Abenteuer Unlimited: Mein Leben im Grenzbereich - Helmut Linzbichler - E-Book

Abenteuer Unlimited: Mein Leben im Grenzbereich E-Book

Helmut Linzbichler

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Beschreibung

(Extrem-)Sport prägt das Leben von Helmut Linzbichler: Ultralaufen, Bergsteigen, Klettern und Skifahren betreibt er seit Jahrzehnten mit Leidenschaft. Er stand als ältester Europäer auf dem Gipfel des Mount Everest, bestieg alle Seven Summits, lief beim Badwater Ultramarathon mehr als 200 km durch das Tal des Todes und beim Transamerikalauf 5.000 km quer durch die USA. Das Herantasten an die eigenen Grenzen – körperlich ebenso wie mental – ist das Lebenselixier des Österreichers. "Abenteuer Unlimited“ erzählt von intensiven Leidenschaften und dem Streben nach neuen, scheinbar unerreichbaren Zielen. Von überwältigenden Erfolgen, aber auch vom Umgang mit Niederlagen und schweren Schicksalsschlägen. Getreu dem Motto „Das Leben ist zu kurz für irgendwann“, weiß Helmut Linzbichler aus eigener Erfahrung: Es ist nie zu spät ist, seine Träume zu leben – egal in welchem Alter.

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Inhalt

Decke

Titelseite

Impressum

Inhaltsverzeichnis

Vorwort

Prolog

Das Gespür für Spalten

Auf der Suche?

Freigeist? Unerwünscht!

Vom Lehrer verraten

Sport: Erste Leidenschaft und größte Enttäuschung zugleich

Neue Wege gehen

Der Preis der Unerfahrenheit

Mit gehöriger Wut im Bauch

Um ein Haar

Glück und Leid liegen dicht beieinander

Kopfüber in die Arbeit

Neid als höchste Form der Anerkennung

Die Patschen hinterhertragen

Über die Berge zum Glück!?

Schicksalsberg Mount McKinley

Auf zu neuen Zielen

Auf den Spuren Hermann Buhls

Der Streit um das liebe Geld

Dann laufe ich eben…

TransAm: Abenteuer pur

Hoffen auf ein Wunder

Rennalltag

Ein Traum wird wahr

Prädikat: nicht durchführbar! Oder doch?

Grenzen überschreiten

The Toughest Ultramarathon – oder dem Krebs davonlaufen

Pervers, verrückt, masochistisch?

Marathon mit Eisbären

Verlockung Seven Summits

Aller guten Dinge sind vier

Um seine Träume zu leben, ist man nie zu alt

Das Limit beinahe überschritten

Es ist Irrsinn, aber ich muss!

I‘m a man to finish a job

Das Ziel niemals aus den Augen verlieren

Epilog

Herausfinden, was dahinter steckt

Time to say goodbye

Der Lohn für Leben und Leiden

Flieg, Schmetterling, flieg

Danksagung

Anhang

Meine Bergwelt in Zahlen

Quellenverzeichnis

Fotoverzeichnis

Guide

Decke

ABENTEUER UNLIMITED

MEIN LEBEN IM GRENZBEREICH

HELMUT LINZBICHLER

Impressum

Umschlaggestaltung und Satz: Röser MEDIA GmbH & Co. KG, Karlsruhe

Umschlagfotos: Privatarchiv Helmut Linzbichler

Redaktion: Nicole Luzar; Brigitte Caspary

1. Auflage November 2019

© Sportwelt Verlag

Luthmerstraße 14

65934 Frankfurt

[email protected]

www.sportwelt-verlag.de

Alle Rechte vorbehalten, einschließlich derjenigen des auszugsweisen Abdrucks sowie der photomechanischen und elektronischen Wiedergabe.

ISBN Print 978-3-941297-42-5

ISBN eBook 978-3-941297-44-9

Weitere Titel im Internet unter www.sportwelt-verlag.de eBook by ePubMATIC.com

Für TANJA

Inhaltsverzeichnis

Vorwort

Prolog

Das Gespür für Spalten

Auf der Suche?

Freigeist? Unerwünscht!

Vom Lehrer verraten

Sport: Erste Leidenschaft und größte Enttäuschung zugleich

Neue Wege gehen

Der Preis der Unerfahrenheit

Mit gehöriger Wut im Bauch

Um ein Haar

Glück und Leid liegen dicht beieinander

Kopfüber in die Arbeit

Neid als höchste Form der Anerkennung

Die Patschen hinterhertragen

Über die Berge zum Glück!?

Schicksalsberg Mount McKinley

Auf zu neuen Zielen

Auf den Spuren Hermann Buhls

Der Streit um das liebe Geld

Dann laufe ich eben…

TransAm: Abenteuer pur

Hoffen auf ein Wunder

Rennalltag

Ein Traum wird wahr

Prädikat: nicht durchführbar! Oder doch?

Grenzen überschreiten

The Toughest Ultramarathon – oder dem Krebs davonlaufen

Pervers, verrückt, masochistisch?

Marathon mit Eisbären

Verlockung Seven Summits

Aller guten Dinge sind vier

Um seine Träume zu leben, ist man nie zu alt

Das Limit beinahe überschritten

Es ist Irrsinn, aber ich muss!

I‘m a man to finish a job

Das Ziel niemals aus den Augen verlieren

Epilog

Herausfinden, was dahinter steckt

Time to say goodbye

Der Lohn für Leben und Leiden

Flieg, Schmetterling, flieg

Danksagung

Anhang

Meine Bergwelt in Zahlen

Quellenverzeichnis

Fotoverzeichnis

Vorwort

Es ist nicht leicht, die Motivation eines Abenteurers zu beschreiben. Früher wurden Bergsteiger oft als „Eroberer des Unnützen“ bezeichnet. Stets auf der Suche nach dem Risiko. Aber weit gefehlt. Es war keine Todessehnsucht, die mich mein Leben lang auf hohe Berge trieb. Ganz im Gegenteil! Indem ich mannigfache Gefahren überwand, konnte ich den Wert des Lebens umso deutlicher erkennen. Abenteurer lassen sich auf Dinge ein, die für viele Menschen nicht rational oder nachvollziehbar sind. Aber wir fühlen uns wohl dabei. Das Überwinden von Grenzen, das Suchen und Finden von Lösungen, das Erleben der Natur – all das ist Balsam für Körper und Seele.

Helmut Linzbichler lernte ich beim Bergfilmfestival in Prag kennen. Uns war schnell klar, dass unser beider Leben viele Parallelen aufwies. Früh den Vater verloren, trieb uns bereits als Kind die Neugierde in die Berge – eine Leidenschaft, die auch unser Dasein als Erwachsene prägte und uns schließlich zum Berg der Berge führte: zum Mount Everest.

„Abenteuer Unlimited“ beginnt mit einer Katastrophe, dem Alptraum eines jeden Alpinisten: dem Sturz in eine Gletscherspalte. Während der Zeit zwischen Bangen und Hoffen, die Helmut in diesem eisigen Gefängnis verbringen musste, ließ er sein Leben Revue passieren. Ein Leben voller Höhen und Tiefen. Eines, bei dem man versucht ist zu fragen, wie ein Mensch das alles erleben – und vor allem überleben – kann.

Aus dieser Grenzerfahrung heraus entstand die Idee zu diesem Buch. Helmut spürte, dass er etwas mitzuteilen hatte, dass er seine Mitmenschen dazu ermuntern wollte, den Glauben an sich zu bewahren, nie aufzugeben und immer nach vorne zu blicken, auch wenn die Situation, in der sie sich befanden, gerade aussichtslos erschien. Wer ein bisschen zwischen den Zeilen liest, wird unschwer erkennen, worum es ihm bei der Erzählung seiner Lebensgeschichte geht: nicht darum, seine sportlichen Leistungen zur Schau zu stellen, sondern darum, trotz aller Rückschläge das Beste aus seinem Leben zu machen und sich selbst treu zu bleiben.

Jeder Mensch vermag viel mehr zu leisten, als er glaubt. In jedem von uns steckt eine besondere Fähigkeit, die es zu finden und zu entwickeln gilt. Uns allen wurde mit der Geburt eine Lebensaufgabe gestellt, der wir bestmöglich gerecht werden sollten. Helmut hat sich dieser Aufgabe stets gestellt und versucht, sie zu lösen, indem er entschlossen seinen Weg ging – den Weg des Abenteurers.

Peter Habelers Erfolge als Alpinist (Auswahl):

Die Begehung der Yerupajá-Ostwand in den peruanischen Anden.Die Durchsteigung der Eiger-Nord-wand in knapp neun Stunden sowie der Nordwand des Matterhorns in vier Stunden.1975 bestieg er in einer Zweierseilschaft mit Reinhold Messner den Hidden Peak (8.068 m) ohne zusätzlichen Sauerstoff – die erste Besteigung eines Achttausenders im Alpinstil.1978 gelang ihm – ebenfalls gemeinsam mit Messner – der Gipfelerfolg am Mount Everest ohne zusätzlichen Sauerstoff. Dies galt damals aus medizinischer Sicht als unmöglich, aber die beiden haben das Unglaubliche geschafft.Zudem stand er auf weiteren Achttausendern, wie dem Cho Oyu (8.188 m), Nanga Parbat (8.125 m) und Kangchendzönga (8.598 m).Kurz vor seinem 75. Geburtstag durchstieg er gemeinsam mit David Lama abermals die Eiger-Nord-wand und war damit der bis dahin Älteste, dem das gelang.

Peter Habeler

Prolog

Ein kurzer Ruck. Stille. Eben noch spürte ich den sanften Wind an meinen Ohren, und nun umgab mich eine schier gespenstige Stille. Völlig regungslos verharrte ich einige Sekunden – wagte weder zu atmen noch, mich in irgendeiner Weise zu rühren. Heiß spürte ich das Adrenalin durch meine Adern schießen und den hämmernden Herzschlag in meinem Brustkorb. „Was war denn das jetzt?“, fragte ich mich.

Vorsichtig senkte ich den Kopf. Mein erster Blick wanderte nach unten. „Heilige Scheiße“, entfuhr es mir in einer Mischung aus Überraschung und Erschütterung. „Ich sehe ja nicht einmal den Boden.“ Ganz langsam verschwand die Öffnung unter meinen baumelnden Beinen ins pechschwarze Dunkel. „Sicher 40 bis 50 Meter tief“, schätzte ich. Und kaum hatte ich das ausgesprochen, drang ganz allmählich der Gedanke zu mir durch: Das ist eine Gletscherspalte. In der nächsten Sekunde traf es mich wie ein Schlag: „Du steckst verdammt noch mal in einer riesigen Gletscherspalte fest!“ Erneut schoss das Adrenalin durch meinen Körper. Lediglich an zwei Seilen gesichert hing ich in meinem Sitzgurt und pendelte ganz leicht hin und her – unter mir ein frostiger Abgrund aus ewigem Eis.

Ich schaute nach oben. Stille. Kein einziges Geräusch drang zu mir hinab. Die Öffnung musste etwa fünf Meter über meinem Kopf liegen. Was jetzt? „Mattl!? Gabriel!?“, rief ich in Richtung der hellen Öffnung, aus der ich gestürzt war. Die beiden mussten mein Verschwinden doch bemerkt haben. Zwar konnte nur Mattl meinen Sturz von hinten beobachten, aber auch Gabriel musste wenigstens einen Ruck im Seil gespürt haben, an dem wir eben noch als Dreier-Seilschaft gingen. Also rief ich erneut. Diesmal etwas lauter. Vielleicht auch etwas verzweifelter. Aber wieder bekam ich keine Antwort. „Na, das ist ja lustig“, dachte ich, „jetzt hänge ich hier unten, und niemand hört mich.“ Bis mir schlagartig bewusst wurde, dass es überhaupt keinen Sinn machte, um Hilfe zu rufen. Vermutlich konnte ich rufen, bis ich schwarz wurde. Eine Gletscherspalte dieser Größe würde die Schallwellen meiner Stimme erst gar nicht bis nach draußen dringen lassen… Und was jetzt? Eine leichte Gänsehaut überzog meinen Körper.

Es war der 28. Juni 2013, und wir waren auf dem Hvannadalshnukkur unterwegs, dem mit 2.119 Metern höchsten Berg Islands. Technisch gesehen ist das keine schwierige Besteigung. Nur hinsichtlich der Gletscherspalten war höchste Vorsicht geboten. Ein Jahr zuvor stand ich bereits auf dem Gipfel des Berges, doch dann wollten mein Freund Gabriel und sein Kumpel Martin auch einmal dort hinauf. Ein kurzer Blick in meinen Terminkalender genügte. „Passt!“, freute ich mich, und schon machten wir uns gemeinsam auf den Weg nach Island, wo es im Sommer rund um die Uhr hell ist. Wir hatten großes Glück: Das Wetter war uns wohlgesonnen, und so zogen wir zu dritt los.

Wir waren schon weit oben am Gletscher angelangt, als bei völliger Windstille urplötzlich eine Art Nebel aufkam, durch den wir die Konturen des Berges nur noch verschwommen wahrnahmen. Die Sicht verschlechterte sich zunehmend. Bis dahin waren wir gut unterwegs und hatten uns mit der Führungsarbeit immer wieder abgewechselt. Kurz darauf blieben wir stehen und schauten von einem zum anderen. „Mir gefällt das nicht“, stieß ich hervor. Wir hatten kein Unwetter, es gab keinen Sturm oder eine sonstige Bedrohung, aber mich überkam plötzlich ein ungutes Gefühl. „Na ja, was soll’s“, sagte ich dann. „Es ist ja nicht mehr weit bis zum Gipfel.“ Also stiegen wir langsam weiter. Dabei gingen wir am langen Seil, in einem Sicherheitsabstand von zehn, vielleicht zwölf Metern voneinander entfernt. Dieser Abstand sollte mehr als ausreichend sein, denn wenn eine Gletscherspalte auftauchen sollte, wäre diese maximal drei bis fünf Meter breit – aber mit Sicherheit keine zwölf Meter.

So wunderschön der Hvannadalshnukkur (2.119 m) anzusehen ist, so gefährlich sind seine verdeckten, teils unermesslich tiefen Spalten.

Zweimal mussten wir unseren Kurs bereits korrigieren und weiter nach rechts marschieren, um den größten Spalten, die nach links abbrachen, auszuweichen. Gabriel ging vorne, Martin am Ende und ich in der Mitte unserer Gruppe. Der Vordermann bestimmte das Tempo, und da unsere Gruppe homogen zusammenarbeitete, kamen wir gut voran. Eben noch sah ich Gabriel sicheren Schrittes vor mir gehen, setzte meinen Fuß konsequent in seine Spur – und in der nächsten Sekunde war ich auch schon weg. Wusch. Aus. Vorbei. Ich spürte einen Schlag, und einen Augenblick später fand ich mich fünf Meter tiefer in einer Gletscherspalte wieder. Über einem tiefen Abgrund hängend. Über einem leeren Nichts.

Nun spürte ich eine Veränderung über mir. Es wurde dunkel, und Gabriels Kopf tauchte in der Öffnung der Gletscherspalte auf. Seine Reaktion war meiner nicht unähnlich: „Um Gottes willen!“, rief er entsetzt, als er meine Lage erkannte. „Was machen wir denn jetzt?“ „Na, nix wie raus hier!“, stieß ich hervor. Aber das war leichter gesagt als getan. Stückweise versuchte ich, mich mittels eines Prusikknotens nach oben zu hieven. Dieser Knoten, der auf die Erfindung des Wiener Musiklehrers Karl Prusik im Jahr 1931 zurückgeht, dient in erster Linie dazu, sich selbst an einem Seil hochzuziehen. Dazu legt man eine kurze Seilschlinge mehrfach um das Führungsseil, so dass sie klemmt. Über einen Karabiner, der mit dem Klettergurt verbunden ist, braucht man eigentlich nur den Knoten am Führungsseil nach oben zu schieben und kann sich dann selbst emporziehen. Das war in meiner Situation jedoch ein schwieriges Unterfangen. Denn um den Knoten höher schieben zu können, muss man ihn selbstverständlich entlasten. Ich jedoch hing mit meinem gesamten Gewicht im Seil. Mit klammen Fingern band ich zwar den Knoten, doch mit meiner rechten Schulter, die aufgrund einer alten Snowboard-Verletzung nicht voll funktionsfähig ist, konnte ich mich unmöglich gleichzeitig hochziehen und den Knoten höher schieben. Auch fand ich mit meinen Steigeisen an den gebogenen Seitenwänden der Gletscherspalte keinen Halt. Immer wieder rutschte ich ab. Und so sehr ich mich auch bemühte und es verzweifelt immer wieder aufs Neue versuchte, so musste ich mir doch nach einiger Zeit eingestehen: Es war ein aussichtsloser Kampf. Resigniert pendelte ich in meinem Sitzgurt hin und her und spürte, wie die Kälte schleichend durch meine Jacke drang. So viel war klar: Aus eigener Kraft würde ich es nicht schaffen, mich aus dieser Spalte zu befreien.

Ich schaute erneut nach oben. Gabriel war mittlerweile verschwunden. Was ich erst im Nachhinein erfuhr, war, dass es den beiden so vorkam, als würden von unten weitere Leute den Berg herauf kommen. „Geh denen schnell entgegen, Martin“, sagte Gabriel. „Wir brauchen Hilfe.“ Doch schon bald stellte sich heraus, dass die dunklen Flecken am Horizont keine Menschen, sondern nur Felsen waren. Dann überlegten die beiden für einen Moment, den kompletten Weg ins Camp zurückzulaufen, um die dortigen Bergführer um Hilfe zu bitten, verwarfen aber diese Idee gleich wieder. Bis diese an der Unglücksstelle eingetroffen wären, hätte es etwa sechs Stunden gedauert. Natürlich setzte mir die eisige Kälte mittlerweile zu, aber sechs Stunden hätte ich trotz Unterkühlung irgendwie überlebt. Jedoch machte sich nun ein ganz anderes Problem vehement bemerkbar: Mein Sitzgurt begann langsam aber sicher, die Blutzufuhr in meinen Beinen abzuschnüren …

Das Gespür für Spalten

Während ich da so hing und nur noch auf Rettung von außen warten konnte, hatte ich interessanterweise nicht den leisesten Anflug von Panik. Selbst dann nicht, als ich zu rechnen begann, wie lange ein Mensch in starrer Position bei einer gefühlten Temperatur von minus 20 Grad Celsius wohl im besten Fall überleben würde. Das Ergebnis war alles andere als ermutigend, wurde aber direkt wieder in den hintersten Winkel meines Bewusstseins verdrängt.

Da ich nun schier unendlich viel Zeit hatte, schossen mir tausend andere Gedanken durch den Kopf. Irgendwie – so schien es – begann ich bereits, mein Leben zu rekapitulieren. So sah es also aus, mein Ende. Dabei hatte ich doch noch so viele Pläne. „Ach Mensch, wie gern hätte ich noch mal den Everest gesehen“, dachte ich wehmütig. „Oder die Berglauf-Serie in den USA in meiner Altersklasse gewonnen … oder wäre gemeinsam mit meiner Frau Brigitta um den Wolfgangsee gelaufen …“ Voller Schrecken wurde mir klar: „Wenn du jetzt in dieser Spalte verreckst, kannst du noch nicht einmal von deiner Frau und den Kindern Abschied nehmen!“

Das machte mich unendlich traurig, und lange musste ich darüber nachdenken, was ich meiner Familie zuhause noch gerne gesagt hätte …

Im nächsten Moment lachte ich laut auf: „Na, das passt ja jetzt. Ausgerechnet mich hat es in einer Spalte erwischt. Das ist doch eigentlich unvorstellbar! Ausgerechnet mich, der unzählige Male alleine auf zig Gletschern unterwegs war. Mich, der Spalten förmlich riechen konnte.“

Auch wenn das nicht immer so gewesen war. Am Kampire Dior, einem 7.143 Meter hohen Traumberg im Karakorum-Gebirge in Pakistan, hatte ich bereits 1970 mein erstes denkwürdiges Spaltenerlebnis gehabt. Der Kampire Dior war eigentlich mein Berg. Ein mystischer Berg, über den es damals nahezu keine Informationen gab. Und so war es auch enormer Zufall, dass ich auf ihn gestoßen war. In „Berge der Welt“, einem Jahrbuch der Schweizerischen Stiftung für Alpine Forschungen, las ich in einer Ausgabe Ende der 60er Jahre einen Beitrag über eine Expedition zum Batura, einem Siebentausender im Karakorum-Gebirge. Auf einem Panoramafoto waren die Berge der umliegenden Region zu sehen, ganz am linken äußeren Rand sah man gerade noch die Flanke des Kampire Dior. Interessanterweise fesselte mich genau dieser Ausschnitt. Diesen Berg, der damals niemandem wirklich bekannt war, wollte ich unbedingt sehen. Ich war unglaublich fasziniert – von der Schönheit des Berges, aber auch von dessen Bedeutung. Denn frei übersetzt heißt Kampire Dior: eine Mutter, die schützend die Arme um ihre Kinder legt.

Lange Zeit träumte ich damals von einer Besteigung dieses Berges. Noch nie hatte ein Mensch einen Fuß auf seinen höchsten Punkt gesetzt. Ich wollte mit meiner Expedition der Erste sein. Dieses Unterfangen gestaltete sich schwieriger als gedacht, bescherte mir aber auch die erste Berührung mit Gletscherspalten. Ich kannte diese Region des Karakorum-Gebirges bereits von der ersten Pakistan-Erkundung im Jahr 1969. Bei der zweiten Expedition im Sommer 1970 war ich mit drei Freunden und meiner Frau unterwegs. Gemeinsam schlugen wir Lager I am Fuße des Berges auf, um in den kommenden Tagen mit dem Gipfelsturm zu beginnen. Als ich am nächsten Morgen erwachte, war ich jedoch verwirrt. „Was ist denn das?“ Ich lag auf der rechten Seite unseres Zwei-Mann-Zeltes. Links von mir befand sich Werner, der noch tief und fest schlief. Kaum hatte ich die Augen geöffnet, war mir klar, dass hier etwas ganz und gar nicht stimmen konnte. Denn anstatt zu Werner hinüberzublicken, musste ich nun zu ihm hochschauen. „Was war denn da passiert?“ Nach einem beherzten Sprung aus dem Schlafsack sahen wir das Dilemma: Wir hatten unser Zelt direkt auf einer Gletscherspalte aufgeschlagen. Während der Nacht war meine Hälfte des Zeltes um gute zwanzig Zentimeter abgesackt. Eine bedrohliche Situation, denn mit etwas Pech hätte das gesamte Zelt in Sekundenschnelle in der Spalte verschwinden können. Gottseidank war das Zelt am Spaltenrand fest verankert, was uns höchstwahrscheinlich das Leben rettete. Denn eine Nachschau ergab, dass die Spalte so tief war, dass wir nicht einmal den Boden sehen konnten. Tiefes Durchatmen war angesagt …

Die Spalte am Karumbar-Gletscher, die uns fast zum Verhängnis geworden wäre und die wir beim Lageraufbau gar nicht bemerkt hatten.

Ein Jahr später verbrachte ich mit meiner Frau einen Urlaub am Stilfser Joch. Wir hatten Takashi, unseren Sohn, und Chikashi, den ältesten Sohn meines Bruders, mit dabei, die beide gute Skifahrer waren. Bei einem gemeinsamen Ausflug zum Ortler entdeckte ich auf der Strecke, auf der früher Speed-Ski-Rekorde aufgestellt wurden, einen riesigen Eiswulst, der senkrecht abbrach und in den Hang überging. Genau dort wollte ich fahren. Und da wir eine Super-8-Kamera dabei hatten, bat ich meine Frau, mich zu filmen. „Ich fahre schräg von oben auf den Wulst zu, mache genau an der Kante einen Schwung und fahre dann dort hinunter“, erklärte ich. Mit dem Finger zeigte ich ihr den genauen Verlauf meiner geplanten Route. Was ich jedoch in meinem Übereifer nicht registrierte: Auf dem Eiswulst gab es nur einen Hauch Neuschnee. Darunter lag reinstes Blankeis. Und so zog es mir am Wulst sofort die Füße unter dem Körper weg. Ich stürzte kopfüber auf den Boden und raste mit zunehmender Geschwindigkeit bäuchlings den steilen Hang hinunter. Verzweifelt versuchte ich, die Kontrolle über meine Ski zurückzuerlangen. Aber vergeblich, meine Rutschpartie ging unvermittelt den Berg hinab.

Und dann sah ich sie: Vor mir tauchte eine riesige Gletscherspalte auf. „Gleich bist du weg“, war mein einziger Gedanke. „Wenn du da reinrutschst, ist alles aus!“ Mit erschreckender Klarheit registrierte ich das drohende Unheil und widersetzte mich ein letztes Mal mit aller Kraft der rasanten Fahrt. Und plötzlich – wie durch ein Wunder – kam ich mit einem Ruck zum Stillstand. Unmittelbar vor der bodenlosen schwarzen Gletscherspalte. Mein Herz schlug mir bis zum Hals.

Skilaufen auf dem Stilfser Joch, wo Brigitta und ich auch als Skilehrer für die Skischule Digruber arbeiteten. Im Bild v.l. Brigitta, Takashi und Chikashi, der älteste Sohn meines Bruders Gerhard.

Instinktiv schaute ich als erstes zu Brigitta und den Kindern nach oben. Meiner Frau stand der Schreck förmlich ins Gesicht geschrieben. Kreidebleich und mit offenem Mund starrte sie zu mir hinunter. Zittrig hob ich den Daumen, um zu signalisieren, dass bei mir alles in Ordnung sei, aber innerlich bebte ich: Um ein Haar wäre ich genau vor den Augen meiner Familie verunglückt. Anscheinend hatte ich in diesem Moment mehr als nur einen Schutzengel. „Glück gehabt“, dachte ich und machte mich mit wackeligen Knien an den Aufstieg – zurück zu meiner Frau und den Kindern.

Das wahre Gespür für Spalten entwickelte ich erst einige Jahre später, als ich mit Freunden im Mont-Blanc-Gebiet unterwegs war. Es war ein wahrlich beschissenes Wetter. Massiver Schneesturm mit entsprechend schlechter Sicht erwischte uns ausgerechnet am Glacier du Géant, einem Gebiet mit riesigen Gletscherspalten. Ich war der Erste unserer Seilschaft und ging voraus, bis ich plötzlich – von einer Sekunde zur nächsten – wie angewurzelt stehenblieb. Hinter mir wurden meine Kumpel missmutig. „Hey, was issn? Geh weiter, Li!“ Aber ich erwiderte nur: „Nein, da vorne ist eine Spalte!“ Häh? Unverständnis in der Gruppe. „Da ist eine Spalte, wir können nicht weiter.“ „Ach geh, da ist doch nichts!“ Dennoch blieben meine Kumpel vorsichtshalber neben mir stehen. „Geht vor und prüft es, aber ich sage euch, da vorne ist eine Spalte!“, blieb ich bei meiner Einschätzung und wies in die entsprechende Richtung. Ich konnte zwar weder eine Spalte sehen noch mein Gefühl erklären, aber ich war felsenfest davon überzeugt: Mein Instinkt warnte mich vor einer Spalte. Entschlossen gingen die Jungs fünf, maximal sechs Meter nach vorne. „Wow, das ist eine Riesen-Spalte“, rief einer entsetzt. So riesig, dass alle Mann problemlos darin verschwunden wären. Ich hatte sie förmlich gespürt, lange bevor wir die Spalte tatsächlich sehen konnten. Das hat uns damals mit Sicherheit das Leben gerettet. Und jetzt? Jetzt hing ich viele Jahre später in einer ebensolchen Spalte fest. Unglaublich. Und so irre, dass ich plötzlich wieder lachen musste. Ausgerechnet mich hatte es also getroffen.

Auf der Suche?

Zahlreiche Berichte hatte ich davon gelesen, dass Menschen in Gletscherspalten panisch um ihr Leben kämpften. Oder total resignierten und ihre Bergkameraden inständig darum baten, dem Ganzen ein Ende zu setzen, indem sie einfach das Seil kappten. Aber ich blieb ganz ruhig. „Ach Mist“, kam mir dann in den Sinn, „jetzt kann ich nicht mehr mit meinem Bruder sprechen.“ Und ich hatte noch ein Buch ausgeliehen, das ich jetzt nicht mehr zurückgeben konnte. „Herrgott nein“, dachte ich in der nächsten Sekunde, „wie gerne hätte ich meiner Frau nochmal gesagt, wie sehr ich sie liebe.“ Wie lächerlich erschien mir jetzt die letzte Auseinandersetzung, in der wir über ganz banale Dinge gestritten hatten. Das machte mich sehr traurig. Gleichzeitig war die Situation mehr als surreal. Ich hing zwischen zwei Welten. Auf der einen Seite hoffte ich, dass Martin und Gabriel eine Lösung fanden, um mich herauszuziehen. Auf der anderen Seite wusste ich, dass ich nicht mit einer Rettung rechnen, sondern dass es ebenso schnell mit mir zu Ende sein konnte. Eine komplett irre, psychische Berg-und-Talfahrt mit Sprüngen auf Bewusstseinsebenen, zu denen man normalerweise keinen Zugang hat.

Das Verwirrende war, dass ich stets überzeugt gewesen war, in meinem Leben könne alles passieren außer einem Sturz in eine Gletscherspalte. Offenbar wollte das Schicksal mir etwas sagen – ein Wink mit dem Zaunpfahl! Und zwar bezogen auf meine gesamten bergsteigerischen Aktionen. Mir war etwas zugestoßen, das ich nie für möglich gehalten hätte. Was würde als nächstes geschehen? Würde ich überleben? War das eine Art letzte Warnung, die mir die Berge geben wollten? Sollte das meinen Abschied vom Bergsteigen einläuten? Wenn ich richtig darüber nachdachte, fiel es mir wie Schuppen von den Augen, dass mein Unterbewusstsein bereits seit längerem begonnen hatte, den Bergen Lebewohl zu sagen.

Die Zeit dehnte sich zur Ewigkeit, und ganz schleichend verlor ich jegliches Gefühl in meinen Füßen. Würde mir Brigitta jemals verzeihen können, wenn ich unter solchen Umständen mein Leben verlor? Wie oft hatte sie in all den Jahren auf mich verzichten müssen, wenn ich zu den Bergen dieser Erde unterwegs war? Wie oft mussten meine Kinder ohne ihren Vater auskommen? Ich wusste, ich konnte mich mehr als glücklich schätzen, eine Frau zu haben, die mir in den fast 50 Jahren unserer Ehe stets den Rücken stärkte – komme, was wolle. Was zog mich also immer wieder hinaus in die Welt? Wieso war es mir wichtig, all diese Berge zu besteigen? Quer durch die USA zu laufen? Oder auf dem höchsten Punkt der Erde zu stehen – während zuhause meine Familie auf mich wartete? Es war dieses unbändige Verlangen, all diese Träume auszuleben, die so zahlreich in mir schlummerten. Diese Lebendigkeit zu erleben, die ich dabei verspürte, diese Leichtigkeit des Seins, wenn ein Projekt erfolgreich abgeschlossen wurde. Auch der sportliche Aspekt dieser Herausforderungen trieb mich an. Er verlieh mir die nötige Kraft, um die Aufgaben des Alltags zu bewältigen. Gleichzeitig war er die Quelle der intensiven Leidenschaft, die ich in meinem Beruf als Lehrer an meine Schüler weitergab. Und nicht zuletzt mein Rettungsanker, der mich schwere Lebenskrisen überstehen ließ …

Viele Menschen in meinem Umfeld konnten und wollten das nicht verstehen. Sie sahen mich als „einen Spinner der besonderen Art“ und meine Aktivitäten wahlweise als eine Flucht aus dem normalen Leben, als reinen Egoismus oder als Mittel zur Selbstdarstellung. Aber war das wirklich so? War ich mein gesamtes Leben lang auf der Suche nach Ruhm und öffentlicher Anerkennung gewesen? War mir das tatsächlich so wichtig? Oder war ich womöglich einfach nur auf der Suche nach einem Vater, den ich nie hatte – und all die Jahre schmerzlich vermisste?

Freigeist? Unerwünscht!

Unser Vater war ein Tabuthema. Kam innerhalb der Familie dennoch dann und wann jemand auf ihn zu sprechen, fiel stets ein dunkler Schatten auf das Gesicht meiner Mutter. Zeit ihres Lebens konnte sie den frühen Verlust ihres Ehemannes nicht überwinden. Bis zu ihrem eigenen Tod gab es nur diese eine große Liebe. Diesen tiefen Schmerz wollte sie vor allem von uns Kindern fernhalten. Mein Bruder und ich lernten von früh an, dass wir auf Nachfrage keine Antwort zu erwarten hatten. Auch wenn es uns brennend interessierte, wie unser Vater denn so gewesen war, was ihn ausmachte und welchen Charakter er besessen hatte, hielten wir uns auch als wir älter wurden stets mit Fragen zurück, um Mutter nicht traurig zu stimmen.

Erst viele Jahre später, als wir schon lange erwachsen waren, drangen tröpfchenweise Informationen über unseren Vater zu uns durch. Es war Anfang der 1930er Jahre, als die NSDAP die Macht übernahm und sich die Idee des Nationalsozialismus in Europa immer mehr ausbreitete. Auch Vater konnte sich dieser Propaganda nicht entziehen, und so dürfte er laut Erzählungen und unserem heutigen Verständnis nach ein überzeugter Nazi gewesen sein. In den Vorkriegsjahren arbeitslos, meldete er sich sogar freiwillig zum Militär. So zog er mit seiner kleinen Familie nach St. Pölten in Niederösterreich, wo er in der Gau-Leitung arbeitete und ich ein paar Jahre später, im August 1941, als Zweitgeborener das Licht der Welt erblickte.

Als der Krieg begann, wurde mein Vater zum Frankreich-Feldzug in den aktiven Dienst beordert. Da er dort durch gute Leistungen auf sich aufmerksam machte, wurde er recht bald von seinen Vorgesetzten zum Leutnant vorgeschlagen. Auf der Karriereleiter aufgestiegen, meldete er sich abermals freiwillig für den gefährlichen Einsatz an der Ostfront, in der heutigen Ostukraine. Ich war gerade zwei Jahre alt, mein Bruder sechs, als unsere Mutter im September 1943 die Meldung erhielt, dass ihr Mann durch einen Granatentreffer gefallen sei. Wie sehr damals die Welt für sie zusammenbrach, realisierte ich erst viele Jahrzehnte später. Der Krieg hatte ihr alles genommen. Den Mann, den sie liebte, und auch die gemeinsame Zukunft, die sie mit ihm geplant hatte. Und nun stand sie da mit ihren 32 Jahren, als Witwe und mit zwei kleinen Kindern, die sie künftig alleine zu versorgen hatte.

Mein Vater Karl an Weihnachten 1942, kurz bevor er zum Einsatz nach Russland befohlen wurde.

Kurzerhand schnappte sie uns und verließ umgehend St. Pölten, den Ort, an dem zu viele schmerzhafte Erinnerungen hingen. So zogen wir nach Kapfenberg in der Steiermark in das Haus meiner Großeltern. Großvater, ein angesehener und korrekter Oberbuchhalter in einem kleinen örtlichen Betrieb, war ein äußerst rigoroser Mann. Uns Kindern wenig zugetan, nahm er seine Tochter und deren Söhne zwar bei sich auf, wollte aber ansonsten seine Ruhe haben. Also fackelte er nicht lange: „Ich unterstütze dich zwar finanziell“, teilte er unserer Mutter mit, „aber nur, wenn die Buben nicht im Haus sind!“ Und auch wenn mein Bruder Gerhard und ich das Einzige waren, was unserer Mutter von ihrer kleinen Familie noch geblieben war, sah sie keine andere Möglichkeit, als schweren Herzens diese Bedingung zu akzeptieren. Die Konsequenz daraus war, dass sie uns Kinder regelrecht „abschieben“ musste. Gerhard kam umgehend ins katholische Landschulheim Marieninstitut im 50 Kilometer entfernten Graz. Ich, der dafür noch zu klein war, absolvierte zunächst die Grundschule in Kapfenberg, bis ich meinem Bruder vier Jahre später nach Graz folgte. Das Schulgeld für das Landschulheim war damals kein Pappenstiel. Und auch wenn Großvater kein besonders reicher Mann war, übernahm er dennoch die Finanzierung. So musste er uns nicht ständig um sich herum ertragen, sondern lediglich jedes dritte oder vierte Wochenende, wenn Gerhard und ich die Familie besuchen durften.

Für mich als Freiheitsgeist, den man von klein auf eher aktiv in der Natur als in der warmen Stube sitzend fand, war das eine einzige Katastrophe. Das Schülerheim in der Kirchengasse in Graz wurde mit strenger Hand geleitet. Wir hatten keinerlei Freiraum, und wenn wir mal für fünf Minuten außer Haus durften, war das bereits wie ein riesiges Geschenk. Nach der vierten Klasse im Landschulheim wurde meiner Mutter von der Heimleitung gesagt, dass es besser sei, wenn ich die Schule verließe. „Weg mit dem Buam, der bringt uns alles durcheinander“, so der Direktor. Schüler mit eigenem Kopf und eigenen Bedürfnissen hatten an dieser Schule keinen Platz, auch wenn er das nicht konkret aussprach. Damals waren die Schulen sehr autoritär strukturiert. Schläge waren an der Tagesordnung. Gehorsam und Disziplin standen an erster Stelle. Und genau das war für mich, der ständig auf der Suche nach Freiräumen war und den Lehrern gerne auch mal Widerworte gab, ein riesiges Problem und für die Schulleitung inakzeptabel.

Also wechselte ich mit 15 Jahren ins Landschulheim III und das Pestalozzi Gymnasium in Graz. Leider stellte ich schnell fest, dass es dort mit dem Freigang nicht viel besser aussah. Auch an der neuen Schule gab es Lehrer, denen ich als Freiheitsliebender ein besonderer Dorn im Auge war – und die mich genau aus diesem Grund immer wieder maßregelten. Selbst bei den Erziehern in der Heimstätte herrschten strenge Regeln. Eine Frage zu viel oder ein Widerwort an der falschen Stelle, und schon wurde mir die lang ersehnte Heimfahrt am Wochenende gestrichen.

Das wollte und konnte ich mit 17 Jahren nicht mehr akzeptieren. Zudem hatte ich schon seit langem geplant, am Samstagabend mit meiner Mutter den sogenannten Heringsschmaus zu besuchen, einen alljährlich im Februar stattfindenden Ball des Kriegsopferverbandes. Also packte ich an diesem Wochenende trotz des Heimfahrverbotes meine Sachen und trampte kurzerhand auf eigene Faust nach Hause. „Servus, Mama, da bin ich“, grüßte ich lässig, als ich in Kapfenberg ankam. Doch die Ruhe währte nicht lange. Noch vor dem Abend klingelte das Telefon, und die Heimleitung berichtete unserer überraschten Mutter empört von meinem heimlichen Verschwinden. Dies blieb natürlich nicht ohne Konsequenzen. Zum einen war Mutter stinksauer, weil ich ihr damit den Ball gehörig vermiest hatte, zum anderen wurde sie am kommenden Montag nach Graz beordert. „Der Bub passt nicht in unsere Gemeinschaft!“, schleuderte der Direktor ihr anstelle einer Begrüßung entgegen. „Wir sind ein anständiges Haus!“ Wutentbrannt deutete er mit dem Finger auf mich. „Ihn können wir nicht länger unter unserem Dach dulden!“ Ohne lange zu fackeln, legte man mir erneut einen Wechsel des Heims nahe. Mit dem einzigen Kompromiss, dass ich noch bis zu den Osterferien geduldet wurde. So lange hatte ich Zeit, mir etwas Neues zu suchen. Kaum war die Zeit jedoch vorüber, flog ich mit Bomben und Granaten aus meinem zweiten Schulheim.

Vom Lehrer verraten

Das Pestalozzi Gymnasium durfte ich weiterhin besuchen. Seit der 9. Klasse quälte ich mich dort mit dem Fach Mathematik herum, wobei ich oft einfach zu faul war mich da hineinzuknien. Mit einem Ungenügend im Zeugnis führte für mich kein Weg an einer Nachprüfung vorbei, die bei uns damals Nachzipf hieß. Bestand man diese Nachprüfung, konnte man sich vor dem Sitzenbleiben retten. Ich hatte zwar unbändiges Glück, dass ich die Prüfung bestand und versetzt wurde, doch das Glück war mir nicht hold, denn in der 11. Klasse plagte mich das gleiche Problem erneut. Zu den schwachen Leistungen in Mathe kamen nun auch noch weitaus schwächere Leistungen in Latein hinzu. Gegen Ende des Schuljahres konzentrierte ich mich nur mehr auf Latein, um eine drohende Klassenwiederholung zu vermeiden. Doch da hatte ich die Rechnung ohne unseren damaligen Lateinprofessor Dr. Schönbeck gemacht. Dieser konnte mich überhaupt nicht leiden. Einer, der widersprach und im Unterricht aufmuckte, aus dem konnte ja nichts werden! Zudem missfiel es ihm gehörig, dass ich damals schon von einer Auswahl des Österreichischen Leichtathletikverbandes regelmäßig zu Schulungen und Meetings mitgenommen wurde und infolgedessen seinem, wie er fand, „äußerst wichtigen“ Unterricht fernblieb. Während einer solchen Abwesenheit brach es schließlich vor versammelter Mannschaft aus ihm heraus. So teilte er meinen verdutzten Mitschülern mit, dass ich das Schuljahr sowieso nicht schaffen würde und er mir aufgrund der ständigen Abwesenheit ja praktisch überhaupt keine gute Note ausstellen könne.

Natürlich sorgte das für gehörigen Gesprächsstoff, und meine Freunde überschlugen sich dabei, mir nach meiner Rückkehr den Wortlaut des Lehrers brühwarm mitzuteilen. Doch so sehr ich in den nächsten Tagen auch darauf wartete, dass Schönbeck diese Äußerung auch mir gegenüber wiederholte, so sehr blieb er stumm. Kein Sterbenswörtchen verließ in meiner Gegenwart seine Lippen. Auch vermied er während des Unterrichts jeden Blickkontakt. Allerdings war am Ende genau er das Zünglein an der Waage, das mir die Wiederholung der 11. Klasse bescherte. Sein Urteil und seine Benotung meiner schulischen Leistungen brachten das Fass zum Überlaufen.

Nach dem Rauswurf aus dem Schülerheim war mir klar, dass ich auf keinen Fall in ein anderes Heim gehen würde. Eher würde ich die Schule komplett abbrechen und stattdessen eine Lehre beginnen. Nach einem langen Gespräch bot mir meine Mutter schließlich an, monatlich 600 Schilling – umgerechnet knapp 45 Euro – zur Verfügung zu stellen. „Damit musst du auskommen“, mahnte sie. „Neben der Miete musst du damit auch dein Leben in Graz finanzieren.“ Sie wusste, freiwillig würde ich nicht nach Kapfenberg zurückkehren. Auf der anderen Seite sorgte sie sich um meinen Schulabschluss. „Das ist alles, was ich dir geben kann“, sagte sie. „Mehr ist leider nicht drin.“ Ich jedoch war total aus dem Häuschen. Der Gedanke an mein erstes eigenes Geld ließ mich förmlich aufjubeln. Endlich raus aus den Strukturen der eingemotteten Landschulheime. Endlich eigene Verantwortung für mein Leben übernehmen. Für mich hörte sich das einfach nur traumhaft an! Wofür brauchte ich großes Geld, wenn ich stattdessen meine Freiheit bekam?

Ganz im Süden von Graz, gegenüber des Liebenauer Stadions, einem Fußball- und Leichtathletikstadion, mietete ich mir eine Dachkammer, in der ich mich mit meinen wenigen Habseligkeiten niederließ. 250 Schilling inklusive Frühstück. Dafür erhielt ich ein Zimmer, ohne Bad und ohne Klo. Keine Dachdämmung, keinen Isolierschutz, keine Heizung. Ich wohnte direkt unter den rohen Dachziegeln. Und damals gab es nicht nur überaus heiße Sommermonate, sondern auch noch richtig harte Winter mit wochenlangen Minustemperaturen. Heute weiß ich längst nicht mehr, wie oft ich morgens aufwachte, mit einem Bettzeug voller Schnee, der nachts zwischen den Dachziegeln durchgerieselt war. Aber das war mir egal. Ich war frei! Und ich genoss meine Freiheit in vollen Zügen – da waren das bisschen Schnee und die Kälte in meiner Bude das kleinste Übel. 350 Schilling blieben mir für das restliche Leben. Das war nicht viel. Also aß ich bei der Armenspeisung oder kaufte mir Pferdefleischsemmeln, die damals am billigsten waren. Eine Wonne war es, wenn ich dann und wann vom Leichtathletik-Verband zu Seminaren eingeladen wurde. Dort konnte ich eine Woche lang nach Herzenslust schlemmen. Essen und Trinken, so viel ich wollte. Bereits am zweiten Tag handelte ich mir dort einen Spitznamen ein: Fressi.

Ich war so glücklich mit dieser Lösung, dass es mich nicht im Geringsten störte, dass ich das Schuljahr wiederholen musste. Denn schon bald stellte sich heraus, dass das Sitzenbleiben ein richtiger Glückstreffer war. In der neuen Klasse verstanden wir uns alle prächtig. Der Zusammenhalt war super, und ich fühlte mich in den zwei Jahren bis zum Abitur in dieser Klassengemeinschaft pudelwohl. Auch heute – mehr als 50 Jahre nach unserem Abitur – trifft sich der harte Kern der damaligen Schulkameraden noch immer regelmäßig zu gemeinsamen Aktivitäten. Wir hatten stets einen Riesenspaß. Im ersten Jahr in der neuen Klasse wettete ich mit einem Klassenkameraden um eine Kiste Bier, dass ich in den zehn Tagen der Osterferien per Autostopp nach Spanien und wieder zurück käme. Die Auflage war, dass meine Kameraden die genaue Route festlegen sollten, die ich zu absolvieren hatte: von Graz und Salzburg über Freiburg, das Rhonetal hinunter bis zur Riviera und weiter bis Barcelona, von dort über Genua und Turin zurück nach Hause. Von überall musste ich Postkarten aufgeben oder zumindest mitbringen, um vorzuzeigen, dass ich wirklich vor Ort gewesen war. Meine Mitschüler feixten, das sei auf keinen Fall machbar, aber mich reizte die Herausforderung, und ich schlug sofort ein. Ich wusste: das war durchaus zu schaffen – auch wenn zehn Tage recht knapp bemessen waren.

Nach den Osterferien begann der Unterricht wie immer pünktlich um Viertel vor acht. Etwa zehn Minuten zuvor war ich an der Kreuzung unserer Schule aus einem spanischen Öltankwagen gesprungen und schnurstracks in die Klasse gerannt. Keine Viertelstunde nach Beginn des Unterrichts fand ich mich schon im Zimmer des Direktors wieder. „Linzbichler, wo kommen Sie denn her?“, musterte er mich. „Wie Sie überhaupt ausschauen!?!“ Ich blickte an mir herunter. Natürlich sah ich erbärmlich aus. Nach zehn Tagen auf der Straße, ohne die Möglichkeit, zu duschen oder die Kleidung zu wechseln, war mein Äußeres alles andere als gepflegt. Gleichzeitig muss ich entsetzlich gestunken haben. Kaum wollte ich zu meiner Rechtfertigung ansetzen, da fiel mir der Direktor bereits ins Wort. „Ach, redens net so lange. Schauens, dass Sie nach Hause kommen und sich waschen“, befahl er mir streng. „Und morgen kommen Sie wieder ordentlich zum Unterricht!“ Grinsend schlüpfte ich aus dem Zimmer und sah noch aus dem Augenwinkel ein leichtes Zucken um den Mund des Schuldirektors.

Auch mein Lateinlehrer in der Maturaklasse wusste mit einem „Freigeist“ wie mir einfach nichts anzufangen.

Aber auch diesmal gab es Lehrer, die mir nicht allzu wohlgesonnen waren. Und erneut war es der Lateinprofessor, der mich auf dem Kieker hatte. So gab es eines schönen Tages eine Mitteilung an alle Schüler, dass künftig keine Fahrräder mehr an verschiedenen Stellen rund um das Schulgelände abgestellt werden durften. Diese Nachricht betraf mich in keinster Weise, schließlich besaß ich nicht mal ein Fahrrad, und alle anderen nahmen die Information gelassen zur Kenntnis. Nur ich Trottel konnte mein loses Mundwerk nicht halten. „Ach so“, brach es aus mir heraus, „dann können wir die Räder zukünftig ja gleich am Bahnhof abstellen.“ Der Bahnhof war etwa drei Kilometer vom Schulgelände entfernt. Widerworte waren verpönt – und zack! – kaum hatte ich diese Worte ausgesprochen, wurde ich zu drei Stunden Karzer verdonnert. Karzer war damals Schulhaft, also praktisch Nachsitzen, jedoch in seiner verschärftesten Form. Nach einem zweiten Karzer wurde bereits der Schulausschluss angedroht. Bei einem dritten flog man umgehend von der Schule. Normalerweise wurde man nur bei wirklich schweren Verstößen gegen die Schulordnung zum Karzer verdonnert. Doch da ich so kurz vor dem Abitur keinen weiteren Rauswurf riskieren wollte, hielt ich ausnahmsweise meinen Mund – auch wenn mir das mehr als schwer fiel …

Meine Zurückhaltung hat sich insofern gelohnt, dass ich tatsächlich an der Abiturprüfung teilnehmen konnte. Deutsch und Englisch bereiteten mir keinerlei Probleme. Nur vor der Mathematikprüfung hatte ich einen riesigen Bammel. Um auf Nummer sicher zu gehen, beauftragte ich einen Einser-Schüler der Nachbarklasse, mir zu helfen. Der Plan war simpel, aber riskant: Nach Erhalt der Prüfungsunterlagen warf ich ihm einen Zettel mit der Aufgabenstellung aus einem der Klassenfenster. Nachdem er die Ergebnisse berechnet hatte, sollte er mir diese als Papierkugel durch das Fenster zurückwerfen. Also saß ich da, rechnete zur Tarnung eifrig irgendetwas vor mich hin und wartete angespannt auf die Ergebnisse. Es war ein herrlicher Sommertag. Alle Fenster waren weit geöffnet, und ich hatte einen Platz am hinteren Fenster ergattert. Eine kleine Bewegung ließ mich nervös aufschauen. Meine Augen folgten dem Papierkügelchen, das da von draußen ins Klassenzimmer katapultiert wurde. Mit Entsetzen sah ich, dass die Kugel genau vor den Füßen der Aufsichtsperson gelandet war. „So ein Mist!“ Mein Kumpel hatte das falsche Fenster erwischt. Panik stieg in mir auf, und ich hielt die Luft an. Die Aufsicht rührte sich nicht. Anscheinend hatte sie nichts von der heißen Ware bemerkt. In der Ferne sah ich das weiße Kügelchen auf dem Boden liegen, so nah und doch so unerreichbar. Schweißperlen traten auf meine Stirn. Was sollte ich jetzt bloß tun? Aufstehen und das Papier holen? Das war mir zu riskant. Also was blieb mir übrig? Seufzend machte ich mich an meine Prüfungsaufgaben und versuchte, sie irgendwie selbst zu lösen. Dabei hatte ich von Mathematik überhaupt keine Ahnung. Umso glücklicher war ich, als es bei der Verkündung der Ergebnisse hieß: „Linzbichler, Mathematik: 3“.

Auch wir wussten damals schon, was Feiern hieß: Abiturfeier 1961.

Als meine Mutter am nächsten Tag das Zeugnis in ihren Händen hielt, war ich schon längst über alle Berge! Per Autostopp in Belgrad eingetroffen, steuerte ich bereits dem nächsten Abenteuer entgegen. Jetzt gehörte die Welt endlich mir! Jetzt war ich wirklich frei!

Sport: Erste Leidenschaft und größte Enttäuschung zugleich

Raus aus der Wohnung, rein in die Natur. Von klein auf waren mein Bruder und ich regelrechte Hofkinder. Ruhig auf einem Stuhl in der Stube zu hocken, war für uns undenkbar. Stundenlang in die Röhre schauen, erst recht. Und das nicht nur, weil wir damals noch gar keinen Fernseher besaßen, sondern vielmehr, weil insbesondere in mir eine unbändige Energie steckte. Ich war ein regelrechter Wildfang. So entdeckte ich bereits sehr früh die Welt um mich herum in all ihrer Vielfalt und all ihren Farben. Da gab es in Kapfenberg einen Märchenwald, den ich ehrfürchtig erkundete, einen Sportplatz, auf dem ich mich mit den anderen Jungs richtig austoben konnte oder steile Hänge für wilde Schlittentouren im Winter. Auch die Berge vor der Haustür interessierten mich. Zeberer Höhe? „Hatte das nicht etwas mit Zebras zu tun?“ Kaum gedacht, machte ich mich auf den Weg, um den Höhenzug, den man von unserem Küchenfenster aus sehen konnte, zu erkunden. Auf dem ersten Gipfel angekommen, lockte mich sofort der nächste. Und schon war ich unterwegs zum nächsten Ziel. Auch wenn ich in den Höhen zu meiner Enttäuschung letztlich keine Zebras entdeckte, wollte ich schon damals stets wissen, was hinter dem nächsten Berg oder der nächsten Wand steckte.

Seinerzeit wusste ich es noch nicht, aber genau diese unbändige Neugierde, diese unstillbare Abenteuerlust war es, die ich mir mein gesamtes Leben bewahren sollte. Wenn irgendetwas mal nicht funktionierte und ich mit dem Kopf gegen die sprichwörtliche Wand lief, zuckte ich höchstens kurz zusammen, sammelte mich und lief weiter. Während andere ins Grübeln gerieten, „wieso war das jetzt so und nicht ganz anders“, war ich bereits auf dem Weg zum nächsten Abenteuer. Ich trauerte nicht lange einer Sache hinterher, die ich sowieso nicht ändern konnte. Ich hinterfragte auch nicht, ob das gut oder schlecht war. Schloss sich eine Tür, öffnete sich schnell eine neue.

Als der kleine Bruder war ich stets irgendwie im Hintergrund. Insbesondere dann, wenn Gerhard mit seinen Freunden unterwegs war, die natürlich alle viel älter waren als ich. Zwar suchte ich immer wieder den Anschluss, doch mit einem Jüngeren wollten sie sich nicht abgeben. Das ärgerte mich, und in meiner Wut über die Zurückweisung legte ich mich hin und wieder heftig mit ihnen an. Dabei hatte ich einen riesigen Vorteil: Ich konnte schneller laufen als sie. Flink und wendig wie ich war, ließen mich die anderen schon nach wenigen Minuten resigniert ziehen. Keiner konnte mir folgen und mich je einholen, um mir die manchmal wahrlich verdiente Tracht Prügel zu verabreichen.

Was ich dabei schnell lernte, war, dass ich umso mehr Beachtung fand, je stärker ich sportlich von den anderen herausragte. Dadurch erlangte ich die Aufmerksamkeit und vor allem Anerkennung aus meinem Umfeld, die ich zuhause oder in der Schule nicht erwarten durfte. Das Gefühl „niemand mag mich“ war nahezu allgegenwärtig. Mutter hatte alle Hände voll zu tun, uns Kinder irgendwie durchzubringen. Der Großvater war froh, wenn er seine Ruhe hatte, die Clique meines Bruders schloss mich vehement aus, und den meisten Lehrern war ich einfach zu wild, als dass sie mehr hinter meinem Bewegungsdrang erkannt hätten. Den Halt einer männlichen Bezugsperson hatte ich nie. Und ich war mit Sicherheit ein Kind, das genau diesen Halt gebraucht hätte.

Eines schönen Tages kam ein Mann zu Besuch. Ich dachte mir nichts weiter dabei und stutzte erst, als Mutter uns am Abend fragte, ob wir uns vorstellen könnten, einen neuen Vater zu haben. Ich weiß nicht mehr, wie alt wir damals waren, aber ich weiß noch heute, dass Gerhard und ich unverzüglich und unisono mit: „Nein, den brauchen wir nicht!“ antworteten. Damit war das Thema erledigt, nicht nur für uns Kinder. Ohne jegliche Debatte akzeptierte auch Mutter die Entscheidung, und so bekamen wir jenen Mann nie mehr wieder zu Gesicht. Und nicht nur das: Mutter hat sich Zeit ihres Lebens weder dazu geäußert noch jemals einen anderen Mann mit nach Hause gebracht.

Erst viele Jahrzehnte später wurde mir bewusst, wie sehr ich als junger Bub einen Vater vermisst hatte. Einen, der mich unterstützt und mir sicher auch hin und wieder meine Grenzen gezeigt hätte. Eigentlich hätte meine natürliche Reaktion zum Freund meiner Mutter positiv sein sollen. Doch instinktiv spürten Gerhard und ich, dass da nicht irgendjemand an Mutters Seite sein sollte, sondern unser richtiger Vater. Vielleicht war es auch eine unterbewusste Angst vor Veränderung. Damals verstand ich jedoch nicht, was mir im Leben fehlte, und so kompensierte ich dieses Gefühl der Leere mit intensiver sportlicher Bewegung.

Im Internat gründeten wir hinter den Schulmauern eigene Fußballmannschaften, die im Spiel gegeneinander antraten. Ungarische Fußballvereine, die damals an der Weltspitze mitspielten, waren unsere Vorbilder. Meist trafen wir uns morgens noch vor Sonnenaufgang, um unser Match auszutragen. Pünktlich zur offiziellen Weckzeit um kurz nach sechs, standen wir dann ausgepowert und verschwitzt mit den anderen Jungs unter der eiskalten Dusche. Meine Position war stets im Tor, und da wir damals zum Fußballspielen praktisch nichts Geeignetes zum Anziehen hatten, war ich mit den Militärstiefeln meines Vaters ausgestattet. Diese waren riesengroß und unsagbar unbequem. Ich hasste sie, aber es gab keine Alternative. Von ganzem Herzen wünschte ich mir Fußballschuhe, doch egal, wie sehr ich die Stiefel auch beanspruchte und wie hart ich gegen den Ball trat, zu meinem Leidwesen waren sie unzerstörbar.

Das Fußballspiel war damals meine ganze Leidenschaft. Mitglied in einem örtlichen Fußballverein zu werden, erlaubte die Schulleitung nicht. Als ich aber die Schule wechselte, entdeckte man dort mein Talent für Leichtathletik, und so nahm mich der damalige Sportprofessor Egon Karf unter seine Fittiche. Karf war einer der besten Leichtathleten und Schwimmer der 1930er Jahre. Im Juni 1935 lief er als erster Steirer die 100 Meter unter 11 Sekunden, genauer gesagt in 10,9 Sekunden. Das war Weltklasse. Etliche Jahre später starb er an einem Genickbruch, als er seinen Studenten den richtigen Abgang per Salto beim Ringturnen zeigen wollte.

Karf hatte ein Auge für junge Talente, und einzig durch seine Initiative gelangte ich zum Allgemeinen Turnverein in Graz zur Sektion Leichtathletik. Dort begann ich mit dem Kugelstoßen, Diskus- und Speerwerfen. Diese Sportarten waren zwar nicht meine totale sportliche Erfüllung, doch empfand ich es als äußerst spannend, endlich in einem richtigen Verein, mit einem engagierten Trainer zusammenarbeiten zu können. Da das Stadion nur zwei Minuten Fußweg von meiner Dachwohnung entfernt lag, trainierte ich nun wie besessen. In jeder freien Minute fand man mich auf dem Sportgelände. Später lernte ich dort auch den damals noch völlig unbekannten Bodybuilder Arnold Schwarzenegger kennen, den ich gelegentlich traf, wenn er zum Krafttraining kam, während ich im Freien meine Übungen absolvierte.

Eines der damals zahlreichen Leichtathletik-Meetings im Liebenauer Stadion (1959).

Beim Start war ich kaum zu schlagen (hier Bildmitte).

An nahezu jedem Wochenende fand ein Sportmeeting statt, bei dem ich mit vielen anderen Sportlern und namhaften Vereinen zusammentraf. So auch mit dem Polizeisportverein Graz, der mich 1958 aufgrund meiner Leistungen abwarb. Fortan war ich dort als Zehnkämpfer unterwegs. Die Vielseitigkeit der Sportart bereitete mir riesigen Spaß, und mein Trainingsfleiß wurde mit vorderen Platzierungen bei den Steirischen Jugend- und Juniorenmeisterschaften belohnt. Parallel dazu wurde bundesweit an den Schulen Österreichs ein Leichtathletik-Dreikampf durchgeführt. Die besten 50 Schüler dieser Wettkämpfe sollten vom Bundesministerium für Unterricht, Sport und Kultur in Absprache mit dem Olympischen Komitee im August 1960 als eine Art Delegation zu den Olympischen Spielen in Rom entsendet werden. Olympische Spiele mit erleben? Das war ein gigantischer Lebenstraum von mir! Wie oft schon hatte ich darüber gelesen und die Rennen live im Radio verfolgt. Mir war klar: Da musste ich hin! Also gab ich mein Bestes, um in die Delegation aufgenommen zu werden. Als die Ergebnisse endlich veröffentlicht wurden, sah ich, dass ich mich als Gesamt-Drittbester qualifiziert hatte. Aber was war das? Trotz der hohen Punktzahl, wurde ich dennoch nicht für die Delegation vorgesehen. Die Enttäuschung war riesig! Da musste ein Missverständnis vorliegen! Also schrieb ich einen Brief an den damaligen Unterrichtsminister Dr. Heinrich Drimmel, mit der Bitte um Klärung des Sachverhalts. Und siehe da: Bereits wenige Tage später wurde ich nachnominiert und durfte mit den anderen zu den Olympischen Spielen reisen. Diese und weitere Situationen in meinem Leben führten letztlich dazu, dass ich immer