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Seine Suchtgeschichte war dieselbe wie bei vielen Millionen anderer Alkoholkranker: Was mit einem Bier am Abend anfing, steigerte sich langsam, aber stetig. Hinzu kamen Panikattacken, Angststörungen und Übergewicht. Acht Jahre lang war Olaf Beck schwer alkoholkrank. Er arbeitete als Hotelmanager, immer davon getrieben, dass niemand merkt, wie es ihm wirklich geht. Eines Tages bekam er seine Diagnose schwarz auf weiß: Wenn du nicht aufhörst zu trinken, stirbst du! Olaf Beck wollte nicht sterben, sondern leben, und krempelte sein Leben komplett um. In »Abgestürzt« erzählt er von diesem harten Weg und seinem Kampf zurück in die Normalität. Ob Sucht oder andere Probleme: Sein Beispiel macht allen Menschen Mut, die sich in ähnlich schwieriger oder aussichtslos scheinender Lage befinden – und zeigt konkret, dass und wie sie wieder aufstehen können. Für einen Neustart in ein befreites, selbstbestimmtes und glückliches Leben!
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Seitenzahl: 311
Veröffentlichungsjahr: 2023
Olaf Beck kommt aus guten Familienverhältnissen. Anfang der 90er-Jahre legt er eine Karriere im Rekordtempo hin: Bereits mit 25 Jahren steigt er vom Nachtportier zum stellvertretenden Hoteldirektor auf. Über die Jahre arbeitet er für viele namhafte Häuser und Luxushotelketten. Doch eines Tages fängt der Körper an zu rebellieren: Unruhe, Schlafstörungen, Angstzustände, bis der Job ihn in jene große Panikattacke treibt, die alles in seinem Leben verändert. Versehentlich greift er zum Alkohol, der ihm suggeriert, die Panikattacken in den Griff zu bekommen. Er läuft auf Hochtouren weiter, ignoriert körperliche Warnsignale und hat bald nur noch eins im Blick: seine Alkoholsucht zu verbergen. Er trinkt immer mehr, vernachlässigt sein körperliches Training, betäubt Frust mit Junk-Food, verliert die Form und den Selbstrespekt – am Ende wiegt er 165 Kilo. Olaf Beck macht Entzüge in verschiedenen Suchtkliniken und verbringt drei Wochen in einer geschlossenen Anstalt. Ein paar Tage danach ist er jedoch wieder an der Flasche.
Dann erhält er die ernüchternde Diagnose: Der Alkohol wird ihn töten. Doch statt sich seinem Schicksal hinzugeben, entscheidet sich Olaf Beck für einen anderen Weg. Er will nicht nur überleben, sondern leben. Er nimmt all seinen Mut zusammen und beginnt, sein Leben von Grund auf zu verändern.
Olaf Beck findet den Weg – seinen Weg – heraus aus Sucht und Abhängigkeit hin zu einem Leben in Freiheit, Selbstbestimmung und Glück.
OLAFBECK, geboren 1966 in Wuppertal, machte eine Ausbildung zum Hotelfachmann und arbeitet seit über 40 Jahren für namhafte Hotelketten, u. a. als Hotelmanager. Seit 2018 ist er »Director Human Relations« der NOVUM Hospitality und betreut über 65 Standorte in Europa. Er ist zudem Gastdozent an der Internationalen Hochschule Bremen und arbeitet als Speaker und Coach im Bereich Persönlichkeitsentwicklung. Olaf Beck ist seit 2001 trockener Alkoholiker und hilft heute anderen Menschen dabei, ein suchtfreies und selbstbestimmtes Leben zu führen.
OLAFPHILIPBECK
ABGESTÜRZT
Egal, wie tief du fällst, du kannst immer aufstehen
Aufgeschrieben von Kai Psotta
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Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek
Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet unter www.dnb.de abrufbar.
© 2023 Ariston Verlag in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München
Alle Rechte vorbehalten
Redaktion: Evelyn Boos-Körner
Umschlaggestaltung: wilhelm typografisch
unter Verwendung eines Fotos von © Christina Körte
Satz und E-Book Produktion: Satzwerk Huber, Germering
ISBN: 978-3-641-30834-6V001
»Ich entwickelte den Hang, zu viel zu sein. Ich entwickelte mich zu einer Flamme, die sich nicht regulieren ließ. Wenn man mir einen Ball gibt, will ich Fußball spielen wie Lionel Messi. Wenn man mich vor eine Staffelei setzt, will ich malen wie Pablo Picasso. Wenn ich katholische Theologie studieren müsste, würde ich Papst werden wollen.«
Inhalt
VorwortDas schwarze Schaf
PrologIm Tunnel
Kapitel 1Gossen-Prediger
Kapitel 2Kälte im Kopf
Kapitel 3Herzens-Quatscher
Kapitel 4Im Visier des Scharfschützen
Kapitel 5Rocker-Wucher
Kapitel 6Immer mehr Lügen
Kapitel 7Vollgekotztes Frottee
Kapitel 8Scheißtage
Kapitel 9Elf Millionen
Kapitel 10Blut und Erbrochenes
Kapitel 11Kohlsuppe und neue Chancen
Kapitel 12Mutation zum Fünf-Sterne-Arschloch
Kapitel 13Bruder-Booster aus der Eso-Hölle
Kapitel 14Schrödimann
Kapitel 15Im Keller meiner Schwester
Kapitel 16Keine Sorgen mehr um Jüngelchen
Kapitel 17Mutmacher
Kapitel 18In der Fußball-Hölle
Epilog
Vorwort Das schwarze Schaf
Papa weinte eigentlich nie, also fast nie. Wenn er aber weinte, ging es meistens um meinen großen Bruder Olaf. Ich wusste, dass er krank war und seine Alkoholsucht verbarg. Ich war noch sehr jung und verstand nichts von Süchten, aber ich beobachtete seinen körperlichen und seelischen Verfall im Zeitraffer. Er kam nicht mehr oft zu uns nach Hause, schämte sich wegen seiner Fettleibigkeit und versuchte dann so zu tun, als wäre alles in Ordnung. Aber das war es nicht, und Papa weinte häufiger bis zu dem Zeitpunkt, an dem er eines Abends schrie: »Er ist abgestürzt, er ist in der Entzugsklinik, ich kann ihm nicht mehr helfen. Diese Klinik ist die letzte Hoffnung für meinen Sohn.«
Was das bedeutete, konnte ich damals nicht begreifen, wusste aber, jetzt geht es um Leben und Tod. Mein Bruder entschied sich für das Leben und entwickelte sich vom schwarzen Schaf der Familie zu meinem persönlichen Vorbild. Er wendete sein Leben um hundertachtzig Grad und arbeitete mit eiserner Disziplin an einer neuen Version seiner selbst. Ich wusste damals nicht, dass Süchte so viele Menschen betreffen und oft ein unvorstellbar hartes Leben zur Folge haben. So was passiert doch immer nur im Fernsehen und in anderen Familien. Nein, es geschah direkt vor meinen Augen, und ja, eine Sucht kann eine Familie in den Abgrund ziehen. Uns hat es zusammengeschweißt! Olaf ist gelebte und personifizierte Persönlichkeitsentwicklung und ein Paradebeispiel dafür, dass es möglich ist, die eigenen Flügel auszubreiten, wenn man am Abgrund des eigenen Lebens steht. Ich bin dankbar, dein kleiner Bruder zu sein. Eines Tages stellen wir uns gemeinsam deiner letzten verbliebenen Angst und fliegen zusammen in einem Flugzeug.
Ich liebe dich von ganzem Herzen.
Tobias Beck
Spiegel-Bestseller-Autor & Redner
PrologIm Tunnel
Eigentlich sollte ich dringend meinen Wagen in die nächste Nothaltebucht lenken und den Zündschlüssel umdrehen, sodass der Motor ausgeht. Es wäre das einzig Richtige, so schnell wie möglich meine Fahrt zu stoppen. Möglichkeiten dazu gäbe es, obwohl ich mich in einer siebzehn Kilometer langen Röhre durch ein gewaltiges Bergmassiv aus der Schweiz nach Italien zwänge.
Doch ich nehme die Nothaltebuchten trotz ihrer farblichen Kennzeichnung gar nicht wahr. Es ist mir unmöglich, klare Gedanken zu fassen und wohlüberlegte Entscheidungen zu treffen. Dieser simple Ausweg, einfach den Warnblinker zu setzen, den Fuß vom Gas zu nehmen, mit dem Bremsen zu beginnen und das Lenkrad nach rechts einzuschlagen – einen Prozess, den ein Fahrschüler bereits nach nur einer Fahrstunde umsetzen könnte –, wird mir von meinem Kopf nicht aufgezeigt.
Also fahre ich weiter durch den Tunnel, über dem sich mehrere Hundert Meter hohe Felsen auftürmen. Ich versuche, mich im Auto kleiner zu machen und den Kopf einzuziehen, weil ich das Gefühl habe, von der Masse der Berge, die auf der Tunnelröhre lasten, erdrückt zu werden. Nicht nur angesichts meiner Körpergröße von fast zwei Metern ergibt dieser Versuch wenig Sinn – mal ganz davon abgesehen, dass meine Verrenkungen garantiert nicht zur Verkehrssicherheit beitragen.
Bei jedem entgegenkommenden Auto zucke ich zusammen, sobald es sich auf gleicher Höhe befindet, weil ich fürchte, dass wir in dieser Enge kollidieren, die zwei Fahrspuren reichen für uns beide einfach nicht aus. Was natürlich, aber das wäre mir nur bei klarem Kopf möglich zu erfassen, totaler Blödsinn ist.
Ich will doch nur nach Italien gelangen. Und wie eines von durchschnittlich 16.000 anderen Fahrzeugen am Tag in einer Viertelstunde von Göschenen bis ins Tessiner Örtchen Airolo durch den Gotthard-Straßentunnel fahren. Für die meisten Verkehrsteilnehmer ist es eine Fahrt durch einen der beeindruckendsten Straßentunnel der Welt, dem wichtigsten Bindeglied zwischen Nordwesteuropa und Italien. Für mich ist es die Hölle. Die Hölle, die sich plötzlich vor mir auftut und mich versucht zu verschlingen oder zu zerquetschen, auf jeden Fall irgendetwas ganz Fieses mit mir anstellen will.
Mein Herz schlägt schneller. Und vor allem lauter – zumindest in meiner Wahrnehmung. Aus dem rhythmischen Pochen, das man normalerweise im Alltag gar nicht registriert, ist ein hämmerndes Dröhnen geworden, das, so bilde ich es mir ein, im ganzen Auto zu hören ist. Meine Halsschlagader ist dick angeschwollen, so fühlt es sich jedenfalls an, so stark wird mein Blut durch mein Inneres gepresst.
Mein gesamter Körper befindet sich in einem Ausnahmezustand. Es gelingt mir nicht, die Kontrolle über meine viel zu schnelle Atmung wiederzuerlangen. Ich hechle und habe gleichzeitig das Gefühl, kaum Luft zu bekommen.
Panisch suche ich mit meinen Augen nach einem Punkt, den ich fixieren kann, um zumindest für einen kurzen Moment visuell zur Ruhe zu kommen. Doch auch das gelingt nicht.
Sobald ich in die weißen Lichter der entgegenkommenden Autos blicke, die wie Suchscheinwerfer auf mich gerichtet scheinen, wird meine Panik noch größer, sodass meine Augen wild durch die Gegend springen.
Ich bekomme Druck auf den Ohren. So wie man es als Kind aus dem Schwimmbad kennt, wenn man Gummiringe aus ein paar Metern Tiefe hochtaucht. Auf die Idee, in die zugehaltene Nase zu pusten, um einen Druckausgleich zu machen, komme ich nicht. Das Rauschen in meinem Kopf wird immer schlimmer.
Ich rase durch den Tunnel, viel zu nah an der mittleren Fahrbahnbegrenzungslinie. Im Rückspiegel sehe ich, wie mein Hintermann fast auf meiner Stoßstange hängt, als wolle er mich gleich von der Straße drängen. Vielleicht bilde ich mir mein enormes Tempo auch nur ein und schleiche eher. Was auf meinem Tacho steht, kann ich nicht lesen. Warum ist es eigentlich erlaubt, einen Tunnel so eng zu bauen?, denke ich. Oder vermute zumindest, es zu denken.
Mit letzter Entschlossenheit kralle ich meine linke Hand so fest ums Lenkrad, dass es wehtut. Die Straße, glaube ich zumindest, verläuft momentan ziemlich geradeaus, sodass ich es wage, kurz den Blick von der Fahrbahn abzuwenden und auf der Rückbank nach einer weißen Plastiktüte zu suchen. Natürlich, wie könnte es anders sein, ist sie in die hinterste Ecke gerutscht. Ich beuge mich zurück, strecke meinen rechten Arm und fingere nach den Henkeln, während ich einen kurzzeitigen Blindflug durch den Gotthard-Tunnel absolviere. In welche Gefahr ich mich und andere Menschen bringe, nehme ich, wie so vieles, nicht wahr.
Ich hatte mir erst kurz zuvor bei einer Pipi-Pause an der Raststätte eine Dose Cola, ein paar Schokolinsen und zwei oder drei Bier gekauft, die ich mir abends gönnen wollte. Zucker und etwas zu trinken werden mir vielleicht guttun, denke ich, während ich weiter auf der Rücksitzbank danach taste.
Zu dem Zeitpunkt war ich bereits seit sechs Stunden mit dem Auto unterwegs. Mit einem blauen Audi A80, meinem ersten eigenen Dienstwagen.
Alles verlief reibungslos. Ein paar kleine Staus. Einmal musste ich auf die Landstraße ausweichen, um eine Vollsperrung zu umfahren. Damals musste man dazu noch in Straßenkarten schauen. Aber im Großen und Ganzen liege ich absolut im Zeitplan.
Meine Laune ist bis gerade eben bestens gewesen. Die Sonne strahlt vom tiefblauen Himmel. Kurz vor Bregenz hatte ich noch Dr. Albans Chart-Stürmer »It’s My Life« aus voller Kehle gegrölt, während sich der Bodensee malerisch unterhalb der Autobahn erstreckte.
Meine Hemden liegen akkurat im Koffer gefaltet. Als ich in Frankfurt losgefahren bin, war ich der felsenfesten Überzeugung, mal wieder einen dicken Deal an Land zu ziehen. So wie es mir zuletzt häufiger gelungen war, seit meinem Antritt als Director of Sales im Ramada Hotel Frankfurt Airport. Eigentlich bin ich ein Macher, voller Tatendrang und Energie, kreativ und mutig. Menschen aus meinem Umfeld hatten mich als Überflieger bezeichnet, was ich nie über mich selbst sagen würde, weil es anmaßend wäre.
Eigentlich bin ich groß, stark und sportlich. Eigentlich komme ich mit ganz wenig Schlaf klar und liebe es, Kacheln zu zählen, also Bahn um Bahn im Schwimmbad zu ziehen, nur auf mich konzentriert, und die Kacheln am Boden des Beckens, über die ich ausdauernd hinwegschwebe.
Doch wie ich eigentlich bin, bringt mir in diesem verdammten Gotthard-Straßentunnel rein gar nichts. Mein Körper hört nicht auf meinen Kopf. Er macht, was er will. Bei einem Computer würde man von einem Systemabsturz sprechen, der sich manchmal mit einem Neustart noch retten ließe. An mir gibt es aber leider keinen Knopf, um mich auf Normalbetrieb zurückzusetzen. Ich bin nicht ich selbst.
Plötzlich halte ich eine Dose Bier in meiner Hand. Nach der hatte ich ursprünglich nicht gesucht. Ich wollte die Cola erwischen. Aber das ist mir jetzt auch egal. Mir ist heiß. Als würde mein System überhitzen. Von meiner Stirn tropfen Schweißperlen auf meine Oberschenkel. Meine Kehle ist vollkommen trocken, so sehr, dass es beim Schlucken wehtut. Als ich das erste Mal an der Aufreißlasche fingere, bricht ein Nagel ab. Erst nach zwei weiteren Anläufen gelingt es mir, die Dose, die sogar noch leicht kühl ist, zu öffnen. Ohne sie abzusetzen, kippe ich das Bier in mich hinein.
Wenig später komme ich langsam zur Ruhe. Das bedrohliche Rauschen verschwindet aus meinem Kopf. Es wird leiser. Und es macht mir nichts mehr aus, in die flackernden Scheinwerfer des Gegenverkehrs zu blicken.
Es scheint, als würde der Tunnel breiter und die Last der Felsen, die sich über der Röhre auftürmen, sich in Luft auflösen.
Ich sehe wieder Straßenschilder. Und Nothaltebuchten. Auch das Pochen meines Herzens hat sich wieder normalisiert.
Alles ist wieder gut. Das Bier hat geholfen, meiner Panikattacke zu entkommen. So speichert es mein Gehirn jedenfalls fatalerweise ab.
Kapitel 1Gossen-Prediger
Bereits einmal hatte mein Körper einen solchen Komplett-Absturz erlebt. Ein paar Monate zuvor war es einfach passiert. Ohne Vorankündigung. Ohne jegliche körperliche Anstrengung begann mein Herz plötzlich so zu pochen, wie wenn jemand mit einer Faust aufgebracht gegen eine Tür hämmert.
Ich hatte in meinem Büro gesessen und mit meiner Assistentin die Termine der Woche besprochen. Es stand, wie so oft zu jener Zeit, eine Reise in die USA an. Ich liebe es, unterwegs zu sein. Ich fühle mich lebendig, wenn ich spüre, wie sich ein Flugzeug, in dem ich sitze, in die Luft erhebt. Je mehr ich in Bewegung bin, desto besser. Wenn ich unterwegs bin, irgendwo in Hotels einchecke, bekomme ich ein wohliges Gefühl von Heimat, egal wie weit weg ich auch war.
Mein Leben hatte sich großartig entwickelt. Ich hatte das Gefühl, gebraucht zu werden. Die Unternehmensleitung vertraute mir und übertrug mir immer mehr Verantwortung.
Ich hatte mich, in Rekordzeit, vom faulen Schüler zum Hochleistungsmitarbeiter in der Hotellerie verwandelt. Ich war vom unsportlichen Lauch, an dem die Mitschülerinnen sich eher mäßig interessiert zeigten, zu einem Mann mit zahlreichen Abenteuern geworden. Ich hatte eine Metamorphose erlebt, auch wenn ich mich weder als Raupe noch als Schmetterling gesehen habe.
Doch plötzlich hockte ich auf dem Fußboden meines Büros und spürte meine Haut nicht mehr. Dafür das Herz umso stärker. Dann verkrampften sich meine Hände in die Pfötchen-Stellung.
Beim Versuch aufzustehen sackten meine Beine gleich wieder weg. Ich hatte nicht einmal genügend Kraft, angelehnt an der Bürowand sitzen zu bleiben. Meine Assistentin, mit der ich mir ein Büro teilte, rannte panisch um den Schreibtisch herum zu mir. Sie schrie. Ich auch. Meine letzten Atemzüge, da war ich mir sicher. Ich würde sterben, mit nur sechsundzwanzig Jahren. Noch ein paar Schläge, dann würde mein Herz stehen bleiben. Diese Frequenz konnte kein Herz der Welt länger aushalten. Drohender Komplett-Ausfall wegen Überlastung. Ich wartete nur darauf, dass es schwarz vor meinen Augen werden würde.
Doch stattdessen sah ich immer mehr Beine. Irgendwelche Menschen kamen vom Flur in unser Büro gerannt. So wie ich auf dem Boden kauerte, konnte ich weder ihre Gesichter noch Oberkörper erkennen. Ich sah nur Schuhe und bis maximal zum Knie. Irgendwer sagte mir irgendwas. Plötzlich wurde ich rausgetragen und in einen Krankenwagen verfrachtet.
Man brachte mich ins Klinikum Frankfurt Höchst. Mein Herz schlug, zu meiner Überraschung, während der gesamten Fahrt weiter. Sogar wieder etwas ruhiger als zuvor. Das anschließende EKG war unauffällig. Einen Herzinfarkt hätte ich mit Sicherheit nicht gehabt, teilte mir die Ärztin mit. Auch alle anderen Untersuchungen, die an mir durchgeführt wurden, blieben ergebnislos. »Organisch ist mit Ihnen alles in bester Ordnung«, hieß es.
Vielleicht sei ich etwas überarbeitet, meinte die Ärztin. Von einer möglichen Erschöpfungs-Depression oder einem Burn-out war keine Rede. Das war damals weder in aller Munde noch in den Medien, dementsprechend auch noch Lichtjahre davon entfernt, gesellschaftsfähig zu werden.
Ich solle, so riet mir die Ärztin, ein paar Johanniskraut-Dragees nehmen, zur Beruhigung. Dann wäre alles wieder gut. Und das tat ich auch. In viel zu hoher Dosis. Aber weil es pflanzlich war, dachte ich mir nichts dabei. Was sollte schon passieren? Ich stopfte das Zeug wie Bonbons in mich rein. Statt dreimal zwei Stück, schluckte ich dreißig Stück am Tag. Dass auch pflanzliche Medikamente Nebenwirkungen haben können, lernte ich schmerzhaft in den darauffolgenden Tagen. Die Überdosis Johanniskraut erhöhte die Lichtempfindlichkeit meiner Haut, sodass ich beim ersten Sonnenstrahl krebsrot wurde und einen heftigen Sonnenbrand bekam. Aber immerhin konnte ich wieder arbeiten.
Ich schenkte dieser ersten Attacke damals keine große Aufmerksamkeit und nahm sie nicht allzu ernst. Ich war schließlich ein erfolgreicher Mann. Wo ich war, war die Sonne – wenn ich nicht gerade unter den Folgen einer Überdosis Johanniskraut litt.
Nach der Büroattacke in Frankfurt war es mir noch gelungen, den – mir überaus peinlichen – Vorfall zu verdrängen. Ich verbuchte es unter der Kategorie »einmaliger Systemausfall«. So etwas werde mir nie wieder passieren, schwor ich mir. Warum auch? Ich war groß und stark. Die Welt lag mir zu Füßen, zumindest ein Teilbereich der gehobenen Hotellerie.
Aber nun, nachdem mich mein Körper zum zweiten Mal so im Stich gelassen hatte, veränderte sich alles. Nach der erneuten Panikattacke im Gotthard-Tunnel konnte ich diesen Blackout nicht einfach weiter verdrängen.
Bisher war ich ein Sieger, ein Problembezwinger, ein Ideengeber. Ich schaute morgens gerne in den Spiegel, weil mir der Kerl, den ich da sah, gefiel. Es war, seit meinem Ausbildungsbeginn, vieles in die richtige Richtung gelaufen. Ich hatte etwas für mich entdeckt, das mir richtig viel Spaß bereitete.
Eine Prognose meines früheren Mathelehrers hatte sich zum Glück nicht mal ansatzweise bewahrheitet. Er hatte mir, als wir bei der Berufsberatung waren, völlig abwertend prophezeit: »Mach so weiter, dann landest du in der Gosse.«
Die Art und Weise, wie er das Wort Gosse aussprach, wird mir immer in Erinnerung bleiben. Es hatte nichts Motivierendes. Er sprach es nicht so aus, als wolle er mich damit herausfordern, ihm das Gegenteil zu beweisen. Er wollte keinen Deal mit mir abschließen, damit ich meinen Notendurchschnitt erhöhte. Er sagte es mit einer gleichgültigen Verachtung, mit einer großen Portion Schadenfreude, so als wolle er, dass ich tatsächlich in der Gosse ende. Er hatte mich, so schien es mir, bereits aufgegeben, ehe meine Schulzeit vorbei war. Dabei sollen Lehrer doch Vorbilder sein, inspirierende Persönlichkeiten, die Aufbruchstimmung erzeugen können, sodass Jugendliche ihren Weg in einer immer komplizierter werdenden Gesellschaft erkennen.
Es ist unbestritten, dass ich als Schüler ein fauler Sack war. In mir steckte nicht die größte intrinsische Motivation, Wissen über Goethe, Schiller und irgendwelche Sätze des Pythagoras aufzusaugen. Ich war wie Hunderttausende andere Schüler auch einer, der einen kräftigen Arschtritt benötigt hätte. Aber so schlimm war ich definitiv nicht, dass man mich in die Gosse wünschen musste.
Ich hatte an dieser Aussage eine Zeit lang zu knabbern. Die Vorstellung, ein so wertloses Geschöpf zu sein, bei dem es nur zur Gosse reicht, nagte an meinem Selbstvertrauen, das während meiner Jugend ohnehin alles andere als stark ausgeprägt war.
Das änderte sich erst, als ich Wolfgang Hupperts traf, dem meine offensichtliche Faulheit in der Schule, die sich sehr deutlich in meinen Noten widerspiegelte und auch zu einem frühen Abgang führte, völlig egal war. Selbst meine Fünf in Mathe schreckte ihn nicht ab. Er gab mir die Chance, im Düsseldorfer Savoy zu lernen, einem sehr vornehmen Hotel der Stadt. »Das Wichtigste«, so sagte er, sei es, »dass man Menschen gerne mag. Dass du dich gerne um Menschen kümmerst. Dass es dir Freude bereitet, wenn es den Gästen gut geht.«
Das hatte ich. Und das lebte ich gerne und leidenschaftlich. Daran hatte ich tatsächlich Spaß. Es machte mir Freude, der perfekte Gastgeber zu sein. Ich entwickelte einen Ehrgeiz, egal welche Aufgabe ich während der Ausbildung im Hotel erfüllen musste, sie perfekt zu erledigen. Als ich mit dem Room-Service mitging, wollte ich das perfekte Bett beziehen und drapierte mit chirurgischer Präzision die Kissen. Ich fand Gefallen daran, in der Gastronomie einen Tisch so einzudecken, dass er an ein künstlerisches Stillleben erinnert.
In einer der ersten Wochen im Savoy nahm mich der Maître d’hôtel, der Leiter des Restaurants, zur Seite und betraute mich mit einer ganz wichtigen Aufgabe, wie er sagte: »Heute Abend werden wir dreihundert Gäste im Ballsaal haben. Politiker und Wirtschaftsgrößen rund um Jürgen Möllemann. Ich möchte, dass Sie dreihundert Bischofsmützen brechen.«
Möllemann, damals Bundesminister für Bildung, kannte ich. Was ein Bischof war, war mir auch klar. Aber warum ich irgendwelche Mützen zerstören sollte, und was das vor allem mit dem Event zu tun hatte, das verstand ich nicht.
»Man faltet Servietten nicht, man bricht sie«, erklärte mir der Maître d’hôtel kurz und knapp, ehe er mir zweimal demonstrierte, wie man die perfekte Bischofsmütze, eine von zahlreichen Möglichkeiten, Servietten zu »brechen«, macht. »Jetzt bist du dran. Dreihundert Stück. Symmetrisch geformt und alle identisch. Bei der geringsten Abweichung machst du sie neu. Die Gäste erwarten ein stimmiges, perfektes Bild, wenn sie den Raum betreten.«
Ich empfand das nicht als Tortur. Ich war Auszubildender. Und wenn mein Chef dreihundert gebrochene Servietten wollte, dann bekam er dreihundert makellos gebrochene Servietten.
Ich zog mein Sakko aus, krempelte mir die Ärmel hoch und schlüpfte in weiße Stoffhandschuhe, um ja keine Fettfingerabdrücke auf den gestärkten Servietten zu hinterlassen. Dann legte ich los.
Irgendwann, an einem anderen Tag, wurde mir aufgetragen, wegen meiner Größe, in jedem Zimmer die Gardinen, die über den Fenstern hingen, abzunehmen, waschen zu lassen und anschließend leicht feucht, damit sie sich aushängen können, wieder aufzuhängen. Auch keine unbedingt vergnügungssteuerpflichtige Tätigkeit. Aber es war mein Job.
Einmal, ich arbeitete als Nachtportier in einem Partnerhotel vom Savoy, dem Börsenhotel, in dem alle Auszubildenden auch Station machten, bemerkte ich einen Mann, der von der Bar in Richtung Zeitungsauslage schlenderte. Er hatte, das hatte ich beobachtet, ein paar Gläser Johnnie Walker Black Label genossen. Der Gast aus Japan war nicht betrunken, aber offenbar etwas enthemmter. Denn er schob Bunte, Stern, Spiegel und sämtliche ausgelegten Tageszeitungen beiseite und griff nach den dezent platzierten Herrenmagazinen, die wir selbstverständlich auch zur Lektüre anboten.
Damals gab es noch keine Sexclips, die man sich mit wenigen Klicks frei im Internet besorgen konnte. Selbst das zahlungspflichtige Erwachsenenprogramm, wie man es später in vielen Hotels diskret buchen konnte, war noch nicht vorhanden. Die Zeiten waren damals noch nicht so sexualisiert oder pornografisiert wie heute. Vulgäre Nacktheit gab es nicht frei zugänglich. Ganz zu schweigen von Werbefilmen für Sexspielzeuge, die heute als Teil des normalen Lebens nachmittags im Fernsehen laufen.
»Die Hefte sind zum Kaufen«, sagte ich freundlich, aber bestimmt zum Gast, nachdem er zunächst den Playboy durchgeblättert hatte, auf dem Grace Jones, damals eine der weiblichen Hauptdarstellerinnen in James Bond 007 – Im Angesicht des Todes zu sehen war.
Ertappt zuckte er zusammen und ließ das französische Herrenheft Lui, dem er sich mittlerweile zugewandt hatte, sinken. »Sie müssen die Hefte bitte bezahlen«, sagte ich noch einmal. »Die sind nicht zum Durchblättern.«
Der Mann, gut gekleidet, zwei Köpfe kleiner als ich, und sehr hager, schaute sich verlegen in der Lobby um, die menschenleer war. Offenbar hatte keines unserer angebotenen Hefte, wir hatten auch noch Penthouse, seine Erwartungen erfüllt.
»Haben Sie etwas Realistischeres?«, fragte er mich auf Englisch.
»Realistischer?«, wiederholte ich, ein bisschen irritiert über seine Frage.
»More realistic«, sagte er noch einmal, ehe er sich durchrang, Klartext zu sprechen. »Real porn magazins.«
Ich entschuldigte mich, weil ich ihm seinen Wunsch beim besten Willen nicht erfüllen konnte. Doch gerade als er sich enttäuscht abwenden wollte, um zu gehen, rief ich ihm hinterher. »Kommen Sie morgen Abend wieder zu mir. Dann habe ich etwas für Sie.«
»More realistic«, sagte er – und grinste freudig.
Nach meiner Schicht stieg ich nicht wie sonst in den Regionalzug, um zurück nach Wuppertal zu fahren. Stattdessen drückte ich mich vor einem Sexshop herum, der am Düsseldorfer Hauptbahnhof war und an dem ich jeden Tag auf meinem Weg zur Arbeit vorbeikam.
Ich wollte herausfinden, was für Menschen dort wohl reingingen, was mich dort erwarten würde. Ich wollte vorbereitet sein, wenn ich in diese Welt, hinter den dunklen Vorhängen und mit den Videokabinen für das einsame Vergnügen, für die mit leicht vergilbten Plakaten Werbung im Schaufenster gemacht wurde, eintreten würde. Doch nach wenige Minuten, die allerdings ewig erschienen, brach ich meine Recherchen aus Ungeduld ab und trat ein.
Hinterm Tresen stand ein Mann, behangen mit Goldkettchen und Goldarmbändern, mit einem Schnauzbart im Gesicht, und musterte mich von oben bis unten. Ob er mir helfen könne, fragte er freundlicher, als ich vermutet hätte.
»Ich brauche Pornohefte«, sagte ich mit brüchiger Stimme. »Was habt ihr denn da?«
Der Mann lächelte mich an – und wahrscheinlich auch ein bisschen aus –, wie ich da, mit meinen zurückgegelten Haaren, stand, im karierten Anzug, mit Hemd und Hosenträgern und einem Aktenkoffer. Er führte mich zu einem Regal, prall bestückt mit den – aus Sicht eines Pornojunkies – feinsten Heftchen.
»Was suchste denn genau?«, wollte er wissen, ehe er mir ungefragt einen Gratiskurs in Sache Pornokategorien, je nachdem ob man auf Brüste oder Hintern steht oder ganz andere Sachen, erteilte.
Ich kaufte fünf Hefte, mit denen ich unterschiedliche Geschmäcker und die gängigsten Vorlieben bedienen konnte. Und weil ich schon mal da war, die Scham des Hereingehens in ein solches Etablissement überwunden hatte und sicher war, meinen neuen Lieblings-Porno-Heftchen-Dealer niemals in der Welt zu treffen, in der ich sonst verkehrte, wagte ich es auch noch, mir ein Filmchen in einer Videokabine anzuschauen.
Später kaufte ich in einem Schreibwarenladen selbstklebende Etiketten, überdeckte mit ihnen den wahren Preis meiner heißen Ware und schrieb einen neuen, vielfach höheren Wert darauf.
Schon in der darauffolgenden Nacht kam wie vereinbart der japanische Gast, um seine Bestellung in Empfang zu nehmen.
»Haben Sie die Pornoheftchen?«, fragte er aufgeregt.
Ich hatte alles vorbereitet. Meinen Aktenkoffer, der eigentlich für meine Berufsschulunterlagen und meine Brotbox gedacht war, hatte ich auf Hochglanz präpariert. Ich hatte ihn extra innen und außen geputzt, die Heftchen nicht bloß reingeworfen, damit sie verräumt waren, sondern akkurat aufgefächert. Es war wie ein Bauchladen für Luxusgüter.
Entsprechend zelebrierte ich auch die Präsentation. Ich drehte den Koffer zum Gast – und ließ die Verschlüsse aufschnappen. Mit großen Augen und geöffnetem Mund blickte der Japaner in die nackte Herrlichkeit. Sofort griff er nach den Heften und wollte sie aus dem Koffer ziehen. Doch ich war schneller und schlug den Deckel zu.
»Nicht so ungeduldig. Erst zahlen, dann anfassen«, sagte ich und sah ihn streng an.
Ich verlangte zwanzig Mark pro Heft. »Special magazine, special price.« Es war ihm gleichgültig, und er kaufte gleich alle Hefte auf.
In der nächsten Nacht kamen weitere Gäste, um bei mir nach besonderen Magazinen zu fragen. Ich sei ihnen empfohlen worden, sagten sie. Sie gehörten zur gleichen Reisegruppe wie mein erster Kunde.
Also ging ich wieder im Sexshop einkaufen, dieses Mal kaufte ich sogar noch mehr Magazine.
Nachdem die Reisegruppe abgereist war, bekam ich eines Morgens mit, wie die Putzfrauen untereinander tuschelten. Sie hätten, erfuhr ich auf Nachfrage, größere Mengen Schmuddelhefte gefunden, sagten sie entrüstet. Sofort erkannte ich meine Ware. Ob ich wohl mal einen Blick reinwerfen dürfte, fragte ich und tat so, als sei mir das Interesse unangenehm. Lachend händigten sie mir die eingesammelten Werke aus und wünschten mir viel Spaß.
Sorgsam wischte ich die Hefte mit einem feuchten Lappen ab. Ich presste sie unter schweren Büchern, sodass sie wieder wie neu aussahen, und verkaufte sie erneut. Einige Exemplare konnte ich bis zu fünf Mal zu Geld machen. Ich machte, aus Sicht eines Lehrlings, ein kleines Vermögen.
Von meinem Verdienst ging ich frühstücken. Im vornehmsten Hotel der Stadt, dem Breidenbacher Hof, damals noch im Privatbesitz der Familie Linsenmeyer. Ich liebte einfach diese Atmosphäre. Es war für mich ein mystischer Ort. Mir gefiel die arrogant anmutende Attitüde der Oberkellner. Wenn sie an den Tisch kamen, das Frühstück servierten, hoben sie nicht einfach nur die Cloche, also die Abdeckhaube auf den Tellern, hoch. Es hatte viel mehr von einer Inszenierung, so wie im Theater, wenn sich der Vorhang öffnet.
Im Breidenbacher Hof konnte man überall fühlen und spüren, was Luxus und perfekter Service ist. Sogar die Butter war stilvoller angerichtet, als ich es jemals zuvor gesehen hatte.
Es dauerte nicht lange, da verliebte ich mich während meiner Arbeit in die verschiedensten Geräusche aus der Hotellerie. Zum Beispiel in das Geräusch von Rollkoffern, wenn sie in der Lobby in Richtung Rezeption gezogen wurden oder von da aus weiter zu den Fahrstühlen. Bei Geschäftsfrauen, auf hochhackigen Schuhen unterwegs, sind die Rollgeräusche viel schwieriger wahrzunehmen, da sie in Konkurrenz zum klangvollen Aufsetzen der Pfennigabsätze stehen. Es ist vom Sound ein Unterschied, ob die Geschäftsleute im Einklang mit ihrem Koffer sind oder ob sie diese eher wie einen Hund hinter sich herziehen, der eigentlich noch damit beschäftigt ist, an einem Baum sein Revier zu markieren.
In einem Hotel gibt es so viele Geräusche. Allein der Schritt, mit dem sich ein Gast nähert, kann schon viel darüber verraten, ob er entspannt oder gestresst ankommt. Man kann es wirklich hören, ob jemand verspätet anreist, sodass er ganz schnell einchecken möchte, um den zeitlichen Verzug nicht noch größer werden zu lassen, oder mit Ruhe und Geduld zur Lobby schreitet. Beim Gang hört man die Qualität des getragenen Schuhs.
Ein Fahrstuhl spuckt so viele unterschiedliche Geräusche aus. Er klingt anders, wenn er sich in Bewegung setzt, als wenn er abgebremst wird. Die Ankunft wird mit einem Signal angekündigt, der Klang beim Öffnen unterscheidet sich in Nuancen von dem beim Schließen der Türen.
Mir bereitet das Klicken Freude, wenn die vorgehaltene Chipkarte eine Zimmertür aufspringen lässt, weil der Gast mit diesem Sound endgültig bei uns angekommen ist.
Die Vermischung all dieser Geräusche, hier das Blättern in einer Zeitung, da das dezente Klimpern, wenn ein Gast mit einem Löffel in einer guten Porzellantasse rührt, zeigt mir immer, dass das Hotel lebt. Ein gutes Hotel hat für mich immer auch eine wohlklingende Akustik. Ein Hotel darf nie geräuschlos sein, sonst stimmt etwas nicht.
Bei meiner Ausbildung im Savoy Düsseldorf musste ich sehr oft sehr früh die Rezeption besetzen. Arbeitsbeginn war sechs Uhr morgens. Eine Zeit, zu der die meisten noch schliefen, der Tag noch leise war, womöglich ein Grund, dass mir überhaupt der exakte Klang all dieser Gegenstände so genau auffiel.
Ich stellte meinen Wecker auf halb fünf Uhr. Weil meine Großmutter näher am Wuppertaler Bahnhof wohnte, zog ich unter der Woche zu ihr. Sie hatte nicht viel, lebte in einer kleinen, aber gemütlichen Wohnung. Ich schlief bei meiner Oma im Bett. Opa war leider schon verstorben. Jeden Morgen stand Oma wie selbstverständlich mit mir auf. Während ich mich im Bad herrichtete, in Anzug und Hemd schlüpfte, schmierte sie Brote mit einer daumendicken Schicht Butter und schnitt die Stullen in kleine Quadrate. Auf jedes legte sie ein Stückchen Gewürzgurke. Dann tranken wir gemeinsam eine Tasse Kaffee, den sie frisch aufgebrüht hatte, und Oma verabschiedete mich mit einem herzlichen Lächeln.
Besser konnte ein Tag gar nicht starten. Oma hätte nicht mit mir aufstehen müssen. Ich hätte niemals böse sein dürfen, hätte sie zu dieser Uhrzeit keine Lust gehabt, mir Brote zu schmieren. Sie tat es einfach gerne, weil es ihr eine Freude bereitete, sich um mich zu kümmern.
Wir redeten in dieser Herrgottsfrühe auch gar nicht viel miteinander. Wir saßen da, die Kaffeetassen in der Hand, dankbar für die gemeinsame Zeit. Niemand versteckte sich hinter einem Handy, daddelte in irgendwelchen Apps oder durchkämmte Social-Media-Plattformen, weil es das damals einfach noch nicht gab. Wir genügten uns.
Und wenn Oma mich anlächelte, und das tat sie jeden Morgen, bildete ich mir ein, dass sie stolz auf mich war, dass ich eine Ausbildung gefunden hatte, die mir Freude bereitete.
Damals lief im Fernsehen, in diesen großen Kästen, wo man an einem bestimmten Tag zu einer bestimmten Uhrzeit davorsitzen musste, Ewigkeiten vor Streaming, die US-Kultserie Hotel, in der James Brolin den Hotelmanager Peter McDermott im Luxushotel St. Gregory spielte. Ich liebte diese Eleganz, dieses Stilvolle und das internationale Flair, das diese Serie versprühte. Ich wollte wie McDermott sein, dieser hoch gewachsene charismatische Mann, der immer alles im Griff hatte.
Und tatsächlich entwickelte sich schnell vieles in diese Richtung. Eines Tages stand eine hinreißende Frau vor mir. Ich durfte sie im Namen unseres Hotels willkommen heißen.
Ich hielt ihre Hand ein wenig länger, als es nötig gewesen wäre. Im Knigge oder sonstigen Benimmratgebern gibt es sehr genaue Anleitungen über den Handschlag, die ich angesichts meines Jobs in der Hotellerie selbstverständlich kenne. Drei bis maximal fünf Sekunden, so heißt es, länger solle dieser Körperkontakt, bei dem es auch auf die richtige Distanz und so vieles mehr ankommt, nicht dauern. Man soll seinem Gegenüber in die Augen schauen, nicht auf die Hand. Der Schwung des Schüttelns kommt aus dem Ellbogen und nicht aus der Schulter. Der Händedruck darf weder zu lasch noch zu fest sein.
Als ich Heiner Geißler, damals CDU-Generalsekretär, die Hand schüttelte, dachte ich, er würde meine zerquetschen. Aber nicht aus irgendeiner schikanösen Machtdemonstration heraus, sondern weil er als leidenschaftlicher Bergsteiger, der regelmäßig an der Klimmzugstange trainierte, einfach sehr viel Kraft hatte.
Mindestens sieben Sekunden hielt ich die Hand dieser wundervollen Frau. Ich hatte mich in den Tiefen ihrer braunen Augen verloren. Ihre Hände waren warm und weich. Ihr Lächeln so herzlich und ansteckend. Aber ich musste sie loslassen, um nicht übergriffig zu wirken.
Sie war dreißig Jahre alt. Ein umjubelter Weltstar. Ich war vier Jahre jünger – noch ziemlich frisch in der Hotellerie und hatte trotzdem das Glück, Whitney Houston offiziell begrüßen zu dürfen.
Wäre doch jetzt nur mein früherer Mathelehrer hier, der Gossen-Prediger, um mich piekfein gekleidet vor dieser Frau stehen zu sehen, die auf so vielerlei Arten Gänsehaut erzeugen konnte. Mit ihrer Stimme ließ sie Zehntausende Menschen gleichzeitig vor Ehrfurcht erstarren, wenn sie ins Mikrofon hauchte. Sie konnte singen wie kaum ein anderer Mensch auf diesem Planenten.
Und mein Arbeitgeber erlaubte mir, sie stellvertretend für unser Haus zu begrüßen. Mal war es Whitney Houston, dann Heiner Geißler, ein anderes Mal Hans-Dietrich Genscher, der ewige Außenminister, natürlich in seinem gelben Pullunder. Als Page durfte ich Sophia Loren, der international verehrten Filmdiva, ihr Gepäck aufs Zimmer bringen. Sie reiste mit riesigen Koffern, truhenartig und ohne Rollen, die verdammt schwer waren.
Ich mochte sie alle. Aber ich mochte auch die anderen Gäste, die in den Häusern, in denen ich arbeitete, eincheckten. Ich liebte die Arbeit im Hotel und blühte dabei total auf. Mir war es egal, zu welcher Tages- und Nachtzeit man mir Schichten zuteilte, oder später, in welcher Stadt ich arbeitete. Die Hotellerie saugte mich mit ihrer ganzen Faszination mit Haut und Haar, damals hatte ich noch welches, ein.
Schon damals passierte etwas mit mir. Ich entwickelte – aber ganz unterbewusst, unbemerkt und ungeplant – etwas, was bis heute in mir steckt. Ich entwickelte den Hang, zu viel zu sein. Ich entwickelte mich zu einer Flamme, die sich nicht regulieren ließ. Wenn sie entzündet war, dann brannte sie lichterloh, ich brannte lichterloh.
Hätte man mir einen Ball gegeben, hätte ich lernen wollen, so Fußball zu spielen wie Lionel Messi. Hätte man mich vor eine Staffelei gesetzt, hätte ich malen wollen wie Pablo Picasso. Hätte man mir gesagt, ich solle katholische Theologie studieren, hätte ich Papst werden wollen. Gut war mir nie gut genug. Ich war immer drüber, ohne dass ich es selbst bemerkte.
Kapitel 2Kälte im Kopf
So war es auch, als ich meinen Musterungsbescheid für die Bundeswehr bekam. Zu der Zeit lief gerade ein Film in den Kinos, der mich in seinen Bann gezogen hatte. Es war der Durchbruch des damals dreiundzwanzigjährigen Tom Cruise, der den jungen Kampfpiloten Maverick in Top Gun spielte. Diese heroischen Bilder gefielen mir. Dazu mit »Highway to the Danger Zone« ein ikonischer Soundtrack.
Tom Cruise war so lässig, so cool, gleichzeitig stilvoll und elegant, selbst wenn er gegnerische Flugzeuge vom Himmel schoss. Er konnte nicht nur fliegen, sondern auch Motorrad fahren, gab beim Singen und Volleyballspielen eine überzeugende Figur ab. Als er die Flugschule betrat, sagte einer der Ausbilder zu ihm und seinen Kollegen: »Sie sind die Elite, die Besten der Besten. Wir machen Sie noch besser.«
Ich hatte neben Peter McDermott, dem Manager aus der Serie Hotel, in Maverick ein weiteres Role Model für mich gefunden.
Entsprechend reichte es mir nicht, bei der Bundeswehr irgendein Grundwehrdienstleistender zu sein. Ich wollte mir keine Krankschreibungen erschummeln, so wie es so manche Kameraden versuchten. Einige gurgelten mit einer selbst angerührten Mischung aus Wasser, Pfeffer und Chili, glaube ich, und behaupteten dann, eine Rachenentzündung zu haben. Ab und zu funktionierte diese Masche sogar. Ich habe die Bundeswehr auch zu keiner Sekunde als Sozialexperiment oder Ähnliches gesehen, bei dem gesellschaftlich vollständig unterschiedliche Realitäten aufeinandertrafen. Ich habe mich nie allein gefühlt unter all den jungen Männern. Ich hatte vom ersten Tag an richtig Lust auf Drill und martialische Sprüche.
Ich rasierte mich so glatt wie eine Billardkugel. Als wir das Zerlegen und Zusammensetzen des G3, über Jahrzehnte das Standardgewehr der Bundeswehr, übten, um ein Verständnis für die Waffe, für die Bauteile und die Mechanik zu bekommen, wollte ich unbedingt der Schnellste sein. Ich baute es wieder und wieder auseinander und zusammen. Mit offenen, später dann mit verbundenen Augen. War jemand schneller als ich, zerlegte ich es im Kampf mit der Stoppuhr erneut so oft, bis niemand mehr mit mir mithalten konnte.
Irgendwann beschloss ich, mich als Kampfschwimmer zu bewerben. Ich wollte zur absoluten Elite der Truppe gehören.
Die Ausbildung, so hatte es angeblich mal irgendein General behauptet, sei die härteste, die es in einem demokratischen Land überhaupt geben würde. Es sei die Hölle auf Erden. Mit jeder Runde des Ausbildungsverfahrens reduziert sich die Zahl der Anwärter.