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Beschreibung

Aber jetzt ist Schluss! Unaufhaltsam ergreifen ungehaltene Frauen erneut das Wort Der zweite Band der Anthologie »Neuen ungehaltenen Reden« erzählt neue Geschichten und bleibt der Vielstimmigkeit des ersten Bandes »Sag jetzt nicht, lass mich zu Ende reden!« treu. Zum zweiten Mal erheben Frauen allen Alters, mit den unterschiedlichsten Hintergründen das Wort und reden über das, was sie beschäftigt. Unter anderem schwere Schicksalsschläge, der Kampf zurück ins Leben, unerreichbare Körperideale und die Reduktion auf das Äußere. Manche sind zornig, manche nachdenklich und wieder andere humorvoll. Was sie eint, ist ihr Widerstand gegen ein System, das dem Schweigen bisher zu viel Raum gegeben hat: Aber jetzt ist Schluss! Zum dritten Mal in Folge riefen 2023 die Stiftung Brückner-Kühner und der S. Fischer Verlag in Kooperation mit dem Archiv der deutschen Frauenbewegung, der Stadt Kassel und dem Hessischen Rundfunk dazu auf, ungehalten zu sein. Gesucht waren Beiträge von Frauen: Reden von gesellschaftlicher und persönlicher Bedeutung. Über hundert Frauen nahmen an der Ausschreibung teil. Sechs davon werden am 10. Dezember 2023 ihre Reden vor Publikum im Kasseler Rathaus halten. Die Veranstaltung wird vom Hessischen Rundfunk in voller Länge aufgezeichnet und im Januar ausgestrahlt werden. Weitere Reden sind unter ungehalten.net abrufbar. In der Anthologie versammeln sich neben den Texten der eingeladenen Rednerinnen noch viele weitere bemerkenswerte Reden.

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Seitenzahl: 187

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Friederike Emmerling | Julia Blando | Friedrich Block | Judith Heinz | Johanna Schwung (Hrsg.)

Aber jetzt ist Schluss!

Neue ungehaltene Reden ungehaltener Frauen

 

Über dieses Buch

 

 

Über das Projekt:

 

Zum dritten Mal starteten der S. Fischer Verlag und die Stiftung Brückner-Kühner im Jahr 2023 einen Aufruf in Kooperation mit dem Archiv der deutschen Frauenbewegung, der Stadt Kassel und dem Hessischen Rundfunk (hr2-kultur). Gesucht waren Reden von Frauen: Beiträge von gesellschaftlicher und persönlicher Bedeutung. Der 2. Band der Anthologie versammelt eine Auswahl der bemerkenswertesten Reden. Mehr Informationen zum Projekt und die Videos der Reden finden Sie unter www.ungehalten.net.

 

 

Weitere Informationen finden Sie auf www.fischerverlage.de

Inhalt

Wir sind nicht machtlos

Cara Platte: Was kann ich darüber fragen, Frau zu sein?

Mara Aigua: An die Andere in deinem Gesicht

Marianne Strauhs: Eines geht noch …

Clara Schiffling: Hier bin ich dort

Birgit Ehrenberg: Frauengeschichten?

Rameza Monir: Die bekannte Fremde

Svenja Hünicke: Es geht ums Gendern, aber nicht um Sternchen

Kathrin Thenhausen: Rede über etwas, das nicht ganz war

Corinne Othenin-Girard: Das Lesen meines Geschriebenen ist dem Sprechen wie ein Geländer (oder über meine Sprache in einem halben Satz)

Maya Alou: Und wer da stirbt, der erwacht zum ewigen Leben

inka°witz: das ICH im folgenden

Kerstin Simon: Ich, larmoyant

Lea Samira Maier: Ich schlucke nicht mehr, oder: Eine Selbstverpflichtung zum Wütendsein

Luca Tamara Yaa Amponsah: Von der Diktatur der Kahlrasur und anderen Begleiterscheinungen des Sommers

Anne Sicking: »Das wirst du doch nie wieder los«

Susanna Ohlsen: Ahnungslos:Sprachlos

Katharina Linnepe: Ich bin nicht schuld

Marion Otto: Wenn die Mütter streiken würden

Dagmar Sommer: DU

Andrea Fleckner: Autismus aus der Innensicht

Christine Finke: Autismus aus Muttersicht

Veronika Litschel: Dazwischen

Fred Heinemann: YOUR BODY IS A SKYSCRAPER

Käthe Lorenz: FLAWLESS

Alina Mathias: »Begrenz mich«

Tina Adomako: Wie mich ein alter Mann dazu brachte, für Sie eine Rede zu schreiben

Christina M. Erdmann: Darf ich das so sagen?

Dr. Ute Altanis-Protzer: Siebzig Jahre ungehalten

Sandra Meyer: Ich bin VIELE

Michèle Métail: BESCHREIBUNG EINER UNSICHTBAREN REDE

Wir sind nicht machtlos

Welche Frau[1] kennt das nicht? Eine zu enge Hose, ein schlecht sitzender Rock, eine verrutschte Strumpfhose. Zuhause dann die köstlichste aller Verwandlungen. Jogginghose, Strickjacke, dicke Socken, wilde Locken. Oh süße Freiheit für Körper und Geist. Das denkt sich auch Eleonore Garazzo. Nur radikaler. Sie kündigt einfach gleich ihr ganzes bürgerliches Leben auf und lässt sich ein Katzenfell auf den Leib nähen. Von nun an will sie nicht mehr Frau, sondern nur noch Katze sein. Und weil Eleonore Garazzo wohlhabend und tatkräftig ist, gelingt ihr das auch weitestgehend. Geschickt entzieht sie sich jeder Verantwortung. Sie hat keine Kinder, keine Beziehung und lässt die demente Mutter im Heim versorgen. So fühlt sich Freiheit an? Die Möglichkeiten ihrer Verwandlung sind natürlich begrenzt. Vieles kann der menschliche Körper nur simulieren. Doch davon lässt Eleonore Garazzo sich nicht abschrecken. Sie folgt dem Tier in ihr – soweit es geht – und zieht sich in die eigenen vier Wände zurück. Andere Menschen interessieren sie nicht mehr. Sprechen empfindet sie zunehmend als überflüssig. Sie fühlt sich frei. Keine Zuschreibungen mehr, keine Erwartungshaltung, keine Verantwortung, einzig und allein pures SEIN. Schwer zu sagen, ob eine Frau wie Eleonore Garazzo sich als Vorbild eignet. Sie denkt ausschließlich an sich selbst. Dabei ist sie allerdings beeindruckend konsequent. Was andere denken, ist ihr völlig egal. Immerhin hat sie es mit ihrer Kompromisslosigkeit auf das Cover dieses Buches geschafft. Was ihr bestimmt ebenfalls ziemlich egal wäre. Aber das Bild würde ihr gefallen. Wie sie so herausfordernd schaut, so furchtlos. Und wie sie gerade eine Taube gerissen zu haben scheint. »Die Katze Eleonore« ist eine Theaterfigur und wurde von der Dramatikerin Caren Jeß erfunden. 2023 gewann Caren Jeß mit diesem Monolog für eine Frau die wichtigste Auszeichnung für deutschsprachige Dramatik, den Mülheimer Dramatikpreis. Die Illustratorin Julia Diederich hat das beeindruckend katzenhafte Spiel der Schauspielerin Karina Plachetka in der Dresdner Uraufführungsinszenierung auf diesem Bild festgehalten.

Was haben die Katze Eleonore und die ungehaltenen Reden ungehaltener Frauen gemeinsam? Viel. Sie sind Frauen, sie sind ungehalten und für sie gilt: »Aber jetzt ist Schluss!« Mit diesem Satz teilt sich das Jetzt in ein Vorher und Nachher. Eva Schulz-Jander hat diese Forderung im vergangenen Jahr in ihre Rede hineingeschrieben. Ihr Zitat als Titel dieses Buchs soll eine Brücke zwischen den Reden schlagen. Das Feuer wird weitergereicht. Weil sich die ungehalten redenden Frauen – glücklicherweise und sehr im Gegensatz zu Eleonore Garazzo – für ein Miteinander entschieden haben. Und dieses Miteinander wuchert weiter. Mit jeder Frau, die das Wort ergreift, wird es dichter, höher und breiter. Mit unaufhaltsamer Wucht durchbricht es laut die Stille.

Seit 2021 laden die Stiftung Brückner-Kühner und der S. Fischer Theaterverlag Frauen jeden Alters und jeder Herkunft dazu ein, ihre eigene ungehaltene Rede zu halten, sich dabei zu filmen und sie als Video einzureichen. Und weil diesem Aufruf mittlerweile mehr als 300 Frauen gefolgt sind und allein im letzten Jahr 138 Reden eingereicht wurden und viele Frauen der Veröffentlichung ihrer Reden auf www.ungehalten.net/ zugestimmt haben, ist ein beeindruckendes Redenarchiv entstanden. Hier schlägt das pulsierende Herz dieses Projekts. Fast 100 Videos mit ungehaltenen Reden sind dort zu sehen. Faszinierenderweise scheinen sie ein Eigenleben zu führen. Sie reagieren aufeinander, ohne voneinander gewusst zu haben. Eine Frau beschreibt Ängste, eine andere erzählt, wie sie mit ihren umgeht. Eine findet sich in ihrem Körper nicht zurecht, eine andere feiert ihre Defizite. Obwohl nicht alle einer Meinung sind, weiß doch jede Einzelne, wie viel Mut es erfordert, eine ungehaltene Rede zu halten. Und dieser Mut ist in jeder Rede deutlich spürbar. Alle Frauen machen sich durch ihre Offenheit sehr verletzlich. Aber sie sind dabei – im wahrsten Sinne des Wortes – entwaffnend ehrlich. Viele Reden erschüttern und machen wütend. Gleichzeitig spenden sie aber auch Trost, ermutigen, inspirieren, sind komisch, skurril, durchgedreht und so gegensätzlich wie die Frauen selbst. Von der Pubertät bis ins hohe Alter versammeln sich in diesem Buch die ungehaltenen Frauen. Und jede Rede ist ein kleines Leuchtfeuer in dieser komplizierten und komplexen Welt, der wir nicht anders als suchend begegnen können.

Der Einsendeschluss für die ungehaltenen Reden war am 30. Juli 2023. Die Entscheidung der Jury fiel Anfang Oktober. Danach überschlugen sich die traurigen Ereignisse im Nahen Osten. Es scheint, als ob die Welt sich immer schneller dreht. Wir können einfach nicht wissen, was heute Abend, morgen früh oder im nächsten Jahr passieren wird. Und wir fühlen uns sehr hilflos. Aber wenn viele Menschen versuchen würden zu verstehen, was andere ungehalten macht, und wenn viele Menschen versuchen würden zu erklären, warum sie ungehalten sind, wäre das ein großer Schritt aufeinander zu. Carolin Emcke beschreibt es in ihrem Buch »Gegen den Hass« so tröstlich: »Präzise lässt sich nicht gut hassen. Mit der Präzision käme die Zartheit, das genaue Hinsehen oder Hinhören, mit der Präzision käme jede Differenzierung, die die einzelne Person mit all ihren vielfältigen, widersprüchlichen Eigenschaften und Neigungen als menschliches Wesen erkennt.« Je länger das Ungehalten-Projekt dauert, desto spürbarer wird, dass es nicht allein ums Reden, sondern auch ums Zuhören geht. Das klingt leicht. Ist es aber nicht. Weil Zuhören Großzügigkeit erfordert. Großzügigkeit im Aushalten anderer Meinungen, im Ausredenlassen, im gegenseitigen Respekt. Großzügigkeit wird gerne mit Nettsein verwechselt. Dabei geht es um eines bei den ungehaltenen Reden ungehaltener Frauen sicher nicht: Nettsein. Nett waren Frauen viel zu lange. Höchste Zeit für die Kompromisslosigkeit einer Eleonore Garazzo und das kraftvoll laute Miteinander all der Ungehaltenen: Aber jetzt ist Schluss!

Wir sind nicht machtlos. Wir können reden. Und wir können zuhören.

 

Friederike Emmerling

Fußnoten

[1]

Der Begriff Frauen meint in diesem Buch und im Kontext des Ungehalten-Projekts der Stiftung Brückner-Kühner und des S. Fischer Theaterverlags alle Menschen, die sich als Frauen identifizieren. Das Wort Frau soll als Einladung verstanden werden, nicht als Ausgrenzung. Es ist genug Platz in diesem Wort, um all jenen eine Zugehörigkeit zu geben, die sich im Kontext des Weiblichen bewegen. Dieser Kontext ist wichtig, weil sich anhand der weiblichen Vielstimmigkeit zeigt, wie unterrepräsentiert die verschiedenen Perspektiven von Frauen in fast allen Bereichen des Lebens sind. Deshalb können gar nicht genug Frauen ungehaltene Reden halten. Am besten widersprechen sie sich andauernd. Genau in dieser Ambivalenz liegt die Möglichkeit.

Cara Platte

Was kann ich darüber fragen, Frau zu sein?

Sehr geehrte Damen und Herren und alles dazwischen und außerhalb,

ich heiße Cara, bin siebzehn Jahre alt und definiere mich als Frau. Zumindest glaube ich das.

Aber was kann ich darüber fragen, Frau zu sein?

Frau, weiblich, feminin

Mann, männlich, maskulin

Die Kategorien scheinen klar zu sein

Ich passe dennoch nie hinein

Ich spüre tief in meinen Geist, weil ich dort die klare Vorstellung dessen erwarte, was es bedeutet, eine Frau zu sein. Und werde trotzdem nicht fündig.

Das Weiblich-gelesen-Werden spüre ich nur dann, wenn ein fremder Blick den meinen streift

Über Gesicht und Körper schweift –

Ich habe in meinem Leben vieles anprobiert

Röcke, Hosen, Kleider, Shorts

Netzstrumpfhosen andernorts

Ich habe Identitäten probiert und gewechselt

Mein Ich gedreht und gedrechselt

Bis es endlich passen sollte

Doch ich versuchte vergeblich, meinen dreidimensionalen Körper in diese zweidimensionale Papierschablone zu pressen

Denn es wollte nicht recht passen

Mich nicht damit verschmelzen lassen

Doch wenn ich selbst nicht der Ursprung jener sagenumwobenen Weiblichkeit bin, die scheinbar überall bedroht ist, wenn man manchen Menschen Glauben schenken möchte – dann weiß ich es auch nicht.

 

Doch wenn ich sagen sollte, was anders lief in meinem Leben

Kann ich nur eine klare Antwort geben

Es ist nicht mein Blick auf die Welt, der mich trennt

Sondern der Blick der Welt, der auf mir entbrennt

Die Erwartungen sind hier und dort

Und tragen mich immer weiter fort

Von dem, was ich fühle

Und nach und nach vergesse ich

Was ich wirklich denke, wer ich wirklich bin

Verkenne mich

Und meinen Sinn

 

An Tagen mag ich’s, an manchen nicht

Dann kommt der Weiblichkeitsverzicht

Manchmal gut, manchmal schlecht

Doch nie obliegt es meinem Recht

Was das ist, das in mir gesehen wird

Und scheinbar so offensichtlich in mir schwirrt

 

Die meisten meinen es nur nett

Lächelnd, lieblich und kokett

Sagten sie meinen Eltern am Schulanfang

Dass mein Hosenanzug negativ ins Auge sprang

Und nun wirklich gar nicht zu mir passte

Obwohl ich ihn mir selbst ausgesucht hatte

Und zur Jugendweihe dann

Wer mich denn zu diesen Turnschuhen zwang

 

Niemand nimmt das Wort Frau in den Mund

Und verwendet es als Tatsachenbefund

Es ist immer ein Wille, eine Forderung

Die mich wegtreibt, mit pulsierendem Schwung –

Ich kann offenbar gut mit Kindern umgehen

Das durfte ich schon mit fünf Jahren verstehen

Ich bin offenbar auch sehr nett und sehr freundlich

Einfach gut mit Menschen, augenscheinlich

Das wurde Tag für Tag

Lächelnd zu mir gesagt

Obwohl ich das Kind war, das sich in einem monströsen Wutanfall schreiend vor dem Supermarkt drehte

Während die Röte über die Wangen meiner Eltern wehte

Eigentlich war ich ein ziemliches Arschlochkind

Das ist zumindest das, was ich heute find –

Aber neben diesen nett gemeinten femininen Zwängen

Gibt es auch jene, die mich noch heute in die Enge drängen

 

Am schönsten ist

Wenn man das Frausein einfach vergisst

Doch wissen Sie, wann es mit voller Wucht zurückfliegt?

Nicht in der Liebe, nicht wenn ich meine Periode krieg

Sondern wenn ich mir in der Stadt etwas kaufe

Oder ganz normal durch die Straßen laufe

»Frausein« ist ein Schutzbewusstsein, denn wenn ich es nicht hätte, würde ich mich vielleicht anders verhalten

Und dann würde möglicherweise die Unvorsichtigkeit walten

Denn das, was wirklich in Erinnerung bleibt

Ist nicht der vergiftete Liebreiz der Alltagssexismen

Der mich dennoch in den Wahnsinn treibt –

Sondern, wenn man mich mit männlichem Blick als Frau betrachtet

Was wahrscheinlich jede weiblich Gelesene irgendwann erwartet –

Frausein verbinde ich meistens mit Angst

Ich hatte Angst vor dem Säufer mit der Bierflasche, der mir hinterhersprintete, nachdem ich mich verbal gegen seine Anmache gewehrt hatte.

Ich hatte Angst vor der Jungsgruppe in meinem Alter, die mir zuerst lüstern-invasive Blicke zuwarf und schließlich begann, mir hinterherzupfeifen.

Ich hatte Angst vor einem Lehrer an meiner Schule, der besonders seine weiblichen Lieblingsschülerinnen stets mit einem flirtenden Lächeln und einem sexualisierten Spruch beglückte.

Mittlerweile habe ich Angst vor locker geklopften Sprüchen

Vor Wein- und Biergerüchen

Davor, dass Jungen mich auf der Straße zu lange ansehen

Oder sich noch ein weiteres Mal nach mir umdrehen

 

Aber wenn ich zu Hause auf meinem Sofa liege

Und die feministischen Bücher in meinen Händen wiege

Höre ich die Stimmen von Olympe de Gouges, Mary Wollstonecraft und Simone de Beauvoir…

All diese Feministinnen

Durch die viele wieder Mut gewinnen

Mutige Reden in der Sicherheit eines Bildschirms

Mutige Stimmen in jeder Windung des Gehirns

 

Doch so schnell, wie sie gekommen sind

Verweht sie wieder der Abendwind

Werden sie flüsternd verstummen

Wenn über mir Laternenschirme summen

Wenn das Gartentor hinter mir zuschlägt

Und sich ein unwohles Gefühl in mir regt

Wenn der nasse Asphalt unter meinen Füßen knirscht

Und Dunkelheit sich in alle Ecken pirscht –

 

Auch wenn ich mich auf einer Demo für Frauenrechte befinde, begreife ich mich als Frau, aber nur in positiver Hinsicht dem Begriff der Männer, die einem auf der Straße hinterherrufen, entgegengesetzt. Ich übermale einfach die dunklen Erinnerungen an verschlungene Gassen und feixende Rufe, die in meinem von der Panik geblähten Schädel vibrieren, mit dem bunten Graffiti eines positiven Frauenbildes, dessen glitzerndes Empowerment so sehr trieft, dass es zu schwer für meine Schultern wird. Denn im Grunde genommen ist beides das Gleiche. Es ist nie nur ein Dasein, sondern immer ein Mitsein oder ein Entgegensein.

Jungenhaft oder weiblich-rein

Weiblichkeit

Ich definiere mich um sie herum, an ihr herab, ihr entgegengesetzt

Und bin dennoch immer von ihrem Begriff gehetzt

Sie ist Dreh- und Angelpunkt all meiner Überlegungen und Definitionen

Verdreht Ideen und Emotionen –

 

Ein Ruf entfacht in lauter Glut

Brennt voll spitzer, heißer Wut

Dass alles ist, wie es ist

Und alles bleibt, wie es bleibt

Und keinerlei Veränderungen zeigt

Nicht »Warum bin ich, wie ich geworden bin?«

Sondern was ist überhaupt der Sinn

Des Ichs, auf dessen Wahrnehmung mir der Einfluss fehlt

Eine Frage, die schon lange in mir schwelt

Frausein ist nichts, was ich jemals sein wollte

Oder irgendwer perfekt verkörpern sollte

Wäre es meine Entscheidung, ganz allein

Würde ich einfach nur ein Mensch sein

Cara Platte, 2006 in Leipzig geboren, besucht derzeit die zwölfte Klasse des Gerda-Taro-Gymnasiums in Leipzig. Seit ihrer Kindheit ist sie fasziniert von der Kraft der Sprache – und verwebt sie auch mit eigenen Texten und Geschichten.

Mara Aigua

An die Andere in deinem Gesicht

Du und ich, wir sitzen in einem Restaurant in einer fernen Stadt. Und ich denke: Heute, Mama, vielleicht heute.

Ein Kellner kommt an unseren Tisch und bringt uns die Karten.

»Prego.« Er zwinkert uns zu.

Wir vertiefen uns in Primi, Secondi und wie auch immer Getränke auf Italienisch heißen. Es ist unser erstes Wochenende zusammen seit … gefühlt hundert Jahren. Haben wir nicht mehr gemacht, seit meine Kinder da sind. Aber here we go. Endlich mal Zeit zu zweit. Ein Gespräch in Ruhe zu Ende führen, vielleicht sogar ein zweites anfangen. Fühlt sich unverschämt gut an. Vielleicht wäre heute also ein guter Moment, dich zu fragen. Um es einzuordnen, sage ich mir, in unser beider Geschichte. Als das, was es ist, spreche ich mir weiter Mut zu. Denn es ist ein bisschen groß geworden. Durch sein Nicht-Ansprechen.

Ich nicke mir selbst zur Bestätigung zu, was von außen vermutlich so aussieht, als ob ich mich endlich für ein Gericht entschieden hätte. Doch schon beim Gedanken an die Möglichkeit, es jetzt, hier, zwischen weißer Tischdecke und ordentlich gefalteter Serviette, anzusprechen, beginne ich so zu zittern, dass der Tisch zwischen uns mitschwingt.

Ich hole tief Luft, denke: Mama, warum wirst du immer glatter, und ich werde faltiger?

Ich sage: »Das Carpaccio klingt toll. Wir teilen, oder?«

Du nickst.

»Und als Hauptspeise Risotto und dieses Fleisch?«

»Ist das Kalb?«

»Glaub schon.«

Der Kellner kehrt zurück. Notizblock und Kugelschreiber in der Hand. Ich bestelle. Auch für dich.

Sein »Oooooh« ist lang gezogen, überrascht. »She is your mother«, vergewissert er sich und mustert dich interessiert.

Du lächelst über das Kompliment. Freust dich.

Einmal, da war ich klein, hast du zu mir gesagt, dass jeder Mensch tief in seinem Innern an seine eigene Unsterblichkeit glaube. Einfach, weil der Tod so groß und so unvorstellbar sei. Wir wüssten zwar, rein theoretisch, dass Menschen sterben. Aus Büchern, Filmen, Liedern. Wir hätten Bekannte, die gestorben wären, läsen Zeitungsberichte über Leute, die verstorben seien, aber unseren eigenen Tod könnten wir nicht begreifen. Denn dann gäbe es ja kein denkendes Ich mehr, das diesen Gedanken denken könnte. Was für ein Diskurs mit einer Vier- oder Fünfjährigen! Daran musste ich letztens denken, als ich deine Mama-Stirn sah, auf der kaum eine Falte mehr ist.

Schwungvoll stellt der Kellner die Weingläser vor uns ab. »She looks like your sister«, nimmt er den Gesprächsfaden wieder auf.

In Bars, in Museen, in Restaurants, an der Käsetheke, beim Spazieren, auf Reisen, in der U-Bahn und auf dem Markt ist uns das passiert. Sogar Freundinnen von mir haben uns angesprochen. Fand ich immer toll. Ich war stolz auf dich, deine Art, dein Junggebliebensein und deinen Mama-Körper, an dem mir alles vertraut war, seine Weichheit, sein Geruch, seine Form.

Entschuldigung, BIN stolz auf dich.

Du bist ja nicht tot. Sitzt doch da. Nimmst den ersten Schluck vom Wein.

»Prego, Carpaccio for the two beautiful sisters.« Der Kellner rollt das R in dem Wort Schwester wie eine Lawine über mir aus, während er uns einen hübsch dekorierten Teller serviert.

Ich denke: Mama, werden mich Kellner irgendwann fragen, ob ich deine Mutter bin? Und du meine Tochter?

Ich sage: »Mhm, wirklich gut.«

Dabei fühlt sich das Fleisch kalt und roh in meinem Mund an. Ich würge etwas.

Es fing mit dem Fotoalbum für die Kinder an. Ich hangelte mich von Bild zu Bild – Geburtstag, Weihnachten, Ostern, Geburtstag, Weihnachten, Ostern – ich stoppte, klickte ein paar Jahre vor, ein paar Jahre zurück, wieder vor und noch mal zurück.

Da, am Kopf? Die Stirn. Wie auf einer Trommel gespannt.

Dann, ein paar Jahre später, der Mund. Der Mund, der vor meinen Augen Abertausende Male geredet, gesungen, geschimpft, getrunken, gegessen, gemahnt, gelacht und auch geweint hatte, war anders geworden. Runder, spitzer, voller, geschwungener? Ich konnte es nicht mal benennen. Aber die Andersheit war da.

Fast forward ein bis zwei Jahre:

An den Augen. Die Faltensonnen. Weg, mit einem Mal.

Ich war irritiert.

Ich dachte an teure Cremes, Gesichtspeelings, Gelmasken, Zauberkuren. Optimiert, fester, glatter, schöner, kompetenter, höher, weiter, schon am nächsten Tag!

Aber die Zweifel blieben.

Ich fragte eine Freundin. Achselzucken.

Ich fragte meinen Bruder. »Machen doch ganz viele!«

Ich fragte meine ältere Schwester. Sie lachte. Und dann ließ sie noch einen Satz fallen, ganz nebenbei, so wie sie das früher manchmal mit dreckigen Socken gemacht hatte, einen Satz, der hässlich und stinkig neben der Tür liegen blieb: »Weiß doch eh jeder, aber so was spricht man nicht an!«

Bei mir blieb der Gedanke aber hängen. Wie ein kleiner Splitter, von ebenjener Tür, bei der die Socken noch lagen. Er entzündete sich sogar ein wenig, da, wo er sich unter der Haut verfangen hatte.

Da war also eine Sache, die du machtest, wie viele andere auch, schon klar, von der jeder wusste, aber über die wir beide nicht redeten, weil man das ganz offensichtlich nicht tat. Die Entzündung begann ein bisschen zu eitern. Das Gewebe drumherum wurde rot. Dass ausgerechnet WIR jetzt keinen Weg fanden, darüber zu sprechen, machte mich unendlich traurig.

Wir reden stattdessen lieber über den Wein. Der ist köstlich. Seine Farbe, sein Geschmack, fruchtig, voll, rund. Guter Abgang. Wir reden über meine Kinder, deine Enkelkinder, unsere Männer, unsere Jobs, wie es so weitergeht, was uns fehlt, was wir uns wünschen und alles andere, was in WhatsApp-Nachrichten nicht reinpasst. Wir reden über alles, nur über das eine reden wir nicht.

Als der Kellner kurz darauf fragt, ob es den Schwestern denn schmecke, sage ich: »Thank you very much!« Ich spiele das Spiel mit, lache sogar ein wenig, aber diese kleine Splitterstelle reißt erneut auf. Nur ein klitzekleines Stück. Wundflüssigkeit tritt aus.

Der Kellner glaubt zu verstehen, wird rot. »Of course, you are the baby sister. The baby-baby sister.« Schnell wischt er das Kompliment über den Tisch in meine Richtung.

Schon gut, ich winke ab.

Lange schaue ich dich durch die Kerze hindurch an, die mittig auf dem Tisch steht. Du schaust zurück. Lächelst mich aus deinem vertrauten Gesicht an. Das Gesicht, das ich so liebe und in das eine andere, eine mir fremde Frau mit eingezogen ist.

Ich denke: Sagen SIE es mir doch wenigstens.

Ich sage: »Mama, willst du noch ein Glas Wein?«

Der Kellner eilt zwischen Theke und unserem Tisch hin und her, füllt Gläser auf, bringt mehr Brot und flirtet, was das Zeug hält. Bei der Hauptspeise ist das Schwesternding bereits zum Running Gag geworden. Genauso unoriginell wie Aussagen zum Wetter. Und er meint es vermutlich nur gut!

Ich muss daran denken, dass auch meine Kinder von der alten und der schönen Oma sprechen, als ob Alter und Schönheit zwei Sachen sind, die sich ausschließen.

Ich fahre unter dem Tisch mit meiner Hand über den entzündeten Hubbel. Immer und immer wieder. An der Stelle mit dem kleinen Riss bleibe ich jedes Mal hängen. Es ist unangenehm, und trotzdem kann ich es nicht lassen.

Wenn ich dich jetzt, hier, zwischen Rotwein und gefüllten Nudeln, darauf ansprechen würde, also richtig, feinfühlig, empathisch, auf gar keinen Fall verurteilend, vorbehaltlos, sachlich, ruhig, interessiert, zugewandt und, was noch viel wichtiger ist, mit Zeit, du würdest garantiert anfangen zu weinen. Und ich würde zur Mitweinerin. Weil Kind Mama nicht weinen sehen will. Urreflex-Ding vielleicht. War schon immer so. Wenn du weinst, werden auch meine Augen sofort feucht. Wir würden also beide heulen. Und wem würde das nutzen?

Oder aber SIE würde an deiner Stelle antworten. Diese Fremde. Würde es womöglich einfach weglächeln. Gute Gene. Gute Cremes. Viel Wasser von innen, von außen, von zwischendrin. Und damit hätte SIE dann die Entscheidung für unsere Geschichte getroffen. Fertig! Take it or leave it.

Ich kaue auf der Pasta rum, ringe mit ihr. Und mit mir, dir und der Fremden in deinem Gesicht. Mit dem, was SIE gemacht hat, und mit dem, wie es zwischen uns steht.