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** Ein magisches Schwert. Ein mächtiger Fluch. Und ein brennender Kontinent ... ** Die achtzehnjährige Fae Ruadora fällt unerwartet die Unsterbliche Klinge in die Hände. Diese ist ein uraltes Artefakt mit der Macht, alles zu zerstören – und möglicherweise die einzige Chance, die grausame Unterdrückung im Land zu beenden. Doch als Rua entdeckt, dass die Armee der blauen Hexen mit einem Fluch belegt wurde, muss sie erkennen, dass der Kampf gerade erst begonnen hat. Alle Hoffnungen, den Fluch über die blauen Hexen zu brechen, hängen an Rua und sie wagt sich an den Hof des Feindes. Dort ist sie gezwungen, eng an der Seite des jungen Königs zu arbeiten. Das Gefährlichste daran ist aber nicht die Nähe zum Feind, sondern, dass ihr der fasznierende Herrscher nicht mehr aus dem Kopf gehen will. Diese Gefühle könnten ihren Tod bedeuten und damit den Untergang ihres Volkes. Nun muss Rua sich der Unsterblichen Klinge als würdig erweisen, deren Magie sie zu überwältigen droht … Die virale Sensation voller Romantik und Abenteuer geht weiter! Dieser Band der Five Crowns of Okrith-Reihe handelt von der Fae-Prinzessin Rua, die sich mit einem unerwarteten Verbündeten zusammentut … The Witches Blade ist der zweite Band einer Serie voller Intrigen, Magie und Leidenschaft. In jedem Band geht es um neue Protagonist*innen, weswegen die Bücher der fesselnden New-Adult-Romantasy-Reihe unabhängig voneinander gelesen werden können.
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Seitenzahl: 654
Veröffentlichungsjahr: 2025
A. K. Mulford
The Witches’ Blade
The Five Crowns of Okrith II
Aus dem Englischen von Ulrike Gerstner
Ein magisches Schwert. Ein mächtiger Fluch. Und ein brennender Kontinent ...
Der achtzehnjährigen Fae Rua fällt unerwartet die Unsterbliche Klinge in die Hände. Diese Waffe könnte der Schlüssel sein, um die grausame Unterdrückung im Land zu beenden. Doch als Rua entdeckt, dass die Armee der blauen Hexen mit einem Fluch belegt wurde, muss sie erkennen, dass der Kampf gerade erst begonnen hat. Rua wagt sich an den Hof des Feindes und gerät dort in den Bannkreis des faszinierenden jungen Königs. Verdient er ihr Vertrauen oder arbeitet er für das Böse?
Und als wäre das nicht genug, muss Rua sich der Unsterblichen Klinge als würdig erweisen, deren Magie sie zu überwältigen droht …
The Witches’ Blade ist der zweite Band einer vierteiligen Serie voller Intrigen, Magie und Leidenschaft. In jedem Band geht es um neue Protagonist*innen, daher können die Bücher unabhängig voneinander gelesen werden.
Wohin soll es gehen?
Content Note
Landkarte
Buch lesen
Danksagung
Viten
CONTENT NOTE
Liebe Leser*in,
dieser Roman enthält potenziell triggernde Inhalte. Hier findest du eine Themenübersicht:
Blut
Gewalt
Krieg
Tod und Verlust
Explizite Sexszenen
Gehe während des Lesens achtsam mit dir um. Falls du auf Probleme stößt und / oder betroffen bist, bleibe damit nicht allein. Wende dich an deine Familie und an Freund*innen oder suche dir professionelle Hilfe.
Wir wünschen dir alles Gute und das bestmögliche Erlebnis beim Lesen dieser besonderen Geschichte.
A. K. Mulford und das Carlsen-Team
Für alle, in deren Herzen noch Geschichten warten, die erzählt werden sollen. Gebt nicht auf. XX
KAPITEL 1
Ihr Schwert brachte den Tod, sie schwang es, um zu zerstören und Leben auszulöschen. Der Kupfergeruch des Blutes trieb durch die Luft, die weiß glühende Gabe floss durch ihre Adern wie geschmolzenes Gold. Die Schreie und Schluchzer verklangen, bis Rua nur noch den Ruf der Unsterblichen Klinge hörte, die danach verlangte, noch mehr Blut zu vergießen. Furcht und Vergnügen fochten miteinander. Freude und Kummer prallten in ihrem Geist aufeinander. Sie konnte nicht alles unter Kontrolle halten.
Kräftige Arme packten sie, zogen sie mit dem Rücken gegen eine harte Brust. Heißer Atem schlug gegen ihr Ohr, als eine Stimme flüsterte: »Bei den Göttern. Ruadora, hör auf.« Der Hexenschlächter.
Von allen Bitten war seine diejenige, die sie hätte ignorieren sollen. Aber sein dunkles Timbre traf sie tief im Inneren, und ihr Griff um die Klinge lockerte sich.
Als sich die aufgewirbelte Luft setzte, schaute Rua auf die unzähligen Toten und Sterbenden. Der Zorn von Baba Morganna brachte die Erde noch immer zum Beben, und die Mauern bröckelten an allen Seiten. Die Arme schlossen sich enger um sie, schwerer Atem strich durch ihr Haar, aber es fühlte sich so weit weg an, als sie das Gemetzel betrachtete. Und wieder blieb ihr Blick an ihm hängen, an ihm, der inmitten des Blutbads lag, an ihm, dem Grund, weshalb sie das uralte Schwert in ihren Händen hielt – Raffiel. Die Augen ihres Bruders starrten blicklos in den Himmel, während der Boden erzitterte. Ihr Umgang miteinander war in all den Jahren immer schwierig und misslich gewesen, doch nun war die Chance, die Beziehung zu stärken, auf grausame Weise ausgelöscht worden. Es war ihre Schuld. Alles davon. Sie hätte eher zur Waffe greifen sollen. Sie hätte ihn retten und die Möglichkeit beim Schopf packen können, eine bessere Schwester zu sein … aber sie hatte gezögert. Die roten Hexen würden zutiefst enttäuscht sein. Sie war keine Kriegerhexe – sie war eine Fae-Prinzessin, die Angst davor hatte, wozu sie werden könnte, wenn sie die Todesklinge in den Händen hielt. Als sie auf die blutroten Rubine im Griff des Schwertes hinunterblickte, prickelte die Zauberkraft in ihnen wie statisch aufgeladene Luft. Die Furcht, die falsche Entscheidung getroffen zu haben, goss Eiswasser auf Ruas inneres Feuer.
Keuchend riss sie sich von den Armen des Hexenschlächters los. Kälte fraß sich in sie, als er sie nicht mehr festhielt. Der Sohn des Königs des Nordens verharrte reglos hinter ihr und blickte auf das Massaker. Er hatte sie Ruadora genannt, obwohl sie unter einem Trugzauber stand … Woher hatte er gewusst, dass sie die Prinzessin des Hohen Gebirges war?
Sie spürte das Prickeln der Magie ihres Trugzaubers, der ihr zuraunte, in ihre Fae-Form zurückzukehren, noch während das Echo der Schlacht in ihr widerhallte. Nur einige wenige angstschlotternde Nordländer waren noch am Leben. Das wahre Grauen war nicht das Meer aus Blut, sondern das blanke Entsetzen in den Gesichtern der Überlebenden. Wie viele dieser Leichen waren die Opfer ihrer Klinge geworden? Säure brannte in ihrer Kehle und sie war drauf und dran, sich zu übergeben. Das war nicht die Kriegerin, zu der die roten Hexen sie ausgebildet hatten. Sie hatte ihren Feinden nicht in die Augen geschaut, als sie sie in Stücke gehackt hatte.
Baba Morganna gebot ihrem rachsüchtigen Mahlstrom der Zerstörung Einhalt und starrte von ihrem Podest herunter. Das ohrenbetäubende Grollen der Felsen wich dem Wehklagen der Überlebenden. Rua folgte Morgannas Blick und entdeckte ihre Schwester, die reglos und blutend auf dem weißen Marmorboden lag. In den Gesichtern der Umstehenden spiegelten sich Entsetzen und Panik wider, während ihrer aller Blicke auf nur eine Person gerichtet waren. Das lange, kupferfarbene Haar der Hexe war zu einem Zopf geflochten, und ihre Miene zeigte heitere Gelassenheit, als sie auf Remy herablächelte und ihren Dolch hob.
Rua kniff die Augen zusammen. Sie wusste, was jetzt geschehen würde. Der Midon brik war das mächtigste Geschenk, das eine Hexe machen konnte; sie tauschte ihr Schicksal gegen ein anderes. Ruas Magen zog sich zusammen, und ihre Hände zitterten. So viele Leute versammelten sich um ihre Schwester – Leute, die bereit waren, ihr Leben gegen das ihrer Schwester einzutauschen. Und dann war da Rua, eine einsame Bestie mit einem Schwert. Der Kampf war zu Ende, und doch hämmerte ihr das Herz immer härter in die Kehle, bis ihr ganzer Körper bebte. Vermaledeite Tränen kullerten. Sie konnte es nicht zulassen, dass sie es alle sahen. Rua wirbelte herum und riss die Scheide der Unsterblichen Klinge vom Tisch hinter ihr. Die Kronen des Hohen Gebirges fielen in ihrer Hast zu Boden, aber das blieb unbemerkt, da alle den Midon brik beobachteten.
Nur der Blick eines einzigen Paars smaragdgrüner Augen verfolgte Rua, als sie floh. Sie hielt den Kopf gesenkt, weil sie Baba Morganna nicht ins Gesicht sehen wollte, als sie an der Hohepriesterin vorbeistürmte. Sie hatten Rua zur Kriegerin ausgebildet, die keine Schwäche zeigen durfte, und sie hatte sie immer wieder enttäuscht. Ihr Herz war zu weich, um eine rote Hexe zu sein, und zu störrisch für eine königliche Fae. Rua rannte schneller, vorbei an Leichen und Trümmern floh sie aus dem Raum. Sie konnte nicht zulassen, dass die anderen die verräterischen Tränen sahen oder Zeuge wurden, wie sie als zusammengekauertes Häuflein Elend die Galle aus ihrem Magen hochwürgte.
Es machte sie zur dunkelsten Art der Seele, dass sie nicht zurückkehrte, um sich zu vergewissern, ob ihre Schwester lebte oder tot war.
Der Geruch von Blut haftete an der Unsterblichen Klinge, obgleich ihr Stahl nie die Haut der Opfer berührt hatte. Über ihre steten Schritte hinweg hörte Rua immer noch die Schreie der unglücklichen Seelen, deren Flehen um Gnade auf taube Ohren gestoßen war, weil das Dröhnen der Magie durch ihre Muskeln pulsierte. Das Zischen der Klinge, die das nächste Opfer traf, hallte in ihren Gedanken wider. Ein Tag war vergangen, und der Kampf tobte in ihr weiter.
Bri, die Wächterin ihrer Schwester, führte Rua durch offene Gänge, in denen sich der Schnee türmte. Das Schloss lag in Trümmern, nur wenige Räume waren noch intakt. Sie hatte beobachtet, wie Remys Karawane in die Ferne gezogen war, und fragte sich, ob es die falsche Entscheidung gewesen war, zurückzubleiben. Doch bevor sie dem wachsenden Grauen nachgeben konnte, wurde sie zu einer Ratssitzung gerufen.
Sie umrundete einen weiteren Trümmerhaufen und rieb sich mit der Hand ängstlich über den Oberschenkel. Baba Morgannas Zerstörung war an jeder Ecke im Palast des Nordens erkennbar. Die Unsterbliche Klinge zerrte an ihrem dünnen Gürtel, eine Erinnerung an die Macht, die sie jetzt besaß. Entsetzen mischte sich immer weiter unter ihren Stolz. Sie hatte schon so viel Blut vergossen.
Bei den Göttern. Ruadora, hör auf!
Als sie zu Boden blickte, knirschten Glassplitter unter ihren Stiefeln. Morganna übte sich gleichermaßen in Zorn und Beherrschung. Sie wusste genau, wann sie aufhören musste. Und das fürchtete Rua am meisten: diese Kontrolle nicht zu meistern. Wie viele Köpfe wären noch gerollt, hätte es nicht das warme Flüstern eines schändlichen Mannes gegeben?
Sie erreichten eine provisorische Ratskammer. Bri öffnete Rua die Tür und ermöglichte ihr den Eintritt einer Königin, das Haupt hocherhoben. Der Raum war kaum größer als ein Wandschrank und schien wahllos eingerichtet zu sein. An der hinteren Wand saßen Renwick und ein anderer, älterer Fae, drei weitere Personen hatten sich um sie versammelt und betrachteten im Stehen die Papiere und Schriftrollen, die auf dem Tisch verstreut lagen. Es waren alles männliche Fae mit blassem nordischem Teint und vom Alter silbrigem Haar. Mit kalten Blicken musterten sie Ruas Äußeres – ihr dunkles, gewelltes Haar, die sommersprossige braune Haut. Die Augen der Fae verharrten auf ihrer Kleidung. Bri hatte ihr eine Jacke gegeben, in der sie aussah wie ein Kind, das in zu großen Kleidern versank.
»Ihr tragt gar nicht die Krone des Nordens?«, fragte Rua und erschrak darüber, wie ihre Zunge die Ific-Wörter verstümmelte. Von den drei Sprachen Okriths war Ific die, die sie am wenigsten beherrschte, auch wenn es die gemeinsame Sprache war.
Renwick trug einen silbernen Stirnreif, um den sich eine stilisierte Schlange wand. Er saß dort in voller Pracht mit einer samtgrünen Jacke voll goldener Verzierungen, die die Augen in seinem blassen Gesicht wie Smaragde leuchten ließ. Der Lichtschein, der durch das schmale Fenster hinter ihm fiel, umhüllte ihn wie eine Aura, die sein aschblondes Haar betonte.
Die Ratsmitglieder erstarrten. Einer funkelte Rua geradezu wütend an, als sie den Stirnreif betrachtete.
Sie ließ die Hand zu ihrer Hüfte wandern und fuhr mit den Fingern die goldenen Buchstaben nach, die in die Scheide eingeritzt waren: Möge jeder Hieb Segen oder Fluch sein. Die Schrift war in Mhenbic, der alten Sprache der Hexen, verfasst – eine Sprache, die Rua besser beherrschte als ihre eigene Muttersprache Yexshiri. Da sie im Zirkel der roten Hexen aufgewachsen war, kannte sie deren scharfen Akzent. Was würden wohl ihre Eltern, das verstorbene Königspaar des Hohen Gebirges, von ihrem jüngsten Kind denken: eine Fae-Prinzessin, die wie eine Hexe redete?
»Prinzessin Ruadora. Willkommen!«, entgegnete Renwick knapp und riss sie aus ihren wirbelnden Gedanken. »Ich lasse eine neue Krone schmieden.«
»Eine neue Krone für einen neuen König«, warf das älteste Ratsmitglied ein.
Es fühlte sich falsch an, schon so rasch von einem anderen König Vostemur zu hören. Noch während das Blut von den Böden gewaschen wurde, hatte Renwick auf eine Krönung gedrängt. Das machte seine Absichten nur noch verdächtiger.
»Prinzessin, dies sind meine Ratsmitglieder.« Renwick vollführte eine umfassende Geste, um jeden der vier älteren Fae vorzustellen. »Romberg, Berecraft, Fowler und Barnes.«
Rua bemerkte, dass Fowler, der Größte und Breiteste, sie nur mit einem angewiderten Hohnlächeln bedachte. Es war auch kein Wunder, dass er sie so ansah – sie war eine Prinzessin des Hohen Gebirges und brachte die Unsterbliche Klinge mit zu deren Sitzung.
»Es gab zwölf von ihnen, aber …« Renwicks Blick huschte zum rubinbesetzten Griff ihres Schwertes.
Aber Rua hatte sie getötet.
Goldene Blitze durchzuckten sie immer noch und lockten sie zur Klinge zurück. Es war eine unvergleichliche Sogwirkung – nicht wie die brennenden Muskeln der Fae-Kräfte oder der vibrierende Rausch der Hexenmagie. Unter dem trügerischen Gefühl der Euphorie lauerte etwas Ursprüngliches, ein Versprechen auf uneingeschränkte Zauberkraft. Endlich war sie jemand, der es wert war, gefürchtet zu werden.
»Sie waren Eurem Vater treu, Eure Majestät«, sagte das Ratsmitglied Berecraft mit kratziger Stimme. Eingedenk seiner sitzenden Position und der Art, wie er sprach, fragte sich Rua, ob Berecraft der Oberste Ratsherr war.
»In der Tat.« Renwick runzelte die Stirn und wandte seinen scharfen Blick zu Rua. »Wir besprachen gerade Pläne, um nach Norden zu reisen.«
Rua studierte die Karte auf dem Tisch, die mit Steinen in jeder Ecke festgehalten wurde. Sie zeigte den gesamten Kontinent Okrith. Die Höfe des Nordens, des Westens, des Südens und des Ostens umschlossen eine Krone aus hohen Bergen – den Hof des Hohen Gebirges, ihre Heimat. Die Hauptstadt Yexshir hatte man kurzerhand mit einem schwarzen X weggestrichen. Rua hatte Yexshir nicht mehr betreten, seit sie fünf Jahre alt gewesen war. Sie war versteckt in den Wäldern nordöstlich der Hauptstadt aufgewachsen, zusammen mit den roten Hexen, die sich dem Griff des vormaligen Nördlichen Königs hatten entziehen können. Sie würden bald eine neue Karte zeichnen müssen. Denn Yexshir würde wiederauferstehen – dafür würde ihre Schwester sorgen.
»Bei allem Respekt, Eure Majestät, Euer Onkel ist immer noch da draußen. Haltet Ihr es für klug, noch weiter nach Norden zu reisen?«, sagte der kleinste Mann, Barnes.
»Euer Onkel?«, fragte Rua.
Renwick spannte die Kiefermuskeln einen Atemzug lang an, bevor er das Wort ergriff. »Mein Onkel ist die wahre Bedrohung im Norden. Meinen Vater zu töten hat Eurem Hof nur noch mehr Feinde beschert, Prinzessin.«
Ein eisiger Wind wehte durch das Fenster und brachte die Papiere auf dem Tisch zum Rascheln.
»Ist das der berüchtigte Balorn Vostemur, von dem Ihr sprecht?«, fragte Rua. »Er war nicht hier, als Euer Vater fiel?«
Renwick hob die Augenbrauen. »Ihr habt von ihm gehört?«
Trotzdem sie so abgeschottet war bei ihrer Ausbildung, hatte Rua in den Büchern, die sie von den roten Hexen bekommen hatte, Geschichten über Balorn gelesen. In den Hexenlagern kursierten Gerüchte, dass Balorn nach dem Tod seines Vaters verrückt geworden war, während sein älterer Bruder dem Blutrausch zu sehr gefrönt hatte. Selbst als das Geflüster über ihn im Laufe der Jahre verstummt war, erinnerten sich die älteren roten Hexen dennoch. Sie sagten, die Belagerung von Yexshir sei Balorns Idee gewesen, ebenso wie die Folterungen der blauen Hexen aufgrund ihrer Prophezeiungen. Rua hatte gehofft, dass Balorn von der Unsterblichen Klinge erschlagen worden war und jetzt unter einem der Berge von Leichen lag.
»Er war nicht hier«, bestätigte Barnes, und seine Hände zitterten, bevor er sie hastig verschränkte. »Balorn hält sich auf Wunsch des verstorbenen Königs in den nördlichen Teilen des Königreichs auf.«
»Er war nicht unbedingt der beliebteste Gast bei Festlichkeiten«, bemerkte Renwick mit einem bitteren Lächeln. Er wandte sich wieder seinen Ratsmitgliedern zu. »Wir müssen nach Norden reiten und das Hexenglas finden. Es besitzt zu viel Zauberkraft, um es in Balorns Händen zu belassen. Wir müssen seine Pläne durchkreuzen, bevor er noch mehr Macht erlangt.«
»Was hat er vor?«, unterbrach Rua.
»Er hat sich selbst zum König des Nordens ernannt«, antwortete Fowler, der schroffe Fae. »Er ist der Meinung, dass der Thron Seiner Majestät nicht zusteht, weil er ein Verräter sei.«
Renwick zeigte bei dieser Aussage keine einzige Regung. Als notorischer Spieler – da war sich Rua sicher – ließ er sich nicht in die Karten schauen, aber seine ausdruckslose Miene verriet ihr mehr als genug.
»Wir müssen die Festung der blauen Hexen zurückerobern. Das Hexenglas wird dort sein«, sagte Renwick mit Endgültigkeit in der Stimme.
»Was ist dieses Hexenglas?« Rua erstarrte, als sie alle wieder ihre blassen Augen auf sie richteten.
»Sie hat also von Balorn gehört, aber nicht vom Hexenglas«, höhnte Fowler.
Rua knirschte mit den Zähnen. »Ich weiß nichts über die blauen Hexen. Sie hüten ihre Geheimnisse gut.«
»Das Hexenglas ist der heilige Stein der blauen Hexen, so wie die Rubine in Eurem Schwert oder das Amulett, das Eure Schwester trägt. Es besitzt die Gabe, die Magie der blauen Hexen zu verstärken und ihre uralten Flüche wieder wirksam werden zu lassen«, murmelte Renwick, während er mit dem Daumen nachdenklich über seine Unterlippe strich. »Wenn Balorn im Besitz des Talismans ist …« Er stieß langsam die Luft aus. »Dann müssen wir ihn zurückholen, sonst wird ganz Okrith darunter leiden.«
Sie hatte nicht zugestimmt, das Relikt der Hexen zu finden. Eigentlich hatte Rua vorgehabt, ihr Schwert zu schwingen und die verbliebenen Fae-Getreuen zu verjagen, aber sie wollte keinesfalls wieder in der Nähe von Hexen sein.
Sie atmete langsam aus, ließ die Schultern hängen und sah Renwick finster an. »Ist das alles?«
Seine Lippen wurden schmal, als er sie von oben bis unten musterte. »Nein, während wir dort sind, werden wir auch den Palast des Nordens bauen.«
Die Ratsmitglieder schwiegen. Renwick deutete auf einen Punkt auf der Karte. An der Spitze des Nördlichen Hofs, fast an der Küste, waren ovale Markierungen zu sehen. Die Eisseen, vermutete Rua.
»Ihr wollt die Hauptstadt nach Murreneir verlegen?«, ließ sich Barnes erstaunt vernehmen.
»Haltet Ihr das für klug, Eure Majestät?« Romberg sprach jetzt mit einer hohen, nasalen Stimme. »Die Eisseen wären ein weiter Weg für ausländische Würdenträger. Was ist mit Andover?«
»Andover ist immer noch voller Getreuer meines Vaters. Es ist dort genauso schlimm wie in Drunehan. Wir werden ständig auf der Hut sein müssen, wenn wir hierbleiben«, entgegnete Renwick, und Berecraft legte die Stirn in Falten. Rua war sich sicher, dass so etwas wie Traurigkeit über seine Miene huschte. »Wir haben Verbindungen zu Murreneir. Der Wiederaufbau der Hauptstadt dort ist eine willkommene Abwechslung, und das Volk wird uns folgen.«
»Balorn wird versuchen, Euch aufzuhalten«, wandte Fowler ein. »Er wird nicht zulassen, dass Ihr die Festung der blauen Hexen so einfach einnehmt.«
»Dann ist es ja gut, dass wir die Unsterbliche Klinge dabeihaben, oder?« Renwick richtete die smaragdgrünen Augen wieder auf Rua.
Sie hielt seinem Blick stand und fragte sich einen Moment lang, ob die grünen Sprenkel in ihren braunen Augen das gleiche Grün hatten wie seine. Sie spannte sich an, verdrängte den Gedanken und hob zustimmend das Kinn.
»Wir werden morgen aufbrechen«, erklärte Renwick und sah jedes seiner Ratsmitglieder an. »Trefft alle notwendigen Vorbereitungen und stellt die Wachen zusammen. Es gibt viel zu tun, bevor wir aufbrechen.«
Als Renwick aufstehen wollte, stellte sich ihm Rua in den Weg. »Was ist mit den Hexen?«
Die Ratsmitglieder wandten sich zu ihr um, ihre Blicke lasteten schwer wie Felsbrocken auf ihr.
»Was ist mit den Hexen?«, wiederholte Rua und verengte die Augen. »Habt Ihr schon eine Erklärung für deren Freiheit unterzeichnet?«
Alle schwiegen und richteten ihre Aufmerksamkeit nun auf Renwick, während Rua ihn stirnrunzelnd anschaute. Ganz offensichtlich hatte niemand an die blauen Hexen gedacht, die noch immer unter der Krone des Nordens versklavt waren. Ganz gewiss hatten sie einen Plan für sie überlegt?
»Was schlagt Ihr vor?« Renwick lehnte sich in seinem Stuhl zurück.
»Alle Hexen kommen frei.« Rua schürzte die Lippen, als wäre es eine unangreifbare Tatsache.
Als keines der Ratsmitglieder antwortete, fügte sie hinzu: »Jetzt.«
»Eure Majestät«, wandte sich Fowler an Renwick und nicht an sie. »Haltet Ihr es nicht für sinnvoll, die Dinge schrittweise anzugehen? Es würde wahrscheinlich ihre Stabilität gefährden …«
»Alle Hexen kommen sofort frei«, unterbrach sie ihn mit einem Knurren in der Stimme. »Diejenigen, die bleiben wollen, erhalten einen gerechten Lohn und die gleichen Ruhetage wie Eure anderen Bediensteten, ansonsten dürfen sie gehen.«
»Wohin genau gehen?« Renwick beobachtete sie mit Schlangenaugen.
»Wir vollziehen hier einen Machtwechsel. Diese Dinge brauchen Zeit«, begann Barnes, als müsste er sie belehren.
»Das Mädchen hat weder politische Fähigkeiten noch Führungsqualitäten«, sagte Fowler.
Rua richtete sich bei der Bezeichnung »Mädchen« kerzengerade auf. Ihre Hand legte sich wieder um den Griff des Schwertes, und sie spürte dessen magnetische Anziehungskraft durch ihre Wut hindurch. Der Knauf wurde ganz heiß in ihrer Handfläche.
»Ihr werdet nicht von oben herab mit mir sprechen«, zischte Rua. »Ich bin kein Kind.«
»Nun seht sie Euch an!«, ereiferte sich Fowler, Spucke spritzte von seinen Lippen. »Sie ist ein Kind und ein nutzloses noch dazu!« Rua packte ihr Schwert fester, verstärkte das Feuer in ihren Adern, als der Mann seine Tirade fortsetzte. »Sie hat kein Recht, in diesem Rat zu sein. Sie ist zu nichts imstande, außer so töricht nach dem Schwert zu greifen.« Fowler drehte sich um, sein hasserfüllter Blick fiel auf ihre Hand auf der Unsterblichen Klinge, und er lachte. Er lachte. »Wenn du glaubst, du wärst so stark mit diesem Schwert, kleines Mädchen …«
Rua zog die Klinge aus der Scheide und schnitt damit durch die Luft, bevor er noch ein weiteres Wort sagen konnte. Auf der anderen Seite des Tisches verdrehte Fowler die Augen, umklammerte die klaffende Wunde an seiner Kehle. Blut ergoss sich über seine graue Tunika, färbte sie purpurrot, während er röchelnd an seinen letzten Atemzügen erstickte.
Mit einem lauten, nassen Schmatzen schlug er auf dem Boden auf. Rua wusste, dass sie damit genauso böse war wie die Fae um sie herum, aber sie empfand Genugtuung, als sie das Entsetzen auf seinem Gesicht sah, als er zu Boden ging. Sie alle sollten besser nicht vergessen, wer die Herrin der Unsterblichen Klinge war.
»Ich wäre Euch dankbar, wenn Ihr die Mitglieder meines Rates nicht umbringen würdet, Prinzessin.« Renwick schaute auf Fowler herab, als wäre er lediglich eine kleine Unannehmlichkeit. Er war es eindeutig gewohnt, Leute zu töten. Immerhin nannten sie ihn den Hexenschlächter. Rua fragte sich, wie oft er wohl schon zugesehen hatte, wie das Leben aus den Augen eines Menschen wich.
»Er hat weder auf Eure noch auf meine Befehle gehört, König Renwick«, erwiderte Rua und schob das magische Schwert in die Scheide. »Ich werde eine solche Respektlosigkeit nicht dulden, und das solltet Ihr auch nicht, wenn Ihr Eure Krone behalten wollt. Und jetzt …«, sie stützte die Hände auf den Tisch und beugte sich drohend vor, während sie leise weitersprach. »Lasst die Hexen frei.«
Renwick hielt ihren Blick länger fest, als ihr lieb war. Er war so ruhig und beherrscht, dass sie sich unter seinem Blick am liebsten gewunden hätte. Welche Gedanken spielten sich hinter diesen grünen Augen ab? Anstatt zu antworten, nickte er nur kurz und zog ein Blatt Pergament hervor, um mit dem Schreiben des Erlasses zu beginnen.
KAPITEL 2
Rua spähte auf Drunehan hinunter. Das hier war nicht länger die Hauptstadt. Sie konnte kaum die Gestalten ausmachen, die sich durch die dicken Schneewehen unter ihr bewegten. Überall auf dem Palastgelände war die Verwüstung offensichtlich. Dunkle, zerschlagene Fenster blickten auf die verschneiten, mit Trümmern übersäten Gärten. Rua war froh, dass sie diesen Ort verlassen würden. Sie war überzeugt, dass die meisten Menschen, die durch die Straßen zogen, sie tot sehen wollten.
Bri schloss die riesige schwarze Truhe mit einem lauten Knall, was Rua aus ihren wirbelnden Gedanken riss.
Sie zuckte bei dem Geräusch zusammen und knirschte dann mit den Zähnen. Wie sehr es sie ärgerte, dass sie hochgeschreckt war. Erst vor ein paar Tagen wäre ihr fast der Kopf abgeschlagen worden, aber sie weigerte sich, die Auswirkungen ihres Beinahezusammenstoßes mit dem Tod einzugestehen. Im Norden konnte sie es sich nicht leisten, solche Schwächen zu zeigen.
Bri ließ sich auf den gepolsterten schwarzen Lederdeckel plumpsen, der die Truhe verschloss. Manche nannten sie und ihren Bruder die Zwillingsadler, und es war nicht schwer auszumachen, wieso. Mit ihren kurzen, rötlich braunen Haaren, der Adlernase und den goldenen Augen sah sie anderweltlich aus. Rua vermutete, dass es aber derzeit nur ein einzelner Adler war, da Bris Zwilling Talhan nach Osten gegangen war, um den Frieden zu wahren.
»Brauche ich das wirklich alles?« Sie beäugte die Truhe, die bis zum Rand mit Kleidung und anderen Dingen gefüllt war, die durch Bris geheime Fertigkeiten gesichert waren. »Ich glaube, ich nehme lieber nur einen Rucksack mit.«
Bri betrachtete mit schmalen Augen den Rucksack, den Rua von einem Palastbediensteten erbeten hatte. Der Zustand des abgenutzten Rucksacks, der nur einen Regentag davon entfernt war, sich in Wohlgefallen aufzulösen, verriet ihr genug darüber, was das Personal von ihr hielt.
»Auch wenn wir auf dem Weg zu einem Lagerplatz an den Eisseen sind«, Bri wandte ihren goldenen Blick wieder zu Rua, »ist dies kein Hexenlager. Du wirst in der Gesellschaft des Königs des Nördlichen Hofes sein.«
»Und?« Rua verdrehte die Augen. Es war ihr völlig egal, wie Renwick über ihre Kleidung dachte. Der Hexenschlächter war das Böse schlechthin, oder zumindest fast. Immerhin hatte er ihrem Bruder geholfen, den ehemaligen König des Nordens zu besiegen. Rua war sich allerdings immer noch nicht sicher, aus welchem Grund. Wollte er den Tod seines Vaters wirklich so sehr, dass er bereit war, sich mit den Feinden des Nordens zu verbünden? War er so hungrig nach Macht?
»Und«, schnauzte Bri, schlug die Beine übereinander und stützte einen Ellbogen auf das Knie. »Du vertrittst den Hof des Hohen Gebirges, einen Hof, den viele für schwach halten werden, weil er noch in den Kinderschuhen steckt. Du musst in jeder Hinsicht Stärke zeigen. Wenn du schäbige, alte Hexenkleider trägst, sendet das keine starke Botschaft an unsere Feinde.«
»Müssen Kleider denn so viel aussenden?« Rua runzelte die Stirn angesichts der riesigen Truhe.
»Das sind keine Ballkleider und Tiaras.« Bri stieß ein raues Lachen aus. »Das sind warme Garnituren, Ledermonturen und Waffen.«
»Na schön.« Rua lenkte ein und sah auf die Unsterbliche Klinge auf ihrem Bett. »Ich hätte nichts gegen ein paar Dolche mehr an meinem Gürtel.«
»Wie viel Übung hast du im Umgang mit dem Schwert?«, fragte Bri und folgte Ruas Blick.
»Jede Menge.« Rua versteifte sich. »Der Hexenzirkel hat darauf bestanden.«
»Ich fange an, diese Hexen zu mögen.« Bri grinste.
»Ja.« Rua reckte ihr Kinn. »Sie haben umfassend Sorge für alles getragen.«
Bri schnaubte amüsiert. »Wie überaus schmeichelhaft.«
Das war das Netteste, was Rua darüber sagen konnte. Die roten Hexen hatten sie nie mit Herzlichkeit behandelt. Sie war für sie immer »anders« gewesen. Ein Symbol für all das, was die Hexen verloren hatten. Sie versorgten sie zwar mit Nahrung, Unterkunft und Ausbildung, aber das war auch schon alles. Sie sah auch nie eine einzige Hexe jammern oder sich beschweren. Ihre Fae-Emotionen wären schlicht zu heikel für sie gewesen. Und nach allem, was sie durchgemacht hatten, erschien es Rua unangemessen, sie mit so belanglosen Dingen wie ihren kindlichen Gefühlen zu belasten. Dennoch war Rua ihnen dankbar, dass sie sie all die Jahre beschützt hatten, während sie den Hexenzirkel in den wilden Wäldern hinter dem Tempel von Yexshir wieder aufzubauen versuchten.
Rua griff nach der Unsterblichen Klinge. Als sie das Schwert langsam aus der Scheide zog, beruhigte sich etwas in ihr, legte sich wie ein Balsam auf den Juckreiz, dessen Existenz sie sich gar nicht bewusst war. Sie hielt die Klinge in die Luft und betrachtete die vielen verkratzten Stellen auf der Schneide.
»Was steht da?« Bri musterte das Mhenbic, das auf der Scheide prangte.
»Möge jeder Hieb Segen oder Fluch sein«, antwortete Rua.
Bri gluckste. »Dann habe ich im Laufe der Jahre viele Segnungen verteilt.«
»Ich bin nur an Flüchen interessiert«, murmelte Rua und zog die Klinge durch die Luft. Sie spürte, wie das schwere Gewicht die Muskeln ihrer Arme wärmte.
»Wie zielt man auf die Magie?«, fragte Bri. Ihr wachsamer Blick verfolgte das Schwert, als würde sie bei einer falschen Bewegung ebenfalls niedergestreckt.
»Die Klinge weiß es einfach, so wie meine Hand genau weiß, wie sie zugreifen muss. Es gibt keinen bewussten Gedanken, nur Instinkt.« Rua hob das Schwert höher und richtete es zur Decke. Dann fügte sie mit einem halben Lächeln hinzu: »Es wird dir nicht wehtun.«
»Da bin ich mir nicht so sicher«, widersprach Bri. »Es scheint viele Leute niederzumetzeln.«
Ruas Blick schnellte zu der Adlerin. Was warf die Fae-Kriegerin ihr vor? Hatte sie gesehen, was in der großen Halle geschehen war? Wusste sie von Ruas Raserei? Wie frei sie sich in diesem Moment gefühlt hatte und wie egal es ihr gewesen war, wer als Nächstes ihrer Klinge zum Opfer fiele? Klebrige, heiße Scham drückte auf ihrer Haut wie ein Schandmal auf ihrer Seele. Eine leise Stimme in ihr flüsterte, dass sie das uralte Schwert nicht verdient hatte.
»Nur Menschen, die es verdient haben«, sagte Rua.
»Das ist ein gefährliches Spiel, Freundin«, sagte Bri und erhob sich. »Eines, das ich schon seit vielen Jahren spiele. Man muss den Muskel trainieren, wie alles andere auch.«
»Was für einen Muskel?«, fragte Rua.
Bris goldene Augen verdunkelten sich zu Bernstein. »Zu entscheiden, wer lebt oder stirbt.«
Rua kämpfte gegen den Drang an, die Stirn zu runzeln. Sie ließ die Unsterbliche Klinge mit der Spitze voran auf den Steinboden sinken.
»Und wie übt man das, außer durch Töten?«, fragte Rua mehr zu sich selbst als zu Bri.
In diesem Moment begriff sie das volle Gewicht der Verantwortung, die sie da trug. Sie würde Leben auslöschen, möglicherweise für den Rest ihres Lebens. Sie war die Herrin über eine Todesklinge. Das Schwert hatte sie in dieser Stunde der Not genauso auserwählt wie sie es. Trotzdem hatte sie es nicht schnell genug ergriffen. Hätte sie es ein paar Augenblicke früher an sich genommen, wäre Raffiel noch am Leben. Dieses Zögern hatte ihn das Leben gekostet. Doch sie wusste auch, weshalb sie gezaudert hatte. Irgendetwas in ihr hatte instinktiv erkannt, dass ihr Leben sich für immer veränderte, sobald sie das Schwert aufhob. Die nachtschwarze Finsternis, die in ihr brodelte, drängte womöglich an die Oberfläche. Jetzt, da sie die Todesklinge in der Hand hielt, fürchtete sie sich davor, was aus ihr werden würde.
»Üb mit mir«, sagte Bri und riss Rua aus ihren düsteren Gedanken. »Ich muss auch meine Fähigkeiten verbessern, und ich will nicht mit diesen Nordländer-Trotteln trainieren.« Schmunzelnd nickte Rua.
»Ich sollte mich mit Remy in Verbindung setzen«, sagte Bri und machte sich auf den Weg zur Tür. Rua bemühte sich, den Umgang mit magischen Flammen zu verbessern, mit denen sie mit anderen Fae kommunizieren konnte, auch wenn es eigentlich niemanden gab, mit dem sie sprechen wollte. »Ich muss deiner Schwester von dem Aufbruch in den Norden erzählen. Hast du irgendwelche Nachrichten, die ich weitergeben soll?«
Rua schüttelte den Kopf, aber als Bri den Türgriff umfasste, fügte sie doch noch hinzu: »Erzähl ihr nichts von dem Ratsmitglied.«
Bri sah Rua mit einer kräftigen hochgezogenen Braue an.
»Bitte«, presste Rua hervor und fühlte sich ein klein wenig erbärmlich. Sie wollte nicht, dass ihre Schwester sich wegen der Klinge Sorgen machte oder schlecht über sie dachte. Sie war sich immer noch nicht sicher, wie sie mit ihrer älteren Schwester sprechen sollte. Wobei – älter etwas albern klang. Übernächste Woche wurde Rua neunzehn Jahre alt. Einen Monat lang waren sie gleich alt, dann folgte nach der Wintersonnenwende Remys zwanzigster Geburtstag.
»Remy ist nicht so eine Person, weißt du«, sagte Bri, als hätte sie Ruas Gedanken gelesen. »Sie würde dich nicht so verurteilen.«
»Ich habe keine Ahnung, was für eine Person sie ist.« Rua nagte mit ihrem Eckzahn an ihrer Unterlippe.
»Du könntest es herausfinden«, forderte Bri auf, ließ sie so leicht abblitzen.
»Du kannst jetzt gehen«, sagte Rua, als bräuchte die Adlerin ihre Erlaubnis. Sie wandte sich wieder dem Fenster zu und starrte hinaus auf das silbrige Schneemeer. Trotz des lodernden Feuers spürte sie die bittere Kälte tief in ihren Knochen.
Bri schnaubte vergnügt und ließ sich von Ruas Abfuhr nicht beirren.
»Remy hatte Angst vor sich selbst, als ich sie kennengelernt habe«, erklärte Bri. Rua sah sich daraufhin veranlasst, einen flüchtigen Blick über ihre Schulter zu werfen. Es war schwer zu glauben, dass dieselbe unerbittliche Kämpferin, die sie in der großen Halle gesehen hatte, jemals Angst vor sich selbst hatte. »Sie hat ihre Stärke und ihr Selbstvertrauen nur langsam gefunden. Die Tapferkeit, die du gesehen hast, hat sie sich Stück für Stück hart erarbeitet.«
Rua schluckte den Kloß in ihrem Hals hinunter. Vielleicht konnte auch sie einen Weg zum Mut finden. Ein Teil von ihr wünschte sich, Baba Morganna wäre dageblieben, um sie herumzukommandieren. Es war so viel einfacher, gesagt zu bekommen, was man tun sollte, als es selbst herauszufinden.
»Sie scheint einen guten Charakter zu haben«, bemerkte Rua missmutig.
»Den hat sie«, sagte Bri. »Und du auch.«
Die Vorstellung, dass dieser Fae-Kriegerin etwas an ihr lag, war ihr unangenehm. Es würde nur eine Frage der Zeit sein, bis Bri dieses Gefühl zurückschrauben würde.
»Du kennst mich doch gar nicht«, knurrte Rua. »Ich könnte ein Monster sein.«
Bri grinste und legte den Kopf schief. »Dann ist es ja von Vorteil, dass ich mich gerne mit Monstern anfreunde.«
Sie wusste, dass die Adlerin sich nicht geschlagen geben würde. Egal, wie störrisch und unangenehm Rua auch sein mochte, die Fae-Kriegerin schien fest entschlossen zu sein, hierzubleiben.
Sie war froh, dass Remy die nächste Anwärterin auf den Thron des Hohen Gebirges war. Das Gewicht der Unsterblichen Klinge wog schwer, aber der Druck einer Krone würde noch viel schwerer sein. Rua würde ihre Schwester bis zur Wintersonnenwende nicht wiedersehen, wodurch sie sich etwas Zeit verschaffte, um diese neue Gabe zu ergründen. Sie würde die nächsten Wochen damit verbringen, Ordnung im Norden zu schaffen und sich als Prinzessin des Hohen Gebirges würdig zu erweisen.
»Kommst du zurecht?«, fragte Bri. Ruas Brust zog sich ein wenig zusammen. Selbst wenn Rua sie von sich stieß, schien die Adlerin dagegenzuhalten. Bri war möglicherweise die einzige Person, die ihre ungestümen Launen im Zaum halten konnte. Die Adlerin und Rua waren gleichermaßen unnachgiebig und mürrisch. Vielleicht könnte Bri ihre Freundin werden … wenn Rua es nicht vermasselte.
»Ich habe es unter Kontrolle«, beteuerte Rua. Sie wusste, dass Bri die Lüge genauso deutlich hörte wie sie. Sie war sich nicht sicher, ob sie das Schwert oder das Schwert sie kontrollierte. Als sie wieder auf die goldene Mhenbic-Schrift blickte, seufzte sie. Der Hieb der Klinge bereitete ihr keine Sorgen. Es war die Klinge selbst, die entweder ein Segen oder ein Fluch sein würde.
Der kalte Wind peitschte Rua die Haare ins Gesicht. Sie biss die Zähne zusammen, als der Schneeschauer auf sie niederging. Ein kurzer Blick zu ihrer Rechten zeigte Bri, die sich ebenfalls auf einen weiteren Eisregen gefasst machte.
Renwick stand vor einer langen Schlange aus schwarzen und silbernen Kutschen. Nein, keine Kutschen, stellte Rua fest, als sie genauer hinsah. Wo eigentlich die Räder sein sollten, waren riesige Metallkufen befestigt, die sich an der Vorderseite zu eleganten Schnörkeln bogen.
»Was, in der Göttin Namen, ist das?«, rief Bri und betrachtete das seltsame Gefährt.
»Du bist noch nie gerodelt, oder?«, mutmaßte Rua, auch wenn sie selbst noch nie einen echten Schlitten gesehen hatte, außer in ihren Büchern.
»Das ist ein Pferdeschlitten, kein Rodelschlitten«, korrigierte Renwick und überbrückte rasch den Abstand zwischen ihnen. Er vergrub die Hände tief in den Taschen seines dicken, grauen Umhangs, das Gesicht hob sich scharf vorm Schnee ab.
»Meinetwegen auch das.« Rua sah ihn stirnrunzelnd an. »Wie lange dauert die Reise?«
»Acht Stunden bis Brufdoran«, drang eine Stimme durch das Getümmel. Ein Soldat trat neben Renwick. Er war gebaut wie ein Oger, groß und muskulös und hatte eine fiese Narbe, die von seinem Haaransatz bis zu seiner Wange reichte. Er trug weder die Rüstung noch das Wappen des Nördlichen Hofes, sondern einen schweren schwarzen Mantel, der seine Augen noch dunkler erscheinen ließ. Goldbraune Haut überzog sein grimmiges Gesicht, das mahagonifarbene Haar war kurz geschnitten.
»Eure Hoheit.« Renwick wies mit einer Geste auf den Fae-Mann an seiner Seite. »Das ist Thador Eloris, meine Leibwache.«
»Ihr vertraut nicht darauf, dass die Wache des Königs Euch beschützt?« Ruas Blick huschte von Thador zu Renwick.
»Ich vertraue denen, die ich am Leben gelassen habe.« Ein Muskel in Renwicks Wange spannte sich an. »Thador ist mir gegenüber loyal, nicht gegenüber der Krone.«
Rua verstand. Sie hatte keine Ahnung, wie das war – jemanden zu haben, der ausschließlich ihr gegenüber loyal war. Selbst Bri war eine geliehene Wache ihrer Schwester.
Das Kreischen eines Vogels über ihr war die einzige Warnung, bevor ein Falke vom Himmel stürzte. Rua schreckte zurück und schlug die Hände schützend vors Gesicht, als der Vogel auf Thadors Schulter landete.
»Sie wird Euch nichts tun«, warf Thador mit einem kehligen, gönnerhaften Lachen ein, woraufhin Rua eine finstere Miene zog.
Sie spürte Renwicks strengen Blick auf sich und wusste, dass er bemerkt hatte, wie sie zusammengezuckt war. Sie versuchte, ihre Verlegenheit zu überspielen, und wies auf Bri.
»Das ist Briata …« Rua verfluchte sich selbst, weil sie den Nachnamen der Adlerin nicht kannte.
»Catullus«, schaltete sich Bri ein. »Er kennt mich. Da es nur noch acht Stunden bis zur Nachtruhe sind, lasst uns jetzt aufbrechen«, sagte sie, wich aber nicht von Ruas Seite, sondern wartete auf ihre Anweisungen.
Thadors Blick wanderte über Bri, und seine Lippen verzogen sich zu einem Grinsen. Rua verkrampfte sich und wollte den Mann schon zurechtweisen, weil er ihre Wache mit diesem anzüglichen Lächeln bedachte, doch Bri kam ihr zuvor.
»Ich habe dir doch gesagt, wenn du einen Sparringspartner suchst, Thador«, verkündete Bri, obwohl aus ihrem Tonfall klar hervorging, welche Art von Sparring sie meinte, »dann, fürchte ich, setzt du auf die falsche Fae.«
Sie zwinkerte Thador zu und folgte Rua, die auf die Schlitten zuging. Rua hatte vergessen, dass diese hochwohlgeborenen Fae sich alle kannten. Wahrscheinlich waren sie mit den gleichen Festen, Bällen und Maskeraden aufgewachsen.
Als sie den Schlitten erreichten, sprang der Diener, der neben dem Kutscher saß, von seinem Sitz herunter, um Bri zuvorzukommen und ihr die Tür zu öffnen. Er zog sie mit einer tiefen Verbeugung auf, die sowohl Bri als auch Rua ein amüsiertes Schnauben entlockte.
»Darf ich dir die Tasche abnehmen?«, fragte der Mann, als er sich wieder aufgerichtet hatte und nach dem Rucksack griff, um ihn von Bris Rücken zu nehmen. Bri zerrte ihn an den Lederriemen aus seinen Fingern.
»Nein«, schnauzte sie.
»Aber es gibt einen Gepäckraum. Das Gepäck Ihrer Hoheit ist bereits dort und …« Er sprach mit hoher Stimme, als wäre das, was Bri vorschlug, ein Sakrileg.
»Ich pass schon darauf auf. Los geht’s.« Bri deutete mit dem Kinn auf den Sitz des Mannes am vorderen Ende des Schlittens.
Rua biss sich auf die Lippen, um sich ein Grinsen zu verkneifen, und ergriff die ausgestreckte Hand des Bediensteten, um seine Aufmerksamkeit von ihrer bärbeißigen Wächterin abzulenken.
Sie stieg in den dunklen Bauch des Schlittens ein. Das Innere ähnelte dem einer Kutsche. Blaue Samtkissen säumten die Sitzbänke auf beiden Seiten der Tür. Über dem hinteren Fenster befand sich ein Ablagefach für Hüte und Handschuhe. Himmelblaue Vorhänge verhüllten die beschlagenen Glasfenster, und die Innenwände trugen die Farbe der Mitternacht.
Bri kletterte nach Rua hinein und schleppte Schnee mit sich hinein. Sie mussten ihre Köpfe einziehen, um stehen zu können, als sie sich zu den gepolsterten Bänken begaben. Bri ließ ihren Rucksack achtlos auf den Boden fallen und füllte damit die gesamte Lücke zwischen den beiden Kutschensitzen.
Rua starrte auf den prallen Rucksack.
»Ich mag es nicht, von meinen Sachen getrennt zu werden«, sagte Bri achselzuckend.
»Schön.« Das schien das einzige Wort zu sein, das sie sagen konnte. Mit einem schweren Seufzer ließ sie sich nieder und legte ihre nassen Stiefel oben auf dem Gepäck ab.
Bri schnallte den Dolch an ihrem rechten Oberschenkel ab und legte ihn unter ein Satinkissen, bevor sie sich längs auf die Bank legte.
»Machst du jetzt etwa ein Nickerchen? Es ist immer noch morgens.«
»Ich hoffe, du hast ein Buch dabei.« Bri gluckste und vergrub ihr Gesicht in dem Kissen.
Rua verdrehte die Augen über die rüpelhafte Wächterin.
Ein Schrei ertönte, und der Schlitten ruckte. Rua wurde nach vorne gerissen und streckte ihre Arme aus, um sich abzufangen, aber nach dem ersten Rütteln glitt der Schlitten sanft durch den Schnee. Sie hörte bereits Bris schwere Atemzüge, die von dem Satinkissen kamen.
Als sie aus dem Fenster schaute, erschien die Stadt Drunehan verfallen und voller Schatten. Feuerstellen gefüllt mit Müll verbreiteten einen üblen Geruch. Auf den Steinmauern fanden sich Unflätigkeiten mit Holzkohle gekritzelt, die eine verlangte »Tötet die Hexe«, die andere »Schlachtet den Hexenschlächter«. Rua schauderte. Den Nördlichen Hof zu vereinen, würde kein leichtes Unterfangen werden.
Mit einem wütenden Menschenmob konnten sie umgehen, aber die wahre Bedrohung lag weiter im Norden. Wenn Renwicks Onkel das Hexenglas besaß, würde es eine Lawine der Gewalt entfesseln … und Ruas Weg führte direkt in das Auge dieses Sturms.
KAPITEL 3
Rua entschied, dass sie Schlitten Kutschen vorzog. Sie bewegten sich geschmeidiger und schaukelten nicht auf unebenem Terrain. Sie spähte aus dem Fenster und wischte das Kondenswasser weg, das sich auf dem Glas gebildet hatte. Die meiste Zeit sah sie nur Weiß. Ab und zu stachen ein paar immergrüne Bäume von den toten Wäldern in der Ferne heraus. Als sie die zerklüfteten Ausläufer umfuhren, beobachtete sie, wie sich die Karawane an engen Pässen aufreihte. Mindestens dreißig Schlitten warteten in der Schlange, beladen mit Vorräten, Dienern und Wachen, die sie zu den Eisseen von Murreneir bringen sollten.
Ob es stimmte, dass das Eis dort so dick war, dass ihre ganze Karawane darauf lagern konnte? Die Wälder des Hohen Gebirges waren im Winter mit Schnee bedeckt, aber das war nichts im Vergleich zu hier. An manchen Stellen schnitten die Wege durch turmhohe Wände aus Eis. Im Hohen Gebirge lag der Schnee selten höher als bis zum Knie. Doch selbst dann waren Rua und die Hexen in den langen Wintern drinnen geblieben und hatten sich an ihren Feuern gewärmt.
Das Lager der roten Hexen war sehr einfach gehalten gewesen. Sie hatten ihre Hütten im Tal des Eulotrogus-Berges versteckt, einen halben Tagesritt westlich des Tempels von Yexshir. Man hatte die Unterkünfte so angelegt, dass die Rauchschwaden von Plünderern und umherstreifenden nordländischen Soldaten nicht gesehen werden konnten. Niemand wollte den Eulotrogus besteigen oder seinen zerfallenen Gipfel besichtigen.
Rua hatte in ihrer Kindheit sehr oft die Geschichte gehört, wie Baba Morganna den Berg über den Nördlichen Armeen zum Einsturz gebracht hatte. Sie hatte die roten Hexen gerettet. Die Lage ihres Camps gemahnte sie alle an das, was sie verloren hatten. Der morgendliche Blick auf den zerstörten Gipfel veranlasste Rua, still zu sein und dankbar dafür, dass sie noch lebte. Jedes Mal, wenn sie auf die Silhouette blickte, spürte sie die Bitterkeit der Hexen ihr gegenüber, als wäre es ihre Familie gewesen, die den Hexenzirkel abgeschlachtet hatte.
Als der Schlitten abrupt anhielt, hielt sich Rua an der Kante ihres Sitzes fest. Waren sie schon angekommen? Sie hörte einen Schrei. Im Bruchteil einer Sekunde war Bri auf den Beinen, den Dolch in der Hand, den sie unter ihrem Kopfkissen versteckt hatte. Sie öffnete die Tür und spähte hinaus. Rua sah das Aufblitzen des Entsetzens in ihren goldenen Augen, bevor es wieder verschwand.
Bri duckte sich zurück in den Schlitten und sah Rua an. »Wenn ich dich bitte, hier zu warten, würdest du das tun?«
»Nein«, antwortete Rua und legte die Hand an das Schwert, das sie an ihrer Hüfte trug.
»Das habe ich mir gedacht«, murrte Bri. »Wappne dich für das, was du gleich sehen wirst.«
Rua biss sich auf die Lippe. Was immer das auch bedeuten mochte, es war nicht gut. Sie strich mit den Fingern über den Rubingriff der Unsterblichen Klinge, die Waffe war bereit und wartete darauf, gezückt zu werden.
Rua kletterte aus dem Schlitten und landete im tiefen Schnee. Der Unterboden der Kutsche war bündig mit der puderweißen Strecke.
Eine Ansammlung von Soldaten wartete an der Baumgrenze. Als Rua näher kam, sah sie, was Bri aufgeschreckt hatte: fünf nackte Leichen, die an Bäume genagelt waren.
Leere Augenhöhlen glotzten blicklos aus verstümmelten Leibern, die übersät waren mit pockigen roten Brandwunden. In den Schnee vor ihnen war mit Blut das Wort »VERRÄTER« geschrieben.
Rua schnappte laut nach Luft und sah, dass einer der Männer herumfuhr und sie anstarrte – Renwick. Sie biss die Zähne zusammen und machte sich darauf gefasst, er würde sie zurück in die Kutsche beordern, aber das tat er nicht.
»Wer sind diese Leute?«, flüsterte sie.
»Sie gehörten zu dem Konvoi von Bediensteten, der nach Norden fuhr, um das Lager vorzubereiten.« Renwick schaute zu Thador. »Hol Aneryn«, befahl er.
Thador nickte grimmig und ging auf die Schlitten zu.
»Das ist das Werk Eures Onkels«, hörte Rua eine Stimme aus den Tiefen eines Umhangs sagen. An deren Klang erkannte sie den älteren Ratsherrn Berecraft.
»So scheint es.« Renwick starrte auf den blutverschmierten Schnee.
Das Blut hatte sich bereits braun gefärbt. Es war seltsam tröstlich, dass es nicht frisch war, die Leichen an den Bäumen schon blau und festgefroren.
»Glaubt Ihr, er wird wieder zuschlagen?«, fragte Bri, die Hand nahe ihrem Dolch.
»Das ist nur eine Frage der Zeit«, sagte Berecraft. »Er mag verrückt sein, aber er ist kein Narr. Er würde diese Karawane nicht angreifen. Hier sind zu viele Soldaten.«
»Es sei denn, er hat selbst eine Armee aufgestellt«, erwiderte Renwick und sah den Mann an.
»Und deshalb gehen wir nach Norden«, bestätigte Berecraft. »Wir müssen ihn von den nördlichen Regionen abschneiden, ihn von der blauen Hexenfestung trennen. Wir dürfen nicht zulassen, dass er noch mehr Unterstützung bekommt.«
Thador kam mit einer Person in einem indigoblauen Umhang zurück. Sie war nur geringfügig kleiner als Rua, aber im Vergleich zu Thador zierlich. Sie zog ihre Kapuze zurück und strich sich ihr schwarzes Haar hinter die runden obsidianfarbenen Ohren, während sie die beiden unter schweren Lidern anstarrte. Sie sah jung aus, ein Teenager, vielleicht sogar jünger als Rua.
»Wer hat das getan, Aneryn?«, fragte Renwick das Mädchen, dessen dunkle Augen in einem unheimlichen Saphirfarbton funkelten. Leuchtend blaue Flammen leckten von ihren Fingerspitzen empor. Sie blinzelte, und ihr Glühen verschwand.
»Ihr wisst es schon«, antwortete Aneryn.
Ruas Augen wurden groß. Aneryn sah nicht wie die blauen Hexen aus, die sie in der Nacht von Hennen Vostemurs Tod in der großen Halle erlebt hatte. Verbrennungen und Narben hatten die ältere blaue Hexe entstellt. Sie hatte keine Haare und die Augen hatte man ihr zugenäht. Das Mädchen, das jetzt vor Rua stand, schien hingegen vollkommen unversehrt zu sein.
»Hat er sie wirklich freigelassen?« Renwicks Stimme war ein gequältes Flüstern.
»Die Vergessenen streifen umher, Eure Majestät, aber sie sind nicht frei«, sagte Aneryn. »Das Hexenglas ist benutzt worden.«
»Scheiße«, fluchte Thador. »Woher wusste Balorn, wie man es benutzt?«
»Wer sind die Vergessenen?«, fragte Rua und lenkte alle Blicke auf sich.
»Wir können das in Brufdoran besprechen. Es dauert nur noch zwei Stunden, bis wir ankommen«, gab Renwick zurück.
»Wir sollten uns hier nicht länger aufhalten«, stimmte Bri zu, während sie wachsam die Bäume musterte. »Für den Fall, dass jemand zurückgeblieben ist, um uns zu beobachten.«
»Du fährst mit Bri«, befahl Rua Thador mit einem vernichtenden Blick, bevor sie sich an Renwick wandte. »Wir werden das jetzt besprechen.«
»Wie Ihr wünscht, Eure Hoheit«, sagte Renwick mit einem Grinsen und deutete auf seinen Schlitten.
Bri wollte etwas einwenden, aber Rua warf der Adlerin nur einen strengen Blick zu, und ihre Wächterin gab klein bei.
»Versuch, ihn nicht zu töten«, sagte die Adlerin stattdessen.
Zwei Stunden allein in einer Kutsche mit Renwick Vostemur waren sicher unangenehm, aber sie brauchte Antworten und weigerte sich, darauf zu warten.
Rua rückte die Unsterbliche Klinge zurecht, als der Schlitten wieder anfuhr. Sie positionierte die Klinge so auf dem Sitz, dass das Gewicht von ihrem Gürtel genommen wurde. Sie würde das Schwert ganz gewiss nicht abnehmen, solange sie dem König des Nordens gegenübersaß.
Renwicks Augen ruhten auf der Schwertscheide.
»Fangt an zu reden«, verlangte Rua und verschränkte die Arme vor der Brust.
Renwick verzog amüsiert den Mund. »Für jemanden, der in den Wäldern aufgewachsen ist, fällt es Euch ziemlich leicht, Befehle zu erteilen.«
»Wer sind die Vergessenen?«, fragte sie und ignorierte seine Bemerkung geflissentlich. Es gab wichtigere Dinge zu klären.
Renwick holte tief Luft und starrte aus dem beschlagenen Fenster, als könnte er noch immer die an die Bäume genagelten Leichen sehen. Rua war sich sicher, dass sie diesen Anblick nie vergessen würde. Er würde auf die wachsende Liste jener Dinge gesetzt werden, die sie in ihren Träumen verfolgten.
»Ihr habt sicher schon gehört, was mein Vater mit den blauen Hexen veranstaltet hat«, sagte Renwick.
Rua dachte an die Hohepriesterin mit den zugenähten Augen und dem von Verbrennungen übersäten Körper. »Er hat sie gefoltert.«
»Emotionen verstärken die Hexenmagie«, erklärte Renwick. »Und nichts ist stärker als die Angst vor Schmerzen.«
»Er hat ihnen ihre Visionen ausgebrannt«, flüsterte Rua.
»Unter anderem, ja.« Renwicks kalter grüner Blick verweilte auf ihrem Gesicht. »Die blaue Hexenfestung jenseits der Eisseen von Murreneir ist der Ort, an dem die meisten dieser Taten stattfanden. Mein Onkel Balorn war derjenige, der sie gebrochen hat. Es hat ihm großen Spaß bereitet.«
Rua rutschte unbehaglich auf ihrem weichen Polster hin und her. »Und die Vergessenen?«
»Balorn hat einige der Hexen zu gut gebrochen«, erklärte Renwick. »Sie waren nicht mehr zu gebrauchen, nur noch eine Hülle der Seelen, die sie einst gewesen waren. So wurden sie in den Eingeweiden der Hexenfestung weggesperrt.« Sein Blick huschte zu seinen Händen. »Es wäre gerechter gewesen, sie von ihrem Leid zu erlösen.«
»Warum hat er das nicht getan?« In Ruas Stimme schwang Betroffenheit mit angesichts dieser Bosheit. Die Hexen vor Schmerz in den Wahnsinn zu treiben und sie dann in ihrem Elend gefangen zu halten, war bösartiger, als sie es sich vorstellen konnte.
»Vielleicht hat er noch einen gewissen Wert in ihnen gesehen oder er wollte sie als Andenken behalten. Vielleicht wusste er, dass er sie eines Tages auf die Welt loslassen würde.« Renwicks Miene blieb so ruhig, als er Rua ansah, dass sie sich fragte, ob er überhaupt noch atmete. Etwas quälte dieses Gesicht, aber sie wusste nicht, was. »Vielleicht wollte er sich aber auch nur an ihrem Schmerz ergötzen.«
Renwick rieb sich über die Stirn und zog eine Grimasse. Nur für den Bruchteil einer Sekunde war sie da und sofort wieder verschwunden.
»Was ist los?« Rua schaute auf seine Hand, mit der er sich die Schläfe massierte und sie bei ihrer Frage rasch wieder senkte.
»Nichts. Es sind nur Kopfschmerzen«, knurrte er.
»Warum ruft Ihr keine braune Hexe?«, fragte sich Rua.
Es war ungewöhnlich, dass Fae Kopfschmerzen hatten. Ihre schnell einsetzenden Heilkräfte verhinderten viele der Beschwerden, die Hexen und Menschen befielen. Die meisten Adligen zogen mit einem Team von Hexen umher: blau für seherische Fähigkeiten, rot, um Gegenstände mit Magie zu beleben, grün für Kochkünste und braun für die Heilmittel. Die violetten Hexen schufen magische Düfte, Pülverchen und Räucherstäbchen, doch sie waren alle schon lange ausgestorben.
Ganz gewiss hatte Renwick eine braune Hexe in seinem Gefolge.
Er knirschte mit den Zähnen. »Mir geht es gut.«
Aber er sah nicht gut aus. Als sie genauer hinschaute, bemerkte sie das leichte Violett, das sich halbmondförmig unter seinen Augen abzeichnete. Seine ohnehin schon blasse Haut wies einen zarten Grünstich auf, und die Augen waren blutunterlaufen. Er verbarg es gut, dennoch sah Renwick aus, als hätte er seit Wochen nicht mehr geschlafen.
Rua zuckte mit den Schultern. Seine Gesundheit war nicht ihr Problem.
»Balorn hat also die Vergessenen aus der Hexenfestung herausgelassen.« Rua verschränkte die Arme vor der Brust. »Und sie Eure Soldaten zerfleischen lassen. Warum haben sie sich nicht gegen ihn zur Wehr gesetzt?«
»Das Hexenglas«, antwortete Renwick. »Das ist die einzige Möglichkeit. Er hat es benutzt, um sie zu verfluchen, und damit hat er sich eine eigene Armee geschaffen.«
»Warum hat sein Zauber bei Aneryn nicht gewirkt?«
Renwick wollte sich erneut die Schläfe reiben, hielt aber auf halbem Weg inne. »Nur geschwächte Geister können einem solchen Zauber unterliegen. Die Vergessenen waren gebrochen, perfekt für Balorn, um sie mit einem Fluch zu kontrollieren … ideale Marionetten, um seine Feinde zu bezwingen.«
»Und Ihr seid sein Feind?« Rua musterte Renwick mit zusammengekniffenen Augen.
»Das bin ich jetzt.« Der König des Nordens legte den Kopf schräg, der schlichte Reif auf seinem Kopf glitzerte im schummrigen Licht. »Ob Ihr es glaubt oder nicht, ich will ein guter Herrscher sein. Ich will nicht, dass mein Volk noch mehr leidet, als es das ohnehin schon tut, und Balorn bedroht diesen zerbrechlichen Frieden mit jedem Atemzug.«
Sie betrachtete ihn einen Moment lang, während der Schlitten sanft schwankte. »Was habt Ihr mit diesen Vergessenen vor?«
»Ich werde ihnen die Gunst erweisen, die mein Vater und mein Onkel ihnen verweigert haben«, erklärte Renwick. »Ich werde sie befreien – ob durch das Brechen des Fluchs oder durch den Tod, weiß ich noch nicht. Unser Ziel muss es sein, das Grimoire und das Hexenglas zu finden. Wenn wir den Fluch umkehren können, wird Balorns Armee in sich zusammenfallen und ihn mit sich reißen. Den Fluch zu brechen ist jetzt unsere Priorität.«
»Wie wollt Ihr denn den blauen Hexenzirkel wieder auf Eure Seite ziehen?«
»Vielleicht ist das etwas, bei dem Ihr uns helfen könnt. Immerhin wurdet Ihr von Hexen aufgezogen.« Renwick grinste.
»Ich werde ihnen bestimmt nicht raten, Euch zu vertrauen.« Rua schüttelte den Kopf. »Ihr könnt versuchen, es Euch zu verdienen, insofern Ihr der Aufgabe gewachsen seid.«
»Dann werde ich mich bemühen, das zu tun.« Sie spürte, wie seine Stimme über ihre Haut strich. Renwick lehnte sich an seinen gepolsterten Sitz zurück und streckte die Beine aus, seine feinen Lederschuhe ruhten auf dem Sitz neben Rua. Sie nahm deutlich wahr, wie nah seine Waden ihren Knien waren. »Ich hoffe, Aneryn wird auch helfen, dieses Vertrauen aufzubauen.«
Rua dachte an die schöne junge Hexe. »Warum ist Aneryn unversehrt? Sie sieht nicht so aus wie die anderen blauen Hexen.«
»Weil sie mir gehört«, gab Renwick zurück und rieb sich wieder gedankenverloren die Schläfen. »Meine persönliche Prophetin. Ich habe sie vor vielen Jahren erhalten, nachdem meine letzte blaue Hexe ein vorzeitiges Ende fand.«
Rua schürzte die Lippen. »Und Ihr foltert Eure Hexen nicht?«
»Nein.« Renwicks Miene war starr, und die Muskeln in seinem Nacken spannten sich an. So, wie er das sagte, warf das in Rua die Frage auf, wie viel er für Aneryn empfand.
»Ist sie Eure Geliebte?« Rua ertappte sich dabei, wie sie diese Frage stellte, bevor sie sie hatte zurückhalten können.
»Ist sie nicht.« Renwick stieß ein Lachen aus.
»Tut nicht so, als wäre das ein lächerlicher Gedanke. Viele Hexen erfüllen diese Rolle für die Fae, denen sie dienen.« Ruas Stimme triefte vor Verachtung.
»Ich nehme an, dass Ihr davon nicht viel wisst, weil Ihr bei einem Haufen alter Weiber aufgewachsen seid«, erwiderte Renwick und sah sie mit hochgezogener Augenbraue an.
Jetzt war es an Rua, zu lachen. »Oh bitte, ich bin kein naives Landei. Es gibt auch männliche Hexen, wisst Ihr?«
»Ihr hattet also Gefährten?« In Renwicks Wangen bildeten sich Grübchen, während Ruas Gesicht heiß wurde.
»Ich wüsste nicht, was Euch das angeht, aber ja, einige«, knurrte sie.
»Aber keine besonders guten, wie es scheint.« Renwick lachte angesichts ihres grimmigen Gesichts, ein herzhaftes, tiefes Lachen, das ihr den Magen zusammenzog, selbst als sie die Zähne fletschte. »Ihr hattet noch nie das Vergnügen mit einem Fae.«
»Und ich will auch keines«, zischte sie.
Die Grübchen tauchten wieder auf, zusammen mit einem Aufflackern von Heiterkeit. »Lügnerin.«
»Ihr verdammten Fae seid unausstehlich.« Ruas Hand wanderte zurück zur Unsterblichen Klinge und sie wusste genau, wo der Griff war, ohne hinzusehen.
Renwicks aufmerksamer Blick folgte der Bewegung. »Ihr seid auch eine Fae, Rua.«
Sie hasste es, wie er ihren Namen sagte – so als würde er sie kennen. Sie rutschte auf ihrem Sitz nach hinten und schaute aus dem Fenster, als würde das eine Distanz zwischen ihnen schaffen. Nach einem Atemzug streifte sie ihn mit einem kurzen Blick und stellte fest, dass die smaragdgrünen Augen sie immer noch beobachteten.
»Ihr seid ein Monster«, höhnte sie, weil sie dachte, ihre Worte könnten ihn verletzen, aber Renwicks Gesicht verzog sich nur zu einem boshaften Grinsen.
»Dann sind wir beide uns in unserer Verdorbenheit ebenbürtig, Prinzessin.«
KAPITEL 4
Kerzen flackerten auf den vereisten Fensterbänken, als sie durch die ruhigen Straßen von Brufdoran fuhren. Das hübsche Städtchen bestand aus Blockhäusern, von deren steilen Dächern Eiszapfen herabhingen, und in roten Türrahmen hingen silberne Glöckchen. In der Mitte der Stadt ragte eine riesige Kiefer in die Höhe, die mit glitzernden Silberbändern und rubinroten Perlen geschmückt war. Das mochte so gar nicht zu den Ruinen von Drunehan und den Gräueln passen, die sie auf der Straße erlebt hatten.
Ruas Atem beschlug das Fenster, als sie den Hals reckte, um zu dem hohen Baum hinaufzustarren, dessen Zweige schwer mit Festtagsschmuck behangen waren. Renwick saß ihr schweigend gegenüber, während sie die Stadt betrachtete. So lebten also die Fae des Nordens? Gebettet unter einer Schicht aus frischem Schnee, mit qualmenden Schornsteinen und dem rauchigen Duft von Holzfeuern in der kalten Luft? Die malerische Fröhlichkeit um sie herum wurde nur noch von der Größe des Schlosses übertroffen, das am Rande der Stadt auf sie wartete.
Die Sterne erwachten in der Dämmerung zum Leben, als die Schlitten auf das Gelände von Schloss Brufdoran fuhren. Die Dunkelheit eroberte das Land immer früher, je näher sie der Wintersonnenwende kamen. Vor dem von Eis überzogenen Fenster erhoben sich eine hohe schwarze Steinmauer und dahinter ein hoch aufragendes Schloss, dessen Hauptgebäude von zwei schlanken Türmen eingerahmt wurde.
Als sie angehalten hatten, entfernte sich Rua so schnell wie möglich von Renwick und eilte mit Bri hinter einem menschlichen Diener her zu ihren Zimmern. Dort starrte sie einige Augenblicke lang gedankenverloren ins Feuer, ehe Bri sie zum Abendessen rief. Sie spritzte sich Wasser ins Gesicht, um sich frisch zu machen, das musste genügen.
Der Lord von Brufdoran saß an einem Ende des langen Tisches, Renwick ihm gegenüber. Rua fand sich genau zwischen den beiden schweigsamen Männern wieder. Lord Omerin war ein stämmiger, alternder Mann mit ergrautem blondem Haar und einem dichten Bart. Sein Blick war fest auf den Teller mit geräuchertem Fisch und eingelegtem Gemüse geheftet, der vor ihm stand.
Bri und Thador standen neben dem Kamin, in dem laut das Feuer knisterte, und bewachten die hintere Tür, als könnte jeden Moment eine feindliche Armee in den Speisesaal einfallen. Rua schaute zu Bri und fragte sich, wann sie das Abendessen bekommen würde. Die Adlerin schien zu wichtig, um wie eine Dienerin an der Wand zu stehen. Rua wollte ihre Wächterin an den Tisch einladen, unterließ es aber. Stattdessen verzehrte sie rasch ihr Mahl, in der Hoffnung, die Zeit bei Tisch zu verkürzen.
Sie warf einen Blick zwischen Lord Omerins gesenktem Kopf und Renwick hin und her und hob eine Augenbraue, um den König des Nordens aufzufordern, ein Gespräch zu beginnen.
»Ist alles in Ordnung?«, sagte Renwick schließlich.
Er hatte seine Reittunika gegen eine grüne Samtjacke mit gekrempelten Ärmeln getauscht, die silbernes Futter hervorblitzen ließ und perfekt zu seinen grünen Augen und dem silbernen Reif passte, der im Kerzenlicht auf seinem aschblonden Haar glitzerte. Ruas Wangen wurden heiß und sie wünschte sich, sie hätte sich die Zeit genommen, ihre Reisekleidung abzulegen und etwas Passenderes anzuziehen.
Renwick ließ die Gabel klappernd auf seinen Teller sinken. »Ihr seid sehr still, Lord Omerin.«
»Verzeiht mir, Eure Majestät.« Der Lord hob den Kopf, um Renwicks eisigem Blick zu begegnen. »Ich war mir nicht sicher, ob es angemessen ist, Euch mein Beileid zu bekunden …«
Lord Omerin machte durchaus den Eindruck eines rauen, Respekt einflößenden Mannes. Er saß kerzengerade, selbst bei gesenktem Kopf, und bewegte sich wie ein Soldat. Dennoch wirkte er verschüchtert, während er hastig sein Essen verspeiste.
»Es ist ein wenig verzwickt.« Renwick schürzte die Lippen, woraufhin Lord Omerin einen lang angehaltenen Atemzug ausstieß. »Ich bin betrübt, dass es überhaupt notwendig war, aber mein Vater musste aufgehalten werden.«
Omerin ließ erleichtert die Schultern sinken. »Ich stimme Euch zu, Eure Majestät«, sagte er leise, als fürchtete er, Hennen Vostemur könnte von den Toten auferstehen und ihn dafür niederstrecken.
»Mein Vater war ein grausamer Mann, Lord Omerin. Ich kann es Euch nicht verdenken, wenn Ihr befürchtet, dass ich genauso sein könnte.« Renwick saß reglos da, während er sprach. Dieses bedächtige Verhalten verriet Rua genug: Er fürchtete, ebenfalls diese Art von König zu werden.
»Euer Vater war … es war zuweilen eine Herausforderung, ihn in diesen Hallen zu bewirten«, erwiderte Lord Omerin zögernd. »Aber es ist Euer Onkel Balorn, den ich zutiefst fürchte.«
»Ihr habt Balorn getroffen?« Renwicks Hände krampften sich um sein Silberbesteck.
»In der Tat, ich bin mit ihm aufgewachsen. Wir waren beide junge Höflinge, als Eure Großeltern regierten. Der frühere König nahm Prinz Balorn überall mit hin«, führte Lord Omerin aus. »Alle hatten Angst vor Balorn, schon als er noch ein Junge war. Wir konnten nie vorhersagen, was er anstellen würde. Jeder Besuch von ihm in diesen Hallen endete mit einem Begräbnis.«
Rua schnappte nach Luft.
»Hauptsächlich traf es Diener und Wachen, Hoheit«, fügte Omerin an, als sollte es Rua trösten, dass nicht die wichtigen Fae umgebracht worden waren.
»Aber in ihm schlummert ganz sicher eine Krankheit.«
Ruas Stirnrunzeln vertiefte sich. »Eine häufige Krankheit unter Männern, die in dem Glauben erzogen wurden, dass die Welt ihnen etwas schuldig ist.«
Renwicks Kiefer spannte sich an, und er ballte die Fäuste, während sein Blick von Rua zu Omerin flackerte. »Und mein Vater hat nichts getan, um Balorn aufzuhalten?«
