überspielen. »Das ist noch gar nichts. Warte ab, bis du in der Hütte bist, da hat Vellia sich magisch richtig ausgetobt«, sagte ich und zog ihn durch die verzauberte Luft.

Als ich durch die Nahtstelle trat, strich es kurz kühl über meine Haut und im nächsten Moment tauchte die Hütte auf. Was eben noch Wald gewesen war, war nun weitläufiges Ackerland mit Ställen und Gärten. Zwei goldene Kutschen parkten vor dem Haus. Die Pferde waren bereits ausgespannt und grasten auf der hinteren Wiese. Ich ließ Graes Arm los, noch ganz benommen von dem Körperkontakt, und stemmte die Hände in die Hüften.

Ich musste wirklich aufhören, ihn ständig anzufassen.

Graes Augenbrauen schossen in die Höhe. »Das ist die Hütte?«

Vellia hatte das zweistöckige Gebäude aus riesigen Redwood-Stämmen gebaut. An den rosafarbenen Fensterläden hingen Girlanden aus Holzperlen, in den Blumenkästen blühte es sommerlich bunt. Die Tür leuchtete in einem hellen Blau. Das Haus war eindeutig von einer Fee entworfen worden.

»Gefällt es dir?«

»In all den Jahren, die wir zusammen durch die Wälder gestreift sind, habe ich immer geglaubt, du würdest in eine armselige Bruchbude zurückkehren, in der gerade mal Platz für dein Bett ist«, sagte Grae. »Ich hätte es besser wissen müssen.« Kopfschüttelnd folgte er mir die Treppe hinauf zur Haustür.

»Hast du dir vielleicht gewünscht, dass wir in einer Bruchbude hausen?«, neckte ich ihn.

»Nein, natürlich nicht. Es ist nur … Das hier …« Er fuchtelte in Richtung Haus.

»Letzte Wünsche erzeugen eben einen mächtigen Zauber«, entgegnete ich.

Bevor er antworten oder ich meine Hand nach der Klinke ausstrecken konnte, öffnete sich die Tür.

In einem salbeigrünen Kleid, das ihre blassgrauen Augen zum Leuchten brachte, stand Vellia vor uns. Um ihre silbernen Haare war ein passendes Tuch geschlungen, das sich bauschte, als sie einen tiefen Knicks machte. »Willkommen, Hoheit.«

»Danke für den freundlichen Empfang.« Grae klang plötzlich ganz prinzenhaft, völlig anders als eben.

Vellia trat einen Schritt zurück und bat ihn mit überschwänglicher Geste hinein. Dann zwinkerte sie mir zu. Dieser Tag war ein großer Erfolg für sie. Sie hatte meiner Mutter auf dem Sterbebett versprochen, ihr ihren letzten Wunsch zu erfüllen: Beschütz meine Tochter bis zum Tag ihrer Hochzeit. Die schiere Kraft dieses Wunsches hatte Vellia ein ungeheures Maß an Magie verliehen. Ich hatte mich oft gefragt, ob meine Mutter ihren Wunsch umformuliert hätte, wenn sie von meinem Erscheinen ein paar Minuten später gewusst hätte. Vellia schien davon auszugehen, denn sie hatte nicht nur Briar, sondern auch mich stets mit einer Inbrunst beschützt, die jede Wolfsmutter stolz gemacht hätte.

Wir traten in die große Eingangshalle mit der hohen Decke. Ein hoch aufragender Steinkamin teilte den Raum in zwei Hälften. Immergrüne Zweige bedeckten die rauen Holzbalken. Über uns flackerte ein Geweihleuchter mit Hunderten magischer Kerzen. Neben dem Kamin hatten sich die Wachsoldaten in einem Kreis postiert. Sie besaßen alle das schwarze, dichte Damrienn-Haar, markige Gesichter und helle goldbraune Haut. In leichten silbernen Rüstungen, die Hände an den Griffen ihrer Degen, lauschten sie lachend einem Witz, den die elegante Dame in ihrer Mitte erzählte.

Briar.

Ihr spitzenbesetztes altrosa Kleid umschmeichelte ihre schlanke Gestalt. Wahrscheinlich hatte sie Vellia erst am Morgen gebeten, es ihr zu zaubern. Ihr rotes Haar war von den Schläfen her geflochten, und in den Zöpfen steckten zarte weiße Blüten, die ihren Kopf wie eine Krone umschwebten. Jetzt schenkte Briar den Soldaten ein breites Lächeln. Egal wo sie war, sie zog alle Aufmerksamkeit auf sich. Sie war wirklich der geborene Mittelpunkt eines jeden Kreises.

Als sie Grae mit einem Blick über die Schulter entdeckte, flanierte sie zu ihm, wobei ihre Haare im gleichen Rhythmus wippten wie ihre Hüften. Elegant glitt sie in eine Verbeugung und murmelte ein »Eure Hoheit«.

»Eure Hoheit«, erwiderte Grae und neigte kokett den Kopf.

Ich wurde blass. Ich hatte versäumt, ihn mit diesem Titel anzusprechen. Vielleicht hätte ich daran gedacht und mich auch gleich verbeugt, wenn ich nicht in ihn hineingerannt wäre.

»Ich hoffe, die Reise von Highwick war nicht allzu beschwerlich?« Briar sprach bereits mit der Anmut einer Hof haltenden Königin.

»Nein, ganz und gar nicht.« Grae stieg auf ihren Tonfall ein. »Es ist eine einfache Tagesreise und die Landschaft ist wundervoll.«

Briar zögerte. Dann hob sie die Wimpern und blickte zu ihm auf. Sie musste dabei kaum den Kopf in den Nacken legen, ihr Scheitel war auf Höhe seiner Augen. Sie würde perfekt neben ihm aussehen. Ich biss mir auf die Lippe und verkniff mir ein Stirnrunzeln. Es war so eine Verschwendung. Briar wusste, dass sie ihn niemals lieben würde – so viel hatte sie mir in heimlichen Momenten verraten. Aber königliche Eheschließungen hatten eben nichts mit Liebe zu tun. Liebe war etwas für Menschen. Wäre Briar als Junge geboren worden, hätte sie sich dieses ganze extravagante Getue sparen und selbst Anspruch auf Olmderes Thron erheben können. Manchmal wünschte ich, ich wäre als Junge auf die Welt gekommen: Dann wäre mein Leben so viel einfacher und freier. Ich wünschte, ich müsste keine Rolle spielen, um anerkannt und wertgeschätzt zu werden. Aber so war es nun mal nicht, und vielleicht war das auch gut so. Denn nur so blieben die Wolfs-Blutlinien stark. Nur so konnten die vier Königreiche ihren Frieden wahren. Ein Rudel anzuführen, bedeutete, Opfer zu bringen. Und wir alle mussten unseren Teil beitragen.

Die beiden blickten sich noch einen Moment lang in die Augen, dann sagte Briar: »Wenn ihr wollt, zeige ich euch allen eure Zimmer. Ihr möchtet euch vor dem Abendessen bestimmt frisch machen.«

Als Grae nickte, fiel ihm eine schwarze Haarsträhne ins Gesicht und ich spürte das drängende Verlangen, sie ihm hinters Ohr zu streichen. Um mich davon abzuhalten, ballte ich die Fäuste und grub meine Fingernägel in die Handballen.

»Danke«, sagte Grae, sah dabei jedoch nicht Briar an, sondern mich, einen Mundwinkel leicht hochgezogen.

Briar führte die Männer die Wendeltreppe hinauf zur oberen Galerie. Ich blickte ihnen nach, bis sie um die Ecke verschwanden. Vellia stand immer noch neben mir. Ihre Augen funkelten wissend.

Ich schielte zu ihr. »Was ist?«

»Nichts.« Sie zuckte die Achseln und trommelte mit den Fingern auf ihre Wange. »Auf diesen Tag haben wir alle lange gewartet.« Das Klirren der Rüstungen hallte zu uns herunter. Vellia musterte mich von Kopf bis Fuß. »Was willst du zum Abendessen anziehen? Etwas Lavendelblaues, passend zum Altrosa deiner Schwester?«

Anziehen? Was meinte sie mit anziehen? Aber dann blickte ich an meinem zerknitterten braunen Kleid hinab und betastete das Loch, das ich mir im Gestrüpp hineingerissen hatte. Ein perfektes Dorfkleid, schlicht und unauffällig. Ich schnaubte. Als ob meine Abendgarderobe irgendeine Rolle spielen würde. Ich könnte im Ballkleid durch Allesdale spazieren – mit Briar an meiner Seite würde das niemandem auffallen.

»Ich würde mich lieber so wie die Wachsoldaten kleiden«, sagte ich. »Tunika und Lederwams, nichts Ausgefallenes …«

»Nichts Ausgefallenes?« Vellia verdrehte die Augen. »Du speist heute Abend mit dem Kronprinzen von Damrienn …«

»Und ich bin eine der beiden Prinzessinnen von Olmdere.«

»Dann verhalte dich auch so«, konterte sie.

»Ich bin nicht dazu bestimmt aufzufallen«, sagte ich. »Die Soldaten wissen doch nicht mal, wer ich bin.«

Es war beschlossene Sache, dass wir das Geheimnis meiner Abstammung wahren würden, bis der König von Damrienn anders darüber entschied. In seinen Briefen hatte er versprochen, dass er meine wahre Identität enthüllen würde, sobald Briar und Grae verheiratet waren. Bis dahin musste ich ein Geheimnis bleiben. Mit ihrer Hochzeit würden die beiden einen Vertrag erfüllen, der bereits vor unserer Geburt geschlossen worden war. Die Zukunft Olmderes hing davon ab. Und unsere Position war zu unsicher, als dass wir es uns hätten leisten können, diese Abmachung zu gefährden.

Zumindest hatte ich mir das immer eingeredet.

»Es ist Briar, die sich wie eine Königin kleiden muss«, sagte ich.

Vellia zog mich am Ohrläppchen. »Wie du ganz richtig festgestellt hast, bist auch du eine Marriel, Calla.«

»Aber mir macht mein Schattendasein nichts aus.« Ich hatte bereits vor langer Zeit beschlossen, das Beste daraus zu machen. Wenn ich schon keine Königin sein konnte, dann wollte ich wenigstens eine Kriegerin sein. Wir brauchten beides, um unsere Heimat zurückzuerobern. Und die Rolle der Kriegerin passte ohnehin besser zu mir. »Auf diese Weise werde ich mich viel besser an Sawyn anschleichen können. Ich werde vor Ort sein, wenn die Soldaten meine Eltern rächen … und ganz sicher werde ich dabei kein schickes Kleid tragen.«

Das war etwas, was ich in meinen endlosen Kampftrainingsstunden gelernt hatte: Ich würde niemals durch bloße Kraft, durch rohe Gewalt gewinnen, sondern nur durch List, Raffinesse und Überrumpelung. Ich umklammerte das Messer in meiner Tasche und stellte mir vor, wie ich der Zauberin den Hals aufschlitzte. Es waren meine Vorfahren gewesen, die die Welt von Monstern und Zauberern befreit hatten. Damit hatten sie ein Versprechen an die Menschen eingelöst, die die Wölfe zum Dank gekrönt hatten. Ich würde dieses Vermächtnis weiterführen und die dunkle Magie erneut besiegen.

Vellia stieß einen langen, gequälten Seufzer aus. Sie war eine Fee, die dafür lebte, uns zu hätscheln und zu verwöhnen, und ich machte es ihr nicht gerade leicht. Sie scheuchte mich in Richtung Treppe. »Geh dich zumindest waschen. Deine Garderobe wird oben für dich bereitliegen.«

Weiße Magie sprühte aus ihren Fingern und strömte in Richtung der hohen Decke. Spätestens jetzt wusste ich, dass oben ein heißes Bad auf mich wartete.

Ich hatte den Fuß gerade auf die unterste Treppenstufe gesetzt, da rief Vellia mir hinterher: »Es wird sich schon alles finden, Calla.«

Aber dieser Satz war kein Trost für mich. »Es wird sich schon finden« – das war nicht ganz die Ebene, auf der ich mir den Kopf zerbrach. Ich musste ein Königreich auferstehen lassen und meine Eltern rächen. Während meine Schwester heiratete, Verträge unterzeichnete und Bündnisse schmiedete, musste ich, die namenlose Wölfin, unseren Thron zurückerobern.

3

Wie versprochen, lag mein Outfit auf dem Bett bereit, als ich aus der Wanne stieg. Ich betrachtete die silbernen Brokatborten, die den Halsausschnitt und die Ärmelöffnungen der Tunika säumten, und musste lächeln. Vellia hatte sich mal wieder selbst übertroffen. Es war der raffinierteste Stoff, den man sich denken konnte. Die Schultern waren weit geschnitten, um mich muskulöser erscheinen zu lassen, die steingraue Hose schmiegte sich passgenau um meine kräftigen Oberschenkel. Aber das eigentliche Glanzstück war der frisch polierte, geschliffene Dolch. Der goldene Griff schimmerte im Kerzenlicht und die Ätzungen auf der silbernen Schneide waren wieder klar zu erkennen. Mein Blick glitt über die Symbole von Olmdere: ein Hirschgeweih über dem Abdruck einer Pfote, in deren mittlerem Ballen eine Krone prangte. Vellia hatte mir die Waffe zu meinem zehnten Geburtstag geschenkt. Damals war sie viel zu groß und schwer für mich gewesen, aber mit der Zeit hatte ich mich an sie gewöhnt und jetzt fühlte sie sich so vertraut an wie meine eigenen Fingerspitzen.

Ich strich über die eingravierten Symbole. Wie es wohl gewesen wäre, in ihrem Zeichen aufzuwachsen? Neben den Thronen zu stehen, auf denen meine Eltern saßen? Vellia hatte im Laufe der Zeit kleine Zeichnungen von meinen Eltern, Karten ihres Königreiches und Bilder ihres überirdisch schönen Schlosses inmitten eines Sees zusammengezaubert. Briar und ich hatten sie ständig um mehr Material gebeten, sie gedrängt, uns Details eines Lebens zu beschreiben, das wir nicht kannten. Aber manche Dinge lassen sich selbst mit Feenmagie nicht heraufbeschwören. Ich würde niemals die Stimme meiner Mutter hören, niemals eine Umarmung meines Vaters spüren und nie das Selbstvertrauen haben, das ich im Schoß meiner Familie entwickelt hätte. Ein Teil von mir würde immer fehlen – und dieses Wissen ließ mich den Dolchgriff noch fester umklammern.

Schrittgeräusche wurden lauter und leiser, als die Gäste an meiner Zimmertür vorbei zum Abendessen gingen. Ich steckte den Dolch in die Scheide, zog mich rasch an und schnürte den breiten schwarzen Ledergürtel. Er reichte von der Taille bis unter die Brust. Und weil er so eng saß, verhinderte er nicht nur, dass der Dolch die Hose herunterzog, sondern ließ mich auch aufrechter stehen und formte meine Kurven. Trotzdem ähnelte ich eher einem Rechteck als einer Sanduhr wie Briar. Aber das war mir ganz recht, denn ich sah kräftig aus. Ich starrte mein Spiegelbild an und straffte die Schultern. Mir gefiel die Kriegerin, die zurückblickte. Sie war stark und weich zugleich, männlich und weiblich, bedrohlich und verführerisch. Briar konnte die Prinzessin geben, aber das hier, was immer es war … das konnte tatsächlich nur ich.

Ich betrachtete meine braunen Locken, die grünen Augen, meine Haut, die eine Nuance dunkler war als Briars, den Dolch an meiner breiten Hüfte. Und plötzlich flüsterte eine leise Stimme in mir: Gut, aber nicht gut genug. Wie sollte ich mich auch jemals als gut genug empfinden, wenn Briar die personifizierte Perfektion war? Ich versuchte ja, meinen eigenen Weg zu gehen, aber ich hatte keine Ahnung, wie ich aus ihrem Schatten treten sollte. Irgendetwas fühlte sich immer falsch an. Etwas, das ich nicht genau benennen konnte. Also hatte ich dieses Gefühl immer verdrängt und mich stattdessen auf meine Kampfausbildung konzentriert. Hatte gegen jeden von Vellia herbeigezauberten Feind trainiert.

Und schon schlug mein verwirrendes Gedankenpendel wieder in die andere Richtung aus: Ich habe die Fähigkeiten! Ich bin bereit! Zum hundertsten Mal bestärkte ich mich in dieser Überzeugung. Verdammt, jetzt musste ich mich nur noch entsprechend verhalten.

Bei allen Göttern, wie machten die Menschen das nur? All das zu sein, was sie fühlten?

Ich hob das Handtuch vom Boden auf und wrang meine Locken noch einmal aus. Dann warf ich einen letzten Blick in den Spiegel und versuchte, etwas von dem Selbstbewusstsein mitzunehmen, das mein Spiegelbild verströmte. Aufgesetztes Lachen, gestraffte Schultern, funkelnde Augen. Aber es fühlte sich nicht echt an. Meine Schultern sackten wieder herunter. Egal welche Maske ich trug, keine schien zu passen. Irgendetwas fehlte immer. Ich seufzte. Ich war mir dieses fehlenden Stücks plötzlich so bewusst, als hätte man es mir direkt aus der Seite gerissen. Ob die anderen es genauso spürten wie ich? Sah Grae es? Merkte er, dass ich unvollständig war?

Wieder straffte ich die Schultern, dann öffnete ich die Tür und versuchte, mein Gedankenchaos beiseitezuschieben – was gründlich misslang. Ich hoffte, dass wenigstens Grae mich nicht als unvollständig wahrnahm.

Gelächter schlug mir entgegen, als ich über die Schwelle des vergoldeten Raums trat, in dem gespeist wurde. Grae sprang von seinem Stuhl auf und sofort tat es ihm die ganze Garde nach. Er sah absolut perfekt aus. So wie ich ihn mir immer als Prinzen vorgestellt hatte. Er trug einen zweireihigen schwarzen Frack mit goldenen Knöpfen und goldenen Epauletten.

Aber es war vor allem die Art, wie er mich ansah, die mein Herz höherschlagen ließ. Mein Blick wanderte von seinem hohen Kragen zu seiner markanten Kieferpartie, den leicht geöffneten Lippen und den großen dunklen Augen. Während wir uns anstarrten, verblasste alles um mich, der ganze Raum. Könnte ich seinen ehrfürchtigen Ausdruck doch nur festhalten! Ihn in eine Flasche füllen und aufbewahren.

Aber immerhin, fürs Erste richtete er mich ein wenig auf.

Briars Stimme brach den Bann, zerschnitt das Band zwischen uns. »Du siehst prächtig aus, Calla.«

Ich schluckte. Ich wollte nicht prächtig aussehen. Ich wollte stark aussehen. Aber das hatte meine Schwester noch nie verstanden. Ich blickte Briar an und musste ein Kichern unterdrücken. »Genau wie Ihr, Eure Hoheit.«

Meine Zwillingsschwester trug eine ausladende burgunderrote Robe mit farblich passender Schärpe, dazu lange Satinhandschuhe und eine goldene Halskette mit einem Hirschgeweihanhänger. In ihrem Haar, das zu einem eleganten Knoten verschlungen war, steckte ein kleines Diadem. Unsere Eltern wären stolz auf sie gewesen. Eine Tochter, die sich perfekt eignete, um einen schneidigen Prinzen zu heiraten.

Briar stand am Kopf des Tisches und Grae zu ihrer Rechten. Die Wachsoldaten hatten sich auf die übrigen Stühle verteilt. Den Platz am anderen Tischende hatten sie für mich frei gelassen. Als Briar sich setzte und der Tafelrunde ein Zeichen gab, es ihr gleichzutun, nahm ich mit gesenktem Kopf Platz. Ich beneidete meine Schwester um vieles, aber nicht um ihre Gastgeberinnenrolle. Ich würde mich lieber von einem Ostekken fressen lassen, als dieser Tischgesellschaft vorzustehen. Es war das erste Mal überhaupt, dass wir Gäste hatten, und Briar meisterte die Herausforderung mühelos. All die vielen So-tun-als-ob-Spiele, die sie mir als Kind aufgezwungen hatte, zahlten sich jetzt aus.

Kaum saß ich, füllte sich mein Kristallkelch mit einer goldenen Flüssigkeit. Ich griff nach dem Glas und ließ meinen Blick durch den Raum schweifen, um zu sehen, wo Vellia sich versteckt hielt. Es dauerte einen Moment, bis ich hinten in der Ecke das vorgewölbte Stück Tapete entdeckte. Ich zwinkerte in die verschobene Luftschicht, hinter der Vellia hockte und das Abendessen beobachtete. Wenigstens gab es Wein.

»Ich bin Hector«, stellte sich der Wachsoldat zu meiner Rechten vor, und ich hoffte, dass er mich nicht für verrückt hielt, weil ich in eine scheinbar leere Zimmerecke geblinzelt hatte.

Hector wirkte älter als Grae. Er hatte einen scharfen, wachen Blick und ein breites Grinsen.

»Freut mich, dich kennenzulernen, Hector«, sagte ich.

»Und das ist meine kleine Schwester Sadie.« Er deutete auf die Soldatin zu meiner Linken.

»Jetzt hör doch mal auf, mich immer als deine kleine Schwester vorzustellen«, zischte Sadie.

Lachend ließ ich meinen Blick zwischen den beiden schweifen. Sie hatten die gleichen weit auseinanderstehenden Augen, die gleichen breiten Nasen und die gleichen schmalen, geschwungenen Augenbrauen. Sadie trug ihre kurzen Haare zurückgeflochten. Unter ihren glatten schwarzen Ponyfransen funkelte sie ihren Bruder böse an.

»Seid ihr Zwillinge?«, fragte ich.

»Nein.« Lachend trank Hector einen Schluck Wein. »Sie ist zwei Jahre jünger als ich.«

»Anderthalb«, präzisierte Sadie. Dann zog sie ein Messer aus ihrem Gürtel, schnitt eine weiße Rose aus dem Gebinde vor ihrem Platz und betrachtete sie mürrisch. Der lange Pony fiel ihr in die Augen.

»Siehst du, was ich alles ertragen muss? Ich war fassungslos, als Grae sie für die Königliche Garde ausgewählt hat«, sagte Hector, aber sein Grinsen verriet, dass er nicht das geringste Problem mit Graes Entscheidung hatte.

Er deutete auf die letzte Wachsoldatin in der Reihe, die ganz hinten neben Briar saß.

»Das ist Maez. Graes Cousine.«

Alle drei Wachen trugen die gleichen zinngrauen Waffenröcke mit halbmondförmigen Brustpanzern, in die das Wappen von Damrienn eingraviert war: ein Phönix mit ausgebreiteten Flügeln und darüber eine Krone, durch die eine Mondsichel ragte.

Hector. Sadie. Maez. Zu viele Namen. Ich verschränkte die Arme, nickte und versuchte, sie mir zu merken, aber ich wusste schon jetzt, dass ich sie vergessen würde. Namen waren das am wenigsten Erinnerungswürdige einer Person. Mich interessierte zum Beispiel viel mehr, wie Maez sich die Narbe auf ihrer Oberlippe zugezogen hatte, zu welcher Seite sich Sadie im Kampf wegduckte und warum Hector seine Hüfte und nicht seinen Kopf drehte, wenn er mich anschaute.

»Du musst dir unsere Namen nicht merken«, sagte Sadie, als könnte sie Gedanken lesen. »Sag einfach ›Hallo, du‹. Dann antworten wir.«

»Spar dir deine Energie für die Höflinge des Königs«, fügte Hector hinzu und grinste vielsagend. »Die werden nicht so viel Nachsicht mit dir haben.«

Mir lief ein Schauder über den Rücken. Mit Soldaten kam ich klar, aber auf das alberne Getue katzbuckelnder Höflinge hatte Vellia uns nicht vorbereitet. Die gehörten, neben der königlichen Familie, zu den ranghöchsten Wölfen. Danach kamen die Gardesoldaten und dann die restlichen Wolfsfamilien. Die Rudelhierarchie war sehr strikt. Der Rang bestimmte über Leben und Sterben eines Wolfes – und wir waren die Glücklichen an der Spitze. Vellia hatte uns erzählt, dass Wölfe ihr ganzes Leben lang darauf hinarbeiteten, die Gunst des Königs zu erlangen und innerhalb der Hierarchie aufzusteigen – und wir waren kraft unserer Geburt von Anfang an ganz oben. Aber solange unser neues Silberwolfrudel nichts von meiner Geburt wusste, war mein Rang natürlich unbekannt. Und ich konnte mir kaum vorstellen, dass diejenigen, die ganz oben auf der Leiter standen, einen plötzlichen Emporkömmling besonders herzlich aufnehmen würden. Welchen Platz würde ich in dieser neuen Welt einnehmen?

»Willkommen im Leben einer Königsgarde«, sagte Hector, als er meinen bestürzten Gesichtsausdruck sah. Wahrscheinlich hatte er gerade den einen oder anderen Höfling vor Augen.

Wie gut, dass ich mich diesen handfesten Soldaten mit ihren zinnfarbenen Waffenröcken und Brustpanzern anschließen konnte. Sie schienen mir sehr viel umgänglicher als die Leute, mit denen Briar würde anbändeln müssen.

»Schöner Dolch, den du da hast!« Hector beugte sich über den Tisch und beäugte die silberne Schneide.

»Den hat Vellia für mich gemacht«, sagte ich und legte die Hand um den vergoldeten Griff.

»Es war bestimmt aufregend, hier mit einer Prinzessin aufzuwachsen, oder?«, sinnierte er. »Ihr beide müsst wie Schwestern sein.«

Ich machte eine unbestimmte Kopfbewegung. »Ja, so was in der Art.«

»Kannst du denn auch damit umgehen?«, fragte Hector und legte, genau wie ich, die Hand um seinen Degen. Ich schoss ihm einen Seitenblick zu – und dieser Blick sagte alles.

Hector schnaubte. »Gut, ja, kann sie«, sagte er an seine Schwester gewandt. »Weißt du, was? Du solltest mit uns in Highwick trainieren. Ich würde diesen Dolch gerne mal in Aktion sehen.«

»Sehr gerne.« Ich nickte ihm dankbar zu. Die Feinde und Monster, die Vellia heraufbeschworen hatte, entstammten alle ihrer Fantasie. Sie eigneten sich als Trainingspartner, aber sie bewegten sich stets auf dieselbe Weise und dachten alle gleich. Sie wurden eben von Vellias Verstand kontrolliert – und Vellia war schlicht kein kämpferischer Typ. Wenn ich mich verbessern wollte, brauchte ich neue Gegner mit eigenem Verstand.

»Ich kanns immer noch nicht glauben.« Sadie warf ihren kurzen Zopf über die Schulter, beugte sich vor und starrte Briar quer über die Tafel an. »Die Purpurprinzessin lebt – nach all den Jahren! Wir waren wie vom Donner gerührt, als der König es uns erzählte. Wir hatten es für ein Gerücht gehalten … während Grae es die ganze Zeit wusste!« Mit einem kleinen Schnauben hob sie ihren Kelch. »Das erklärt natürlich, warum er all die glühenden, schmachtenden Verehrerinnen so auf Abstand gehalten hat. Weil er wusste, dass eine Prinzessin auf ihn wartet.«

Ich spähte an dem hoch aufragenden Kerzenleuchter vorbei zu Grae, der sich gerade mit Briar und Maez unterhielt.

»Glaubst du, die beiden sind vom Schicksal füreinander bestimmt?«, holte mich Sadie zu unserem Gespräch zurück.

»Es heißt ja, dass König und Königin Marriel füreinander bestimmt waren«, sagte Hector und schwenkte seinen Kelch.

Waren Briar und Grae Schicksalsgefährten? Gute Frage. Komischerweise hatte ich nie wirklich darüber nachgedacht. Viele Wölfe nahmen sich einen Gefährten oder eine Gefährtin. Einige heirateten, andere hatten ihr Leben lang Geliebte, aber Schicksalsgefährten waren etwas Besonderes. Ihre Verbindung besaß eine Magie, die über das Königreich hinausreichte und die Zeit durchwebte. Diese Magie übertraf alle anderen Arten von Magie. Sie war ein seltenes und hoch angesehenes Geschenk der Mondgöttin höchstpersönlich.

Die Leute sagten, es sei, als würden sich zwei Körper eine Seele teilen. Die meisten fanden es traumhaft schön, aber ich fand es einfach nur tragisch. Mit dem Tod meines Vaters war meine Mutter ebenfalls gestorben – einfach weil ihre schicksalhafte Verbindung so stark gewesen war. Und während die Barden haufenweise Lieder über ihre Liebe ersannen, spürte ich nur ihre Abwesenheit. Zwei Seelen aneinander zu binden, das kam mir nicht wie ein Geschenk vor, sondern einfach nur grausam.

Wahrscheinlich deshalb hatte ich mir mit Blick auf Briar nie Gedanken darüber gemacht.

»Gut möglich, dass Grae und Briar es auch sind«, überlegte Sadie und schüttelte ihre Ponysträhnen aus dem Gesicht. »Vielleicht hat ja die Göttin höchstpersönlich ihre Eltern dazu gebracht, die Ehe zu arrangieren.«

»Alle Königlichen arrangieren diese Arten von Ehen, wenn sie Töchter statt Söhnen haben«, sagte ich.

»Aber warum dann Damrienn?«, fragte Sadie. »Warum nicht eines der anderen Königreiche?«

Ich schüttelte den Kopf und stellte meinen Kelch ab. »Taigos hat keinen männlichen Thronfolger. Und die beiden männlichen Thronfolger von Valta sind entweder zu alt oder zu jung.«

In jedem der vier Königreiche von Aotreas regierte ein anderes Wolfsrudel und beschützte die Menschen, die darin lebten. Die Gold-, die Eis-, die Silber- und die Onyxwölfe herrschten über den Kontinent, wobei mein Königreich ganz im Norden lag und die schwebenden Inseln von Valta an der südlichen Spitze.

»Das würde erklären, warum Grae die Sache geheim gehalten hat«, überlegte Hector. »Er wollte nicht, dass einer der Prinzen von Valta, ob nun der alte oder der junge, auftaucht und um Briars Hand anhält.«

Sadie drehte ihr Messer zwischen den Fingern. »Ich kann mir nicht vorstellen, dass die Onyxwölfe versuchen würden, über ein Königreich zu herrschen, das so weit von ihrem eigenen entfernt liegt. Sie müssten ja jedes Mal Damrienn und Taigos durchqueren, um in Olmdere nach dem Rechten zu sehen.«

In diesem Moment füllte sich mein Glas erneut. Der magische Akt war nur am leichten Flackern der Kerzenflammen zu erkennen.

»Die Sache musste geheim bleiben, um Briar vor Sawyn zu schützen.« Obwohl ich den Namen der Zauberin nur geflüstert hatte, fühlte sich selbst das schon verkehrt an. Sawyns Magie schien jeden Raum zu verdunkeln.

Sadie verdrehte die Augen. »Sawyn muss doch mittlerweile ein vertrocknetes altes Weib sein.«

»Zauberer sind unsterblich – ebenso wie ihre dunkle Magie«, entgegnete Hector. »Das weiß doch jedes Kind.«

»Dann ist sie wohl keine sehr gute Zauberin«, schnappte Sadie. »Jedenfalls hat niemand sie in den letzten zehn Jahren zu Gesicht bekommen. Ja, okay, mag sein, dass es in Olmdere von ihren Krähen wimmelt, aber trotzdem – jeder Idiot mit einem Schwert könnte sich dort auf den Thron setzen.«

»Ach, und warum hast du es dann noch nicht gemacht?«, spottete Hector. Es klang, als würden die beiden dieses Gespräch nicht zum ersten Mal führen. »Wenn Sawyn keine Bedrohung darstellt, warum hat sich dann bislang noch niemand Olmdere unter den Nagel gerissen?«

»Wahrscheinlich haben sie auf sie gewartet.« Sadie deutete mit dem Daumen auf Briar. »König Nero braucht eine Marriel-Tochter, um seinen Sohn zum König von Olmdere ernennen zu können.«

Und damit war es ausgesprochen – mitten am Esstisch. Ich schluckte den bitteren Geschmack in meinem Mund herunter. Mein Königreich würde nicht länger von Goldwölfen regiert werden, weil Briar und ich keine Männer waren. Grae und sein Vater würden alles bekommen. Ihre Titel und Throne waren ihnen in dem Moment sicher gewesen, als die Hebammen zwischen ihre Beine geschaut hatten.

Ich blickte Briar finster an, versuchte, diese schmerzliche Wahrheit auszublenden. Briar lehnte weit über dem Tisch, tief ins Gespräch mit Maez versunken. Ich musste mich beherrschen, um nicht die Augen zu verdrehen. Obwohl sie erst seit ein paar Minuten zusammensaßen, hatte Briar das Interesse an Grae bereits verloren. Das Gespräch mit der Wachsoldatin schien ihr wichtiger zu sein. Briar und Grae waren immer nett und höflich miteinander umgegangen, aber sie waren nie befreundet gewesen. Nicht so wie wir.

Grae hob den Kopf und sein Blick begegnete meinem. Seine Mundwinkel zuckten nach oben, seine Grübchen blitzten auf – und sofort schmolz ich dahin wie die letzte Närrin. Ich griff nach meinem Weinkelch, senkte den Blick und lehnte mich auf meinem Stuhl zurück, sodass der Kerzenleuchter mir die Sicht auf den schönen Prinzen nahm. Ich war keine der glühenden, schmachtenden Verehrerinnen. Luft zufächeln und schüchtern lächeln – das überließ ich gerne Briar.

Begleitet von einem leichten Kerzenflackern füllten sich die leeren Teller auf dem Tisch. Der Geruch von gewürztem Fleisch lag in der Luft. Mit offenen Mündern starrten die Soldaten auf das üppige Mahl. Ich nahm meine Gabel und spießte eine mit Balsamicoessig glasierte Karotte auf.

Schweigend aß ich und lauschte dabei den Witzeleien der Wachen. Briar war großartig: Sie unterhielt unsere Gäste mit einer endlosen Reihe von Anekdoten über unsere magische Kindheit und verwandelte unsere traurige Geschichte so in eine Art würdevolles Lied. Aber weil der Schauplatz all dieser Anekdoten immer gleich war – dieselbe Hütte im selben Wald –, erschienen sie mir, aller Magie zum Trotz, langweilig. Sie erinnerten mich daran, dass wir wie gefangene Tiere waren: begierig darauf, dem Käfig zu entkommen. Morgen war es endlich so weit. Und es war mir egal, ob uns verdorbenes Essen oder kratzige Wollsachen erwarteten. Ich war bereit für mehr.

4

Ich stolperte aus dem Speiseraum. Der Honigwein war mir zu Kopf gestiegen. Ich hatte keine Ahnung, wie oft Vellia meinen Kelch im Laufe des Abends nachgefüllt hatte. Auf wackeligen Beinen taumelte ich durch den Eingangsflur. Die Kerzen im Deckenleuchter waren halb heruntergebrannt. Obwohl es draußen sommerlich mild war, loderte ein Feuer im Kamin. Vellia schien wild entschlossen, das Haus vor unserer Abreise so prächtig und stattlich wie möglich erscheinen zu lassen. Dazu nutzte sie ihre letzten Magiereserven.

Der Abend hatte sich dahingeschleppt und die vornehmen Gespräche hatten sich nach und nach in betrunkenes Gegröle verwandelt. Mit jeder Stunde, die verging, wurden die Soldaten ausgelassener, was sie mir noch sympathischer machte. Vellia hatte für steten Essensnachschub gesorgt, hatte einen Teller nach dem anderen gefüllt, bis hin zu einer dritten Nachtischrunde. Als ich kurz vorm Platzen war, hatte ich mich schließlich entschuldigt.

»Füchslein«, rief mir eine fröhliche Stimme hinterher, als ich gerade die Treppe erreichte.

In diesem Moment fühlte ich mich wie alles andere als ein kleines Füchslein, und beim Gedanken, Grae könnte sehen, wie furchtbar ausgebremst die Schmetterlinge in meinem Bauch waren, erstarrte ich. Trotzdem schaffte ich es irgendwie, mich umzudrehen – und sein Anblick, zumal in dieser Uniform, verschlug mir den Atem. Der Wein hatte alles gelöst und gelockert, meinen Körper ebenso wie meine praktische Vernunft. Ich musterte ihn von Kopf bis Fuß, erlaubte mir ein letztes Mal, diesen attraktiven Mann zu bewundern. Seine muskulösen Schenkel, die schlanke Taille, die breiten Schultern, die markanten Wangenknochen und die dunklen Augen, die gerade ziemlich verschleiert dreinblickten.

»Deine Wolfsgestalt ist beeindruckend, Grae«, murmelte ich, »aber auch als charmanter Prinz gibst du eine ziemlich gute Figur ab.«

Mochten die Ebarvens mich umbringen, hatte ich das eben wirklich laut gesagt? Ich zog eine Grimasse und knetete verlegen meine Finger. Aber Grae lächelte nur.

»Und du siehst aus wie eine Kriegerin: wunderschön und gefährlich«, sagte er und trat einen Schritt auf mich zu.

Ich schaute auf meine immer noch nestelnden Hände. Und während ich seinen Blick auf mir spürte, kamen plötzlich seine glänzenden schwarzen Stiefelspitzen in Sicht. Es fiel mir schwer, seinen Worten zu glauben, denn schließlich sah er dieselbe Person wie ich, wenn ich in den Spiegel blickte: mich.

»Calla«, flüsterte er und ich spürte den Hauch seiner Stimme in meinem Haar. Ich liebte es, wenn er meinen Namen flüsterte. Ich wünschte, ich könnte ihn jeden Tag aus seinem Mund hören. »Ich muss mit dir reden.«

Meine Ohren kribbelten, als ich zu ihm aufsah. Sein stürmischer Blick traf meinen und ich musste meine Hände zusammenkrampfen, um ihn nicht anzufassen. Es war fast nicht auszuhalten, ihm so nahe zu sein, umhüllt von seinem Lagerfeuerduft. Vellias goldener Wein schwappte in meinen Adern.

»Warum hast du uns nicht mehr besucht?«, platzte es aus mir heraus. »Du hast nicht mal geschrieben. Ja, okay, sie haben dich zur Ausbildung in den Süden geschickt, aber es wird doch Ferien oder freie Tage gegeben haben. Ich … ich hab dich vermisst.«

Seine Augenbrauen zogen sich zusammen und ein gequälter Ausdruck trat auf sein Gesicht. »Ich hab dich auch vermisst, Füchslein.« Seine Finger strichen über meine Halskette. Sicher eine unbedachte Geste.

»Und warum bist du dann nicht gekommen?«

»Ich hatte Angst davor, was passieren würde, falls sich mein Verdacht bestätigen sollte.« Er griff nach meiner Hand. »Jetzt bin ich sicher, dass ich mit meiner Vermutung richtiglag.«

Seine warme, raue Hand in meiner zu spüren, jagte mir eine Gänsehaut über den Rücken. Während ich versuchte, mich wieder unter Kontrolle zu bekommen, betete ich, dass meine Handflächen nicht allzu verschwitzt waren.

»Welcher Verdacht?«

Grae öffnete den Mund, um zu antworten, als drei Soldaten in den Flur gestolpert kamen, dicht gefolgt von Briar. Sofort ließ ich Graes Hand los und trat einen Schritt zurück. Für die anderen war ich Briars Leibwache. Es würde einige Fragen aufwerfen, wenn man mich Händchen haltend mit ihrem Verlobten sah. Am liebsten wäre ich im Erdboden versunken. Was hatte ich mir nur dabei gedacht?

Ich legte mir die Hände auf die brennenden Wangen, um mich irgendwie aus diesem Bann zu reißen. Dieser verfluchte Wein.

»Na los«, sagte Maez und wedelte mit den Armen, als würde sie Schafe zusammentreiben. »Ins Bett mit euch. In ein paar Stunden müssen wir schon wieder aufstehen.«

Briar blieb neben mir stehen, hakte mich unter und zog mich dann leicht schwankend hinter sich her die Treppe hinauf. Ich blickte mich nach Grae um, dessen Augen unter den dichten Brauen jedem meiner Schritte folgten. Was immer er mir hatte sagen wollen, es würde warten müssen. Ich grub meine Finger in die Handflächen, um das Gefühl von seiner Hand in meiner noch einmal nachzuempfinden. Sofort brannte sich mir die Wahrnehmung ein. Hilfe, bei den Göttern! Ob Grae mit all seinen Freundinnen Händchen hielt und ihnen Dinge ins Ohr flüsterte? Eine Antwort darauf stand mir nicht zu. Und sie hätte mich auch nur verletzt.

Die Kraft des zunehmenden Mondes lockte die Wölfin in mir. Ich stand zwischen den hauchdünnen Vorhängen und das silberne Licht küsste meine Haut. Wie gerne hätte ich mein Nachthemd ausgezogen! Hätte mich verwandelt, um durch den mitternächtlichen Wald zu jagen! Dann würde ich mich wieder fangen. Ruhig werden. Die Nervosität und vor allem das Gefühl von Graes Hand in meiner loswerden. Aber ich musste noch eine Nacht warten, bis ich mein Fell im Wind und meine Pfoten auf dem Waldboden spüren konnte. Im Morgengrauen würden wir nach Highwick aufbrechen. Ich konnte jetzt unmöglich durch die Nacht streifen.

Ich flüsterte der Mondgöttin ein »Morgen« zu und sie lächelte zwischen den funkelnden Sternen zu mir herab. Ich war dem Neuanfang so nah. Ich fühlte mich wie eine auf und ab laufende Wildkatze kurz vor ihrer Freilassung aus dem Gehege. Zwanzig Jahre des Wartens gingen zu Ende. Ich würde endlich ein Rudel haben. Und neue Wälder erforschen.

Plötzlich klickte mein Türriegel. Ich fuhr herum und sah Briar, die die Tür leise hinter sich schloss. Barfuß tappte sie zu meinem Bett und schlüpfte unter die Decke.

Sie lächelte mich an. »Der Mond scheint zu hell und ich bin zu aufgeregt.«

Mit einem übertriebenen Seufzer ging ich zum Bett. »Rutsch zur Seite.«

»Danke«, flüsterte Briar und machte mir Platz.

Ich drehte mich so, dass ich meiner Schwester in die großen blauen Augen blicken konnte. »Wirst du auch als Prinzessin von Damrienn noch in mein Bett kommen?«

Sie reckte ihr Kinn. »Vielleicht«, sagte sie mit einem süffisanten Grinsen.

In dem Moment durchschoss mich ein schmerzhafter Gedanke. Würde sie das Bett mit Grae teilen? Mein Magen krampfte sich zusammen. Ja, und sie würden noch sehr viel mehr als nur das Bett teilen. Dafür waren diese Ehen ja da. Es ging nicht nur darum, Bündnisse zu festigen und Gebiete zu sichern, sondern auch um die Zeugung künftiger Könige. Bittere Galle brannte in meiner Kehle. Dabei hatte ich doch gewusst, dass dieser Tag kommen würde. Es war der Preis dafür, Teil eines Rudels zu sein, endlich wieder eine Familie zu haben. Im Gegenzug mussten Traditionen aufrechterhalten und Opfer gebracht werden.

Doch das bedeutete noch lange nicht, dass mir diese Lösung gefiel.

»Ihr solltet längst schlafen«, meldete sich eine warme Stimme aus der Zimmerecke.

Vellia erschien auf einem Schaukelstuhl und lächelte uns wippend an. Unser ganzes Leben lang hatte sie immer gleich ausgesehen: ein freundliches, faltiges Gesicht und silberne Haare. Seltsamerweise hatten sich die Falten im Laufe der Zeit nicht tiefer eingegraben und die Haarsträhnen waren nie richtig weiß geworden. Sie schien in dem Alter festzustecken, das sie hatte, als sie unserer Mutter versprach, ihr den letzten Wunsch zu erfüllen. Ob sie von morgen an wieder altern würde?

»Wir können nicht schlafen«, maulte Briar, genau wie damals, als wir noch Kinder waren. »Bitte erzähl uns die Geschichte, ja?«

Vellia lächelte uns an, ihre zwei erwachsenen Zöglinge. »Es ist Jahre her, dass ihr euch zuletzt eine Gutenachtgeschichte gewünscht habt.«

»Nicht irgendeine Geschichte«, sagte Briar. »Die Geschichte.«

Unsere Geschichte.

Vellias Augenfältchen kräuselten sich und sie nickte. »In Ordnung«, sagte sie mit ihrer leisen Stimme. »Da es die letzte Gutenachtgeschichte ist, die ich euch erzählen kann …«