Abschied - Pola Polanski - E-Book

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Pola Polanski

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Beschreibung

Elisabeth lernt Jonas nach einer zerbrochenen Ehe im Freibad kennen. Doch Jonas ist verheiratet. Nach einer Liebesbeziehung von vier Monaten kehrt Jonas zu seiner Familie zurück. Elisabeth zerbricht immer wieder psychisch, wenn ihre Beziehungen scheitern. So auch diesmal. Ein langer Spaziergang Elisabeths durch Stuttgart legt sich wie eine Klammer um diesen surrealen Roman.

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Pola Polanski

Abschied

Impressum

© Telescope Verlag 2020

www.telescope-verlag.de

Covergestaltung: Pola Polanski | www.polapolanski.de

Lektorat: Matthias Jügler

“Für die Psychologen ist ein Schriftsteller eine Auster; man füttere sie mit sandigen Tatsachen, ärgere sie mit Hässlichkeit, so wird sie auf dem Wege der Kompensation, wie sie es nennen, eine Perle produzieren.“

Virginia Woolf in dem Essay „Der schiefe Turm“

Dezember 2001

Pflanzen sind genügsam, dachte ich und habe ihn weder umgepflanzt noch gegossen. Jetzt ist er kahl, der winzige Setzling von Olivenbaum. Warum auch schreit die Pflanze nicht!

Ich stehe langsam auf. Meine Knie zittern. Du umarmst mich, kommst meinem Fall zuvor. Mit dem Blick über deiner Schulter sehe ich das Bäumchen. Dein Klammergriff, bei dem mir fast die Luft wegbleibt.

Aber diese Umarmung ist meine Heimat. Dort bin ich. Ich bin unter Wasser. Wir kommen aus dem Wasser, aus der Fruchtblase.

Ein spitzer Kuss auf meinen Mund. Dann löst du dich ein wenig und betrachtest mich. Das Zittern ist weg und ich wiege mich noch ein wenig, so als ob du mich noch umarmtest. „Kommst du?“ frage ich leise.

Wir treten nach draußen und hinein in ein verschneites Wintermärchen. Eine grelle Nachmittagssonne scheint uns entgegen. Trotzdem will uns die kalte Luft ersticken mit ihrem Schleier. Wir gehen langsam und schweigsam nebeneinander her von der Haustür bis zur Gartentür. Das eiserne Tor lässt sich nur mühsam öffnen, der Griff ist fast zugefroren. Ich habe meine Handschuhe vergessen, aber du wirst mich wärmen. Auch der Schlüssel ist nicht in meiner Tasche. Aber du sagst, du hättest ihn eingesteckt. Ich solle mich nicht beunruhigen. Ich trete zuerst auf den verschneiten Bürgersteig und überlasse es dir, das Tor zu schließen. Du holst aus mit deinen weiten Schritten. Ich habe mich bei dir untergehakt und halte gut mit. Unsere Schritte sind fast im Gleichklang. Nach einem kleinen Stück zupfe ich dich an deinem Arm. Wir bleiben stehen. Ich schaue zurück auf die Fußstapfen im Schnee. Du wirst ungeduldig, und diesmal bist du es, der mich am Ärmel zupft.

Dein Atem schickt kleine Wolken in die Luft.

„Wo gehen wir hin Elisabeth?“

„Aber Jonas, es ist ein Spaziergang. Brauchen wir ein Ziel?“

Ich schweige und schaue auf meine Füße, die sich mit dem Schneepulver vermischen. Schließlich sage ich:

„Hast du mich geliebt?“

Auch du schaust bedenklich auf deine Füße und dann entweicht dir mit einem Flüstern:

„Was glaubst du? Habe ich dich geliebt?“

Ich weiß keine Antwort.

Ich blinzle. Das Licht, das der Schnee reflektiert, blendet mich. Ich gebe dir einen Kuss auf die Wange. Aber dein Blick bleibt auf die Straße konzentriert, als merkest du meine Lippen nicht. Ich sehe zur Seite. Dein Kopf wackelt ein wenig hin und her. Manchmal denke ich mir, wenn du so läufst, wiegest du dich in deinen Gedanken. Deine Abwesenheit mir gegenüber beschäftigt mich.

Wir gehen über die Straße auf die kleine Treppe zu, die in den Wald führt. Am Waldrand wölben sich Bäume mit weißen Kronen über uns. Wir lassen die Treppe hinter uns und der Weg führt nun steil bergauf, bis wir nach rechts abbiegen. Neben uns können wir nun die Straße, an deren Rand sich die kleinen Villen befinden, durch die Bäume sehen. Eine einsame Fußspur zieht sich durch den Schnee. Daneben kleinere Abdrücke von einem Hund. Ich laufe, renne fast, um warm zu werden. Ich halte kurz inne, drehe mich nach dir um. Dein Kopf ist leicht rot und du keuchst ein wenig. Ich rufe dir zu:

„Ich wollte, wir könnten den Weg als die ersten betreten.“

Du schweigst. Dein Blick ist unverwandt auf die Fußspur gerichtet.

Die Sonne sendet ihre Strahlen durch das schwarze Gitter der Zweige. Der Himmel ist blau. In der Ferne klopft ein Specht. Im Unterholz knackt es. Ich zucke unter dem Geräusch zusammen. Das Knacken war ganz nahe. Ich suche nach dem Ursprung des Geräusches. Eine Amsel huscht durch das Gebüsch. Ich sehe dich näher kommen. Dann drückt deine Hand die meine. Wir gehen langsam zusammen weiter.

„Ich könnte immer so weiter gehen.“

„Ich auch. Mit dir, nicht mit ihm. Er ist immer davongerannt, nur um schneller zu sein. Als die anderen. Als ich. Nie hat er gewartet. Nie habe ich ihn eingeholt.“

„Du redest von deinem Exmann.“

„Von Klaus, ja.“

„Ich halte nicht viel davon, sich in Erinnerungen aufzuhalten. Nur das Jetzt zählt.“

Ich seufze und wiederhole leise: „Das Jetzt.“

Ich schaue hoch und in grundloses Blau hinein. Dabei spüre ich, dass du mich anschaust. Dann ziehst du mich an dich, plötzlich und heftig. Für einen langen Kuss.

Dann taucht in einiger Entfernung ein ärmlich aussehender Häuserzug auf. Ein Blitz blendet uns. Das metallene Drehkreuz am Eingang reflektiert die Sonne. Wir treten näher. Über der Inschrift „Freibad Zuffenhausen“ ist eine Sonne, deren Gelb längst verblichen ist, auf die Betonwand gemalt. Die Kabine, in der im Sommer vom Bademeister die Eintrittskarten kontrolliert werden, ist unbesetzt. Es ist still, kein Geräusch dringt zu uns. Im Sommer war Lärm um diese Zeit. Es ist, als wäre inzwischen ein Sterben passiert.

Ich schließe meine Augen.

August 1999

Das Augustabendlicht zog Schatten hinter sich her, über die Wipfel der Bäume, das Gras. Allmählich war Ruhe eingekehrt im Freibad, das türkisblaue Wasser schwappte rhythmisch. Ein paar weiße Mumien lümmelten noch am Rande des Schwimmbeckens. Und vor dem Unterholz küsste sich ein schwules Pärchen.

Ich saß am Beckenrand des Schwimmbads auf einer Bank, die Beine ausgestreckt, eine Zigarette in der Hand. Vertieft in Marcel Prousts Im Schatten junger Mädchenblüte. Eine Fuge von Bach, die den Ursprung in meinem Kopf hatte, flirrte in der Sonne. Die Fuge von Bach floss gleichzeitig mit meinen Augen über die Zeilen. Ein Satzteil erhob sich, klang wieder aus, während schon der nächste sie ereilte, um mich in diesem Labyrinth der Grammatik gefangen zu halten. Die Sätze verschmolzen mit Bachs Fuge. Es war, als ob ich die Blütenblätter einer Blume pflückte. Ich liebe dich, ich liebe dich nicht. Aber jedes Mal, wenn ich nahe bei dem Stempel der Blume, dem Kern des Satzes angelangt war, verlor ich das Verb aus den Augen. Ich legte das Buch zur Seite und dachte daran, dass mein Exmann es mir vor Jahren geschenkt hatte.

Mit 24 Jahren hatte ich, so dachte ich damals, den Mann fürs Leben gefunden. Mit 28 zeugte ich mit ihm zusammen ein Kind. Als Kim drei Jahre alt war, stand die Scheidung ins Haus. Eine schreckliche Krankheit hatte mich während der Trennung überfallen. Mir drehte sich der Kopf, wenn ich an die Worte dachte, die mein Exmann zu mir sagte: „Mit so jemand, der so krank ist, will ich nicht zusammen sein.“ Darauf konsultierte ich einen Psychologen und hatte endlose Sitzungen, die mich in immer tiefere Ungewissheit führten. Ich fühlte mich ungebraucht, wie ein alter, leerer Schrank, den man in den Keller gestellt hat.

Ich versuchte mich wieder auf meine Lektüre zu konzentrieren. Da sah ich in den Augenwinkeln weit ausholende Schritte auf mich zukommen, bestimmt, zielgenau. Aus dem Klacken auf dem Asphalt konnte ich schließen, dass die Füße in Schuhen mit Ledersohlen steckten. Was jetzt auf mich zukam strömte Sicherheit aus.

Ich blickte nach oben, direkt in das Gesicht des Mannes.

Dezember 2001

„Ich wollte eigentlich nicht, dass du bemerkst, dass du mir aufgefallen bist. wollte nur in deine Nähe sitzen, unauffällig.“

„Du hast mir sofort gefallen. Unwillkürlich musste ich an Clint Eastwood in seinen besten Jahren denken.“

„Lass uns reingehen.“

„Aber es ist Winter. Was willst du im Winter im Freibad.“

„Ich will. Ich werde es dir zeigen.“

Als wir die Drehtüre passieren, weht uns der Duft von Fichtennadeln entgegen. Wir setzen uns auf eine Bank an den Beckenrand des Pools.

„Jonas, das ist unsere Bank.“ Meine Stimme klingt begeistert. Aber du schaust nur auf das Gewässer. Schweigend sitzen wir nebeneinander. Mein Blick ist ebenfalls auf das Schwimmbecken gerichtet. Unter der dünnen Eisschicht schimmert das Wasser dunkelgrün. Irgendwie wirkt es tot. Mitten im Becken ist ein kleiner orangefarbener Pingpongball festgefroren. An den Rändern ein Streifen braunen Laubes. An den Stufen des Schwimmbeckens, haben sich kleine Eisformationen gebildet. Rings um das Schwimmbecken ist eine rot-weiße Baukette gespannt. Drei Schilder hängen daran: Zweimal „Gesperrt“, einmal „Betreten der Eisfläche verboten“. Das Gas in meinem Feuerzeug ist schon fast leer. Nach mehreren Versuchen erst brennt die Zigarette. Der Himmel ist jetzt marmoriert zwischen weißen Wölkchen und ein wenig blau. Ein Vogel zwitschert eisig. Wind kommt auf. Ein Blatt raschelt auf dem Steinboden. Meine Hände frieren. Die vergessenen Handschuhe. Mein Blick geht zur Liegewiese. Fünf weiße kahle Birken stechen aus dem lichten Wald ringsum den Rasen. Hinter dem armseligen Wald sieht man die Fußballplätze durchschimmern. Rechts neben dem Wald grenzt ein Bretterverschlag mit kleinen Kabinen an. Davor der Neubau. Er hängt noch im Gerüst. Soweit ich weiß, wird dort eine Turnhalle gebaut.

Ich mache mir eine weitere Zigarette an. Wieder zündet das Feuerzeug schlecht. Vier ältere Männer stehen vor dem Neubau und reden in breitestem schwäbisch. Sie verabschieden sich voneinander. Einer der Männer kommt in unsere Nähe und streicht mit der Hand über die Holzverkleidung des Restaurants. Dann geht er in Richtung Ausgang. Der Motor eines Autos springt an. Er fährt weg. Jetzt ist es wieder ganz ruhig. Nur das eisige Zwitschern der Vögel.

„Als ich dich das erste Mal gesehen habe...“

Du blickst mich von der Seite an.

Ich sitze und schließe die Augen.

August 1999

Ich ließ das Buch sinken und starrte ihm hinterher, als er an mir vorbeiging. Den Kopf mit den weißen Haaren hielt er nach vorne gebeugt, weil er so groß war. Er trug ein olivfarbenes T-Shirt und verblichene Leinenshorts. In der Hand hielt er einen Beutel, der an einen kleinen Seesack erinnerte. Proust war vergessen. Der Mann schien mich nicht bemerkt zu haben. Ich sah, wie er seinen Seesack auf die Bank legte und eine Zeitung auspackte. Er setzte sich und hielt sich die Zeitung vor das Gesicht. Ich war enttäuscht darüber, dass ich ihn nicht mehr betrachten konnte. Dann fiel es mir ein. Ich war mit einer Freundin verabredet. Um die Zeit zu verzögern, packte ich meine Sachen betont langsam und träge zusammen. Ich rollte meinen Badeanzug und meine Schwimmbrille in das Handtuch. Das kam zuerst in den Rucksack. Oben drauf steckte ich das Buch. Die Zigaretten steckte ich in die vordere kleine Tasche. Dann begann ich nach dem Autoschlüssel zu wühlen. Dabei blickte ich nochmals zur Seite, um einen Blick von dem Mann zu erhaschen. Er saß nun auf der Bank, die Zeitung auf den Knien und streckte sein Gesicht in die verglühende Abendsonne. Als ich das Freibad verließ, konnte ich noch sehen, wie er mit einer Fußspitze das Wasser testete. Ich fand es schade, dass ich ihn nicht beobachten konnte, wie er ins Wasser stieg.

Ich rauchte drei Zigaretten hintereinander. Den Wein dazu trank ich, als ob ich einen Kübel in mich hinein leerte. Ich kehrte immer wieder den Bierdeckel um und dachte, mein Exmann, Klaus hätte ihn parallel zur Kante des Tisches gelegt und sein Glas daraufgestellt. Ich ertappte mich dabei, wie ich es ihm gleichtat und nahm dann den Bierdeckel und schob ihn weit von mir. Mein Glas stellte ich dann aus Wut über meine Handlung, so auf den Tisch, dass es überschwappte. Ein Rinnsal des Rotweins kam meinem Rock sehr nahe. Ich nahm erneut den Untersetzer und stoppte den Fluss. Ich betrachtete diesen dummen Bierdeckel und überlegte mir, wer in seinem Stumpfsinn ihn erfunden hatte. Manchmal notierten Bedienungen die Bestellungen der Gäste mit Strichen auf diesen Dingern. Aber bestimmt nicht in diesem Lokal. Ich kam mir schlichtweg bescheuert vor, wie ich allein in dieser Kneipe über Bierdeckel philosophierte. Meine Gedanken gingen wieder zu dem Ereignis des Tages. Ich fühlte mich wie eine Seiltänzerin, die auf einer Hochspannungsleitung balanciert. Schließlich parkte Corinna direkt vor dem Fenster. Ich ertrug es nicht, noch länger allein in einer dunklen Kneipe zu sitzen. Außerdem musste ich das Erlebnis irgendjemandem erzählen. Ich konnte nie meinen Mund halten, wenn es meine persönlichen Dinge betraf. Corinna stand dann in der Tür. Ihre teure Kleidung musste sie immer zu Schau tragen. Papas Liebling stand in Reichweite. Papa war Industrieboss und erlaubte ihr allerlei Sperenzien. Einmal hat sie mir ihre Uhr gezeigt, nachdem sie das Rauchen aufgehört hatte.

„Elisabeth, hat mir Papa geschenkt, auf dass ich nie wieder rauchen werde. Ist 2500 Euro wert.“

Sie setzte sich zu mir und sofort begann es aus ihr herauszusprudeln.

„Elisabeth, wie sieht dein Haar aus! Warst du schwimmen? Aber da musst du unbedingt was tun!“

Ich sagte dann nur: „Och“ und strich mir durch das strähnige Haar.

„Du solltest einmal zur Gesichtspflege gehen. Das würde dir ungemein helfen.“ Ich und Gesichtspflege, da ich Falten so liebte. Corinna hatte schon angesetzt, um weiter zu quasseln, als ich zu ihr sagte:

„Ich habe heute einen Mann gesehen.“

Corinna unterbrach mich und fragte erstaunt mit erhobenen Augenbrauen:

„Du hast was?“

„Ja, ich habe einen Mann gesehen.“

„Wie sah er aus?“

„Wie Clint Eastwood. Was soll ich jetzt tun? Soll ich ihn ansprechen?“

„Wo hast du ihn gesehen?“

„Im Schwimmbad.“

„Du gehst also ins Schwimmbad und triffst Clint Eastwood! Soll ich jetzt lachen?“

„Du brauchst nicht zu lachen. Meine Magengrube hüpft, seit ich ihn gesehen habe.“

„Aber du kennst ihn doch gar nicht. Du weißt nicht, wie er redet, was er macht, ob er eine feste Beziehung hat. So einfach geht das nicht, Elisabeth. Du bist ja wie ein Teenie, der ein Starschnittposter in der Bravo vergöttert. Komm mal runter auf den Boden.“

Corinna erzählte weiter und weiter und versuchte, mir die Sache auszureden. Aber ich hatte mir etwas in den Kopf gesetzt. Diesen Mann kennenzulernen. Ich würde von nun an jeden Abend in das Freibad gehen, um mir diesen Mann zu schnappen. Als sie schließlich zwei Stunden später die Kneipe verließen, wankte ich stinkbesoffen hinaus. High setzte ich mich ins Auto, drehte die Musik auf Hochtouren und fuhr nach Hause.

Dezember 2001

Ich kehre zurück. Das Schwimmbad ist einsam, verlassen. Kein Jonas weit und breit. Ich rufe nach dir, aber du bist wie vom Erdboden verschluckt. Ich friere an den Händen.

Kein Vogelschrei klirrt durch die gefrorene Luft. Die Stille, die mich umfängt, ist undurchdringlich. Aber sie bildet keinen Mantel. Ich friere erbärmlich. Gleichzeitig ist es mir egal. Ich merke es gar nicht, dass ich minutenlang meine Hände aneinander reibe. Sie wollen nicht warm werden. Dann stehe ich auf. Meine Glieder sind fast eingefroren, ich höre ein Knacken in meinem rechten Knie. Ich schaue um mich, aber es gibt nichts zu sehen. Ich mache einen Schritt vorwärts, dann noch einen, wie mechanisch. Hin zum Ball, der zu schweben scheint, eingefroren in der Mitte des Schwimmbeckens. Gebannt betrachte ich die feinen Risse im Eis. Darunter versteckt die Erinnerung.

Ich drehe mich um, blicke zurück auf die Bank, die verlassen darauf wartet, dass sich jemand auf sie setzt. Langsam gehe ich auf sie zu, immer noch wie mechanisch. Dabei denke ich an diesen kleinen Ball in meinem Rücken, ich kann überhaupt an nichts anderes denken, während ich vorbei an den verschlossenen Kabinen mit den einfachen Holzverschlägen gehe. Ich setze mich. Die Bank ist kalt, alles ist kalt. Und rissig von der Kälte. Der Ball. Er ist eine Metapher. Er geht mir nicht mehr aus dem Kopf.

August 1999

Es hatte geregnet. Jetzt war das Bad leer. Kein einzelner Partikel schwamm im Becken. Ich hatte mich auf die Bank gesetzt, wo er am Abend zuvor sein Kleiderhäuflein deponiert hatte. Ich wusste, ich durfte nicht erwarten, dass er tatsächlich auftauchte. Schließlich hatte es den ganzen Tag geregnet.

Ich blickte erwartungsvoll zur Eingangstür. Irgendwann musste er doch endlich das Drehkreuz passieren. Mir wurde seltsam zumute, als ich mich selbst beim Warten beobachtete. Hatte ich das nötig? Wenn er trotz allem käme? Mir fielen meine Schuhe ein. Immer trug ich diese männlichen großen Latschen. Ich kickte sie unter die Bank und hoffte, dass er sie nicht sehen würde. Auch meine schwarz gefärbte Bundeswehrjacke drängte ich ganz weit in Richtung Lehne. Es war doch zu peinlich, dass ich diese Klamotten trug.

War ich nicht eine graue Maus, die kaum ein Mann anblickte? Heute trug ich meine brünetten Haare zu einem faden Knoten verschlungen hinter dem Kopf. Ich sah aus wie eine alte Jungfer. Am liebsten wäre ich bei diesem Gedanken davongerannt. Um mir meine Haare zu schneiden und zu färben. Ich war mir nicht sicher, ob er mich am Abend zuvor bemerkt hatte. Was wäre, wenn ich hier umsonst wartete. Ich könnte mich dafür ohrfeigen, dass ich nicht mehr auf mich aufmerksam gemacht hatte. In jungen Jahren hatte ich mir die Haare kurz geschnitten und gebleicht. Ein rasanter peppiger Schnitt, der mich sehr jung gemacht hätte und ein wenig an Brigitte Nielsen erinnerte. Die Uniform, die ich während meines Studiums getragen hatte, als Zeichen des Protests. Vordergründig politisch gegen Konventionen in Wahrheit aus Protest gegen Klaus. Er hatte die Jacke abscheulich gefunden. Ich nahm mir vor, die Jacke ein für alle Mal zu eliminieren.

Die Sonne brach durch. Ich blickte auf das Grün der Wiese hinter dem Schwimmbecken. Es erschien so grell, als ob es mich anspringen wollte. Ich blickte kurz auf die Uhr. Bald war Badeschluss. Ich warf mir vor, ihn nicht gleich am ersten Abend angesprochen zu haben. Wenn er nun nicht käme? War es denn möglich, ihn einfach zu vergessen? Aber wenn ich ihn nicht vergaß? Sollte ich über einen Radiosender eine Suche nach ihm starten: „Hallo, ich bin 33 Jahre alt und habe meinen Traummann im Schwimmbad gesehen.“