Abgrundtief - Dean Koontz - E-Book

Abgrundtief E-Book

Dean Koontz

0,0
9,99 €

oder
-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Bereits die erste Begegnung mit einem als Cowboy ausstaffi erten Fernfahrer lässt Odd Thomas nichts Gutes ahnen: Mit knapper Not entkommt er einem Mordversuch. Neugierig geworden, verfolgt er den Cowboy – und stößt auf eine unmenschlich grausame Sekte, deren blutrünstige Pläne er um jeden Preis vereiteln muss.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 524

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Titel

DEAN KOONTZ

ABGRUNDTIEF

THRILLER

Aus dem Amerikanischen

von Ursula Gnade

WILHELM HEYNE VERLAG

MÜNCHEN

Impressum

Die Originalausgabe DEEPLY ODD

erschien bei Bantam Books, New York

Vollständige deutsche Erstausgabe 07/2014

Copyright © 2013 by Dean Koontz

Copyright © 2014 der deutschen Ausgabe by

Wilhelm Heyne Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH

Umschlaggestaltung: Eisele Grafik.Design, München,

unter Verwendung der Fotos von Luc Novovitch, Serda_ikrumoki/

Alamy (2); Pete Ryan/National Geographic, Jacqueline Veissid,

Matthias Clamer/Stone/Getty Images (3)

Umsetzung eBook: Greiner & Reichel, Köln

ISBN 978-3-641-11761-0

www.heyne.de

Widmung

Dieses Buch ist Stephen Sommers gewidmet,

der sein Versprechen in einer Welt gehalten hat,

in der es fast niemand tut.

Mit Bewunderung und Zuneigung

vom »Odd«-Autor.

Zitat

Sie folgten dem Licht und dem Schatten,

und das Licht führte sie voran ins Licht,

und der Schatten führte sie in die Dunkelheit.

– T.S. Eliot: Chorus aus »The Rock«, VII

1

Noch vor der Morgendämmerung erwachte ich im Dunkeln vom Läuten einer winzigen Glocke, des fingerhutgroßen Glöckchens, das ich an einer Kette um den Hals trug: drei spontane Eruptionen silbernen Klangs, nach jeder ein kurzer Moment der Stille. Ich lag auf dem Rücken im Bett, vollkommen regungslos, und doch läutete das Glöckchen erneut dreimal. Die Vibrationen, die meinen nackten Brustkorb durchzuckten, erschienen viel zu heftig, um von einem so winzigen Klöppel hervorgebracht worden zu sein. Es folgte ein drittes dreimaliges Läuten und dann: nichts als Stille. Ich wartete und machte mir Gedanken, bis die Morgendämmerung am Himmel herunterkroch und über die Schlafzimmerfenster strich.

Später an jenem Morgen im frühen März, als ich mich zu Fuß auf den Weg ins Ortszentrum machte, um Bluejeans und Socken zu kaufen, begegnete ich einem Typen mit einer .45er-Pistole und dem Verlangen, ein paar Morde zu begehen. Mit ebenso großer Gewissheit, wie sich die Sonne von Osten nach Westen bewegt, wurde der Tag von diesem Zusammentreffen an immer garstiger.

Ich heiße Odd Thomas. Ich habe akzeptiert, dass ich sonderbar bin. So gesehen überrascht es mich nicht mehr, dass ich so zuverlässig von Ärger angezogen werde wie Eisen von einem Magneten.

Vor neunzehn Monaten, als ich zwanzig war, hätte ich bei dieser Schießerei in dem Einkaufszentrum, die Schlagzeilen machte, von Kugeln durchlöchert werden sollen. Zu dem Vorfall kam es in Pico Mundo, einem Wüstenstädtchen in Kalifornien. Es heißt, ich hätte sehr vielen Menschen in meinem Heimatort das Leben gerettet. Dennoch sind viele gestorben. Ich nicht. Damit muss ich leben.

Stormy Llewellyn, das Mädchen, das ich mehr als das Leben selbst liebte, war eine derer, die an jenem Tag gestorben sind. Ich habe andere gerettet, aber sie konnte ich nicht retten. Auch damit muss ich leben. Das Leben ist der Preis, den ich dafür bezahle, sie im Stich gelassen zu haben – ein hoher Preis, der jeden Morgen, wenn ich aufwache, bezahlt werden muss.

In den neunzehn Monaten, die seit jenem Todestag vergangen sind, bin ich auf der Suche nach dem Sinn meines Lebens umhergereist. Ich lerne, indem ich dorthin gehe, wohin ich gehen muss.

Momentan hatte ich ein anheimelndes möbliertes Häuschen mit drei Schlafzimmern in einem ruhigen Küstenort ein paar hundert Meilen entfernt von Pico Mundo gemietet. Von der Veranda vor dem Haus blickte man aufs Meer, und gelbe Bougainvilleen rankten sich über das halbe Dach.

Annamaria, die ich erst seit Ende Januar kannte, hatte eines der Schlafzimmer belegt. Sie erweckte den Eindruck, als würde sie in etwa einem Monat ihr Kind zur Welt bringen, doch sie behauptete, sie sei schon lange Zeit schwanger, und sie beharrte darauf, dass sie noch länger schwanger sein würde.

Obwohl sie viele Dinge sagte, die sich meinem Verständnis entzogen, glaubte ich fest daran, dass sie immer die Wahrheit sagte. Sie war geheimnisvoll, aber sie schwindelte nicht.

Wir waren Freunde, kein Liebespaar. Eine enigmatische Geliebte wird sich höchstwahrscheinlich als Katastrophe erweisen, die bloß noch nicht eingetreten ist, aber eine bezaubernde Freundin, deren gewohnte Wärme von Momenten kühler Unergründlichkeit durchwirkt ist, kann eine faszinierende Gefährtin sein.

An dem Morgen, an dem ich zu einem Einkaufsbummel aufbrach, folgte mir Annamaria bis auf die Veranda. Sie sagte: »Die Sommerzeit fängt erst in fünf Tagen an.«

Am unteren Ende der Treppe drehte ich mich zu ihr um und sah sie an. Sie war keine Schönheit, aber sie war auch nicht unattraktiv. Ihre klare, blasse Haut erschien mir so glatt wie Seife, und ihre großen, dunklen Augen, in denen sich das funkelnde Meer widerspiegelte, schienen so tief wie eine ganze Galaxie zu sein. In Turnschuhen, einer grauen Khakihose und einem ausgeleierten Pullover wirkte sie so zierlich wie ein Kind – ein kleines Mädchen, das die Klamotten seines Vaters trug.

Da ich nicht sicher war, warum sie die Sommerzeit erwähnt hatte, sagte ich: »Ich werde nicht lange fort sein. Noch vor Sonnenuntergang bin ich zurück.«

»Die Dunkelheit senkt sich nicht nach einem vorhersagbaren Zeitplan herab. Sie kann zu jeder beliebigen Tageszeit über dich hereinbrechen, wie du nur zu gut weißt.«

Sie hatte mir einmal erzählt, es gäbe Leute, die sie töten wollten. Obwohl sie nicht mehr dazu gesagt und sich auch nicht zur Identität jener geäußert hatte, die sie gern ermorden würden, glaubte ich, dass ihre Bemerkung ebenso sehr wie alles andere, was sie sagte, der Wahrheit entsprach.

»Wenn dir Gefahr droht, bleibe ich hier.«

»Du bist derjenige, der in Gefahr schwebt, junger Mann. Ob hier oder dort, überall bist du derjenige, der ständig auf dem Rand der Klippe steht.«

Sie war achtzehn, ich hingegen fast zweiundzwanzig, doch wenn sie mich junger Mann nannte, kam es mir immer richtig vor. Sie besaß eine Ausstrahlung von Zeitlosigkeit, als hätte sie in jedem anderen Jahrhundert der dokumentierten Menschheitsgeschichte oder sogar in ihnen allen gelebt haben können.

»Tu, was du tun musst«, sagte sie, »aber komm zu uns zurück.«

Tu, was du tun musst … Das klang unheilvoll bedeutungsschwanger und war nicht gerade die Wortwahl, die man normalerweise benutzen würde, wenn ein Freund loszog, um Socken zu kaufen.

Hinter Annamaria beobachtete uns Tim mit feierlichem Ernst durch eine Fensterscheibe. Links und rechts von ihm drängten sich unsere beiden Hunde mit den Pfoten auf der Fensterbank dicht an ihn und blickten mich an, ein Golden Retriever namens Rafael und ein weißer Deutscher Schäferhund namens Boo. Tim war erst neun Jahre alt und seit einem guten Monat bei uns, nachdem wir ihn von einem Anwesen namens Roseland in dem verschlafenen Städtchen Montecito gerettet hatten; von dieser Tortur habe ich in einem früheren Band meiner Erinnerungen berichtet. Wir waren jetzt seine einzige Familie. Aufgrund seiner einzigartigen Geschichte würden wir demnächst eine Identität erschaffen müssen, in die er im Lauf der kommenden Jahre hineinwachsen konnte.

Mein Leben ist so seltsam wie mein Name.

Tim winkte mir zu. Ich winkte Tim zu.

Kurz bevor ich das Haus verließ, hatte ich den Jungen gefragt, ob er mich begleiten wollte. Aber Annamaria hatte mit einem wohlwollenden Lächeln gemeint, weder Xerxes noch Leonidas hätten kleine Kinder aufgefordert, sie zu den Thermopylen zu begleiten.

Im Jahre 480 vor Christus hatten dreihundert Spartaner unter dem Befehl von Leonidas eine Zeit lang zweihunderttausend Perser unter Xerxes in der Schlacht bei den Thermopylen in Schach gehalten, bevor sie abgeschlachtet wurden. Es gelang mir nicht, die Ähnlichkeit zwischen meinem bescheidenen Einkaufsbummel und einem der erbittertsten militärischen Gefechte in der Geschichte der Menschheit zu erkennen.

Obwohl jeder Versuch, eine Erklärung aus Annamaria herauszuholen, wenn sie derart rätselhafte Bemerkungen von sich gibt, fruchtlos ist, spielte ich mit dem Gedanken, sie zu einer ausführlichen Darlegung aufzufordern. Aber sie hatte bereits die Tür für mich geöffnet und mich aus der Küche herausgelotst, war mir auf die Veranda gefolgt und stand jetzt da und blickte lächelnd auf mich herunter, während ich sie vom unteren Ende der Treppenstufen ansah. Der Moment, sie zu näheren Erläuterungen zu drängen, schien ungenutzt verstrichen zu sein.

Annamarias Lächeln ist so tröstlich, dass man, wenn man sie strahlen sieht, fast glauben könnte, diese Welt hätte nichts Bedrohlicheres zu bieten als das, was man mit Puh und Christopher Robin im Hundertmorgenwald fände – und das trotz ihrer Anspielungen auf das Abschlachten der Spartaner.

Ich sagte: »Das Glöckchen hat letzte Nacht geläutet.«

»Ja, ich weiß.«

Ich war davon überzeugt, dass sie es von ihrem Zimmer aus durch zwei geschlossene Türen nicht gehört haben konnte.

Sie hatte mir schon früher gesagt, wenn die Glocke in der Nacht läutete, würden wir kurz darauf an einen anderen Ort weiterziehen.

Jetzt sagte sie: »Ich sehe dich wieder, wenn der Wind das Wasser weiß und schwarz weht.« Mit diesen Worten wandte sie sich ab und zog sich in das kleine Haus zurück.

Hinter dem Strand erstreckte sich das Meer blau bis zum Horizont. Der Tag blieb weiterhin ruhig und mild, und der Himmel war so klar, dass es schien, als sollte ich in der Lage sein, trotz des Sonnenscheins, der sie verbarg, die Sterne wahrzunehmen.

Keinesfalls verblüfft, aber doch reichlich durcheinander, lief ich mit einer Skepsis, die ich vor wenigen Minuten noch nicht verspürt hatte, die halbe Meile nach Norden ins Ortszentrum. Im Schatten uralter Lebenseichen zog sich die dreispurige Geschäftsstraße durch den Ortskern, von gerade mal sechs Häuserblocks mit Läden, Restaurants und malerischen Gasthäusern flankiert. Wenn man eine richtige Stadt wollte, musste man an der Küste nach Santa Barbara rauffahren.

Ich wusste nicht, dass mir demnächst ein Kerl anbieten würde, mich zu kastrieren, oder dass er eine Pistole bei sich tragen würde, die mit einem Schalldämpfer ausgerüstet war. Ja, ich besitze gewisse paranormale Gaben, unter die gelegentlich auch ein prophetischer Traum fällt, aber im Wachen sehe ich keine Momente in der Zukunft.

Als mir der Laster, der meine Neugier anstachelte, erstmals auffiel, erkannte ich nicht, dass ein furchtbarer Feind hinter dem Steuer saß. Ich erhaschte nicht einmal einen flüchtigen Blick auf den Fahrer.

Mit meiner erbarmungslosen Neugier habe ich mir schon großen Ärger eingehandelt. Sie hat mir aber auch schon viele Male den Arsch gerettet. Unter dem Strich ist sie also ein Plus. Und es ist überhaupt nicht wahr, dass Neugier der Katze Tod ist. Im Allgemeinen werden Katzen von Kojoten oder Sattelschleppern abgemurkst.

Jedenfalls ist meine Neugier ein Bestandteil meiner Gabe, meines sechsten Sinnes. Ich bin gezwungen, ihr nachzugeben.

Bei dem Laster handelte es sich um einen ProStar+, einen Sattelschlepper. Die aerodynamische Zugmaschine mit dem massiven Kühlergrill und den Scheinwerfern in Form von Eidechsenaugen sah wirklich cool aus und war rot und schwarz lackiert, mit funkelnden silbernen Streifen. Der schwarze Auflieger trug kein Firmenlogo und auch keine Werbung.

Gerade als ich das Geschäftsviertel erreichte, fuhr der Sattelschlepper an mir vorbei in den Ortskern, in Richtung Norden. Ohne bewusst wahrzunehmen, was ich tat, beschleunigte ich meine Schritte. Als der ProStar+ an einem Stoppschild bremste, hatte ich ihn fast eingeholt.

Weil der Koloss auf der Kreuzung Gas gab, begann ich zu rennen, und in dem Moment wurde mir eines klar: Ich wusste intuitiv, dass etwas an diesem Laster böse sein musste.

Also, ich meine damit nicht den ProStar+ als solchen. Ich bin keiner von denen, die glauben, ein Fahrzeug könnte von einem dämonischen Geist besessen sein und fahrerlos durch die Stadt rasen, um Menschen umzufahren, weil es den Wagen anmacht, mit seinen Reifen Blut zu schmecken. Daran glaube ich genauso wenig wie daran, dass Herbie – der VW Käfer in dieser Serie von Disney-Filmen – seinen eigenen Willen hatte und den Wunsch verspürte, Liebende zusammenzubringen und Bösewichten das Handwerk zu legen. Wenn man Ersteres glaubt, muss man auch Letzteres glauben, und ehe man sich’s versieht, bringt man seine Karre mit der GPS-Stimme, die so sexy klingt, zur Waschanlage, um die Blechkiste nass und eingeseift zu sehen.

Ich fiel rasch hinter dem Laster zurück, klar, aber dann, nah am nördlichen Ende der Ortschaft, bog er vor einem Supermarkt nach links von der Straße ab. Wenn der Fahrer eine Lieferung zugestellt hätte, wäre er zur Laderampe hinter dem Gebäude gefahren. Stattdessen stellte er den Wagen an dem Ende des Parkplatzes, das der Straße am nächsten war, quer über mehrere Parkplätze ab.

Endlich erreichte ich den Sattelschlepper, der im zitternden Schatten einer Reihe von Eukalyptusbäumen stand, die der Wind in Bewegung versetzte; er war unbeaufsichtigt. Ich holte Atem, ging langsam um das Fahrzeug herum und sah es mir genauer an.

Meine Intuition sträubte ihre Borsten wie ein Hund das Nackenhaar: Gesteigerte Intuition ist ein Bestandteil meines sechsten Sinnes.

Der Tag war mild, die Brise sanft, doch der Bereich unmittelbar um den Laster herum war kälter, so kalt, dass es sich nicht allein durch den Schatten der Eukalyptusbäume erklären ließ. Als ich eine Handfläche auf die Seitenwand des Aufliegers presste, fühlte es sich an, als sei der Fahrer an den Straßenrand gefahren, um in großer Höhe das Ende eines dichten Schneegestöbers abzuwarten.

Es war nicht das, was Lkw-Fahrer einen »Kühlkoffer« nannten, in dem gefrorene Nahrungsmittel transportiert wurden. An der Vorderseite des Aufliegers, hinter der Zugmaschine, war kein Kühlkörper montiert.

Ich stellte mich auf die Trittstufe neben dem Tank, um durch ein Seitenfenster in die Fahrerkabine zu lugen: Ledersitze, Armaturenbrett und Zierleisten aus Holz, eine zum Fahrer hin abgewinkelte Mittelkonsole mit CD-Player und GPS und eine geräumige Schlafkabine hinter dem Führerstand sorgten für eine behagliche Umgebung.

An dem über Kopfhöhe angebrachten CB-Funkgerät mit dem herabhängenden Mikrofon baumelte eine Schnur roter Perlen, auf die fünf pflaumengroße weiße Schädel aufgefädelt waren. Sie schienen handgeschnitzt zu sein, vielleicht aus Knochen.

Menschen schmückten die Fahrerkabinen ihrer Fahrzeuge mit allen erdenklichen Gegenständen. Miniaturschädel waren ebenso wenig ein Beweis für die Gefährlichkeit dieses Fahrers, wie ein baumelndes Figürchen der kleinen Meerjungfrau ihn als einen unschuldigen Träumer ausgewiesen hätte.

Dennoch ging ich um den Sattelschlepper herum, um mir die Hintertüren genauer anzusehen. Vielleicht brauchte ich einen Schlüssel, vielleicht auch nicht.

Ehe ich mir Gewissheit darüber verschaffen konnte, wie die langen Schnäpper funktionierten, fragte mich eine seidenweich raunende Stimme: »Gefällt dir mein Laster, du Drecksack?«

Er maß ungefähr einsneunzig und war somit um einiges größer als ich. Obwohl er aussah, als sei er vielleicht fünfunddreißig, war sein gegeltes Haar, das in Spitzen von seinem Kopf abstand, weiß, und das galt auch für seine Augenbrauen. Er hatte nordische Gesichtszüge und eine Sonnenbankbräune, die deutlich besagte, dass er keine Furcht vor Melanomen kannte. Seine Augen hatten exakt das Blau von Wasser in Toilettenschüsseln, die beim Spülen automatisch Desinfektionsmittel zugeben, und sie waren auch ebenso ansprechend.

Da ich nie die Hoffnung aufgebe, selbst eine Situation mit ausgeprägtem Potenzial zur Gewalttätigkeit könnte sich als Gelegenheit für gegenseitiges Verständnis und Kameradschaft erweisen, tat ich so, als hätte ich die Anrede »Drecksack« überhört.

Ich sagte: »Ja, Sir, er ist eine Schönheit.«

»Du willst wissen, was ich transportiere? Du bist wohl neugierig, was?«

»Nein, Sir. Ich doch nicht. Ich begeistere mich einfach nur für Lastwagen.«

Seine Zähne waren so unnatürlich weiß, dass ich glaubte, Gefahr zu laufen, mir von seinem Lächeln eine Verstrahlung zuzuziehen.

»Bist du gläubig?«, fragte er.

Unter den gegebenen Umständen erschien mir die Frage so stark emotional befrachtet zu sein, dass jede allzu spezifische Antwort wohl Ärger erregen würde. »Nun ja, Sir, ich vermute, wir glauben alle an das ein oder andere.«

Er sah aus, als glaubte er an strassbesetzte Cowboyklamotten. Seine maßgeschneiderten spitzen schwarzen Stiefel waren von gemustertem weißem Schlangenleder durchzogen. Schwarze Jeans, an den Säumen, den Innennähten und den Taschen mit leuchtend rotem Garn abgesteppt. Rotes Seidenhemd mit schwarzen Ziernähten. Schwarze Schnürsenkelkrawatte mit einer Brosche, bei der es sich um einen geschnitzten Knochen in Form eines Schlangenkopfs hätte handeln können, mit passenden Knochenstiften am Ende der Schnur. Sein schwarzes Sportsakko hatte leuchtend rote Aufschläge und einen Kragen, der mit Pailletten gesprenkelt war.

»Wenn du wahrhaft gläubig bist«, sagte er, »dann sage mir, wie viele Stufen die Himmelsleiter hat.«

»Nun, Sir, ich bin kein Theologe. Nur ein Grillkoch ohne feste Anstellung.«

»Die Himmelsleiter hat genau zwei Stufen, Drecksack. Die erste Stufe besteht darin, meinen Laster anzurühren. Die zweite besteht darin, keine Erklärung abzugeben, die mich zufriedenstellt.«

»Sir, die simple Wahrheit ist: Ihr Laster ist eine echte Schönheit, und ich wollte schon immer Fernfahrer sein.«

»Du wolltest nie Fernfahrer sein.«

»Ich gebe zu, dass es nicht ganz der Wahrheit entspricht, aber der Laster ist eine Schönheit.«

Die .45er Sig Sauer mit dem Schalldämpfer tauchte in seiner Hand auf wie eine Taube in der Hand eines guten Zauberers – als hätte sie sich aus dem Nichts materialisiert. Noch schlimmer war, dass die Pistole aus nächster Nähe auf meinen Schritt gerichtet war, was mir weniger Sorgen bereitet hätte, wenn es eine Taube gewesen wäre.

»Wie würde es dir gefallen, ein Eunuch zu sein und dir nie mehr Sorgen machen zu müssen, du bekämst keinen hoch?«

Er verbrutzelte mich mit seinem strahlenden Lächeln, und ich war wie ein Spiegelei auf der Bratplatte, das auf den Pfannenwender wartete.

»Das würde mir nicht besonders gut gefallen, Sir.«

Die Reihe von Eukalyptusbäumen schirmte uns weitgehend von dem Durchgangsverkehr auf der Straße ab. Auf dem Parkplatz des Supermarkts herrschte ein reges Kommen und Gehen, aber die Leute waren alle viel näher an dem Gebäude als an unserem Ende. Sie interessierten sich nicht für zwei Fernfahrer, und der Körper des Cowboys verhinderte, dass sie die Waffe sahen.

»Du meinst, ich werde es nicht hier unter freiem Himmel tun? Glaub mir, es ist erstaunlich, was die Leute alles nicht sehen. Den Schuss werden sie nicht hören. Du wirst zu Boden gehen, ehe du Atem geholt hast, um zu schreien. Und sobald du auf dem Boden liegst, werde ich dir die Kehle zertrampeln und deine Luftröhre zerquetschen. Dann werde ich mit dir umgehen wie mit einem Betrunkenen: Ich werde dich an einen dieser Bäume lehnen, als wärst du ein Landstreicher, der seinen Rausch ausschläft. Niemand will sich einen stockbesoffenen Landstreicher genauer ansehen. Und ich garantiere dir, keiner wird sich an mich erinnern. Niemand wird mich gesehen haben.«

Ich erkannte Aufrichtigkeit in seinen Klospülungsaugen, und ich wusste, dass er mich, so verrückt das auch klang, aus dieser Welt hinausspülen könnte.

Da ich, wie ihr alle wisst, ein zurückhaltender Typ bin und so gewöhnlich aussehe wie jeder andere Grillkoch ohne feste Anstellung, und wenn man außerdem bedenkt, wie echt schockiert ich ausgesehen haben muss, rechnete er wohl nicht damit, dass ich sein Handgelenk mit beiden Händen packen würde. Ich presste die Mündung der Sig Sauer gewaltsam weiter unten zwischen meine Beine, fort von meinem ängstlichen Gemächt.

Er gab einen Schuss ab, der weniger Lärm machte als die Kugel, die in der Nähe meines linken Fußes vom Pflaster abprallte.

Vielleicht hätte ich sein Handgelenk nicht so fest umbiegen können, dass er die Waffe fallen gelassen hätte, doch etwas ganz Außerordentliches passierte. Als ich ihn berührte und während die Kugel mit einem leisen Plopp aus dem Schalldämpfer kam, verschwand der Parkplatz, und für ein paar Sekunden quoll eine Vision vor meinem inneren Auge aus mir hinaus, um mich zu umfangen.

Ich schien in einer mondlosen Nacht zu stehen, vor einem Edelstahlpodest auf stählernen Beinen, einer runden Bühne, durch die flackernden Flammen von vier Fackeln erhellt, die an hohen Stangen befestigt waren. Auf der Bühne saßen auf hochlehnigen Stühlen drei Kinder: ein Junge von etwa acht Jahren, ein Mädchen von vielleicht sechs und ein älteres Mädchen, das vielleicht zehn war. Mit ihnen stimmte etwas nicht. Sie saßen mit weit aufgerissenen Augen, aber schlaff herunterhängenden Mündern da, die Hände schlapp auf dem Schoß. Emotionslos. Betäubt. Ein weißhaariger Mann in blutrotem Anzug, schwarzem Hemd und schwarzer Maske stieg die Stahlstufen zur Bühne hinauf. Mit dem Flammenwerfer, den er in der Hand trug, setzte er die Kinder in Brand …

Die Vision platzte wie eine Seifenblase, die Realität kehrte zurück, und der Cowboy und ich entfernten uns rückwärts taumelnd voneinander. Die Pistole lag zwischen uns auf dem Pflaster. Sein bestürzter Gesichtsausdruck und eine Wildheit in seinen Augen sagten mir zwei Dinge: Erstens hatte er dieselbe Vision gehabt wie ich; zweitens war er der maskierte Mann in dem roten Anzug, und er beabsichtigte, zu einem zukünftigen Zeitpunkt in einer wahnsinnigen und mörderischen Performance-Veranstaltung hilflose Kinder anzuzünden.

Ich hatte gerade mein erstes böses Omen für die Zukunft wahrgenommen, das sich nicht in Form eines prophetischen Traums einstellte.

Er wollte sich auf die runtergefallene Pistole stürzen, doch es gelang mir, sie unter den Sattelschlepper zu treten, als seine Finger nur noch wenige Zentimeter von seiner Beute entfernt waren.

Wie aus einer Scheide am Unterarm glitt ein Messer in seine rechte Hand, und eine schmale Klinge von fünfzehn Zentimetern Länge sprang aus dem gelben Griff hervor.

Ich habe eine Abneigung gegen Schusswaffen, aber ich bin auch kein Fan von Messern, trage also keines von beidem mit mir herum. Instinktiv wandte ich mich von ihm ab und rannte über den Parkplatz auf den Supermarkt zu. Dort würde er es wohl nicht wagen, mich vor Zeugen aufzuschlitzen.

Plötzlich schien die ganze Welt feindselig geworden zu sein, als sei der Geist endgültiger Dunkelheit eingetroffen, um die Herrschaft an sich zu reißen, weil seine Stunde endlich geschlagen hatte. Sogar mein morgendlicher Schatten, der mir folgte, als ich westwärts rannte, schien üble Absichten zu haben, als würde er mich einfangen und mich nach unten ziehen.

Als ich einen Blick hinter mich warf, war mir der Asphalt-Cowboy nicht auf den Fersen. Er war nirgendwo zu sehen. Ich verlangsamte meine Schritte und ging jetzt schnell, statt zu rennen, um keine Aufmerksamkeit auf mich zu lenken, und als die automatische Tür zur Seite glitt, trat ich in die Kühle des Supermarkts.

Wenn ich in Pico Mundo gewesen wäre, meinem Heimatort, hätte ich gewusst, was zu tun war. Wyatt Porter, der dortige Polizeichef, verstand mich und glaubte an mich. Ein Anruf von mir hätte genügt, damit er den Cowboy festgenommen und den Laster durchsucht hätte.

Aber ich war jetzt schon seit einiger Zeit unterwegs und zog jeweils dorthin, wo meine ungewöhnlichen Talente am meisten gebraucht wurden, angelockt von Sirenengesang, den ich nicht hören konnte, auf den aber mein Blut reagierte. Hier kannte mich niemand, und ich würde mich so anhören wie einer von vielen durch Drogen verstörten Paranoikern, ein weiteres betrübliches menschliches Wrack von der Sorte, mit der die Landschaft eines Amerikas zugemüllt war, das in einer Welt, die von Tag zu Tag finsterer wurde, rasch aus der Weltgeschichte ausgeblendet zu werden schien.

Im Supermarkt blieb ich an einer geschlossenen Kasse stehen und tat so, als suchte ich eine ganz bestimmte Zeitschrift unter der großen Auswahl, doch in Wirklichkeit behielt ich die Kundeneingänge am nördlichen und südlichen Ende des Gebäudes im Auge.

Vor kaum mehr als einem Monat hatte ich in einem Städtchen namens Magic Beach erstmals durch bloße Berührung einen potenziellen Mörder erkannt. Bei der Gelegenheit war vor meinem – und vor seinem – geistigen Auge eine Szene aus einem albtraumhaften nuklearen Armageddon hervorgebrochen, von dem ich in der vorangegangenen Nacht geträumt hatte, und ich hatte gewusst, dass er einer Verschwörung zur Zerstörung amerikanischer Städte durch Atomwaffen angehören musste. Aber von diesen Kindern, die auf einer Bühne angezündet wurden, hatte ich nicht geträumt.

Mittlerweile rechnete ich nicht mehr damit, dass der Cowboy mir folgen würde. Ich erwartete von ihm, dass er stattdessen in seinen großen Sattelschlepper steigen und zu welchem Highway zur Hölle auch immer aufbrechen würde – halt dem, den er in sein GPS einprogrammiert hatte. Die Vision brachte ihn gewiss genauso sehr durcheinander wie mich. Aber wie ich schon vor langer Zeit gelernt hatte, sind Erwartungen zerbrechlich und leicht zu zerschlagen.

Der Cowboy kam durch die Tür im Norden, entdeckte mich sofort und näherte sich mir zielstrebig. Er sah aus wie ein Star der Grand Ole Opry in Nashville, allerdings in einer Parallelweltversion, in der komplett wahnsinnige Countrysänger auftraten.

Ich eilte durch den Frühstücksflockengang, bog nach rechts ab und durchquerte den großen Laden zur Obst- und Gemüseabteilung, um Zeit zum Nachdenken rauszuschinden.

Selbst wenn es mir gelingen sollte, einen verständnisvollen Kunden, einen gutgläubigen Verkäufer oder einen Polizeibeamten außer Dienst zu finden, der in den rotbackigen MacIntosh-Äpfeln wühlte, konnte ich aufgrund des Nachspiels meiner wenigen Wochen in Magic Beach niemanden um Hilfe bitten. Dort saßen schlechte Menschen im Gefängnis, und andere schlechte Menschen waren tot. Das Heimatschutzministerium und das FBI waren am Ende dieser Ereignisse durch einen anonymen Anruf, den ich selbst getätigt hatte, hinzugezogen worden, und jetzt suchten sie jemanden, auf den meine Beschreibung passte, hatten allerdings keinen Namen. Ich wagte es nicht, in diesem kleineren Städtchen, das kaum mehr als hundert Meilen südlich von Magic Beach an der Küste lag, die Aufmerksamkeit der Polizei auf mich zu ziehen.

In dieser weiten, komplexen und oft mysteriösen Welt gebe ich nicht vor, viel zu wissen. Wie man luftige Pfannkuchen backt – das mochte das wichtigste Wissen sein, das ich besitze. Trotz meiner Ignoranz weiß ich eines ohne jeden Zweifel: Wenn die Bundespolizei den Verdacht hätte, dass ich paranormale Fähigkeiten besitze, würde ich den Rest meines Lebens in Gewahrsam verbringen und für ihre Zwecke genutzt werden.

Außerdem würde man mich eingehend untersuchen und mich eventuell unerfreulichen Experimenten unterziehen. Ich habe eine vielleicht irrationale, aber dennoch echte Furcht vor Wissenschaftlern, die meinen Schädel aufsägen, während ich bei Bewusstsein bin, und Nadeln in diverse Teile meines Gehirns stechen, um zu bestimmen, ob sie mich dazu bringen können, wie eine Henne zu gackern, wie ein Hund zu bellen oder die Titelrolle in Das Phantom der Oper zu singen.

In auffälligem Schwarz und Rot erschien der Cowboy in der Obst- und Gemüseabteilung. Seine Pistole und sein Messer hatte er weggesteckt, aber in seinem Gesicht zeigte sich sein Wahnsinn so offenkundig, als hätte er ein wüstes Kauderwelsch von sich gegeben und wäre herumgetollt wie ein Affe.

In dem Moment nahm ich an diesem Mann etwas Verblüffenderes wahr als einfach nur seine Garderobe und seine Vorliebe für psychotische Gewalttätigkeit. Trotz seiner extravaganten Aufmachung schien er bei den Käufern und den Angestellten des Supermarkts um uns herum kein besonderes Interesse hervorzurufen. Sie schienen ihn kaum zur Kenntnis zu nehmen.

Natürlich haben heutzutage viele Menschen eine Art Radar entwickelt, um die zahlreichen Irren unter uns zu entdecken, und wenn dieses kleine Alarmsignal des Erkennens in ihren Gemütern schrillt, halten sie die Köpfe gesenkt und wenden die Augen ab. Sie erledigen ihre eigenen Angelegenheiten, als hätten sie abgeschaltet, sich aus dem Hier und Jetzt ausgeklinkt und sich stattdessen auf ihre jeweilige private Realität eingestimmt: Sieh dir diesen sonderbaren Kerl an, dem blaues Feuer aus den Augen schießt. Und sieh dir diese Pfirsiche an! Das sind aber wirklich ganz besonders schöne Pfirsiche. Ich habe noch nie appetitlichere Pfirsiche gesehen als diese Prachtexemplare hier! Und sieh dir diese Trauben an. Ich werde Pfirsiche und Trauben kaufen. Oder vielleicht sollte ich zu den Backwaren rüberschlendern und dort rumstöbern, bis ich mir eine Zeit lang Gedanken über dieses … dieses gruselige Pfirsich-und-Trauben-Ding gemacht habe.

Ich hatte jedoch den Verdacht, dass er aus einem anderen Grund, der sich meinem Verständnis entzog, keine Aufmerksamkeit auf sich lenkte.

Der Cowboy kam auf mich zu und blieb auf der anderen Seite der breiten Auslageschalen stehen, in denen auf meiner Seite vier Sorten Äpfel und auf seiner Seite Kartoffeln, Süßkartoffeln und Lauch arrangiert waren. Sein starres Lächeln erinnerte mich an eine Hyäne – wenn Hyänen denn eine Krankenkasse mit ausgezeichneter Gesundheitsvorsorge und einen erstklassigen Zahnarzt gehabt hätten.

Er sagte: »Du kommst mit mir und beantwortest ein paar Fragen dazu, was dort draußen vorgefallen ist, und du stirbst einen leichten Tod. Wenn du nicht mitkommst, knalle ich ein paar von diesen unschuldigen Frauen ab, die hier Lebensmittel einkaufen, und dann töte ich dich. Willst du die Frauen auf dem Gewissen haben?«

Ich glaubte nicht, dass dieser Typ jemals bluffte. Er tat, was er tun wollte, und zog dann einfach weiter.

Aber selbst wenn er noch so verrückt sein mochte, wollte er doch nicht infolge der Gräueltat, die er gerade zu begehen beabsichtigte, ins Gefängnis gesteckt oder von der Polizei niedergeschossen werden, oder?

Als ich ihm keine Antwort gab, zog er die Pistole mit dem Schalldämpfer unter seinem Sportsakko heraus und zerschoss eine Zuckermelone auf dem Stapel, den eine ältere Frau gerade gründlich untersuchte. Brocken der Schale und orangefarbenes Fruchtfleisch flogen durch die Luft und klatschten auf die Käuferin.

Bestürzt wankte sie rückwärts. »Oh! Ach du meine Güte!«

Obwohl der Cowboy die Sig Sauer immer noch in der Hand hielt, als die Frau sich verblüfft umsah, blieb ihr Blick länger auf mir liegen als auf ihm, und die Pistole schien sie überhaupt nicht wahrzunehmen. Sie war verwirrt, nicht ängstlich.

Unter Entschuldigungen, als explodierten diese verflixten Zuckermelonen von Zeit zu Zeit und beschmutzten die Leute, eilte ein Angestellter der Obst- und Gemüseabteilung auf die ältere Frau zu und zeigte nicht das geringste Interesse an dem Cowboy. Die anderen Kunden richteten ihre Blicke auf den Verkäufer und die Dame, die das Fruchtfleisch abgekriegt hatte.

Das hyänenhafte Lächeln des Truckers wurde noch breiter.

Ich erinnerte mich an etwas, was er gesagt hatte, als er mir auf dem Parkplatz angedroht hatte, mich zum Eunuchen zu machen: Du glaubst, ich werde es nicht hier unter freiem Himmel tun? Glaub mir, es ist erstaunlich, was die Leute alles nicht sehen.

Er erwartete von mir, dass ich weglaufen würde, woraufhin er sich gezwungen sehen würde, mir in den Rücken zu schießen und das Verhör zu vergessen, das er vornehmen wollte. Aber aus unserer Begegnung vorhin auf dem Parkplatz hätte er lernen können, dass man mit seinen Erwartungen oft danebenliegt, und was er nicht erwartete, war ein Angriff mit Hochgeschwindigkeitsfrüchten.

Ohne mir die Zeit zum Ausholen zu nehmen, schnappte ich einen Red Delicious aus der Auslage vor mir und gab dem Wurf einen ordentlichen Drall. Ich traf ihn mitten ins Gesicht, er wankte rückwärts, und ein zweiter Red Delicious prallte von seiner Stirn ab, während Blut aus seiner Nase strömte; und das verblüffte ihn so sehr, dass er reflexartig seine Waffe fallen ließ. In der Highschool war ich in unserem Baseballteam Schlagmann gewesen, und ich bekam den Ball immer noch in einem Affentempo dorthin, wo ich ihn haben wollte. Während ich mich schnell an der Auslage entlang bewegte, krallte ich mir zwei Granny Smiths, harte, kleine grüne Teile, die man zum Backen benutzt. Der erste traf seinen Mund, vielleicht zwei Sekunden nachdem er den Red Delicious an den Kopf geknallt bekommen hatte, und der zweite erwischte seine Kehle, woraufhin er zu Boden ging, von Äpfeln überwältigt. Sozusagen veräppelt, wenn ich mir dies kleine Wortspiel erlauben darf.

Käufer schrien auf und starrten mich an, als sei ich der Geistesgestörte und der kostümierte Cowboy mit der Pistole mit aufgeschraubtem Schalldämpfer sei so unschuldig wie ein Lamm, das von einem tollwütigen Wolf angefallen wird.

Der Verkäufer der Obst- und Gemüseabteilung schrie mich an, ich warf ohne die Absicht, ihn zu treffen, einen Granny Smith, er duckte sich, sprang abrupt wieder auf, und ich warf einen weiteren Granny Smith. Er machte kehrt und floh, wobei er um Hilfe rief, und all die erschrockenen Kunden flohen hinter ihm her.

Auf der anderen Seite der Auslage zog sich der durch eine Handvoll Äpfel malträtierte Cowboy, der aus der Nase und aus der geplatzten Lippe blutete, auf alle viere und streckte die Hand nach der Pistole aus, die er hatte fallen lassen. Er würde sie wieder an sich bringen, bevor ich sie aus seiner Reichweite treten konnte.

Fluchtartig verließ auch ich die Obst- und Gemüseabteilung. Vorbei an Auslagen exotischer importierter Knabbereien, ob salzig oder süß, an Bonbons und Pralinen. Nach links in den langen hinteren Gang, vorbei an Kühlregalen, in denen Käse und eine erschreckende Vielfalt von Pickles angeboten wurden.

Bevor ich die Frischfleischabteilung erreichte, stürzte ich mich durch eine doppelte Schwingtür in einen gewaltigen Lagerraum mit hohen Metallregalen links und rechts.

Zwei junge Regalauffüller in weißen Kitteln blickten von ihrer Arbeit auf, als ich durch ihr Hoheitsgebiet rannte, aber sie waren so klug, meine Verfolgung nicht aufzunehmen. Jetzt war ich der Nutznießer dieses Radars zur Identifizierung von Irren, den ich weiter oben bereits erwähnt habe. Als rasten mehrfach täglich verzweifelte Männer mit wildem Blick auf der Flucht durch dieses Lager, beluden die Regalauffüller weiterhin riesige Wagen mit Tüten voller Kartoffelchips und Cheese Doodles – Erdnussflips ohne Erdnüsse, aber dafür mit Käse –, die für die Verkaufsfläche bestimmt waren.

Als ich an einer Palette vorbeikam, auf der offene Kisten mit Konservendosen gestapelt waren, borgte ich mir eine große Dose Baked Beans und dann gleich noch eine.

Am hinteren Ende des Lagerraums, gegenüber der Tür, durch die ich hereingekommen war, führte eine weitere Metalltür auf eine Laderampe und die Lieferantenzufahrt. Ich ließ sie angelehnt, um einen Hinweis darauf zu geben, wohin ich gegangen war, und blieb mit dem Rücken an der Wand des Gebäudes stehen, in jeder Hand eine Dose Bohnen.

Die absurde und gewalttätige Natur meines Lebens bringt es mit sich, dass ich nicht selten zu Kämpfen gegen äußerst bizarre schlechte Menschen mit unkonventionellen Waffen verurteilt bin, mit denen sich Mr. Matt Damon und Mr. Daniel Craig niemals abgeben müssen, wenn sie, immer ernst und würdevoll, in ihren Filmen die Welt retten.

Ich rechnete damit, dass der Cowboy mir folgen würde, sobald er wieder dazu in der Lage war. Er wirkte nicht wie ein Typ, der sich leicht von etwas abbringen ließ, und er schien auch keiner zu sein, der bedacht vorgehen würde. Wenn er in seiner Verbissenheit, mich nicht aus den Augen zu verlieren, durch die Tür gestürzt kam, würde ich ihm eine Bohnendose über den Schädel ziehen und mit der anderen versuchen, ihm die Waffe aus der Hand zu schlagen.

Nach vielleicht einer Minute begann ich mich zu fragen, ob ich ihn kampfunfähiger gemacht hatte, als mir klar gewesen war. Als etwa eineinhalb Minuten verstrichen waren, wurde die Tür langsam geöffnet. Einer der jungen Regalauffüller lugte wachsam heraus, wankte aber so bleichgesichtig vor Furcht rückwärts, als sei ich Dr. Hannibal Lecter, der zwei abgeschlagene Köpfe in den Händen hielt, und kehrte eilig zu seinen Cheese Doodles zurück.

Ich stellte die Dosen hin, sprang von der Laderampe herunter und sprintete zur Nordseite des Gebäudes.

Falls der Cowboy beschloss, sich auszuklinken, brauchte ich das amtliche Kennzeichen seines Wagens. Ich konnte einen anonymen Anruf bei der Autobahnpolizei machen, ihn beschuldigen, Schmuggelware der einen oder anderen Art zu transportieren, und ihnen damit einen Vorwand liefern, in diesen schwarzen Auflieger zu schauen.

Obwohl meine spezielle Intuition mir sagte, dass er die Kinder noch nicht entführt hatte, würde so gut wie sicher irgendetwas Diskriminierendes in seinem Auflieger zu finden sein.

Ich bog um die Ecke, rannte an der Nordwand des Gebäudes entlang und raste auf den Parkplatz, wo der blendende Sonnenschein von hundert Windschutzscheiben zurückgeworfen wurde. Der Sattelschlepper war verschwunden.

Ich eilte durch die geparkten Wagen, glitt in der Reihe von hohen Eukalyptusbäumen am Ende des Parkplatzes zwischen zwei Stämme, blieb auf dem Gehweg stehen und blickte in beide Richtungen. Nirgendwo auf der Straße war ein ProStar+ in Rot und Schwarz und funkelndem Silber zu sehen.

In der Ferne heulte eine Sirene.

Nachdem ich die Straße überquert hatte, wandte ich mich nach Süden und sah in die Schaufenster von Geschäften, nichts weiter als ein junger Kerl, der einen arbeitsfreien Tag rumzubringen hatte, und überhaupt nicht ein Hooligan von der Sorte, die unschuldige Menschen beim Lebensmitteleinkauf mit einem grausamen Obstbombardement terrorisieren würde.

Ich versuchte, mir zu merken, dass ich einen Umschlag mit fünf Dollar an den Supermarkt schicken wollte, um für die zweckentfremdeten Äpfel zu bezahlen, wenn diese Sache mit dem Cowboy abgeschlossen war. Für die Zuckermelone würde ich nicht bezahlen. Schließlich hatte ich ja nicht darauf geschossen.

Ja, ich war in den Supermarkt geflohen und hatte den Irren hinter mir hergelockt; daher ließen sich Argumente dafür anführen, dass ein Teil des Preises der Zuckermelone unter meine Verantwortung fallen könnte. Aber der Grat zwischen moralischem Verhalten und narzisstischer Selbstgerechtigkeit ist schmal und schwer zu erkennen. Der Mann, der sich vor eine Menschenmenge stellt und seine Absicht kundtut, die Weltmeere zu retten, ist der Überzeugung, dass er einem Mann überlegen ist, der lediglich seine eigenen Abfälle und die anderer Menschen am Strand aufsammelt, wobei Letzterer tatsächlich im Kleinen bestimmt dazu beiträgt, die Welt zu einem besseren Ort zu machen, wogegen es sich bei Ersterem wahrscheinlich um ein Monster an Eitelkeit handelt, dessen Kreuzzug zu unbeabsichtigter Zerstörung führen wird.

Keinen Penny würde ich für die verdammte Zuckermelone bezahlen! Falls ich mich irrte und in der Hölle in einer Kammer aufwachte, in der ich bis in alle Ewigkeit im Schleim und in den Samen versank, die das Innerste einer Melone bildeten, würde ich eben sehen müssen, wie ich damit umging.

Als ich dem Gehweg nach Süden folgte, quälte mich das lebhafte Bild von drei abgefackelten Kindern. Ich wusste nicht, wann oder wo der Asphalt-Cowboy die Absicht hatte, sie zu verbrennen, oder warum. Mein sechster Sinn hat seine Grenzen und frustriert mich oft mehr, als er mir nutzt.

Tu, was du tun musst, hatte Annamaria gesagt. Ihre Worte schienen nicht lediglich ein Ratschlag zu sein, der für diesen Moment gedacht war, sondern auch eine Erkenntnis der Wahrscheinlichkeit, dass ich wohl doch nicht lange vor Sonnenuntergang zurück sein würde.

Ich brauchte wirklich Socken und eine neue Jeans. Aber wenn ich vor die Wahl gestellt wurde, meine Garderobe um das Notwendigste zu ergänzen oder mein Bestes zu geben, um zu verhindern, dass Kinder bei lebendigem Leib geröstet wurden, schien mir der korrekte Kurs ein klarer Fall zu sein. Während ich auf einem Bürgersteig, der mit Sonnenschein und den Schatten von etlichen alten Eichen gesprenkelt war, durch die Ortschaft eilte, hatte ich die Absicht, das Richtige zu tun. Ironischerweise musste ich, um das Richtige zu tun, ein Fahrzeug stehlen, und zwar schleunigst.

2

Der Asphalt-Cowboy hatte einen fahrbaren Untersatz, ich nicht. Er entfernte sich mit jeder Minute weiter von mir.

Als die Sirene lauter anschwoll, blinkten weit im Süden Blaulichter, die näher kamen.

Direkt vor mir sprang ein muskulöser Mann mit tätowierten Armen und dem Gesicht eines Pitbulls aus einem Ford Explorer, der am Randstein geparkt war. Die Fahrertür ließ er offen und den Motor laufen und stieß einen durchdringenden Klagelaut aus, als er an der Bank vorbeirannte, vor der er das Geländefahrzeug mit laufendem Motor abgestellt hatte, an zwei weiteren Gebäuden vorbeiraste und um die Ecke verschwand, als hätte er vielleicht eine Prostata von der Größe einer Grapefruit und einen Pinkeldrang, der ihn Hals über Kopf zur nächstbesten Urinalstelle sandte.

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!