Aarauer Nächte - Ina Haller - E-Book

Aarauer Nächte E-Book

Ina Haller

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Beschreibung

Physiotherapeutin Anja wird misstrauisch, als ein Patient unter merkwürdigen Umständen stirbt. Und tatsächlich scheint er vergiftet worden zu sein. Doch auch andere Dinge geben ihr Rätsel auf: Ihr Chef scheint seine Frau mit einer von Anjas Kolleginnen zu betrügen – bis diese Kollegin dann bei Wanderung tödlich verunglückt.  Anja beginnt, Nachforschungen anzustellen. Dabei stößt sie auf diverse Liebesaffären und geheimnisvolle Machenschaften. Anja gerät unter Tatverdacht der ermittelnden Polizei, in den Fokus des wahren Täters und in Lebensgefahr ...

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Seitenzahl: 218

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Ina Haller

Aarauer Nächte

Kriminalroman

Dörlemann

Inhalt

Widmung

Prolog

1.

2.

3.

4.

5.

6.

7.

8.

9.

10.

11.

Rezepte

Anjas Aargauer Kirschen-Grieß-Auflauf

Cédrics Chriesiprägel

Glossar

Über Ina Haller

 

 

Für Becca und Anna – härzleche Dank för die tolle Inspiratione

Prolog

Ich starre auf den Gegenstand in meiner Hand und drehe ihn hin und her. Stümperhaft ist das Einzige, das mir dazu einfällt. Mit dem Finger fahre ich darüber. Die Erhebung ist deutlich durch die Plastikhandschuhe zu spüren. Es wird sofort auffallen, bin ich überzeugt. Oder liegt es daran, weil ich weiß, es manipuliert zu haben, und mir der Gefahr bewusst bin, die davon ausgeht?

Jemand, der keine Ahnung hat, wird es nicht bemerken.

Ich sollte endlich verschwinden, ich bin schon viel zu lange hier. Jede Sekunde, die ich verstreichen lasse, wird zum Risiko.

Ich lege es zu den anderen und schiebe die Schachtel zurück an den Ort, an dem sie gestanden hat.

Mit dem Ärmel meines langarmigen Shirts wische ich über die Augen und den Teil meines Gesichtes, der unter der Sturmhaube hervorschaut. Meine Kleidung ist unpassend für diese Hitze, die momentan herrscht. Eine neue Tropennacht in der Schweiz. Wie seit zwei Wochen werden die Temperaturen auch heute nicht unter zwanzig Grad in der Nacht fallen.

Meine Hände in den Plastikhandschuhen sind schweißnass, und das Plastik klebt unangenehm auf der Haut. Aber es geht nicht anders. Kein noch so kleiner Partikel darf von mir in dem Haus zurückbleiben.

Ich packe alles zusammen und verstaue es im Rucksack. Es knackt. Erschrocken schaue ich mich um und lausche angespannt. Es knackt ein weiteres Mal. Dieses Mal direkt über mir. Dort ist nur ein Balken. Alte Häuser wie dieses arbeiten ununterbrochen. Das sollte ich aus meiner Kindheit kennen. Ein neues Geräusch kommt hinzu. Da sind Schritte im Raum über mir.

Jemand ist aufgestanden. Deutlich höre ich die Tritte und das Knarren einer Tür. Ich starre zur Wohnzimmertür. So etwas hatte ich befürchtet. Ich verfluche mich. Hätte ich nur auf die Warnungen meiner inneren Stimme gehört und mein Vorhaben vertagt. Bei diesen Temperaturen schläft niemand tief und fest.

Das Rauschen einer WC-Spülung, dem ein neues Quietschen einer Tür folgt. Schritte, aber auf halbem Weg bleibt er oder sie oben stehen.

Geh zurück ins Bett.

Das tut die Person nicht. Ich stelle mir vor, wie sie oben an der Treppe steht, an der ich vorhin vorbeigekommen bin. Wie sie nach unten auf den erhellten Bereich schaut, auf den durch die Haustür das Licht der Straßenlaterne fällt. Vermutlich lauscht sie genauso angestrengt wie ich.

Schritte, die lauter werden. Schritte, die die Treppe herunterkommen. Die Zeit reicht nicht, um durch die Terrassentür nach draußen zu gelangen. Ich fluche innerlich und husche hinter die Wohnzimmertür. Auf die Schnelle fällt mir nichts Besseres ein.

»Scheißhitze.«

Es ist der Mann. Mir wäre die Frau lieber. Sie könnte ich leichter überwältigen, falls es notwendig werden sollte. Er dagegen ist durchtrainiert. Ich mache zwar Sport, aber ob ich gegen ihn eine Chance habe, bezweifle ich.

Das Überraschungsmoment ist auf deiner Seite, versuche ich mich zu beruhigen und bringe mich in Stellung.

Er läuft am Wohnzimmer vorbei, und ich entspanne mich, bleibe aber angriffsbereit.

Eine Schranktür wird geöffnet, und Wasser plätschert. Er muss in der Küche sein.

Das Klacken eines Glases, das auf den Stein der Küchenanrichte abgestellt wird.

Schlurfende Schritte und ein unterdrücktes Rülpsen. Danach herrscht Stille. Er muss vor dem Wohnzimmer stehen geblieben sein.

Sekunden verstreichen.

Geh endlich nach oben und leg dich wieder schlafen!

Ich bin nicht unbewaffnet, fällt mir ein. Ich taste meine Hosentasche ab und finde das Sackmesser. Damit habe ich eine Chance, da er nicht darauf vorbereitet ist. Es wäre unschön, da mein Plan anders aussieht. Er soll auf andere Weise büßen – für das, was er getan oder eben nicht getan hat.

Er setzt sich in Bewegung, und die Schritte entfernen sich.

Das Knarren der Treppenstufen folgt. Endlich.

Ich atme auf, bleibe aber lieber erst einmal, wo ich bin. Angespannt lausche ich. Nichts ist mehr zu hören.

Ich sollte endlich verschwinden. Meine Sohlen verursachen so gut wie kein Geräusch auf dem Plattenboden, als ich zur Terrassentür husche. Der Griff quietscht, als ich sie vorsichtig öffne. Schnell schlüpfe ich nach draußen. Mit einem Klicken ziehe ich die Tür zu. Draußen ist es nicht kühler als im Haus, im Gegenteil – es kommt mir vor, als ob ich gegen eine feuchte Wand laufe. Entfernt höre ich das Läuten einer Kirchenglocke. Ich zähle mit. Zwölf Schläge. Mitternacht.

Donnergrollen kündigt ein Gewitter an, und Wolken schieben sich vor den fast vollen Mond. Ich warte, bis er ganz verdeckt ist, bevor ich geduckt über die Terrasse und über die Wiese dahinter laufe.

Ich atme auf, als ich den Wald erreiche, tauche in die Dunkelheit ein und verschmelze mit ihr.

1.

»Vielen Dank«, sagte Frank Forster und reichte Anja die Hand. Er räusperte sich. »Meine Frau hatte recht, als sie gesagt hatte, ich solle zu Ihnen in die Physiotherapie gehen. Sie haben Wunder vollbracht, und ich kann mich fast wieder normal bewegen, was ich nach diesem heftigen Hexenschuss von letzter Woche nicht geglaubt habe.«

»Das ist nicht nur mein Verdienst.«

»Den Start meines Rentnerdaseins habe ich mir definitiv anders vorgestellt.«

»Es ist wichtig, die Übungen weiterzumachen, wenn die Beschwerden verschwunden sind. So, wie Sie es bis anhin getan haben.«

»Das ist mir bewusst. Auf jeden Fall machen Sie und das übrige Team von dieser Arzt- und Physio-Gemeinschaftspraxis einen guten Job.«

Frank Forster war nicht der Einzige, der das sagte.

Eric Bieri und seine Frau Julia hatten sich vor zehn Jahren selbstständig gemacht. In der Praxis arbeiteten fünf Ärzte und fünf Physiotherapeuten.

»Die Kombination aus Hausarzt- und Physio-Praxis hat sich bewährt«, hatte Julia erklärt, als sie Anja vor drei Jahren eingestellt hatte.

Günstig erwies sich die zentrale Lage in der Bachstraße. Es war nicht weit bis in die Aarauer Innenstadt und dem Bahnhof. Die Praxis konnte gut mit den öffentlichen Verkehrsmitteln erreicht werden.

Frank Forster räusperte sich abermals, und Anja fiel das leicht gerötete Gesicht auf. »Möchten Sie etwas trinken?«

»Nein, danke, es geht. Es ist nur heiß hier drin.«

Womit er recht hatte. Obwohl das Lüftungssystem auf Hochtouren lief, war es heiß und stickig, und Anja war nass geschwitzt. Leider war es nur ein Lüftungssystem und keine Klimaanlage. Der Ventilator, den sie auf ein halbhohes Regal gestellt hatte, brachte keine wirkliche Erleichterung.

»Das ist eben Sommer«, sagte Frank Forster.

»Nächste Woche wieder wie heute am Mittwoch?«, fragte Anja und reichte ihm das Terminkärtchen.

»Für mich passt das gut, aber ich dachte, Sie hätten Ferien?«

»Nein, erst übernächste Woche und leider nur kurz. Ich hänge zwei Tage an das Maienzugwochenende an.«

In einer Woche ist schon Juli, dachte Anja. Das erste halbe Jahr war für sie wie im Fluge vergangen. Gefühlt hatten sie erst gestern Silvester gefeiert.

Anja freute sich auf nächste Woche, wenn der Maienzug stattfand, das traditionelle Kinder- und Jugendfest, das das Ende des Schuljahres und den Start in die Sommerferien einläutete. Immer am ersten Freitag im Juli gab es einen Umzug durch die Stadt.

»Fahren Sie weg?«, fragte Frank Forster.

»Nein, wir bleiben in Aarau. Mein Vater hat Geburtstag, und meine Schwester kommt aus Deutschland zu Besuch.«

»Stimmt, das hatten Sie letzte Woche erwähnt. Sie wohnt in Norddeutschland.«

»Genau.« Anja begleitete Frank Forster zur Rezeption der Praxis. Als sie den Empfangstresen erreicht hatten, stützte er sich darauf ab und wischte mit der Hand über die Stirn, auf der sich Schweißtropfen gesammelt hatten.

»Ist alles in Ordnung?«, fragte Anja besorgt. Er war im Gesicht immer röter geworden. »Soll ich einen unserer Ärzte holen?«

»Nein, es ist nur die Hitze. Meine Frau holt mich ab. Wenn ich im klimatisierten Auto sitze, wird es gleich besser.«

Frank Forster verließ die Praxis durch die Glastür und ging zum Lift. Sein Gang war unsicher. Als Anja ihn fragen wollte, ob sie ihn nach unten begleiten sollte, öffneten sich die Lifttüren. Frank Forster hob grüßend die Hand, bevor sich die Türen schlossen.

»Was ist?«, fragte Ricarda Gallo, die sich zu Anja gesellte.

»Irgendwas ist mit Herrn Forster nicht in Ordnung.«

»Wieso?« Die Tessinerin verstärkte seit Anfang Juni das Praxisassistentinnen-Team. Das hieß, im Moment war sie die Einzige, da die beiden Kolleginnen Ferien hatten.

»Kannst du bitte einen Termin für Frau Baumann ausmachen.« Ralf Mettler, der zum Ärzteteam gehörte, trat mit einer gedrungenen Frau zu ihnen, und Ricarda umrundete den Empfangstresen.

»Ist alles gut, Anja?«, fragte er. »Du siehst besorgt aus.«

»Nein, alles ist gut.« Anja wandte sich ab und nahm eine Praline aus der Schale, die auf dem Empfangstresen stand. Julia hatte sie am Morgen hingestellt. Zum zehnjährigen Praxisjubiläum hatten sie Pralinen gekauft, die sie als kleines Dankeschön zusammen mit einer Körperlotion an die Patienten verteilten. Aber auch die Mitarbeiter sollten in den Genuss kommen, hatte sie erklärt.

»Exquisit«, hatte Anjas Physiokollege Damian geschwärmt. »Die mit Nougat und Marzipan sind einzigartig, doch die mit der Füllung aus Kaffee mit einer Nuance Kirschschnaps stellen alles in den Schatten.«

Als Anja sich auf den Weg zu ihrem Behandlungsraum machte, hörte sie Gelächter aus Paulinas Behandlungsraum. Hatte sie heute Physiopatienten? Anja meinte sich zu erinnern, dass sie einen Tag freigenommen hatte. Die Tür öffnete sich, und Paulina kam gefolgt von Eric Bieri aus dem Raum. Eric runzelte die Stirn, als er Anja erblickte. Gleich darauf glätteten sich die Falten, und er setzte ein Lächeln auf.

»Also machen wir das so?«, fragte er Paulina.

»Ja, klar. Bis morgen.« Ihr Gesicht färbte sich rot.

»Hast du nichts zu tun?«

Anja zuckte bei dem harschen Tonfall zusammen. So kannte sie Eric nicht. Eben schien er beste Laune zu sein, und keine Sekunde später fuhr er sie an.

»Ich habe erst in einer halben Stunde die nächste Patientin.«

Verwirrt schaute sie dem hageren Mann, der ruhig drei oder vier Kilo mehr auf den Rippen vertragen konnte, nach. Die Hitze macht alle gereizt, dachte sie.

Sie ging zurück in ihr Behandlungszimmer und legte die Praline neben die Tastatur. Wenn sie es sich recht überlegte, hatte sie keine Lust auf Schokolade. Eine Glace wäre ihr lieber. Anja wusch sich die Hände und ließ das kalte Wasser über ihre Handgelenke und Unterarme laufen. Sie sah so aus, wie sie sich fühlte, wenn sie ihr Spiegelbild betrachtete. Müde mit Ringen unter den Augen. Ihre Wangen waren wie die von Frank Forster gerötet, wenn auch nicht so stark, aber genug, um die Sommersprossen voll zur Geltung zu bringen. Eine Strähne ihrer rotblonden Haare hatte sich aus dem Rossschwanz gelöst und klebte an der Wange. Sie strich sie hinter das Ohr und trank einen Schluck aus ihrer Wasserflasche.

Obwohl es nichts bringen würde, kippte sie das Fenster.

Anja nahm das Laken von der Behandlungsliege, faltete es zusammen und legte es in das Fach, das mit Frank Forsters Namen beschriftet war, als draußen jemand schrie.

»Hilfe!«, kreischte eine Frau. »Machen Sie etwas.«

Erschrocken schaute Anja aus dem Fenster. Unten vor dem Eingang hatten sich fünf Leute versammelt. Sie standen um einen Mann, der auf dem Boden lag. Neben ihm kniete eine Frau. Ein blonder Mann ging zögernd in die Hocke, starrte auf den am Boden Liegenden und wusste eindeutig nicht, was er tun sollte.

Anja löste sich aus ihrer Erstarrung. Sie rannte aus dem Zimmer und stieß mit Ralf zusammen.

»Hoppla, was ist in dich gefahren?«

»Draußen vor dem Eingang ist einer zusammengebrochen«, sagte Anja und hastete weiter.

»Ich komme mit.« Ralf eilte ihr hinterher. »Ricarda, verständige die Ambulanz.«

Der Aufzug war nicht da, also rannte Anja gefolgt von Ralf die Treppen nach unten.

Inzwischen waren drei Frauen und ein Mann hinzugekommen.

»Ich bin Arzt.« Ralf schob sich durch die Ansammlung. Anja bemerkte den Mann, der am Boden lag.

»Nein!«, stieß sie hervor, als sie Frank Forster erkannte.

 

Nicht mehr lange, und es war endlich Feierabend. Den gesamten Nachmittag hatte Anja sich so gut wie nicht konzentrieren können. Zwar hatte keiner der Patienten etwas gesagt, aber sie mussten gespürt haben, dass sie nicht bei der Sache war.

Anja sah deutlich vor sich, wie Ralf neben Frank Forster am Boden gekniet und Erste Hilfe geleistet hatte. Forsters Frau hatte danebengestanden, die Faust gegen den Mund gepresst. Tränen waren ihr über die Wangen gelaufen.

»Er ist einfach zusammengesackt, als er einsteigen wollte«, hatte sie die ganze Zeit wiederholt.

Zum Glück war das Kantonsspital keine zwei Fahrminuten entfernt. Trotzdem war es Anja wie eine Ewigkeit vorgekommen, bis die Ambulanz eingetroffen war. Frank Forsters Gesicht war aschgrau gewesen, als die Sanitäter ihn auf der Liege an Anja vorbeigetragen hatten, nachdem sie ihn stabilisiert hatten. Mit Blaulicht waren sie abgefahren.

Ralf hatte Forsters Frau zu seinem Wagen auf dem Ärzteparkplatz geführt und war kurz darauf der Ambulanz zum Kantonsspital Aarau gefolgt.

Als er zurückgekehrt war, war er mit einem »keine Ahnung« Anjas fragendem Blick ausgewichen und in seinem Behandlungszimmer verschwunden. Kurz darauf hatte sie gehört, wie er telefoniert hatte. Worum es ging, hatte sie nicht verstehen können. Sie hatte nur mehrmals Forsters Namen gehört.

»Ich denke, wir können auf einen zweiwöchigen Rhythmus umsteigen, wenn Sie einverstanden sind«, sagte sie zu Barbara Gisler.

»Das passt gut«, erwiderte die Fünfzigjährige, als Anja einen Terminvorschlag machte. »Danach bin ich für zwei Wochen verreist.«

Erleichtert schloss Anja die Tür und stellte sich ans Fenster. Ihre Gedanken schweiften zurück zu Frank Forster. Sie machte sich Vorwürfe. Zwar war sie keine Ärztin, aber das gerötete Gesicht und das offensichtliche Unwohlsein konnten Anzeichen für einen Herzinfarkt gewesen sein. Wenn sie hartnäckiger gewesen wäre, hätte sie es vielleicht verhindern können.

Barbara Gisler verließ das Gebäude, hielt sich rechts und ging zum Veloständer. Sie befestigte die Handtasche auf dem Gepäckträger und fuhr los. Genau über die Stelle, an der Frank Forster gelegen hatte.

Anja wandte sich ab. Sie räumte auf, brachte ihr Glas in die Küche und stellte es in den Geschirrspüler. Sie war die Letzte vom Physio-Team. Auch Ricarda hatte Feierabend gemacht, und das Wartezimmer war leer.

Anja schaute auf den Plan. Richtig, heute war es an ihr, die Praxis abzuschließen. Anja kramte den Schlüssel aus dem kleinen selbst genähten Stoffrucksack, als sie jemanden in Ralfs Zimmer sprechen hörte. Gleich darauf öffnete sich die Tür, und Ralf trat mit dem Handy am Ohr heraus.

»Vielen Dank für die Information«, sagte er. »Es tut mir leid, das zu hören.« Er beendete das Gespräch. »Wieso bist du noch da?« Obwohl das neutral klang, schwang Unwille zwischen den Zeilen mit.

»Ich hatte gerade die letzte Patientin und wollte gehen.« Und wieso bist du noch da?, fragte sie im Stillen. Wenn sie es richtig in Erinnerung hatte, wollte Ralf heute früher gehen, weil er einen Termin hatte.

»Frank Forster ist leider verstorben«, sagte Ralf.

Anjas Kopf brauchte einige Sekunden, bis sie verstanden hatte, was sie gerade gehört hatte. »Er ist gestorben?«

»Seine Tochter hat mich eben angerufen. Kurz nachdem er eingeliefert wurde, hatte er einen Herzstillstand.« Sein Handy klingelte. »Entschuldige, das muss ich abnehmen.«

Mit dem Handy am Ohr eilte er zurück in sein Zimmer. »Ja, ich hatte den gleichen Eindruck«, sagte er, bevor sich die Tür hinter ihm schloss und seine Stimme leiser wurde. »Die Anzeichen waren deutlich, und ich stimme zu, es sollte eine genaue Untersuchung durchgeführt werden.«

Gestorben, dachte Anja, und die Schuldgefühle nahmen zu.

 

»Dich trifft am wenigsten die Schuld«, sagte Cédric und verteilte Teller und Besteck auf dem Tisch. Im Sonnenlicht hatten seine Augen die Farbe von Bernstein, und die braunen Haare wirkten fast schwarz. Er kurbelte die Storen so weit nach vorn, bis die Terrasse im Schatten lag.

Anja stellte die Schüssel mit dem Tomaten-Mozzarella-Salat hin und ließ sich auf den Stuhl fallen.

Im März waren sie und Cédric zusammengezogen. Es war ein spontaner Entschluss gewesen, da ihr Vermieter nach der Renovierung ihrer Wohnung die Miete massiv erhöht hatte. Nach Anjas Meinung war es pure Abzocke.

Bisher bereute Anja diesen Entscheid nicht, sofern man das nach einer so kurzen Zeit des Zusammenwohnens beurteilen konnte. Ein Arbeitskollege von Cédric hatte ihn darauf aufmerksam gemacht, dass eine Doppelhaushälfte zu vermieten sei. Direkt nebenan wohnten die Vermieter. Sie im gleichen Haus zu wissen, klang für Anja nicht besonders verlockend, daher hatte sie zunächst gezögert. Doch diese frisch renovierte Haushälfte war wie für sie gemacht. Zudem hatte es einen Garten, etwas, wovon Anja immer geträumt hatte. Er war zwar nicht groß, aber er war mehr als ausreichend für ihre Bedürfnisse. An der Grenze zum Grundstück der Eigentümer wuchs ein Kirschbaum, der Schatten spendete und unter dem sie einen gemütlichen Sitzplatz eingerichtet hatten. Hinzu kam die Lage am Rand des Zelgli-Quartieres mit Blick auf den Wald.

Die Miete war günstiger als die ihrer ehemaligen Wohnung, und da sie sich diese teilten, konnte sie endlich ein wenig Geld auf die Seite legen.

Ihre Vermieter Ramona und Beat Bachmann mit ihrer sechsjährigen Tochter Alessia waren ihr sofort sympathisch gewesen. Offenbar hatte es auf Gegenseitigkeit beruht.

»Ich hätte es merken müssen, dass mit Herrn Forster etwas nicht stimmt«, sagte Anja. »So hat er sich nie verhalten.«

»Was meinst du damit?« Cédric setzte sich ihr gegenüber.

»Dieses dauernde Räuspern, und er war … fahrig, als er ging.«

»Fahrig?«

»Ich weiß nicht, wie ich es anders erklären soll.«

»Wirkte er auch so, als er kam?«

»Nein.« Anja dachte an den forschen Schritt, mit dem er das Behandlungszimmer betreten hatte.

»Hat er über Beschwerden geklagt, als er bei dir war?«

»Nein. Er war zu Scherzen aufgelegt. Erst zum Schluss hat er sich über die Hitze beschwert.« Auch das passte nicht zu ihm, wurde ihr bewusst.

»Kälte und Nebelwetter sind scheußlich«, hatte er vor einer Woche erklärt. »Für mich muss es richtig heiß sein. Am liebsten über dreißig Grad.«

»Ein Herzinfarkt kann aus heiterem Himmel kommen«, sagte Cédric.

Anja führte sich die Symptome vor Augen. Etwas passte nicht. Bei einem Herzinfarkt war die Haut blass und nicht gerötet.

»Er hatte keinen Herzinfarkt.«

Sie dachte an die Diskussion, die sie in der Praxis geführt hatten, nachdem die Ambulanz abgefahren war. Frank Forster hatte nicht über Enge und Schmerzen in der Brust geklagt. Atemnot hatte er keine gehabt, soweit sie es beurteilen konnte. Hatte er aufgrund der Hitze einen Schwächeanfall erlitten? Weil er im Alter die Hitze nicht mehr vertrug? Davon starb man nicht, oder? Zumal Ralf sich sofort um ihn gekümmert hatte.

»Was macht dich so sicher?« Cédric schöpfte Salat auf seinen Teller und brach ein Stück vom Fladenbrot ab, das er auf dem Heimweg gekauft hatte.

»Herr Forster war kerngesund. Er hat vor drei Wochen einen Gesundheitscheck gemacht. Er wolle ja nicht gleich nach der Pensionierung tot umfallen, hat er gewitzelt. Immerhin hätten seine Frau und er einiges vor und wollten endlich die Welt kennenlernen.«

»Wo hat er diesen Check durchführen lassen? Bei jemandem von eurem Ärzteteam?«

»Er war bei Ralf. Er ist sein Hausarzt und hat die Physioverordnung ausgestellt, nachdem er den Hexenschuss hatte, und ihn intern an das Physioteam überwiesen.«

»Und, hat Ralph dir von dem Ergebnis dieser Untersuchung erzählt?«

»Nein. Herr Forster selbst. Er war stolz auf das Ergebnis. ›Bestimmt werde ich hundert, hat der Herr Doktor gesagt‹, hat er verkündet. Das einzige Problem war sein Rücken.«

»Weshalb er bei dir war.«

»Genau. Ich überlege, was sonst anders an ihm war, aber da gibt es nichts. Bis auf seine gerötete Haut und das starke Schwitzen.«

»Da ist er bei den momentanen Temperaturen nicht der Einzige. Möchtest du noch etwas?«

»Nein.« Anja tunkte mit einem Stück Brot die Sauce vom Teller.

Sie räumten den Tisch ab. »Das erinnert einen daran, nicht allzu lange mit seinen Träumen zu warten«, sagte Cédric, als er den Geschirrspüler zuklappte.

»Das stimmt. Nun ist genau das eingetreten, was er nicht wollte.«

»So, wie du ihn beschreibst, könnte er es überspielt haben, dass es ihm nicht gut ging.«

»Moment, was seltsam war, waren seine Augen.«

»Inwiefern?«, fragte Cédric.

»Die Pupillen waren groß, als er ging. Als hätte er … keine Ahnung.« Wieso kam ihr das erst jetzt in den Sinn? Lag es daran, weil Forster die Brille aufgesetzt hatte und die Augen dahinter größer gewirkt hatten?

»Willst du sagen, er hat etwas eingenommen?«

»Spielst du auf Drogen an? Ein Rentner wie Herr Forster doch nicht.«

»Woher willst du das wissen? Hat er geraucht?«

»Nein.« Anja legte das Brot in den dafür vorgesehenen Steinguttopf und wischte mit einem Lappen die Arbeitsfläche sauber.

»Wollen wir einen Spaziergang machen?«, fragte Cédric, als sie auf die Terrasse zurückkehrten.

»Eigentlich ist es dafür zu heiß, aber vielleicht hilft es, Abstand zu Herrn Forsters Tod zu bekommen.«

»Was hältst du von einem Rundgang zur Echolinde? Dreißig Minuten sind zwar nicht viel, aber besser als nichts.«

Als sie das Haus verließen, fuhr Ramona gerade in die Einfahrt nebenan. Sie öffnete die Wagentür, und ihr Hund Oskar rannte mit flatternden Ohren auf Anja zu und sprang schwanzwedelnd um sie herum.

»Du hast sogar bei der Hitze zu viel Energie.« Anja bückte sich und kraulte den vierjährigen Mischling hinter dem Ohr.

»Dafür gibt es einen einfachen Grund. Ich bin heute noch nicht richtig mit ihm Gassi gegangen.« Als Ramona sich näherte, bemerkte Anja, wie abgekämpft sie aussah.

»Was ist los?«

»Alessia ist krank. Sie hat sich eine Magen-Darm-Grippe eingefangen und die ganze Nacht gebrochen. Zum Glück ist es am Nachmittag besser geworden. Trotzdem konnte ich erst einkaufen, nachdem Beat nach Hause gekommen ist.«

»Sollen wir ihn mitnehmen?« Cédric deutete auf den Hund. »Wir machen zwar keine große Runde …«

»Das ist besser als nichts. Macht es euch nichts aus?«

»Überhaupt nicht.«

Nach zehn Minuten erreichten sie die Echolinde. Am Waldrand war es zwei oder drei Grad kühler und die Luft weniger stickig. Trotzdem fühlte Anja sich, als hätte sie einen Marathon hinter sich, und sie kam sich vor wie in einem Hamam.

Heute lag der Spielplatz verwaist da, was Anja nur recht war. Zwei Männer joggten an ihnen vorbei und bogen am Anfang des Planetenweges ab. Bei diesen Temperaturen würde ich nie joggen, dachte Anja und zupfte am T-Shirt, das auf ihrer Haut klebte. Sie setzte sich neben Cédric auf eine der Holzbänke unter der Linde. Er legte den Arm um ihre Schulter. Sie lehnte sich gegen ihn und schaute zur Baumkrone hoch. Der Baum blühte und verströmte einen intensiven süßen Duft, den Anja normalerweise liebte, ihr aber heute bei der Hitze fast unerträglich war. Oskar legte sich neben sie und platzierte den Kopf auf den Vorderpfoten. Erwartungsvoll schaute er zu ihnen auf.

Anja bückte sich und warf einen kleinen Stock, der neben der Bank lag. Oskar sprang auf, machte zwei oder drei langsame Schritte zur Wiese, bevor er stehen blieb und umdrehte. Hechelnd legte er sich auf den Boden. Es hieß einiges, wenn das Energiebündel sich nicht aufraffen konnte.

Anja schaute in die Ferne. Sie war gerne hier. Es bot sich eine wunderbare Aussicht auf das Zelgli-Quartier und über die Stadt Aarau, die in das goldene Licht der untergehenden Sonne getaucht war. Das Weizenfeld vor ihnen war abgeerntet, und nur die goldenen Stoppeln waren übrig. Die Wiese gegenüber war frisch gemäht, und der Duft von frisch geschnittenem Gras wehte zu ihnen herüber.

»Ralf war seltsam«, nahm sie das Thema wieder auf, das sie nach dem Essen ausgesetzt hatten.

»Was meinst du mit seltsam?«

»Wie er mich über Herrn Forsters Tod informiert hat. Er war richtig emotionslos. So kenne ich ihn gar nicht.«

»Verwechselst du es nicht mit erschüttert? Auch als Arzt wird es ihn nicht kaltlassen, wenn sein Patient stirbt.«

»Nein, das war er, als er zurückkam, nachdem er Frau Forster im Kantonsspital abgeliefert hat.«

»Jeder reagiert anders«, erwiderte Cédric. »Ich denke, er macht sich Vorwürfe. Immerhin ist sein Patient gestorben, den er vor nicht allzu langer Zeit als gesund bezeichnet hat.«

Cédric hatte recht. Anja wusste nicht, wie sie an Ralfs Stelle reagieren würde.

2.

Das Wartezimmer war voll, als Anja am Donnerstagmorgen die Praxis betrat. Alle Plätze waren besetzt, und zwei Männer lehnten sich sogar an die Wand neben der Glastür zum Wartebereich.

Nicht alle Plätze waren besetzt, realisierte sie. Das Sofa mit dem schwarzen Überzug aus Lederimitat, auf dem locker vier Personen Platz hatten, beanspruchte eine grauhaarige Frau für sich ganz allein. Sie hatte sich über eine Zeitung gebeugt, die sie auf der Sitzfläche ausgebreitet hatte. Manche Leute glaubten, allein auf der Welt zu sein. Anja war versucht, hinzugehen und die Frau aufzufordern, etwas rücksichtsvoller zu sein.

»Anja?« Sie bemerkte Julia Bieri hinter sich. »Kannst du bitte in mein Büro kommen?«

Das klang ernst, und Anja fragte sich, was sie getan oder nicht getan hatte. Hatte sich ein Patient beschwert? Nicht nur ein Patient, sondern eine bestimmte Patientin? Milena Häfliger hatte ihr bei der letzten Therapiestunde erklärt, sie werde sich an Anjas Vorgesetzte wenden, da die Therapie nichts helfe. Ihr tue nach wie vor der Rücken weh.

»Wie erkläre ich es meinem Arzt, wenn ich eine Nachfolgeverordnung brauche, Ihre Behandlung aber überhaupt nichts genützt hat?«, war sie Anja angegangen. »Das ist die zweite Verordnung, und mehr, als auf dem Rücken herumzudrücken und mir diese grotesken Übungen vorzuschlagen, haben Sie nicht zustande gebracht.«

»Haben Sie die Übungen zu Hause gemacht?«

»Wo denken Sie hin? Ich werde mich nicht auf den Boden legen, und diese Dehnübungen sehen lächerlich aus.«

Bevor Anja etwas hatte erwidern können, war sie mit einem eleganten Hüftschwung aus dem Behandlungsraum stolziert und hatte damit Anjas Verdacht bestätigt, dass überhaupt kein ernsthaftes Rückenproblem vorlag. Bereits beim ersten Termin war Anja sich nicht sicher, wie echt die Schmerzen waren. Milena Häfliger hatte die Hand ins Kreuz gedrückt, als sie humpelnd den Behandlungsraum betreten hatte. Nachdem sie gegangen war, hatte Anja zufällig am Fenster gestanden. Leichtfüßig und mit schwingenden Hüften war sie auf einen Mann zugeeilt, der auf der anderen Straßenseite gewartet hatte.

Anja setzte sich auf den Hocker, auf dem normalerweise Patienten Platz nahmen.

»Frau Häfliger hat sich beschwert, nicht wahr?«

»Ja. Ich habe ihr angeboten, zu mir in die Behandlung zu kommen.«

»Ich …«

»Mach dir keine Gedanken. Du hast nichts falsch gemacht. Die Frau hat ein anderes Problem als ihre Hüfte und die Lendenwirbelsäule, aber lassen wir das. Ich habe dich aus einem anderen Grund hergebeten.« Julia brach ab, und es war, als wüsste sie nicht, wie sie den Satz formulieren sollte. Die Erleichterung, die sich kurzfristig eingestellt hatte, verflog. Was war los?