12,99 €
**Ein Königreich in Flammen. Eine arrangierte Ehe. Und eine neue dunkle Macht, die sich in der Welt erhebt ...** Neelo Emberspear würde am liebsten niemals die Bibliothek verlassen – und schon gar nicht die Thronfolge antreten. Denn dann droht eine arrangierte Ehe mit dem Feenkrieger Talhan! Doch als die drogensüchtige Königin das Schloss in Brand setzt, muss Neelo sich eingestehen, dass xier diese Pflichten nicht länger aufschieben kann. Während Neelo darum kämpft, das Leben der Königin zu retten und sie auf dem Thron zu halten, bleiben Neelo und Talhan schriftlich in Kontakt. Wer hätte gedacht, dass die größere Distanz ungeahnte Gefühle in den beiden weckt? Wäre da nur nicht der Hexenaufstand, der den gesamten Kontinent bedroht … Kann Neelo Liebe und Herrschaft vereinen, bevor der Hof in Schutt und Asche zusammenbricht? Das vierte Buch der romantischen Fantasy-Reihe The Five Crowns of Okrith! Arranged Marriage/ Strangers to Lovers von Bestsellerautorin TikTok-Sensation A.K. Mulford. ***The Evergreen Heir ist der vierte Band einer Serie voller Intrigen, Magie und Leidenschaft. In jedem Band geht es um neue Protagonist*innen, weswegen die Bücher der fesselnden New-Adult-Romantasy-Reihe unabhängig voneinander gelesen werden können.***
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Veröffentlichungsjahr: 2025
A. K. Mulford
The Evergreen Heir
The Five Crowns of Okrith IV
Aus dem Englischen von Ulrike Gerstner
Neelo Emberspear würde am liebsten niemals die Bibliothek verlassen – und schon gar nicht die Thronfolge antreten. Denn dann droht eine arrangierte Ehe mit dem Feenkrieger Talhan! Doch als die drogensüchtige Königin das Schloss in Brand setzt, muss Neelo sich eingestehen, dass xier diese Pflichten nicht länger aufschieben kann.
Während Neelo darum kämpft, das Leben der Königin zu retten und sie auf dem Thron zu halten, bleiben Neelo und Talhan schriftlich in Kontakt. Wer hätte gedacht, dass die größere Distanz ungeahnte Gefühle in den beiden weckt? Wäre da nur nicht der Hexenaufstand, der den gesamten Kontinent bedroht …
Kann Neelo Liebe und Herrschaft vereinen, bevor der Hof in Schutt und Asche zusammenbricht?
The Evergreen Heir ist der vierte Band einer Serie voller Intrigen, Magie und Leidenschaft. In jedem Band geht es um neue Protagonist*innen, weswegen die Bücher unabhängig voneinander gelesen werden können.
WOHIN SOLL ES GEHEN?
Content Note
Landkarte
Buch lesen
Danksagung
Über die Autorin
Für all die, die mutig genug sind, ihr wahres Ich zu zeigen in einer Welt, die sich anfühlt, als wäre sie nicht für sie gemacht. Bleibt tapfer! xx
CONTENT NOTE
Liebe*r Leser*in,
dieser Roman enthält potenziell triggernde Inhalte zu den Themen Blut und Gewalt, Krieg, Tod und Verlust sowie explizite Sexszenen.
Gehe während des Lesens achtsam mit dir um. Falls du auf Probleme stößt und / oder betroffen bist, bleibe damit nicht allein. Wende dich an deine Familie und an Freund*innen oder suche dir professionelle Hilfe.
Wir wünschen dir alles Gute und das bestmögliche Erlebnis beim Lesen dieser besonderen Geschichte.
A. K. Mulford und das Carlsen-Team
KAPITEL 1
Neelos Finger zitterten, als xier über die Buchrücken der alten Bände strich. Langsam atmete xier ein und aus und ließ sich von dem Geruch der alten Bücher beruhigen.
Neelo konnte ihn nicht heiraten.
Der Gedanke kam so schnell wie die Verlobung: Xiese Mutter hatte eine Schlägerei angezettelt, um für Neelo einen Verlobten zu finden, und irgendwie wurde Talhan Catullus in das Chaos hineingezogen. Immer wieder ging der Ausdruck auf Talhans Gesicht Neelo durch den Kopf. Als es vorbei war, hatte er xien nur schockiert angestarrt. Das unverschämte Grinsen, das er normalerweise trug, war wie weggefegt, und stattdessen hatte sich in Talhans Blick etwas Tiefergehendes festgesetzt, etwas, das sich in Neelo hineinbrannte.
Warum musste es ausgerechnet er sein?
Von allen Leuten, die Neelo leicht hätte abweisen können … warum musste es ausgerechnet der Goldadler selbst sein? Er war einer der wenigen in Neelos Leben, die xiem nicht das Gefühl gaben, ein Dorn im Auge zu sein, und jetzt hatte xiese Mutter Neelo auch das verdorben.
Die immer verzweifelteren Versuche von Königin Emberspear, die Heiratsvermittlerin zu spielen, waren ohnehin schon ermüdend, aber dieses Mal hatte sie es wirklich zu weit getrieben. Sie hatte sich für Neelos Freund entschieden. Xiese Mutter hatte auf Neelos Krönung gedrängt, sobald xier volljährig war, weil angeblich ihre Gesundheit durch das Grumt, das ihren Verstand benebelte, geschwächt war. Doch Neelo war klar, dass die Königin einfach nur die Freuden des Südlichen Hofes genießen wollte, ohne noch mehr Verantwortung zu tragen. Das Leben war für sie sowieso schon ein Fest, da war es das Mindeste, dass die Königin sich von Zeit zu Zeit auch einmal dazu herabließ, ihre Leute zu regieren.
Es war ein ständiger Kampf, die Königin davon zu überzeugen, auf dem Thron zu bleiben. Neelo hatte das Gefühl, dass xier ständig am Rande der Niederlage stand, was bedeutete, dass Neelos Kopf bald der nächste sein würde, der die Krone trug. Allein die Vorstellung hasste Neelo: ganz allein vor den Massen zu stehen, den prüfenden Blick Tausender Augen auf sich gerichtet zu spüren und deren unvermeidliche Enttäuschung darüber, dass ein introvertierter Bücherwurm nun das Oberhaupt über den Hof der Ausschweifungen sein würde. Nein, Neelo wollte nicht, dass die Königin so einfach das Amt niederlegte. Es war noch nicht an der Zeit, dass sie abtrat.
Neelo hielt inne, die Finger verweilten auf einem Titel, den xier noch nie gelesen hatte: Die Hexe von Haastmund. Ein Kribbeln durchfuhr Neelo, als xier das mitternachtsblaue Buch aus dem hohen Regal nahm und die Seiten durchblätterte. Es war in Mhenbic, der Sprache der Hexen, geschrieben. Die meisten Fae lernten kein Mhenbic, weil sie dachten, es sei unter ihrer Würde, aber Neelo hatte sich selbst das Lesen aller drei Sprachen – die der Menschen, der Hexen und der Fae – beigebracht, bevor xier überhaupt sprechen konnte. Nun, das stimmte nicht ganz. Neelo konnte sprechen, xier hatte sich nur in den ersten fünf Jahren xieses Lebens dagegen entschieden … und es seitdem meistens bereut, damit angefangen zu haben. Das geschriebene Wort war xiese erste Sprache und Geschichten hatten für Neelo schon immer mehr Sinn ergeben. Das echte Leben – und der Umgang mit echten Leuten – verwirrte nur.
Xier sah sich in der Bibliothek von Murreneir um. Die Regale waren nur halb gefüllt und je weiter Neelo in die Bibliothek trottete, desto spärlicher waren sie bestückt. Der große, runde Raum roch noch immer nach frischem Lack und Holzstaub, der von dem überstürzten Bau herrührte. Es war beeindruckend, dass man es überhaupt geschafft hatte, die Konstruktion vor der Feier fertigzustellen. Die alten, abgenutzten Teppiche und die verstaubten, in Leder gebundenen Bücher standen in krassem Gegensatz zu den frischen Kerzen und den perfekten blauen Satinstühlen, die aussahen, als hätte noch nie jemand darauf gesessen. Jedoch war die zukünftige Schönheit der Bibliothek unübersehbar, und Neelo hatte vor, zurückzukehren, wenn sie wirklich fertiggestellt war.
Die kurze Verschnaufpause verstrich, als die Bibliothekstür knarrend aufschwang.
In der Hoffnung, zwischen den dicken Stapeln zu verschwinden, eilte Neelo die Bücherregale entlang, aber rasche Schritte verfolgten xien. Xier hatte gerade vier Stufen auf einer Rollleiter erklommen, als Talhan Catullus um die Ecke bog und sie beide erstarrten.
»Ich wusste, dass ich dich hier finde.« Mit goldschimmernden Augen sah er Neelo an, verschränkte die Arme und lehnte sich an das nächstgelegene Bücherbord. »Wolltest du dich auf dem Regal vor mir verstecken?«
Neelos Stimme triefte vor Sarkasmus, als xier ihm einen verächtlichen Blick zuwarf. »Ich habe Staub gewischt.« Xier kämpfte gegen den Drang an, die Tatsache zu erwähnen, dass diese Bibliothek zu neu war, als dass sich Staub hätte ansammeln können.
»Mit deiner Jacke?«
»Nein!«, gab Neelo zurück, obwohl xier nach unten schaute, um zu prüfen, ob die Jacke mit Ruß bedeckt war.
Talhans Lächeln wich einer nachdenklichen Miene, und Neelos Puls begann zu rasen.
»Neelo«, flüsterte Talhan und xies Magen krampfte sich bei dem Klang des Namens auf seinen Lippen zusammen. »Ich …«
»Bis morgen früh hat sie es vergessen«, unterbrach Neelo ihn. Unruhig stieg xier einen weiteren Schritt die Leiter hinunter und sah ihm in die Augen. Diese Augen … wie Teiche aus Bernstein – die Sonne kurz nach der Morgendämmerung …
Neelo hasste den Ausdruck auf Talhans Gesicht, als er den Mund aufklappte und »Oh?« sagte.
»Mach dir keine Sorgen. Ich werde nicht zulassen, dass sie dich an mich fesselt«, beruhigte Neelo ihn und hielt sich fester am Holm der Leiter fest. Die Räder wackelten, wahrscheinlich waren sie frisch geschmiert. »Ich werde nicht zulassen, dass sie das mit dir macht.«
Er trat noch einen Schritt näher und legte seine Hand auf das Regal neben Neelos Hüfte. »Und was ist, wenn ich an dich gefesselt werden will?«
Mit klopfendem Herzen schüttelte Neelo den Kopf. »Du hast keine Ahnung, worauf du dich da einlassen würdest …«
»Dann zeig es mir.« Seine tiefe, raue Stimme sorgte dafür, dass sich xiese Zehen in den Stiefeln aufrollten. »Und was ist, wenn ich Saxbrynt besuche? Ich könnte bis zur Sonnenwende bleiben und …«
»In der Hitze?«, höhnte Neelo. »Ihr Ostländer zerfließt im südlichen Sommer zu einer Pfütze. Das ist die schlimmste Zeit, um …«
»Neelo.« Talhan sagte xiesen Namen noch einmal, wie einen Singsang, wie ein Gebet, auch wenn er xien tadelte.
»Okay, ja.« Xier seufzte und verschränkte die Arme fest vor der Brust. »Komm uns besuchen. Im Sommer.« Neelo verdrehte die Augen zur leeren Decke, die mit Sicherheit bald mit wunderschönen Fresken bemalt sein würde. »Dann wirst du verstehen, warum das eine schlechte Idee ist.«
Talhan schob sich noch näher heran. Er hob die Hand und für einen Moment dachte Neelo, er würde xiese schwarze Samtjacke berühren, aber er pflückte das Buch aus xieser Hand.
»Hast du etwa ein Buch gefunden, das du noch nicht gelesen hast?«, fragte er und strich mit seinen großen, schwieligen Fingern über den in Leinen gebundenen Wälzer. Ihr Götter, wie er den Einband berührte, als ob diese kleine Hexengeschichte eine solche Verehrung verdient hätte. Das ließ Neelos Handflächen – und andere Stellen – vibrieren. Xier konnte immer noch die Textur des Stoffes unter den Fingerspitzen spüren.
»Das wird sich zeigen.« Sanft stieß Nelo den Atem aus. »Manchmal ist es ein übersetzter Titel aus Ific oder Yexshiri, aber ich habe die Geschichte zuvor schon in einer anderen Sprache gelesen.«
Talhans Augenbrauen schossen in die Höhe. »Du kannst Yexshiri lesen?«
»Natürlich.« Neelo verzog die Lippen zu einer Seite, was einem Grinsen noch am nächsten kam. »Du nicht?«
»Ich kann kaum Ific lesen«, erwiderte Talhan reumütig.
Er reichte Neelo das Buch zurück und strich mit seinem langen Zeigefinger über xiesen Handrücken. Neelo stockte der Atem. Es war eine so kleine, intime Geste, als würde ein winziger Blitz direkt durch xien hindurchfahren, und doch war es fast zu viel.
Neelos Blick fiel zurück auf das Buch und Talhan streckte erneut die Hand aus, berührte sanft xies Kinn und drückte es nach oben.
»Ich …«
Die Tür wurde aufgerissen, gefolgt von dem Geräusch von Stiefeln, die auf dem polierten Holz klackerten. Als Rish um die Ecke bog, wich Talhan einen Schritt zurück. Neelos persönliche Dienerin sah besorgt aus. Die grüne Hexe strich sich ihre schwarzen Locken aus dem Gesicht und rückte ihren smaragdfarbenen Gazeschal zurecht, als würde ein Singvogel sein Gefieder aufplustern.
Neelos Gesicht nahm wieder den normalen, scharfen Ausdruck an. »Was hat sie dieses Mal angestellt?«
»Verzeih mir«, keuchte Rish und Schweiß bedeckte ihre geröteten Wangen. »Erinnerst du dich noch an das eine Mal in Südhafen?«
»Ihr Götter«, fluchte Neelo und warf Talhan einen kurzen, entschuldigenden Blick zu. »Ich muss gehen.«
Dieser trat auf Rish zu. »Wo ist Rua? Sie ist die Gastgeberin. Warum kann sie das nicht klären?«
»Sie ist bei Bri«, antwortete Rish und wandte sich bereits der Tür zu.
Er zog die Stirn kraus. »Und wo ist Bri?«
Neelo stieg von der Leiter und schob sich an Talhan vorbei, wobei der Stoff xieses Ärmels über seinen muskulösen Oberkörper streifte. »Ich komme ja schon. Mach dir keine Sorgen.«
»Warte«, sagte Talhan und nahm Neelo bei der Hand, die Augenbrauen besorgt zusammengezogen.
Neelo schaute auf die Stelle, wo sie sich berührten, und schluckte, als das Gefühl xiesen ganzen Körper erwärmte. »Wir sehen uns in Saxbrynt«, flüsterte xier und riss die Hand weg, um der grünen Hexe hinterherzustürmen. Sollte Neelo nun froh oder verzweifelt über diese neue Krise sein? Immerhin konnte xier so Talhans Blicken entkommen.
KAPITEL 2
Neelo streifte die Kohle des Stiftstummels mit dem Ärmel weg, drehte den Brief um und betrachtete die einzelnen Sätze, als ob xier beim ersten Mal Lesen etwas übersehen hätte. Mit rasenden Gedanken versuchte Neelo nach Antworten zu greifen, die außerhalb xieser Reichweite wirbelten. Was hatte diese violette Hexe Adisa Monroe für den Südlichen Hof geplant?
Kondenswasser perlte an der Fensterscheibe neben xiem wie Schweißtropfen. Die Luken zu den Tunneln unter dem Saxbrynt-Palast waren geöffnet worden und ließen kühle Luft herein, um gegen die Frühlingshitze anzukämpfen. Bald würde es sengend heiß werden – die Jahreszeit, in der Roben zu Sommerkleidern wurden, Hosen sich verkürzten und bunt gefärbte Schleier zum Schutz vor beißenden Insekten und der gleißenden Sommersonne nötig waren …
Aber Neelo Emberspear behielt die schwarze Jacke bei, wechselte lediglich von Samt zu Satin und trug dazu eine lange, anthrazitfarbene Hose aus leichterem Material. Die Gewohnheit bewahrte xien vor Überhitzung … das und ein allgemeiner Mangel an körperlichen Strapazen.
Neelo hatte keine Ahnung, warum xier wie ein Lastpferd gebaut war, sich der muskulöse Körper aber unter einer Schicht weichen Fleisches verbarg. Zusammen mit dem allgegenwärtigen finsteren Blick hielten die Größe und Breite die meisten Leute davon ab, xien zu belästigen, und Neelo liebte xiesen Körper dafür. Dennoch bevorzugte Neelo lockere Kleidung, die sich nicht an xiese breite Gestalt anschmiegte – Neelos Figur ähnelte eher einem unförmigen Rechteck als einem soldatischen Dreieck oder einer geschwungenen Sanduhr.
Neelo lehnte sich auf der Sitzbank in der leeren Ratskammer zurück, wischte über das nasse Fenster und blickte auf die blühenden Gärten, die sich bis zum Wald dahinter erstreckten. Rechter Hand stand ein großer Eichenschreibtisch mit Schubladen, die mit Bündeln von Pergament und Federkielen vollgestopft waren. An der Wand hing eine zerfledderte, jahrhundertealte Karte des Südlichen Hofes und in der Mitte des Raumes befand sich ein prächtiger runder Tisch. Sowohl der Tisch als auch die Stühle waren aus hellem, rötlichem Holz gefertigt, das vom Amasa-Baum stammte – dem immergrünen Baum, der das Wappen des Südlichen Hofes zierte. Der Ratssaal verfügte über eine bescheidene Bibliothek, die hauptsächlich mit verstaubten alten Geschichtsbüchern und langatmigen Manuskripten über die Hofpolitik bestückt war. An der hinteren Wand neben den Fenstern befand sich eine Galerie mit Ölgemälden und Marmorstatuen der Götter.
Dieser Teil des Schlosses wurde nur selten besucht, außer wenn die Königin sich die Mühe machte, an einer Versammlung teilzunehmen. Dann verbrachten die Bediensteten Wochen damit, die Marmorstatuen zu putzen und zu schrubben – viele kostbare Kunstwerke wurden durch die Rauchwolke, die ihre Mutter hinterließ, fast zerstört.
Aber jetzt war sie nicht hier, und das bedeutete, dass Neelo endlich etwas Ruhe finden konnte. Es gab vor allem ein Fenster, unter dem Neelo gerne las. Ursprünglich war es ein Konstruktionsfehler gewesen, ein Fenster inmitten einer Reihe von Ölgemälden. Aber der Gestalter hatte das Fenster mit einem passenden silbernen Rahmen versehen, um den Makel zu verbergen und den Blick auf den Balkon und den Rasen in ein sich ständig veränderndes Gemälde zu verwandeln.
Ein flauschiger, grau getigerter Kater schnurrte laut auf Neelos Schoß und verdeckte mit seinem Fell den zerknitterten Brief, den Neelo auf dem Knie balancierte. Gemächlich strich Neelo mit einer Hand über Indis Pinselohren, und das Tier lehnte sich genüsslich in diese Krauleinheit. Nachdem xier ihn als herrenloses Kätzchen vor der Weberei gefunden hatte, von Kopf bis Pfote mit Farbe bedeckt, erschien xiem Indigo – Indi – der perfekte Name zu sein. Viele Leute in Saxbrynt bevorzugten Namen, die auf »O« endeten, und wie viele andere verkürzte Neelo ihn zu einem Spitznamen. Das streunende Kätzchen hatte sich sehr schnell an das königliche Leben gewöhnt. Tagsüber spukte Indi in der Bibliothek herum, um Eidechsen und Mäuse in Schach zu halten, und nachts schlief er am Fußende von Neelos Bett. Aber manchmal, wie an diesem Morgen, wagte Indi sich auch aus der Bibliothek heraus, wenn es einen bequemen Schoß gab, in den er sich kuscheln konnte.
Mit dem Kohlestift umkreiste Neelo erneut das Wort »Hexen«. Der Brief der nördlichen Königin war mit Neelos handschriftlichen Notizen übersät, sodass die Tinte zu kaum lesbaren Zeilen verschmierte.
Neelo hatte Rua gebeten, den Brief zu schicken, nachdem sie ein chaotisches Gespräch durch die magischen Fae-Feuer geführt hatten. Ruas verzweifelte Stimme schien immer noch von dem Papier zu schallen. Ihre Worte über ekelhaft süßlichen Rauch und die verfluchten Hexen waren undeutlich und überhastet gewesen, und sie hatte Neelo gewarnt, dass der Hof des Südens unmittelbar bedroht sei – ein Versprechen des ehemaligen Prinzen des Ostens, Augustus Norwood –, was sie aber nicht genauer ausführte. Was auch immer der Norwood-Prinz für den Südlichen Hof geplant hatte, seine Absichten blieben vage, aber Rua schien davon überzeugt zu sein, dass diese Pläne bereits im Gange waren.
Neelos Lippen wurden schmal, während xier die Worte in Ruas Brief ein weiteres Mal einkreiste, als würde damit die Zukunft vorhergesagt werden: violette Hexen, Fluch, Rauch, Adisa Monroe, Augustus Norwood, Cole Doledir. Was hatte das alles mit dem Südlichen Hof zu tun und vor allem, wie waren diese drei Akteure miteinander verbunden? Eine uralte, unsterbliche violette Hexe, ein großspuriger Fae-Prinz und ein brauner Hexenheiler, der sich erst vor wenigen Monden veranlasst sah, von einem Abendessen in Murreneir zu fliehen. Ihre Absichten fühlten sich für Neelo völlig unverständlich an, insofern überhaupt ein Zusammenhang bestand.
Die Härchen auf den Armen standen Neelo zu Berge und xier spürte diesen kribbelnden Faden der Angst. Ein gesichtsloser Sturm tobte auf diesen Hof zu, und xier musste ihn unschädlich machen, bevor den Süden das gleiche Schicksal ereilte wie das der ermordeten Königin des Westlichen Hofes.
Neelos Gedanken wirbelten aufs Neue durcheinander, weshalb xier sich auf den Prinzen konzentrierte. War Augustus Norwood mit seiner Flotte in den Stürmen des Südens untergegangen, wie Gerüchte besagten, oder war er immer noch Teil der Pläne der violetten Hexe? Ohne einen König hatte der Hof des Ostens nicht genug Führung, um zu veranlassen, dass alles gründlich durchsucht wurde. Vielleicht versteckte er sich noch dort, zusammen mit dem Verräter Cole Doledir.
Neelos angestrengter Blick wanderte zu dem langen, weißen Kiesweg, der sich durch die Palasttore in die Stadt Saxbrynt schlängelte. Xier stellte sich vor, wie eine Armee violetter Hexen die Tore niederriss und ein Sturm aus lila Rauch mit ihnen vorrückte. Doch es waren nur ein paar trödelnde Bedienstete unterwegs, die Körbe trugen und Maultiere führten. Am Horizont waren weder Stürme zu sehen, noch kamen irgendwelche Fae-Krieger in die Stadt geritten.
Aber es war leicht, den Angriff zu erkennen. Zu leicht.
»Er hat gerade eine Nachricht geschickt«, sagte Rish. Neelo schreckte hoch und ließ den Brief fallen.
Indi flog in hohem Bogen von Neelos Schoß, und als er landete, gab er ein klagendes Mauzen von sich. Der getigerte Kater ließ den Schwanz hin und her peitschen und starrte Rish mit schmalen Augen an, als wäre es eine schwere Beleidigung, dass er geweckt wurde. Dann stolzierte er davon, vermutlich um in der Bibliothek wieder Eidechsen zu jagen.
»Rish«, meinte Neelo mit finsterer Miene und nahm einen beruhigenden Atemzug. »Tu das nicht.«
Neelo hob den Brief vom Boden auf und platzierte ihn wieder im Schoß. Xier hatte noch nicht abschließend beurteilen können, welche Bedrohung auf sie zukam, bevor sich die grüne Hexe angeschlichen hatte, aber das war auch egal. Der Brief von Rua war eine Sackgasse. Neelo würde die Antwort, wie xier den Hof retten könnte, auf dieser einen, mit Kohlestift beschmierten Seite nicht finden.
»Er verlässt Schwalbheim noch vor den Beerdigungen am Westlichen Hof«, fuhr Rish fort, ohne sich über Neelos Überraschung zu wundern. Die stämmige kleine Hexe rückte ihre waldgrüne Schürze zurecht, die mit Maismehl besprenkelt war.
Sie roch nach Ingwer und Zimt, und Neelo fragte sich, ob sie gerade ihre süßen Bohnenküchlein zubereitete. Bei dem Gedanken grummelte xies Magen und Neelo musste sich wieder auf das Gespräch konzentrieren. Rish redete immer noch, und xier hatte kein einziges Wort von ihr gehört.
»… und aus welchem Grund auch immer, er glaubt, dass es wichtig ist, schnell hierherzukommen.« Rish zog eine schmale schwarze Augenbraue hoch, als sie Neelo ansah, und ein wissendes Grinsen umspielte ihre Lippen.
»Bei seiner Reise wird er diesen Hof mit anderen Augen sehen, da bin ich mir sicher.« Neelo strich über die goldverzierten Lettern der Bücher, die hinter xiem im Regal standen. »Er wird wahrscheinlich Fersengeld geben, wenn er merkt, dass es um mehr als Trinken und Feiern geht.«
Rish stemmte eine kräftige Hand in die Hüfte und kicherte. »Wir werden sehen.«
»Wer, der noch bei klarem Verstand ist, würde das wollen?« Neelo gestikulierte zu dem Pavillon in der Mitte des Gartens, wo sich fünf Höflinge abwechselnd rosa Früchte auf den Kopf setzten und sie mit gestutzten Pfeilen abschossen. Einer der Narren trug bereits eine Augenklappe.
Die Höflinge hier unterschieden sich von denen an anderen Königshöfen. Obwohl Königin Emberspear sie »Höflinge« nannte, dienten sie viel intimeren Zwecken. Einige führten eine feste Beziehung mit der Königin, aber auch untereinander. Andere wiederum schwankten in der Gunst der Königin, wechselten sich ab, wer die neueste Nummer eins war, und flatterten nach Lust und Laune ein und aus, wobei sich die Gruppe ständig vergrößerte und verkleinerte. Neelo sah keinen Sinn darin, sich ihre Namen oder Gesichter zu merken, xier zog es vor, dass die Gruppe nur ein verschwommener Fleck in xiesem Umkreis war, mehr nicht.
Einige von ihnen schienen xiese Mutter wirklich zu lieben, aber die meisten versteckten sich vor dem Ernst des Lebens, dem sie sich nicht stellen wollten, und das alles vor der vergleichsweise komfortablen Kulisse des Königshauses. Die Gelage von Saxbrynt waren der perfekte Ort, um sich zu verkriechen.
Trotzdem verstand Neelo nicht, warum jemand von ihnen die Einladung annahm, im Palast zu leben und der Königin auf diese Weise zu Diensten zu sein … aber andererseits hatte Neelo auch keine Ahnung, wie man überhaupt mit dem Verlangen als solches verfahren sollte.
Rishs Glucksen unterbrach Neelos rotierende Gedanken. Die grüne Hexe schlug die Hände zusammen und verschränkte die Unterarme vor ihrem Bauch. »Wann ist Talhan Catullus jemals bei klarem Verstand gewesen?«
»Gab es noch einen anderen Grund, weshalb du mich gestört hast?«, fragte Neelo und versuchte, das Thema zu wechseln, während xier ein Buch aus dem Regal nahm und mit dem Daumen rhythmisch über die weichen, cremefarbenen Seiten strich. Es klang wie das Mischen eines Kartenspiels und Neelo genoss das Geräusch. »Oder war es nur, um mir zu sagen, dass der Goldadler in den Süden fliegt?«
Rish schnitt eine Grimasse. »Die Königin wünscht, mit dir zu sprechen.«
»Natürlich.« Neelo seufzte. »Wo ist sie?«
Rish trat von einem Fuß auf den anderen. »In den Badehäusern.«
»Natürlich«, wiederholte Neelo mit einem Schaudern und blickte sehnsüchtig auf das Buch, aber es war zu wertvoll, um es mit in die Dampfbäder zu nehmen und die Seiten zu ruinieren.
Neelo stand auf und hob die gepolsterte Sitzbank unter xiesem Lieblingsfenster an, sodass eine Auswahl an Büchern darunter zum Vorschein kam. Xier stellte den Band zurück in das Regal und griff sich einen kleinen Titel in Weinrot. Es war keine schöne, poetische Geschichte, aber sie war unterhaltsam und kurz … und Neelo hatte vier Exemplare davon, also war es egal, wenn eines aus Versehen nass wurde.
Die Götter wussten genau, dass xier ohne ein Buch nirgendwo hingehen würde.
Xier steckte es in die Jackentasche und rückte den Saum gerade. Dann straffte Neelo die Schultern und spähte zu Rish, wobei xier direkten Augenkontakt vermied. »O Götter, verschont mich.«
Rish lachte auf. »Ich glaube, nicht einmal die Götter selbst schützen die Badehäuser von Saxbrynt.«
Finster starrte Neelo die Karte an der Wand an, auf der xiese Heimat als prächtiges Relief dargestellt war. »In der Tat.«
Der Südliche Hof war nicht immer der Inbegriff der Ausschweifung gewesen. Es war vielmehr eine verzerrte Version ihrer eigentlichen Geschichte, in der schöne Gärten, köstliche Speisen, lebendige Farben und alle möglichen Arten von Liebe hoch geschätzt wurden. Heute war der Süden bekannt für Trunkenheit, Glücksspiel und fleischliche Gelüste … nicht unbedingt in dieser Reihenfolge.
Kaum war Neelo mit Rish in den Gang hinausgetreten, kam ein kleiner, älterer Fae auf die beiden zu. Sein schwarzes Haar zeigte silberne Strähnen und umkränzte den Kopf, während seine buschigen Augenbrauen die halbe Stirn hinaufreichten. Sein Gesicht war mit permanenter Herablassung verkniffen.
»Ihr wart heute Morgen nicht bei der Ratssitzung, Hoheit«, tönte die kratzige Stimme des Ratsherrn durch den Flur. »Und trotzdem finde ich Euch jetzt hier in der Kammer?«
Instinktiv tastete Neelo nach dem Umriss des Buches in der Tasche. Xier hielt den Kopf gesenkt, während xier die Schritte beschleunigte. »Schreib wie immer einen Bericht, Denton, und ich werde dir in gleicher Weise antworten.«
Königin Emberspear machte sich nur mit einem der sieben Ratsmitglieder wirklich die Mühe, Kontakt aufzunehmen – Denton, der unsympathischste Fae, den Neelo je kennengelernt hatte, und Neelo kannte viel zu viele.
»Wir halten die Versammlungen nicht ohne Grund persönlich ab, Eure Hoheit«, rief er und huschte hinter xiem her. »Es geht viel hin und her. Schriftliche Korrespondenz dauert zehnmal so lange, und Ihre Majestät sagte, Ihr würdet an ihrer Stelle daran teilnehmen.«
»Meine Mutter ist immer noch die Königin«, antwortete Neelo knapp. »Sie ist diejenige, mit der du sprechen solltest. Ich leite die Informationen nur an sie weiter.«
»Aber übernehmt Ihr nicht bald den Thron?«
Mit den Zähnen knirschend, stoppte Neelo xiese Schritte für eine Sekunde. Königin Emberspear sollte wirklich aufhören, den Leuten zu erzählen, dass sie abdanken würde. Vielleicht hatte sie sich mit Alkohol und Drogen den Verstand vernebelt, aber Neelo würde das schon richten. Xiese Mutter war sicherlich noch zu retten. Und xier war noch nicht bereit, zu regieren.
»Eines Tages, Denton«, erwiderte Neelo und huschte in einen anderen weißen Steinkorridor. »Aber nicht in naher Zukunft. Je eher meine Mutter diese lächerliche Vorstellung aus ihrem Kopf bekommt, desto besser.«
Denton blieb stehen und stampfte entrüstet mit dem Fuß auf. »Der Hof des Südens braucht ganz gewiss nicht noch einen Emberspear, dier sich vor den Pflichten seinem Volk gegenüber drückt.«
Wut ballte sich in Neelos Brust zusammen, eine Wut, die xien von innen heraus verbrannte, aber xier wagte es nicht, sie herauszulassen. Wie konnte er es wagen, mit dem Fuß vor xiem aufzustampfen? Neelo rang den Druck nieder, denn xier wusste, wenn xier ein Donnerwetter über Denton hereinbrechen ließe, wäre es das Stadtgespräch. Neelo Emberspear war ruhig, unbeteiligt und zurückhaltend. Xier war in jeder Hinsicht das Gegenteil der amtierenden Königin und konnte daher nicht einfach Leute anschreien, egal, wie sehr diese es verdient hatten.
»Du kannst gehen, Denton«, knirschte Neelo. Xier öffnete die nächstgelegene Tür und gewährte Rish den Vortritt, bevor xier sie hinter sich zuschlug.
Neelo stützte den Kopf gegen die Tür und hörte, wie Denton mürrisch Flüche ausstieß, während er davonstürmte.
»Du kannst dich nicht ewig vor den Treffen drücken, mea raga«, meinte Rish und lehnte sich neben Neelo an die Wand.
»Bist du neuerdings eine blaue Hexe?«, spöttelte Neelo. »Hast du plötzlich die Gabe der Hellsichtigkeit entwickelt?«
»Nein.« Rish huschte auf den Sessel des in Regenbogenfarben gehaltenen Wohnzimmers zu. Sie starrte durch das hohe runde Fenster und ließ sich Zeit, bevor sie sagte: »Ich glaube, ich werde heute Abend Honigkuchen zum Nachtisch backen.« Rish bedeutete Neelo, sich neben sie zu setzen. »Dein Lieblingsessen.«
»Du behauptest, dass alles, was du machst, mein Lieblingsessen ist.« Mit hängenden Schultern stapfte Neelo zu Rish und setzte sich neben sie. »Warum habe ich das Gefühl, dass du versuchst, mich zu bestechen, damit ich mir einen Vortrag anhöre?«
Rish zuckte mit den Schultern. »Weil du schlau bist.«
»Ich weiß schon alles, was du sagen wirst.«
»Das heißt aber nicht, dass es sich nicht lohnt, es noch einmal anzuhören«, entgegnete Rish mit einem Zungenschnalzen.
»Was muss ich denn noch mal hören?«
Rish griff herüber und legte ihre Hand auf Neelos. Die grüne Hexe war eine der wenigen Personen, bei denen es Neelo nichts ausmachte, wenn sie xien anfassten. Ihre sanfte Berührung spendete Trost, statt die übliche Verärgerung auszulösen; dieses Gefühl, wenn es wie schlecht verwobene Wolle kratzte. Genauso war es auch, wenn xier dem Blick von bestimmten Leuten – den meisten Leuten – standhalten musste. Da fühlte es sich an wie Käfer, die über xiese Haut krabbelten. Neelo juckte es am Arm, wenn xier nur daran dachte.
»Du kannst deine Mutter nicht vor ihren Gewohnheiten bewahren.« Rishs Stimme war so leise, dass Neelo sie kaum verstand.
»Das habe ich vor langer Zeit gelernt«, murmelte Neelo.
»Ja.« Rish drückte wieder xiese Hand und ließ dann los. »Nur hast du immer noch nicht akzeptiert, was das für dich bedeutet.«
»Was bedeutet es denn?«, brummte Neelo. »Abgesehen von einer weiteren Schmach?«
»Sie kann nicht auf dem Thron bleiben – das weißt du«, beschwor Rish, aber in dem Moment, in dem die Worte ihren Mund verließen, schob Neelo den Gedanken beiseite und die Fensterläden xieses Verstandes schlugen zu. »Du musst den Thron jetzt übernehmen.«
»Nicht jetzt.«
»Doch, jetzt.«
»Rish.«
»Es ist an der Zeit, mea raga.« Die grüne Hexe schaute hoffnungsvoll zum Fenster. »Wenigstens wird Talhan Catullus bald hier sein. Dann musst du dich dem Ganzen nicht alleine stellen.«
»Er bleibt nur für die Sonnenwende und der Südliche Hof wird ihm eine Million Gründe geben, nicht mehr Zeit als nötig hier zu verbringen«, gab Neelo schnippisch zurück. Wissend hob Rish eine Augenbraue und Neelo runzelte die Stirn. »Ich verspreche dir, Talhan Catullus wird nicht bleiben wollen.« Xier erhob sich und strich sich die zerknautschte Jacke glatt, fluchte über das leicht knitternde Material. »Wenn du mich jetzt entschuldigen würdest, meine Mutter lässt nach mir rufen.«
Rish summte. »Ich würde ja eine Wette mit dir über Lord Talhan abschließen, mea raga.« Ihre Stimme wurde lauter, als sie Neelo das zurief, während xier eilig aus dem Zimmer stürmte. »Aber ich weiß, dass du die einzige Person aus dem Süden bist, die keine Wetten abschließt!«
KAPITEL 3
Dampf wirbelte durch die feuchte Luft und bedeckte Neelos Haut. Der süßliche Duft von blumigem Rauch und Ölen erfüllte den Raum zusammen mit dem Zischen von Wasser, das auf heiße Steine geschüttet wurde. Neelo konnte die Umrisse der Höflinge xieser Mutter kaum ausmachen. Die Zahl änderte sich ständig, mal waren es zehn, mal fünfzig, aber eine Handvoll von ihnen blieb unverändert. In der Gruppe gab es Männer und Frauen sowie einige Fae, die wie Neelo zwischen und außerhalb dieser verschwommenen Grenzen angesiedelt waren. Neelo fragte sich immer, ob xiese Mutter gerade diese Höflinge ausgewählt hatte, um Neelo etwas zu beweisen: Man konnte immer noch ein sexuell ausschweifender, feierwütiger Südländer sein, unabhängig vom sozialen Geschlecht.
Neelo ignorierte diese Lektion, da sie für xien irrelevant war.
Stattdessen stapfte Neelo weiter in die Badehäuser hinein und fixierte den Boden, als nackte Gestalten in ihr Blickfeld gerieten. So etwas wie Schamhaftigkeit gab es am Südlichen Hof nicht. Nacktheit wurde sehr geschätzt und in Kunstwerken und Skulpturen zur Schau gestellt. Trotzdem badete Neelo lieber in xieser privaten Kammer, trug lockere Kleidung und zog es vor, nicht die Blicke potenzieller Verehrer und Verehrerinnen auf sich zu ziehen, geschweige denn die von Gespielinnen und Gespielen.
»Da bist du ja!« Die Stimme der Königin hallte von der niedrigen Steindecke wider.
Neelo entdeckte sie, wie sie in einem runden Becken saß, von dem Dampfschwaden aufstiegen. Ihr schwarzes Haar war hochgesteckt und der Kajal war ihr auf den Wangen verlaufen, aber Königin Emberspear sah selbst nackt im Bad noch königlich aus. Die einzige Kleidung, die sie trug, waren ihre taubengrauen Handschuhe – ein allgegenwärtiges Accessoire seit dem Tod der Königin des Westlichen Hofes. Nachdem ihre Mutter erfahren hatte, dass Königin Thorn gestorben war, weil sie vergiftetes Besteck berührt hatte, legte sie die Handschuhe nie wieder ab. Viele ihrer Höflinge übernahmen diese Mode, ohne zu verstehen, warum sie so wichtig war. Vielleicht war es das, was Adisa Monroe für den Südlichen Hof geplant hatte? Noch mehr vergiftetes Metall?
Zwei ihrer engsten Vertrauten, Farros und Thiago, saßen zu beiden Seiten der Königin in der Badewanne. Zum Glück waren sie nicht nackt. Stattdessen steckten sie in nassem grünem Stoff, der mit Minzsalben getränkt war, die Neelos Augen zum Brennen brachten. Die Hexen behaupteten, dass es gut für die Lunge sei. Immer, wenn Neelo als Kind erkältet war, hatte Rish xier in warme, nasse Decken eingewickelt und Neelo in den Dampfkammern sitzen und die heilenden Dämpfe einatmen lassen. Es überraschte Neelo nicht, dass xiese Mutter so viel Zeit dort verbrachte, schließlich war sie ständig am Keuchen.
Neelo blickte zwischen Thiagos schroffem, kriegerischem Gesicht und Farros’ weichen, femininen Zügen hin und her. Einer von ihnen beiden war mit Sicherheit der Vater von Neelo. Obwohl xier es nie wirklich beweisen konnte, sah Neelo viel von sich selbst in Thiagos Gleichmut und Farros’ neugierigem Wesen. Sogar in xieser Mutter entdeckte Neelo widerwillig ein wenig von sich selbst. Die Königin hielt die Leute emotional auf Distanz, indem sie sich mit Höflingen umgab, so wie Neelo Bücher bevorzugte. Und sie waren beide gleich stur.
Neelo hasste es, eine solche Gemeinsamkeit auch nur einzugestehen.
»Was war so dringend, dass es nicht warten konnte?«, murmelte Neelo, obwohl xier bereits wusste, dass die Königin das, was sie sagen wollte, vergessen hätte, wenn sie gewartet hätte, bis sie mit dem Baden fertig war.
Königin Emberspears Verstand war in den letzten Jahren zu einem Sieb geworden, das von übermäßigem Alkoholkonsum, Drogen und dem starken Hexenkraut – gemeinhin als »Grumt« bekannt – zerfressen wurde. Deshalb hatte die Königin in einem Moment der Klarheit darauf gedrängt, dass Neelo den Thron bestieg. Königin Emberspear glaubte nicht, dass sie sich noch lange im Griff haben würde, und wenngleich Neelo befürchtete, dass sie recht hatte, war xier entschlossen, sie vom Gegenteil zu überzeugen.
Es half auch nicht, dass Neelo sich nicht sicher war, ob sie beide überhaupt für den Thron geeignet waren. Königin Emberspear war die Art von Herrscherin, die Brunnenwasser in Wein verwandelte und aus einer Laune heraus funkelnde Laternen in den Himmel steigen ließ. Sie entzückte und verzauberte, hielt Reden, bei denen ihre Füße über Brüstungen baumelten, und warf halluzinogene Süßigkeiten in die Menge. In der Zwischenzeit würde Neelo die Art von Oberhaupt sein, die oberflächliche Reden hielt, Dekrete ohne blumige Worte verfasste und sich bemühte, die trödelnden Schaulustigen so schnell wie möglich abzuwimmeln. Am Südlichen Hof würde es keine Vergnügungen mehr geben, und das Volk würden Neelo dafür hassen.
»Talhan Catullus wurde gesehen, wie er Silbersund passierte«, verkündete die Königin selbstzufrieden, während sich die Falten um ihre Augen vertieften. »Es scheint es recht eilig zu haben, um zu dir zu kommen.«
»Und er wird genauso schnell wieder weg sein – er bleibt nicht hier«, brummte Neelo. »Es ist nur bis zur Sommersonnenwende, dann wird er mit den anderen abreisen, die zu den Feierlichkeiten eingetroffen sind.«
»Ich dachte, du wärst ihm zugetan?« Die Königin schnippte mit den Fingern nach Farros, und er reichte ihr die Pfeife, die mit Grumt gestopft war. Neelo verdrehte die Augen. Keine noch so große Wolke an Badehausdampf würde die Menge an Hexenkraut ausgleichen, die sie in ihre Lunge zog. »Wart ihr zwei nicht schon als Kinder befreundet?«
»Genau, Freunde, Mutter«, antwortete Neelo. »Mehr nicht.«
Neelo warf Farros einen unfreundlichen Blick zu, weil er der Königin die Pfeife überreicht hatte, aber der zwinkerte Neelo nur zu und zuckte mit den Schultern. Es gab nichts, was Farros dagegen tun konnte. Das wussten sie beide. Von allen Höflingen ihrer Mutter hatte Neelo im Laufe der Jahre die engste Beziehung zu Farros aufgebaut.
Der Fae mit dem rabenschwarzen Haar war nicht einen Tag gealtert, seit Neelo klein gewesen war. Mit seinen tiefen Lachfalten, den warmen grünbraunen Augen und der glatten, hellbraunen Haut dehnte auch Farros die starren Grenzen der Fae-Welt – er zog Kleider den Tuniken und Make-up den Bartstoppeln vor. Neelo hatte oft gehofft, dass Farros xies anderer Elternteil war, obwohl es eher Thiago war, dem Neelo ähnlich sah, mit seinem dunkleren Teint, den dickeren Augenbrauen und den scharfen Gesichtszügen.
»Du brauchst ihn, Neelo.« Die Stimme der Königin holte xien zurück ins Hier und Jetzt und xier verdrängte wieder einmal die Neugierde darüber, wer das andere Elternteil war. Es spielte auch eigentlich keine Rolle. Es gab keine Bücher oder Aufzeichnungen, die Neelos Abstammung dokumentierten, und es gab mindestens ein Dutzend möglicher Kandidaten – eine große, verwirrende Familie, die durch und durch dem Südlichen Hof entsprang.
»Ich brauche niemanden«, beharrte xier. Wenn Neelo sich noch ein bisschen länger verweigerte, würde die Königin ihre Abdankung vielleicht vergessen. »Du wirst noch viele Jahre regieren und dann werde ich übernehmen. Wenn du dir nur von den Leuten helfen lassen würdest …«
»So bockig.« Die Wangen der Königin wurden eingesaugt, als sie an ihrer Pfeife paffte und der schädliche Rauch durch ihr dunkles Haar wirbelte.
»Ich würde es vernünftig nennen.«
»Du bist starrsinnig. Die Leute wollen kein Oberhaupt, das klug und vernünftig ist.« Ausladend schwenkte sie ihre Pfeife umher und hinterließ weiße Qualmwirbel. »Sie wollen jemanden an der Spitze, der mutig und galant ist, so wie Talhan.«
»Ich bin mutig«, murmelte Neelo halblaut, zog das Buch aus der Jackentasche und blätterte rhythmisch an den Seiten entlang.
»Talhan Catullus ist charmant, leutselig, liebenswert …« Die Königin musterte xien von oben bis unten. »Alles Eigenschaften, an denen es dir gewaltig mangelt.« Neelo wappnete sich gegen den Schmerz, den ihre Worte verursachen sollten, aber er kam nicht. Denn es stimmte. Neelo stellte für xiese Mutter nichts als Unzulänglichkeiten dar. »Mach ihn zum Gesicht deines Hofes und du kannst deine Tage hinter einem Buch verbringen, so wie du es immer getan hast.« Ihr zufriedenes Lächeln wurde breiter. »Siehst du? Ich denke nur an dich.«
»Wie nett, Mutter.«
»Nicht jeder ist dazu geboren, im Mittelpunkt zu stehen. Nicht jeder kann eine Armee befehligen. Lass Talhan das für dich tun und du kannst die Strippen ziehen, die Entscheidungen treffen und hast Zeit, das Für und Wider abzuwägen, wie du es ja so gerne tust.«
Neelo blickte in die mit Kajal umrandeten Augen xieser Mutter und war einen Hauch überrascht.
»Ein bisschen weiß ich schon über dich, Kind.«
Neelo lachte leise. »Ja. Du weißt, dass ich nicht charmant, nicht leutselig und nicht liebenswert bin.«
»Die Liebe zu seinem Volk und die Liebe zu einer Mutter sind zwei verschiedene Dinge.« Die Königin verdrehte frustriert die Augen und schaute an die Decke. »Du weißt, dass ich dich liebe. Es tut weh, dass du je daran gezweifelt hast.«
Das war es, was Königin Emberspear so gut konnte: Sie verdrehte die Worte der anderen gegen sie selbst und ließ es so aussehen, als wäre es deren Fehler gewesen und nicht ihrer. Sie verknotete die Gespräche immer so, dass Neelo sie erst Stunden später wieder aufdröseln konnte. Es war kein faires Spiel; das war es nie.
»Du hast viele bewundernswerte Eigenschaften, Kind, notwendige Eigenschaften.« Die Königin nahm einen weiteren Zug von ihrer Pfeife. »Aber was die Zuneigung der Leute gewinnt und was sie brauchen, sind zwei Paar Schuhe. Ich habe ihre Liebe gewonnen, indem ich ihnen alle ihre Gelüste erfüllt habe … aber ich habe ihnen nicht annähernd genug von dem gegeben, was sie brauchen.« Der Schleier auf ihrem Blick lichtete sich und ihre Züge schienen schärfer zu werden. Nur noch selten hatte sie ihren Verstand beisammen. »Deshalb passen du und Talhan so hervorragend zusammen, dier eine nüchtern und logisch, der andere charmant und heldenhaft. Damit habe ich das perfekte Zusammenspiel von Bedürfnis und Verlangen arrangiert, wenn ich das so ausdrücken darf.«
»Du kannst unmöglich die Lorbeeren für diese Schlägerei einheimsen, die du in Murreneir angezettelt hast.«
Weiße Rauchwölkchen kräuselten sich in der ohnehin schon stickigen Luft, als die Königin die Augenbraue hochzog. »Und warum habe ich dann so viele Schlägereien vor dieser vergessen?«
Neelos Augen weiteten sich. Königin Emberspear steckte immer noch voller Überraschungen. Sie war so zerstreut, dass es ein Leichtes gewesen wäre, andere davon zu überzeugen, dass sie ihre früheren Verkupplungsversuche vergessen hatte, aber jetzt war klar, warum: Sie hatte nur darauf gewartet, dass Talhan Catullus in den Kampf hineingezogen wurde.
»Warum er?«, flüsterte Neelo und umklammerte den Rand des Buches fester.
»Wer, wenn nicht er? Seine Allianzen sprechen für sich.« Die Königin reichte ihre Pfeife an den blonden Höfling weiter, der hinter ihr hockte. »Er zählt zur Familie der neuen westlichen Königinnen und ist der beste Freund vom König des Hohen Gebirges. Er hat auch den Winter damit verbracht, die Königin des Nördlichen Hofes zu beschützen …« Königin Emberspear zuckte mit den Schultern. »Außerdem mag ich ihn. Und ich glaube, du magst ihn auch.«
Neelo steckte das Buch zurück in die Jacke und verschränkte die Arme vor der Brust. »Ist das alles?«
Xiese Mutter nickte und entließ Neelo mit einem Winken. Der Nebel legte sich wieder über ihre schwerlidrigen Augen, als sie sich in dem dampfgeschwängerten Raum umsah und noch mehr von dem ekelhaft süßlichen Rauch wegwedelte.
Ekelhaft süßlicher Rauch. Kurz zuvor hatte Neelo die gleiche Beschreibung in Ruas Brief gelesen. Xies Puls beschleunigte sich, während xies Verstand vor unbeantworteten Fragen zu rasen begann. Gab es einen Zusammenhang zwischen dem Rauch, der in der Nacht von Ruas Angriff den Himmel über Murreneir vernebelte, und dem Rauch, den Königin Emberspear gerade in ihre Lunge zog? Grumt war etwas, für das sich Neelo nie interessiert hatte, aber jetzt verlangte ein Geistesblitz, dass xier mehr darüber in Erfahrung brachte. Wahrscheinlich war es eine weitere Sackgasse, doch Neelo verspürte den plötzlichen Drang, alles über die Herstellung dieser starken Verschnitte zu erfahren.
Sich verbeugend blendete Neelo bereits die Worte xieser Mutter aus, als xier sich vornahm, direkt am Morgen die Grumthändler an den Docks zu besuchen. Neelo drängte sich an Denton vorbei, der in der Tür wartete, um mit xieser Mutter zu sprechen. Noch bevor ein weiteres drogengeschwängertes Lachen oder Stöhnen aus den Badehäusern hervordringen konnte, rannte xier so schnell es ging den Flur entlang.
Xies Geist hatte sich endlich auf ein Thema gestürzt, das es zu untersuchen galt. Und wenn es etwas gab, worin Neelo Emberspear gut war, dann waren es Nachforschungen.
Erst auf halbem Weg durch den Flur fiel Neelo ein, dass ein gewisser Goldadler bald im Palast ankommen würde. Grauen sammelte sich in xiesem Magen. Die Erinnerung an den Moment mit Talhan in Murreneir spulte immer wieder in xiesem Kopf ab. Xiese Mutter hatte ihn aus einem bestimmten Grund ausgewählt – aus einer Reihe von Gründen, von denen keiner so leicht von der Hand zu weisen war … was es umso schwieriger gestalten würde, ihn loszuwerden.
Neelos kratzige Kehle weckte xien gerade genug, um nach einem Glas Wasser zu greifen … als xiem der widerliche Geruch entgegenschlug.
Rauch.
Xies erster Gedanke war, dass die violetten Hexen es auf den Südlichen Hof abgesehen hatten, genau wie in Ruas Brief, als hätte Neelo den Angriff manifestiert, weil xier sich am Vortag so viele Gedanken darüber gemacht hatte. Aber dies hier war nicht der Geruch von magischem Rauch. Es war nicht der intensive Geruch von Kerzenflammen und Grumt.
Nein, es roch nach einem Inferno.
Neelo schoss hoch und suchte das dunkle Schlafzimmer ab, um Schatten von Rauch zu unterscheiden. Dann hörte xier die Schreie. Durchdringende Schreie schallten über den weißen Marmor, während xier aus dem Bett sprang und zum Kleiderschrank eilte. Hastig schlüpfte xier in eine doppelreihige Jacke an und zog sich die anthrazitfarbene Hose über die runden, muskulösen Oberschenkel.
Eine Wache hämmerte an die Tür. »Eure Hoheit!«
»Ich komme!«, rief Neelo.
»Es brennt. Ihr müsst sofort raus!«, rief die Wache und rüttelte am Türgriff. Der goldene Knauf klickte, aber die Tür bewegte sich nicht.
Neelo eilte durch den Raum zu xieser persönlichen Bibliothek. Meergrüne Regale erstreckten sich bis zu den Gewölbedecken, die perfekt an die schräge Dachlinie angepasst waren. Neelo rollte die bronzene Leiter aus dem Weg und öffnete die goldgerahmten Glastüren, die xiese Lieblingsbücher schützten – diejenigen, die Neelo stolz auf dem mittleren Regal präsentierte. Die durfte xier nicht an das Inferno verlieren.
Xier wirbelte zum Bett herum, schloss die Knöpfe der Jacke und suchte die Bettwäsche nach einer verräterischen Beule ab.
»Tut mir leid«, murmelte Neelo auf Indis entrüstetes Miauen hin, als xier ihn hochhob und in die Jacke steckte.
Als xier die Tür aufschloss, empfing Neelo ein riesiger Wächter, dessen Körper den gesamten Türrahmen ausfüllte. Stirnrunzelnd blickte er auf Indis kleines Gesicht und dann mit einem Naserümpfen auf den Bücherstapel in Neelos Händen. Rauch füllte den Korridor und stach Neelo in die Augen. Xier schob Indi tiefer in die Jacke, um seine kleine Lunge zu schützen, und sich selbst zog Neelo das Revers über die Nase und kämpfte gegen die undurchdringliche Rauchwand an.
Xier eilte dem Wächter hinterher und stürmte die Wendeltreppe hinunter, immer zwei Stufen auf einmal nehmend. Die Luft wurde klarer, als xier den Treppenabsatz im Erdgeschoss erreichte, und Neelo atmete die frische Abendluft ein, nachdem sie in die dunklen Gärten stolperten.
Grüppchen aus Dienern und Höflingen drängten sich an den Hecken und tuschelten mit empörten, schwatzhaften Stimmen, als wäre das hier nur eines ihrer vielen Spiele. Neelo begann, die Köpfe zu zählen. Hunderte von Leuten hatten den Palast bereits verlassen, weitere strömten aus den anderen Ausgängen, die der Rauch nicht zu erreichen schien, aber den Ursprung des Feuers konnte Neelo immer noch nicht ausmachen.
Erleichterung durchströmte Neelo, als xier Rish auf der anderen Seite des Feldes entdeckte. Neelo winkte der grünen Hexe zu und bemerkte, wie ihre Schultern erleichtert absackten und sie ihren Totembeutel an die Brust drückte.
Aber jemand fehlte noch …
Neelo zog Indi aus der Jacke und setzte ihn auf eine Gartenbank neben xiesem Bücherstapel. »Bewache die für mich«, flüsterte Neelo dem Kater mit einem letzten Tätscheln zu und nahm Kurs auf das westliche Ende des Palastes.
»Eure Hoheit«, schimpfte der Wächter, als er eilig folgte, »wir sollten bei der Gruppe bleiben.«
Doch Neelo beschleunigte nur und stapfte mit nackten Füßen über den schmalen Streifen manikürten Rasens neben den Schotterwegen.
Als xier um die Ecke bog, ertönten Schreie. Mittlerweile brannte das Schloss lichterloh, die Flammen schlugen aus dem höchsten Fenster. Neelo suchte nach dem Brandherd … und landete direkt beim Fenster xieser Mutter.
»Die Königin.« Neelo drehte sich zu dem Wächter um und spähte erneut durch die Gärten hinter ihm. »Ist sie in Sicherheit?«
Besorgt kniff er die Augenbrauen zusammen, aber er reagierte nicht. Antwort genug.
»Nein«, flüsterte Neelo und starrte entsetzt auf die leuchtend orangefarbenen Flammen, die bis in den Mitternachtshimmel loderten.
Ohne weiter darüber nachzudenken, stürmte Neelo auf den rauchverhangenen Torbogen zu.
»Eure Hoheit!«, schrie der Wächter und eilte hinterher.
Neelos Kehle war wie zugeschnürt, als xier sich in die dichte Qualmwolke stürzte. Die Rufe des Wächters verklangen, während xier blindlings den Flur hinunterrannte. Die brennenden Augen hielt xier geschlossen und steuerte nur mithilfe der Erinnerung durch die Gänge des Saxbrynt-Palastes.
Mit donnerndem Herzen inmitten des wütenden Feuers wusste Neelo, dass die Leute nicht im Geringsten überrascht sein würden, wenn xiese Mutter bei einem von ihr selbst verursachten Brand ums Leben käme. Wahrscheinlich war es für die Südländer nur eine Frage der Zeit gewesen, bis eine der vielen Verrücktheiten der Königin sie letztendlich einholte. Sie hatte Gift getrunken, war auf Drahtseilen balanciert, hatte Äxte geworfen und in der Menagerie mit Löwen herumgealbert … und sie hatte eine brennende Pfeife in der Hand, bis sie einschlief. Wenn es nicht die Verrücktheiten waren, die sie erwischten, dann eben die Trinkerei und die Drogen. Doch die Leute in Saxbrynt würden nur noch das Ende der Feierei betrauern.
Das war auch der Grund, weshalb jetzt niemand hier war, um sie zu retten. Dessen war sich Neelo sicher. Alle in Saxbrynt hatten ihre Königin aufgegeben … alle außer ihrer Nachfolge und ihrem einzigem Kind.
Und die letzte Person, die sich als zukünftiges Oberhaupt in Gefahr begeben sollte.
Der Rauch brannte in Neelos Augen und Tränen rannen über xiese Wangen. Xier sank auf Hände und Knie und tastete blind nach der obersten Stufe. Tief im Inneren wusste xier, wenn die Königin noch weiter drinnen war, dann war sie unrettbar verloren. Aber xier hielt nicht an – das konnte xier nicht, nicht jetzt, noch nicht. Noch war Neelo nicht bereit, das Oberhaupt des Südlichen Hofes zu sein. Falls xier das überhaupt je sein würde.
Neelo hatte keine Ahnung, ob xier aus fehlgeleiteter Liebe zu xieser Mutter oder aus Angst, den Thron zu besteigen, in das Feuer gegangen war, aber xier war sich einfach nur sicher, dass die Königin nicht sterben durfte.
»Mutter!«, schrie Neelo und die Hitze wurde immer schlimmer, als xier den Treppenabsatz erreichte und durch den Korridor stürmte. »Mutter!«
Über das Zischen und Kreischen von splitterndem Holz konnte xier nichts hören und verschluckte sich an dem dichten Rauch, während xier nach der Türklinke tastete …
Doch starke Arme umschlangen Neelo und zogen xien nach hinten. Neelo stieß ein Brüllen aus. Nackte Sohlen schrammten über den Stein, als die gewaltigen, muskulösen Arme des Wächters sie in Richtung Treppenhaus zerrten. Obwohl xier sich gegen seinen mächtigen Griff wehrte, wurde xier mit Leichtigkeit die Treppe hinuntergeschleppt, gleichzeitig grob und doch vorsichtig genug, um die Nachfolge nicht zu verletzen. Trotz Neelos Größe hob der Wächter xien hoch, als wäre xier nichts als ein halb verhungertes Kind. Neelo zappelte und kratzte und versuchte verzweifelt, wegzukommen, während xier den Namen xieser Mutter brüllte.
Eine frische Brise schlug ihnen wie eine Welle entgegen, Neelos Lunge füllte sich mit kühler Luft, aber sie hielten nicht an. Xier wand sich im Griff des Wächters, um ihm ins Gesicht zu schreien.
Dieser lockerte den Griff gerade so weit, dass xier sich umdrehen konnte, doch als Neelo aufblickte, war es nicht der Wächter, dessen Arme xier umklammerten …
Es war Talhan Catullus.
KAPITEL 4
Neelo starrte hinauf in sein Gesicht. »Du«, keuchte xier und wischte die Tränenflecken mit dem Handrücken weg.
Talhan hatte die Augen weit aufgerissen, das Gesicht war rußverschmiert und sein Haar weiß von Asche. Nur in den Winkeln von Mund und Augen blitzte es rosig hervor.
»Ich muss sie suchen gehen.« Neelos Stimme klang ruppiger als beabsichtigt, wie immer. Genau das dachte jeder über xien: Neelo war barsch und gefühllos. Aber xies Auftreten war jetzt unwichtig – nur die Königin zählte jetzt.
Talhan schüttelte den Kopf. »Du kannst da nicht wieder reingehen.« Er presste seine Hände auf xiesen Rücken, als hätte er Angst, dass Neelo sich aus seinem Griff befreien könnte. Als ob xier vor dem Goldadler davonlaufen könnte.
»Niemand sonst tut es«, stieß Neelo hervor und schluckte den glühenden Knoten in der Kehle hinunter. »Niemand probiert es auch nur.«
»Es ist zu spät«, flüsterte er, was Neelo ein Knurren abrang.
»Nein …«
Talhan zog die Brauen eng zusammen. »Du bist die Zukunft dieses Hofes.« Seine Finger drückten sich in den schwarzen Satin von Neelos Jacke, als weitere Rufe nach roten Hexen erschollen, die das Feuer ersticken sollten. »Du kannst da nicht wieder reingehen.«
»Wie kannst du es wagen …«
»Du weißt, dass ich recht habe. Damit, wieder hineinzugehen. Und mit … deiner Mutter.«
»Auf keinen Fall«, rief xier. »Es ist noch zu früh. Ich …«
In der Dunkelheit glommen die bernsteinfarbenen Augen von Talhan wie geschmolzenes Gold. »Neelo …«
»Nein«, knurrte xier und wand sich aus seinem Griff.
»Da seid ihr ja!«, rief eine schrille Stimme jenseits der Palmen.
Neelos ganzer Leib sackte bei dem Geräusch in sich zusammen, und die Erleichterung durchströmte xien so stark, dass xiese Beine fast nachgaben. Als xier sich umdrehte, sah Neelo Königin Emberspear in einem wallenden fliederfarbenen Gewand und ihren allgegenwärtigen Handschuhen, eine Schar von Höflingen wieselte hinter ihr her.
Neelo eilte herbei und umarmte xiese Mutter. Die Königin stieß einen heiseren Lacher aus. Wann hatte Neelo sie das letzte Mal umarmt? Wann hatte xier sie das letzte Mal zum Lachen gebracht?
Neelo konnte sich nicht erinnern.
»Ich bin hier, Kind. Mir geht es gut.« Sie gluckste, ihr leichtes, zwitscherndes Lachen, das abrupt in einem rauen, rasselnden Husten endete.
Wieder einmal war Neelo die einzige Person, die erkannte, wie knapp die Königin dem Tod von der Schippe gesprungen war. Königin Emberspear lachte alles weg, als wäre es nur ein weiteres Spektakel. Neelo konnte sich nicht daran erinnern, wann xier zum ersten Mal begriffen hatte, dass es xiese Aufgabe war, xiese Mutter am Leben zu erhalten – dass niemand sonst es tun würde; es lag viel zu weit in der Vergangenheit.
Das war mit Sicherheit auch der Grund dafür, dass xier so ausgelaugt war und blindlings in ein Feuer rannte. Neelo ließ xiese Mutter los und trat einen Schritt zurück, um sie böse anzustarren. »Was hast du dieses Mal angestellt?«
»Oh, bitte, nicht schon wieder eine deiner Zurechtweisungen.« Die Königin winkte ab, während sie versuchte, ein weiteres Husten zu unterdrücken, und schnauzte dann einen Höfling an, ihr die Pfeife zu bringen. »Die Sonne ist noch nicht mal aufgegangen.«
»Aus deinem Schlafzimmer scheint schon genug Licht! Du hättest fast den ganzen Palast niedergebrannt!« Xier gestikulierte in Richtung der rußgeschwärzten Fenster. Drei rote Hexen gossen mithilfe von Schwebemagie Brunnenwasser auf die Flammen, wodurch das Feuer langsam erlosch.
Es war ein unglaublicher Anblick, wie die dunkelrote Magie in der Dunkelheit flackerte, wähend die Hexen Wasserkugeln in die Gemächer der Königin schleuderten. Nach dem Sturz des Königs des Nordens, Hennen Vostemur, hatten nicht alle roten Hexen, die sich im Reich versteckt hielten, Lust, an den Hof des Hohen Gebirges zurückzukehren. Einige hatten sich im Süden versteckt gehalten, Familien gegründet und ein geheimes Leben geführt, das sie nicht aufgeben wollten. Königin Emberspear war nur zu gern bereit, wieder rote Hexen im Palast für sich arbeiten zu lassen. Doch so sehr xier auch von dem Spektakel beeindruckt war, Neelo plagten ganz andere Sorgen.
»Es wird sich herausstellen, dass eine Kerze von einer Zofe umgestoßen wurde«, zischte die Königin und ihre Höflinge raunten das Gerücht sofort weiter. »Ein Unglück, bei dem die Königin hätte getötet werden können!«, rief sie laut aus, so dass die anderen Anwesenden es hören konnten. Wie ein Barde, der ein Publikum anlockt, zog Königin Emberspear die Aufmerksamkeit der Gruppe mühelos auf sich. »Zum Glück war ich noch wach …«
Ihr Blick glitt zu dem halb bekleideten Höfling Thiago, dessen Tunika noch bis zum Bauchnabel aufgeknöpft war. Er zwinkerte der Königin zu und Neelo gab vor, zu würgen. Als xier Talhans Kichern neben sich vernahm, brach Neelo ab. Verlegenheit durchströmte xien in dem Wissen, dass der Goldadler Zeuge einer weiteren Eskapade der Südländer war.
Aber vielleicht war das alles, was er sehen musste, um von dort – und von xiem – für immer zu verschwinden.
»Alle waren draußen, ehe das Feuer ausbrach, Neelo«, fuhr die Königin fort. »Alle, außer dir. Wenn du nur ein bisschen mitgemacht hättest …«
»Ich habe geschlafen! Und ich bin zurückgerannt, um dich zu retten, du Närrin!«
Die Menge schnappte nach Luft und die Miene xieser Mutter verfinsterte sich. Ihre Augen wurden schmal wie die einer Wildkatze, die zum Angriff bereit ist. Neelo wusste, dass Königin Emberspear nicht mit den Fäusten auf xien losgehen würde, auch wenn xier sich das manchmal wünschte. Stattdessen feuerte sie mit der Präzision eines geübten Bogenschützen Beleidigungen und Sticheleien wie vergiftete Spitzen in Neelos Kopf. Dort gärte das Gift so lange, bis Neelo ihre Worte für die Wahrheit hielt.
»Vorsicht«, knurrte xiese Mutter leise. Ihr Blick blieb an der bedrohlich aufragenden Gestalt jenseits von Neelos Schulter hängen, und Neelo verkrampfte sich, als die Königin das Ziel anvisierte. Ihre geübte Maske der Freundlichkeit legte sich wieder über ihr Gesicht, als sie lauthals verkündete: »Welch ein Glück, dass Talhan Catullus hier war, um seine missratene Verlobungsperson zu retten.«
Die Menge brach in Applaus und betrunkenen Jubel aus, und Neelo ballte die Fäuste. Viele waren immer noch so gekleidet, als wäre es nicht gerade mitten in der Nacht, wohingegen andere nur leichte Sommerkleidchen trugen. Hexen, Menschen und Fae gleichermaßen versammelten sich und starrten Talhan Catullus an, den berühmten Goldadler, der jetzt der Verlobte ihres zukünftigen Oberhaupts war.
Talhan richtete sich auf und ignorierte die Menge, als er neben Neelo hintrat. Er deutete der Königin eine knappe Verbeugung an.
»Ich muss der Nachfolge von Saxbrynt für die unerschütterliche Hingabe an Euch meinen Respekt zollen, Eure Majestät«, sagte er und schenkte ihr ein vielsagendes Lächeln. Neelo wusste, dass dieser Blick eine Warnung war: Talhan konnte mit seinen Worten genauso raffiniert sein wie mit seinem Schwert. Auch er konnte die Leute durch seine bloße Anwesenheit beeinflussen. Die Menge seufzte und geriet bei jedem Atemzug von Talhan in Verzückung. »Wir sollten uns alle glücklich schätzen, jemanden zu haben, der bereit ist, sein Leben für uns zu riskieren.«
»In der Tat«, sagte die Königin auf dieselbe unbekümmerte Art, aber Neelo bemerkte, wie sich ihre Mundwinkel nach unten bogen.
Dann drehte sich Königin Emberspear zu ihrer Gruppe tuschelnder Höflinge um, die umgehend Platz machten, damit sie davonschreiten konnte. Als sie weit genug den Kiesweg hinuntergelaufen war, drehte sich Talhan wieder zu Neelo um.
»Geht es dir gut?«, fragte er und hob die Hand, als wollte er xiese Wange berühren, doch Neelo wich ihm aus. »Kannst du mal tief einatmen?« Er holte selbst tief Luft und Neelo tat es ihm widerwillig gleich, wobei xier ein bisschen husten musste. »Sollen wir eine braune Hexe holen?«
»Mir geht’s gut«, brummte Neelo und verschränkte die Arme vor der Brust. »Wann bist du angekommen?«
»Gerade eben.« Talhan deutete mit dem Daumen über seine Schulter in Richtung der Haupttore. »Ich habe den Rauch gesehen, als ich hereingeritten bin, und bin sofort losgestürmt, um zu sehen, was passiert ist. Dabei habe ich beobachtet, wie du in den Palast gerannt bist.«
Neelos Kiefer tat weh, so fest biss xier die Zähne zusammen. »Du hättest mich gehen lassen sollen.«
Seine Augen verdunkelten sich und Talhan trat einen Schritt vor. »Du wärst gestorben, hätte ich dich gewähren lassen.«
»Das ist mir egal«, spuckte xier aus.
Talhan zuckte bei den Worten zurück, ein Sturm braute sich in dem engen Raum zwischen ihnen zusammen. »Nun, dann werde ich mir genug Sorgen für uns beide machen.«
»Es gibt kein ›uns‹«, widersprach Neelo und deutete auf das verheerte Palastgebäude. »Das hier. Das ist es, was mein Leben ausmacht. Das ist es, woran du nicht teilhaben kannst.«
Die Menge zerstreute sich und wanderte auf die andere Seite des Palastes, aber Talhan hielt seine Stimme weiterhin gesenkt. »Warum nicht?«
Neelo zog die Schultern bis zu den Ohren hoch und knurrte: »Weil ich dich nicht mit mir untergehen lasse.«
Talhans Wangen kräuselten sich und der Anblick dieses unbekümmerten Grinsens sorgte dafür, dass Neelo wieder mit den Zähnen knirschte. »Ich dachte, das wäre dir egal?«
»Ist … ist es auch. Meine Zukunft ist bereits entschieden.«
»Du kümmerst dich nicht um dich selbst.« Talhan trat einen Schritt näher, seine Tunika streifte die Knöpfe von Neelos obsidianfarbener Jacke. »Aber du machst dir Sorgen um mich?«
Die nächtliche Brise zerzauste Neelos kurzes Haar. »Das habe ich nicht gesagt. Ich will dich nur vor diesem Leben bewahren.«
»Hmm.« Nachdenklich rieb er sich mit dem Daumen über die Unterlippe und schaute dabei auf Neelo hinunter, xiers Magen sich dabei zusammenzog. Verflucht sei er. Warum musste er xien nur so ansehen? »Du willst diese Zukunft also lieber allein durchleiden?«
Durchleiden. Genau das war es: die bittere Wahrheit darüber zu ertragen, wie xies Leben hätte aussehen können.
Neelo blickte auf die Scharen von Leuten, die in den gepflegten Gärten ausschwärmten. Die evakuierten Bewohnerinnen und Bewohner rauchten bereits und reichten Flaschen herum, um ihre Nahtoderfahrung in eine wilde Feier zu verwandeln.
Wie könnte Neelo je über diesen Ort herrschen? Wie sollte xier sich mit Leuten herumschlagen, denen es egal war, ob xier lebte oder starb? Was würde passieren, wenn die Ströme an Alkohol aufhörten zu fließen und das grelle Licht des Tages den Südlichen Hof erhellte? Dann müsste Neelo die Scherben aufsammeln und alle würden xien dafür hassen. Davor musste xier Talhan beschützen.
Jemandem, der fröhlich, charmant und unbeschwert war, würde dieser Ort all das rauben, und Neelo wollte nicht zusehen, wie dieser lebhafte Charakter verblasste. Alle Farben waren bereits aus Neelos Leben ausgewaschen und Talhan Catullus würde so etwas nicht überleben. Neelo wusste, dass es die schlimmste Art des Leidens wäre, seinem langsamen Dahinsiechen zuzusehen.
Neelo räusperte sich und trat einen Schritt zurück.
»Du musst müde sein von deiner Reise.« Neelo winkte eine wartende Zofe heran. »Hilf Lord Catullus, seine Gemächer zu finden.«
»Aber …« Talhan streckte erneut die Hand nach Neelo aus, aber xier war schon zur Seite gegangen, um seiner Berührung zu entgehen.
»Willkommen in Saxbrynt«, rief Neelo über die Schulter hinweg und verschwand in der Nacht, um Indi zu suchen.
Nach diesem Feuer konnte Neelo unmöglich schlafen. Stattdessen sammelte xier Indi, der im Garten Motten jagte, und die geretteten Bücher ein und brachte beides in die Bibliothek. Dort zündete xier nur eine einzige Laterne an und blätterte angespannt die Seiten um, als fürchte xier, dass die Flammen herausspringen und xiese kostbaren Bände verzehren könnten.
Die königliche Bibliothek befand sich auf der Ostseite des Palastes und war vom Feuer verschont geblieben. Neelo war dankbarer, als xier es je zeigen würde. Den Verlust der Bibliothek hätte xier wie den eines geliebten Menschen betrauert. Voller Wehmut dachte xier an die geplünderte Bibliothek in Silbersund und wünschte sich, xier wäre schon eher dorthin gereist, um ihr einen Besuch abzustatten.
Die Bibliothek des Palastes war ein nachträglicher Anbau, der von Neelos Urgroßvater errichtet worden war. Mit ihren dunkel gebeizten Holzregalen und smaragdgrünen Polstern wurde die zweistöckige Bibliothek von allen außer der Nachfolge von Saxbrynt ignoriert. Die Verzierungen an den silbernen Vorhangstangen und die geschnitzten Wurzeln, die die Tische und Schreibtische hinaufkletterten, erinnerten an den immergrünen Baum – der Schutzpatron ihres Hofes. Silberne Flecken schimmerten in den Marmorböden und ergänzten die alte Steinarchitektur des restlichen Palastes. Für königliche Verhältnisse sah die Bibliothek im Vergleich zu den anderen Höfen eher bescheiden aus. Zwar verfügte sie über ein prächtiges Kuppeldach, zwei Stockwerke voller Bücher und einen Blick auf den Obstgarten, aber sie war nicht so großartig, dass sie Bücherwürmer vor Neid erblassen ließ.
Neelo hatte sich immer etwas Größeres gewünscht.
