Ab vom Schuss - Andrea Diener - E-Book

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Andrea Diener

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Beschreibung

«Ich laufe mit großem Enthusiasmus durch die öden Gegenden der Welt und begeistere mich für Brachen und den einen oder anderen ungestört ausgelebten Wahn. In der Provinz nämlich erlebt man ein Land in meist ziemlich unverstellter Form.» Menschen ziehen scharenweise in die Metropolen und fahren am Wochenende aufs «Land». Doch Provinz ist da, wo Landlust aufhört. Das Land ist Sehnsuchtsort, die Provinz nicht; das Land ist liebenswert altmodisch, die Provinz ist rückständig. Wer allerdings wie Andrea Diener viel in der Welt unterwegs ist, erkennt: Ein sehr großer Teil der Welt besteht aus Provinz, sei es in Japan, Sibirien oder dem Thüringer Wald – und die ist ausgesprochen reizvoll. Feinsinnig und mit hintergründigem Humor schreibt sie über diese vergessenen Gegenden am Rande der Wahrnehmung, deren wenige Bewohner Geschichten zu erzählen haben, die es sich zu hören lohnt.

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Andrea Diener

Ab vom Schuss

Reisen in die internationale Provinz

Ihr Verlagsname

Über dieses Buch

«Ich laufe mit großem Enthusiasmus durch die öden Gegenden der Welt und begeistere mich für Brachen und den einen oder anderen ungestört ausgelebten Wahn. In der Provinz nämlich erlebt man ein Land in meist ziemlich unverstellter Form.»

 

Menschen ziehen scharenweise in die Metropolen und fahren am Wochenende aufs «Land». Doch Provinz ist da, wo Landlust aufhört. Das Land ist Sehnsuchtsort, die Provinz nicht; das Land ist liebenswert altmodisch, die Provinz ist rückständig. Wer allerdings wie Andrea Diener viel in der Welt unterwegs ist, erkennt: Ein sehr großer Teil der Welt besteht aus Provinz, sei es in Japan, Sibirien oder dem Thüringer Wald – und die ist ausgesprochen reizvoll.

Über Andrea Diener

Andrea Diener wurde 1974 in Frankfurt geboren und studierte sehr lange Anglistik und Kunstgeschichte, unter anderem auch deshalb, weil sie nebenher als Museumsführerin jobbte und ausdauernd bloggte. Nach einem Intermezzo in einer Lokalredaktion landete sie zuerst in der Buchmessezeitung der FAZ, später als Volontärin im Feuilleton und im Reiseblatt. Seit 2016 ist sie Redakteurin im Feuilleton.

Vorwort

Provinz, so die Arbeitshypothese dieses Buches, ist da, wo Landlust aufhört. Also ungefähr da, wo man sich das viele Grün nicht mehr mit kreativ bepflanzten Terrakottatöpfen heranholen muss, sondern langsam dazu übergeht, es sich mit Großgerät vom Leibe zu halten. Dort, wo man froh ist, wenn jemand in die Nähe zieht, weil das Dorf dann nicht ausstirbt oder wenigstens nicht so schnell. Provinz ist vor allem auch dort, wo der Einflussbereich großer Metropolen nicht hinreicht. Der Stadtbewohner fährt hindurch und fragt sich: Was machen diese Leute hier? Wie leben die hier?

 

Gleich zu Beginn ihres Gesprächsbandes «BRD Noir» handeln Philipp Felsch und Frank Witzel den Begriff der Provinz ab, ausgehend von der Beobachtung, dass auffallend viele deutsche Adoleszenzromane in der Provinz spielten. Dort, wo man literarisch aufwächst, ist meistens keine Innenstadt, sondern eher ein Spektrum irgendwo zwischen Land und Speckgürtel. Vielleicht, so Felsch daraufhin, sei Provinz gar kein geographischer Ort, sondern vielmehr eine Lebensphase. Und Witzel, zustimmend: «Genau, Provinz ist auch ein Alterszustand, weil man sich nur in einem engen Umfeld bewegt.» Eine Provinz im Kopf sei das, so wiederum Felsch, die es auch in der Großstadt geben könne.

 

Demnach wäre ich in einer prototypischen großstädtischen Provinz aufgewachsen, in einem eher bescheidenen Arbeiterstadtteil von Frankfurt, im kleinbürgerlichen Haus mit Gärtchen. Hier gibt es nur wenige hohe Altbaufassaden, dafür umso mehr Siedlungsbau mit akkurater Vorgartenbepflanzung zur Straße hin und Stangenbohnen hinterm Haus. Menschen hielten sich Kaninchen zu Verzehrzwecken und tauschten die Produkte ihrer Obstbäume zum Einkochen. Und es kam mir auch schrecklich provinziell vor, denn ich bewegte mich zwischen Bäcker und Mainufer, zwischen Baumarkt und Schule, wie in jedem ordentlichen deutschen Entwicklungsroman.

 

In unserer Straße gab es ein verlassenes Haus, Brachgrundstücke und eine Schafherde. In unserer Straße gab es aber auch Sozialbauriegel, die sich in den achtziger Jahren den Rufnamen «Bronx von Frankfurt» eintrugen. Ich fand das alles erst höchst normal und später dann höchst provinziell und sehr spießig. Wo auch immer diese große weite Welt sein sollte: Hier war sie nicht.

 

Und doch habe ich ein ganz anderes Verhältnis zur Provinz und zu meiner Heimatstadt. Echten Provinzkindern wohnt meist ein starker Fluchtreflex inne, der sie zumindest für ein paar Jahre aus ihrer Heimat forttreibt. Ich hatte das kurz, aber nie konsequent genug, um wirklich fortzuziehen, warum auch? Irgendwann zog ich hinter hohe Altbaufassaden, dann war mein Verlangen nach Stadt vorerst gestillt. Frankfurt hat außerdem die angenehme Eigenschaft, dass man schnell weg ist, wenn man das möchte. Knapp vier Stunden nach Paris, knapp zwölf bis Tokio, ohne Umsteigen. Und wenn einem die Welt auf die Pelle rückt, kann man immer noch aufs Land fahren, das ist auch sehr nah. Ich aber bin ein Stadtkind, und ich werde wohl auch eins bleiben.

 

Uns Stadtkinder eint auch eine gewisse Unerschrockenheit, was das Provinzielle angeht. Es ist nichts, was wir im Laufe unseres Lebens mühsam abschütteln wollten, es ist eher etwas, was wir mit Insektenforscherinteresse beobachten, weil wir wissen, dass wir ohnehin nicht dazugehören. So laufe ich mit großem Enthusiasmus durch die öden Gegenden der Welt und begeistere mich für Brachen und den einen oder anderen ungestört ausgelebten Wahn. In der Provinz nämlich erlebt man ein Land in meist ziemlich unverstellter Form. Und auch wenn Rainald Grebe in seinem schönen Lied «Fußgängerzonen» singt: «Ist das Darmstadt, ist das Mühlheim, ist das Wuppertal? Ich hab keine Ahnung! keine Ahnung!» – man sieht auf den ersten Blick, dass es sich um Westdeutschland handelt, weil sich die Westdeutschlandhaftigkeit in jedem Betonbauelement, in jedem Blumenkübel, in jeder Fassade und in jedem traurigen Versuch, Aufenthaltsqualität herzustellen, sofort ersichtlich macht. Oder, wieder Grebe: «Deichmann, Subway, Yves Rocher: Das ist die Fresse der BRD.»

 

Und so hat eben jedes Land seine Fresse, die man nur in der Provinz findet, in den Kleinstädten, die niemand für Nostalgietourismus auf Puppenstubigkeit getrimmt hat, in den Orten, in denen einfach nur Leute ungestört vor sich hin leben und im Idealfall zwecks Broterwerbs auch irgendetwas vor sich hin werkeln. Man findet sie, wenn man den Tourismuszentren – ja, mitunter auch den schönen Landschaften – den Rücken kehrt. Manchmal genügen ein paar Kilometer. Man findet die Fresse manchmal auch an Orten, die sich nach früheren Glanzzeiten heruntergewirtschaftet haben. Oder dort, wo niemand genau weiß, wo dieser Landstrich oder jenes Örtchen eigentlich genau liegt. Fressen, überall Fressen. Man könnte auch sagen: ungeschminkte, nicht sonderlich attraktive Gesichter kurz nach dem Aufstehen.

 

Aber schauen wir uns diesen seltsamen Begriff noch einmal an: Provinz stammt aus dem Lateinischen und bezeichnet zunächst einmal einen Zuständigkeitsbereich, der gar nicht unbedingt geographischer Natur sein muss, dann ein römisch erobertes Gebiet außerhalb des Stammreiches. Da hat es noch nichts Abwertendes. Auch später nicht, im Mittelalter, als eine Provinz einfach eine Verwaltungseinheit war. Die pejorativ gemeinte Provinz als Gegend, deren Bewohnern «Provinzialismus» vorgeworfen wird, also ein rückständiges Hinterwäldlertum, ist eine Erscheinung der Moderne.

 

Auch andere Sprachen kennen das: «La France profonde» bezeichnet so etwas wie Dunkelfrankreich, der Engländer kennt «provincialism» als Synonym für «parochialism», abgeleitet von «parish», also der Pfarrei, als Begriff für das, was bei uns «Kirchturmpolitik» heißt. Ländliche Einheiten müssen sich also damit abfinden, als Symbol für alles Verbohrte und Vernagelte herhalten zu müssen, dabei ist Abgeschiedenheit relativ. So manche Gegend rutscht innerhalb weniger Jahre an den Rand der Wahrnehmung, während andere plötzlich ungewohnte Aufmerksamkeit genießen. Grenzen verschieben sich, Bodenschätze werden entdeckt, Transportmittel werden gebaut oder stillgelegt, der Tourismus und seine wandelbaren Moden fallen über Landschaften und Orte her oder auch nicht. Davon bleiben die Bewohner natürlich nicht ganz unberührt.

 

Demgegenüber steht eine erstaunlich weit klaffende Lücke, wenn man versucht, das Phänomen systematisch zu ergründen. Forschungsliteratur ist kaum zu bekommen, fast überall wird man auf Hermann Glasers Bändchen «Der Gartenzwerg in der Boutique – Provinzialismus heute» verwiesen. Die Aufsatzsammlung des Nürnberger Schul- und Kulturdezernenten Glaser erschien im Jahr 1973, in einer Bundesrepublik, deren Hauptstadt noch Bonn hieß. Herrn Glaser blieb aber auch damals nur übrig, zu konstatieren, dass sich die gegenwärtige Forschung dem Begriff wenn, dann überhaupt nur mit «mokanter Zuneigung» nähere und niemand von sich selbst behaupte, provinziell zu sein, denn provinziell seien immer nur die anderen und man selbst natürlich urban und weltoffen. Dass das alles nicht so einfach ist und das Provinzielle auch in der Großstadt fröhliche Urständ feiert, untersucht Glaser anhand von Ostfriesenwitzen, Frauenzeitungskitsch und der Empörung über allzu moderne Kunstwerke. Das alles ist durchweht von einem Aufklärungsfuror der nachachtundsechziger Jahre, der uns mittlerweile abgeht. Heute demonstriert man ja gern Verständnis für jede noch so tümelnde Zuckung.

 

Nach dem Bereisen ziemlich vieler Ecken und Gegenden komme ich zu dem Schluss, dass es etwas gibt, was alle Provinzen der Welt eint: Die Leute wollen einfach ungestört vor sich hin leben. Das unterscheidet sich im Lebenswandel natürlich graduell, die Grundmotivation jedoch ist die Gleiche. Wer sich für die Provinz entschieden hat, will eigentlich nicht weg. Man ist hier genügsam, man will seine Ruhe. Das ist das gute Recht des Provinzbewohners, und man muss ihm das auch nicht austreiben, solange er in seiner Forderung freundlich bleibt. Den Metropolenbewohnern bleiben ja immer noch die Städte, die sie als Unruheherde für die Landflüchtlinge kultivieren, die eben nicht in Ruhe gelassen werden wollen, denn die gibt es natürlich auch.

Henan, ChinaGruppenaktivität mit Funktionärsbegleitung

Als es hieß, wir würden eine Schlucht in einem Naturschutzgebiet besichtigen, freuten wir uns ungemein. Wir hatten Bilder von romantischer Waldeinsamkeit im Kopf, also das, was ein Deutscher im Kopf hat, wenn es heißt, wir fahren in die Natur. Natur und Waldeinsamkeit hatten wir auch bitter nötig nach den stundenlangen Busfahrten in den vergangenen Tagen, bei denen wir Städte der landschaftlich nicht sonderlich markanten Provinz Henan besichtigt hatten, deren Fremdenverkehrsamt uns deutschen Journalisten die Schönheiten ebenjener Provinz nahebringen wollte. Wir wurden daher an ein paar Klöstern vorbeigekarrt, die wir eilends durchliefen, um pünktlich zu irgendeiner Mahlzeit in der nächsten Stadt zu sein. Das schien in China sehr, sehr wichtig.

 

Die Städte sahen alle gleich aus. Es waren typische chinesische Kleinstädte von ein, vielleicht zwei Millionen Einwohnern. Diese Einwohner wurden in → bunten Hochhäusern gestapelt, die aussahen, als stammten sie aus den sechziger Jahren, aber eigentlich waren sie erst an die zwanzig Jahre alt. Ja, das Material, seufzte unser Guide, der sich erfrischenderweise dadurch hervortat, mit seiner Meinung nicht allzu sehr hinterm Berg zu halten und uns ansonsten anzutreiben, damit wir den straffen Zeitplan einhielten. Irgendwo zwischen diesen Hochhäusern fand sich dann stets ein Hotelrestaurant, und in einem brutalst herunterklimatisierten Séparée, das gilt in China als besonders fein, warteten immer schon Vertreter der lokalen Tourismusbehörde an einem plastikgedeckten runden Tisch, um uns die Schönheiten ihrer Kleinstadt zumindest theoretisch nahezubringen. Denn wir mussten ja immer weiter, zum nächsten Kloster, zur nächsten Stadt.

 

So ungefähr beim ersten oder zweiten oder dritten ausschweifenden Geschäftsessen, das wir in China mit lokalen Tourismusfunktionären absolvierten, erfuhren wir, dass ausschweifende Geschäftsessen ja eigentlich offiziell untersagt seien. Das hier sei gar nichts im Vergleich zu früher, bevor Parteichef Xi Jinping beschloss, endlich mit der Korruption aufzuräumen, mit den ewigen Banketten, ohne die in China gar nichts läuft. Die dicken Umschläge will er verbieten, und Zigaretten gönnt er ihnen auch nicht mehr. Allerdings werden in der Zwischenzeit auch fröhlich Dissidenten verhaftet, die gegen die Korruption kämpfen, denn gegen Korruption darf in China nur einer kämpfen, der oberste Korruptionsbekämpfer nämlich, und das ist nun einmal der Parteichef.

 

Auch wir kämpften, und zwar auf unsere Weise. Wir saßen also im eiskalten Séparée, vor uns türmten sich auf dem gläsernen Drehtisch Platten mit frittierten Bröckchen: Tofubröckchen und Schweinebröckchen, Entenbröckchen, Hühnerbröckchen, Quallenbröckchen, Rinderbröckchen und Kuhmagenbröckchen, dazu Gemüse in salziger brauner Soße, Pilze in salziger brauner Soße und Extraschälchen mit salziger brauner Soße. Also ungefähr das, was wir schon seit Tagen aßen und noch tagelang essen würden. Ausgestattet waren wir für diesen Zweck mit Tellerchen, Schälchen, Stäbchen, einer Teetasse und einem fingerhutkleinen Glas. Zwischendurch kam jemand und füllte Suppe ins Schälchen, dann kam jemand anderes und füllte Tee in die Tasse, und dauernd kam jemand und füllte Schnaps ins Glas.

So ein Geschäftsessen ist in China eine durchritualisierte Angelegenheit. Man trifft sich, setzt sich, isst, trinkt und steht sehr schnell wieder auf. Anderthalb Stunden Druckbetankung. Das klingt harmlos, ist aber ungewohnt. Unterhaltungen etwa sind kaum möglich, da ständig auf irgendetwas angestoßen werden muss. Auch das fluchtartige Verlassen des Raumes, sobald das letzte Gäbelchen das vorletzte Melonenstückchen aufgespießt hat – auch das letzte aufzuspießen wäre nämlich unhöflich –, ist ungewohnt. Chinesische Geschäftsessen sind kurz, heftig und effizient. Kategorien wie «gemütliches Sitzenbleiben» oder «entspanntes Plaudern» existieren nicht. Man ist ja nicht zum Spaß hier.

 

Also, von vorn: Erst kommen die leichteren Speisen und erste frittierte Bröckchen. Der Funktionär steht auf, drückt seine Freude aus, wir stoßen an, Ganbei! Und das ist das Stichwort, das Glas Kornschnaps ganz auszutrinken. Der Gast steht auf, drückt seine Freude aus, Ganbei!, Essen. Zwischendurch ein paarmal Ganbei zum Warmwerden. Dann wird der Fisch aufgetragen, und auf wen der Fischkopf zeigt – meist der Platz gegenüber der Tür –, der muss zweimal Ganbei. Ein bisschen wie Flaschendrehen also, nur in verschärfter Variante. Dann muss der gegenüber – mit dem Rücken zur Tür – viermal Ganbei.

Während des Essens der Hauptgänge ergreift den Tisch dann eine für westliche Gemüter intolerable Unruhe. Erst steht der Gastgeber auf und macht seine Runde. Das heißt, er muss mit jedem Gast zweimal Ganbei, aber richtig, denn das leere Glas gehört demonstrativ geneigt vor sich gehalten, da darf nichts mehr heraustropfen, da muss man schon gründlich zu Werke gehen. Das macht jeder der Gastgeber mit jedem Gast. Dann müssen die Gäste ran und ebenfalls ihre Runde drehen, also wir. Weil wir verweichlichte Langnasen und schlecht im Training sind, wie wir glaubhaft versichern, dürfen wir ausnahmsweise als Gruppe losziehen und so die zwei Ganbei pro Person weiter reduzieren. Das finden wir wirklich sehr nett, und wir wollten ganz bestimmt auch niemanden beleidigen.

 

Es gibt eine verifizierte Ausrede, sagte man mir, also eigentlich zwei. Frauen müssen prinzipiell nicht mitmachen, und Männer sind nur befreit, wenn sie sagen, sie nähmen Medikamente. Andere Ausflüchte werden nicht geduldet. Oder gereichen zum eigenen Nachteil: Wer nicht mehr stehen kann, kommt schlicht nicht zum Geschäftsabschluss. Oder kann beim Vortrag der Tourismusfunktionäre über die Schönheiten dieser speziellen Kleinstadt der wunderschönen Provinz Henan nicht mehr zuhören, vergisst den Namen der Stadt sofort und blättert sich hinterher ratlos durch Hunderte Fotos von Millionenkleinstädten, die alle gleich aussehen.

 

Ich muss also nicht trinken. Aber irgendwie doch. Ich habe nämlich keine Lust, hier als schwaches Geschlecht eingeordnet zu werden, so dumm das sich jetzt anhören mag, und außerdem bin ich größer als die meisten Chinesen hier am Tisch und verfüge als Europäer über eine erstklassig funktionierende Aldehyd-Dehydrogenase, auf Deutsch: Alkohol wird in meinem Körper ziemlich reibungslos abgebaut, was man von 56 Prozent der Chinesen nicht behaupten kann. Deren Aldeyd-Dehydrogenase ist nämlich mutiert und kann mit hemmungslosem Ganbei eher schlecht umgehen, jedenfalls schlechter als der Enzym-Wildtyp, über den wir robusten Europäer verfügen.

 

Und so stellte ich mich der Herausforderung. Ganz oder gar nicht, dachte ich. Es half, dass der grüne Tee ständig nachgefüllt wurde. Die frittierten Bröckchen in salziger brauner Soße halfen ebenfalls immens. Chinesisches Essen – zumindest im nördlichen China – ist nämlich nicht gerade leicht und auch nicht sonderlich gesund, sondern eher bleiern, also eine bestens geeignete Unterlage für die Trinkspielchen, die diese Herren hier veranstalten und die, so denke ich mit meiner kulturell selbstverständlich sträflich eingeschränkten Weltsicht, ja mit Mitte zwanzig jeder halbwegs gereifte Mitmensch überstanden haben sollte.

An Entspannung war also in keiner Weise zu denken. Mit jeder Tischrunde musste ich mir eine Eloge anhören, die sich die Gastgeber ausdachten und die meistens darauf abzielte, dass ich recht dekorativ sei und meine Anwesenheit in dieser Herrenrunde als optisch bereichernd und mutig angesehen werde. Ich sagte etwas vage Freundliches über China, Ganbei Nummer eins, Ganbei Nummer zwei, lächeln, hinsetzen bis zum nächsten Rundendreher. Dann Obstteller, Melonenbröckchen übrig lassen, aufstehen, raus hier, brutalstmöglicher Gesprächsabbruch inklusive. Das sei harmlos, das sei alles noch gar nichts, ich hätte das mal sehen sollen, bevor das neue Antikorruptionsgesetz erlassen wurde und die Funktionäre wie die Fliegen an Alkoholvergiftung starben. Dreißig Funktionäre mehr, vierzig Gänge, fünfzig Ganbei. Wie viel hatten wir? Sechzehn Ganbei. Also gar nichts. Wir befanden uns dennoch in sanfter Dauerbetüdeltheit, die uns im Bus bis zum nächsten Schlagloch sanft dösen ließ. Der Bus war für Chinesen gebaut, weshalb wir Europäer nicht recht wussten, wohin mit unseren Beinen. Kurz: Die Lage war so angespannt, dass uns ein funktionärsloser, ganbeifreier Nachmittag im Grünen recht paradiesisch vorkam.

 

Gespannt falteten wir uns also aus dem Bus und schüttelten die tauben Gliedmaßen. Das Naturschutzgebiet rund um den Berg → Yuntaishan hatte einen riesigen Parkplatz, von dem eine riesige Treppe abging, auf der man Militärparaden hätte abhalten können und die an einem riesigen Bildschirm vorbeiführte, auf dem unablässig und musikuntermalt die Schönheiten des Naturschutzgebietes auf die Besucher einflimmerten. Die Treppe endete vor einer monströsen Halle, die sich nicht die geringste Mühe gab, sich auch nur ansatzweise in die Landschaft einzupassen, sondern sich selbstbewusst sozialistisch vor die dahinter befindliche Hügelkette klotzte. In der Halle wimmelten schon einige Gruppen, sie wurden von in Megaphone brüllenden, bewimpelten Guides in Zweierreihen aufgestellt, was die Gruppen bereitwillig mit sich geschehen ließen, und am Ausgang der Halle in Busse verfrachtet, die sie zu den besuchenswürdigen Zielen im Naturpark kutschierten. Ich habe schon naturnahere Fährterminals erlebt als diesen Naturparkeingang.

 

Nein, wir fanden unsere gute deutsche Waldeinsamkeit nicht. Wir fanden das, was es in China überall gibt und was hier laut unserem Guide Jü hui heißt, auf Deutsch in etwa «Gruppenaktivität». Jü hui sorgte dafür, dass wir ebenfalls in einen Bus stiegen, wenn auch nicht in Zweierreihen, denn wir waren undisziplinierte Deutsche und kamen aus einem Land, in dem die Fortbewegung in Formation per se als suspekt angesehen wird. Jü hui machte, dass wir uns an den überdachten Raucherzonen mit WLAN-Versorgung vorbei zum Eingang fahren ließen, denn Laufen ist in China etwas für Menschen, die sich nichts Besseres leisten können. Wir reihten uns in bester Jü-hui-Manier am Drehkreuz vor der als sehenswert angekündigten Schlucht auf, dann fädelten wir uns auf dem Trampelpfad ein, der ein einziges Jü hui durch die Schlucht bildete. Es war ein tratschender, schwitzender, knipsender, fröhlicher, eislutschender, fächerwedelnder, das Hemd über den gewölbten Bauch hochschiebender Gänsemarsch, der sich an der → Gruppenaktivität freute und die ganze, sich um uns herum aufs spektakulärste auftürmende Landschaft, in die wir Deutsche ab und zu pflichtgemäß hineinkontemplierten, eher als dekorativen Hintergrund wahrnahm.

 

Wer durch China reist, muss sich von so mancher Vorstellung verabschieden. Von der Vorstellung, wie ein Naturpark auszusehen hat (naturnah) und auf welche Weise er bewundert werden will (still), von der Vorstellung, wie Baudenkmäler zu präsentieren sind (in historischem Kontext), und von der Vorstellung, ruhige Momente seien etwas grundsätzlich Erstrebenswertes. China hat vor allem zwei Eigenschaften: Es ist groß, und es ist voll. Alles ist monströs, aber komischerweise nie leer. Die Menschen ziehen in wuchtige, schwindelerregend hohe Trabantenstädte, die überall in erstaunlicher Geschwindigkeit dem Himmel entgegengebaut werden, sie leben dort auf nicht gerade viel Raum, sie kämpfen sich täglich durch einen Albtraum von Verkehr und können rätselhafterweise nicht einmal in ihrer Freizeit genug von ihren Mitmenschen bekommen, während wir langsam, aber sicher anfangen, uns gegenseitig mitzuteilen, dass das jetzt wirklich nichts Persönliches sei, aber heute Abend müssten wir mal allein, alle nicken erleichtert, und dann gehen die Hoteltüren hinter uns zu, und wir legen uns aufs Bett und vergewissern uns alle noch mal gründlich, wo genau wir eigentlich anfangen und wo aufhören, so lange, bis das Rauschen in den Ohren abklingt.

 

Unser Guide sorgt tagtäglich dafür, dass auch bei uns Deutschen immer hübsch Jü hui herrscht, im Bus und im Restaurant und bei den zahlreichen Ausflügen, die uns die Schönheiten der Provinz Henan präsentieren. Diese Provinz schmückt sich gern damit, Wiege der chinesischen Kultur zu sein. Das ist auch gar nicht so weit hergeholt, denn immerhin soll der legendäre Lao Tse hier am Gebirgspass zur nahen Stadt Xian ein Kloster gegründet haben, das die Keimzelle des Daoismus bildet. Wir bewundern das → Kloster sehr, auch die Eisbuden vor und die LED-Leuchtschriften über den denkmalgeschützten Holzpforten. Die Höhlenbuddhas von Longmen sind Weltkulturerbe, in einem weiteren Kloster erfanden Shaolin-Mönche die Kampfkunst, und ein paar Dörfer weiter befindet sich das Dorf mit dem Tempel, in dem Tai-Chi seinen Ursprung hat. Das ist eine ganze Menge chinesischer Kultur. Die Chinesen haben riesige Parkplätze vor alles gebaut und besuchen diese Stätten pflichtschuldigst in großen Gruppen.

 

Mit der heute völlig bedeutungslosen Kreisstadt Kaifeng verfügt man in Henan außerdem über eine ehemalige Kaiserstadt mit großer Geschichte. Dort gibt es ein sehr altes Gebäude, die Eisenpagode, erbaut im elften Jahrhundert. Sie ist nicht aus Eisen, wie man glauben könnte, sondern mit Tonfliesen verkleidet, die eine Glasur in der Farbe patinierten Eisens haben. Außerdem ist sie eine der berühmtesten Pagoden Chinas und das Vorbild für die Pagode in den Londoner Kew Gardens. Vor der Pagode befindet sich ein buntes Kassenhäuschen in Form eines Tempeltors, danach kann man zwecks Besichtigung in einen Golfwagen steigen oder laufen. Wer läuft, kann den «Scenic Park» rund um die Pagode in seiner ganzen Schönheit bewundern: künstlich aufgehäufelte Grashügelchen, darauf Betonbäume mit Lautsprechern, aus denen chinesische Easy-Listening-Musik schallt, sodass man sich ständig in einem Hotelaufzug wähnt. Verschlungene Wege führen zwischen Formschnittbäumchen und unter berankten Pergolen hindurch, unter denen Pärchen Selfies machen. Souvenirbuden, in denen man altchinesische Kopfbedeckungen aus Filz und Polyester und bunte Glücksbringer aller Farben und Größen kaufen kann, flankieren das Gelände. Künstliche Bachläufe mit Plastikreihern und neckischen, nacktärschigen Kinderstatuetten, die ins Wasser pinkeln, dienen als Hintergrund für Familienfotos. Es ist ein quietschbuntes Disneyland, vollgestellt mit Kitsch und Büschen, Kinderkarussellen und Pavillons rund um die altehrwürdige, schon leicht schiefe Eisenpagode.

 

Es ist leicht, zu leicht, sich über einen derart sorglosen, hemmungslos kommerziellen und kein Stück pädagogischen Umgang mit jahrtausendealter Kultur lustig zu machen. Doch als ich im Scenic Park rechts abbiege, gleich hinter dem Souvenirstand mit den Mao-Wackelbildern und den künstlichen Bäumchen unter Glas, und durch ein unscheinbares Tor trete, stehe ich inmitten eines Penjing-Gartens voller uralter chinesischer → Bonsaibäumchen, alle vorbildlich auf Augenhöhe präsentiert und zurechtgezupft, die Schalen geputzt, aber mit genau der richtigen Menge an Patina, und die Erdoberfläche mit sauberen grünen Moospolstern besetzt. Irgendjemand muss sich rührend um die pflegeintensiven Ulmen, Eichen, Kiefern kümmern. Dahinter schließt sich ein Garten mit Teich an, auf einem Bänkchen unter einer Pergola sitzt ein alter Herr mit langem weißem Bart und übt Querflöte. Das Bilderbuchchina, das man aus irgendwelchen Kung-Fu-Filmen im Kopf hat, überfällt einen immer da, wo man es gerade nicht erwartet, dann aber mit voller Wucht.