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Neigen aktuelle Demokratieanalysen überwiegend zu alarmistischen Krisendiagnosen, erlaubt dieses Buch einen nüchternen Blick auf die politische Lage. Trotz einer ausgeprägten Parteien- und Politikerverdrossenheit haben große Teile der Bevölkerung in den letzten Jahren eine relativ hohe Demokratiezufriedenheit entwickelt. Die inzwischen weitgehend weggebrochene Identifikation mit Parteien machte einem Glauben an die Unerschütterlicheit der ökonomischen Prosperität und einem Vertrauen in das politische Spitzenpersonal Platz, das allerdings einem ständigen Enttäuschungsrisiko ausgeliefert ist.
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Seitenzahl: 170
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Helmut Klages
Absturz der Parteiendemokratie?
Die politische Lage in Deutschland
Campus Verlag
Frankfurt/New York
Über das Buch
Neigen aktuelle Demokratieanalysen überwiegend zu alarmistischen Krisendiagnosen, erlaubt dieses Buch einen nüchternen Blick auf die politische Lage. Trotz einer ausgeprägten Parteien- und Politikerverdrossenheit haben große Teile der Bevölkerung in den letzten Jahren eine relativ hohe Demokratiezufriedenheit entwickelt. Die inzwischen weitgehend weggebrochene Identifikation mit Parteien machte einem Glauben an die Unerschütterlicheit der ökonomischen Prosperität und einem Vertrauen in das politische Spitzenpersonal Platz, das allerdings einem ständigen Enttäuschungsrisiko ausgeliefert ist.
Vita
Helmut Klages ist emeritierter Professor für empirische Sozialwissenschaften an der Deutschen Universität für Verwaltungswissenschaften Speyer.
Einleitung
1.Die Entwicklung der repräsentativen Demokratie
Repräsentative Demokratie als Parteiendemokratie
Gesellschaftliche Trenn- und Spannungslinien
Probleme der Parteien im Modernisierungsprozess
Merkmale der Parteien- und Politikerverdrossenheit
Systemtheoretische Perspektive
Kulturpsychologische Perspektive
Entfremdung zwischen Parteien und Wählern
Gespaltene Reaktionen der politischen Wissenschaft
2.Das Zufriedenheitsparadox
Inkonsistenzen in den »Verdrossenheits«-Daten
»Demokratiezufriedenheit« im Fokus
Die Entwicklung der Demokratiezufriedenheit
Soziodemografie der Demokratiezufriedenheit
3.Die entscheidenden Einflüsse auf die Demokratiezufriedenheit
Die Zufriedenheit mit der Marktwirtschaft
Die Exekutive als Zufriedenheitsgarant
Die Zufriedenheit mit der Arbeit der Bundesregierung
Der Einfluss der Bundesregierung und des Deutschen Bundestags
Der Einfluss der Bundesregierung und der politischen Parteien
Die Personalunion zwischen Partei- und Regierungsmitgliedern
4.Wählerrepräsentation durch die Spitze der Exekutive
Die »eigenen Leute« in der Bundesregierung
Belege für eine Personalisierung der Politik
Notwendige Einsicht
Eine weitere notwendige Einsicht
5.Hilfestellungen
Die Massenmedien – unentbehrliche, aber problematische Helfer
Prosperität als Zufriedenheitsspender
Zurücknahme von Befriedigungserwartungen
Die Bedeutung des gesellschaftlichen Wertewandels
6.Die Wirkung von Angela Merkel als Zufriedenheitsgenerator
Die Variable »Arbeit von Merkel gut« als Indiz
Die Kanzlerin als Favoritin
Unterwanderung der Parteien?
Keine »Eiskönigin«
Persönliche Beziehungen mit der Spitze der Exekutive
Die frust- und angstabsorbierende Wirkung der Kanzlerin
7.Einflusswirkungen personaler Faktoren im politischen Spitzenbereich
Spekulationen über Personen-Magnetismus
Die Bedeutung persönlicher Merkmale
Überforderung und Rollen-Stress als Risiken
Das Risiko »einsamer Entscheidungen«
Die »Flüchtlingskrise« als Menetekel
Unmittelbare Folgen und Langzeitwirkungen der »Flüchtlingskrise«
8.Diagnose-Ergebnisse
Personalisierung der Repräsentationsaufgabe
Das Zusammenwirken verschiedener Risikofaktoren
9.Zur Verfassung der repräsentativen Demokratie in Deutschland
Die Gefahr von Fehlinterpretationen am Beispiel der Populismus-Diagnose
Realistische Ansatzpunkte für das Tätigwerden
10.Möglichkeiten zukünftiger Politikgestaltung
Erhöhung des Rationalitätsgrads von Entscheidungen im politischen Spitzenbereich?
Aufbruchstimmung in den 1960er und 1970er Jahren
Heroische Experimente
Re-Traditionalisierung des Regierungshandelns
Die Kanzlerin als Joker?
Erste Empfehlung
Zweite Empfehlung
Der Bürgerdialog »Gut leben in Deutschland«
Dritte Empfehlung
Vierte Empfehlung
11.Die Frage nach einer Krise der Demokratie
Ein nüchterner Rückblick
Eine Verteidigung der Bevölkerung
Eine notwendige Klarstellung
Wann herrscht eine akute Krise?
Ablehnung der Behauptung einer akuten Demokratiekrise
Die konkrete Möglichkeit von Demokratiekrisen
Das ökonomische Krisenpotenzial
Ein politisches Worst-case-Szenario
Die reale Perspektive
12.Die Bedeutung von Denkfiguren und Metaphern
Die Macht des Status quo
Die Kraft von Metaphern
13.Zur zukünftigen Gestaltung von Wahlen
Anhang
Literatur
Anmerkung
Im Text verwendete Datenquellen
Die Entwicklung der modernen Demokratievorstellungen war von Anfang an durch tief greifende Widersprüche gekennzeichnet. »Demokratie« sollte Herrschaft des Volkes bedeuten. So viel war klar. Aber was hieß »Herrschaft des Volkes« praktisch gesehen?
Unter den vielfältigen Antworten, die auf diese Frage gegeben wurden,1 ragten frühzeitig zwei hervor, die nach allgemeiner Auffassung einen diametralen Gegensatz verkörperten.
Die insbesondere von J. J. Rousseau verkündete erste Antwort lautete, dass jeder Einzelne unmittelbar an der Ausübung der politischen Entscheidungsfindung beteiligt werden sollte. Das hauptsächliche Instrument der demokratischen Praxis sollte dementsprechend die Volksabstimmung sein, die de facto mehr oder weniger permanent stattfinden sollte und an der im Idealfall alle Vollmitglieder der Gesellschaft mitwirken sollten.
Die zweite Antwort lautete dagegen, dass die politische Entscheidungsfindung auf eine überschaubare Zahl von »Delegierten« übertragen werden sollte, die in einem »Parlament« zusammenkommen sollten. Es sollte dort eine »deliberative«, das heißt, aufgeklärter Vernunft Raum gebende Erörterung der allgemeinen Angelegenheiten stattfinden. Darin wurde ein entscheidender Unterschied zur Monarchie gesehen, die in der persönlichen Wünschen und Neigungen folgenden Willkür eines Einzelnen kulminierte. Das zentrale Instrument der demokratischen Praxis sollte die Wahl der Parlamentsmitglieder sein, auf die sich die demokratische Beteiligung der wahlberechtigten Gesellschaftsmitglieder konzentrieren und beschränken sollte. Diese Wahl sollte im Idealfall eine allgemeine, unmittelbare, gleiche, freie und geheime Wahl sein. Außerhalb der periodisch anzusetzenden Wahlen sollte die Demokratie sich aber praktisch gesehen im überschaubaren Kreis gewählter Repräsentanten vollziehen.
Anfangs wurde darüber gestritten, ob die »Bürger/innen« berechtigt sein sollten, ihren Delegierten – im Sinne eines »imperativen Mandats« – Aufträge mitzugeben oder zu erteilen, oder sie eventuell während der Amtszeit zwischen den Wahlen individuell oder in ihrer Gesamtheit abzuwählen. Auf breiter Front setzte sich aber schon in der Geburtsstunde der Demokratie, wie auch bei einer überwiegenden Zahl nachfolgender Demokratiebegründungen, die »parlamentarische« oder »repräsentative« Variante ohne imperatives Mandat durch. Damit erhielt die allgemeine, unmittelbare, freie, gleiche und geheime Wahl, die ihre endgültige Form allerdings erst im Verlauf eines längeren Entwicklungsprozesses fand,2 eine weithin gültige Zentralstellung als Garant demokratischer Verhältnisse.
Im Rückblick lässt sich zusammenfassend feststellen, dass sich die repräsentative Demokratie auf breiter Front als siegreich erwies. Im Grunde genommen erlebte sie – auch angesichts einer zunehmenden Zahl von Ländern, die sich zu ihr entschlossen – eine sich scheinbar unablässig steigernde Erfolgsgeschichte.3
Hierbei wurde keine »radikale« Linie verfolgt. Vielmehr wurde in der Regel die Möglichkeit eingeräumt, parlamentarische Beschlüsse im Fall schwerwiegender Konflikte zwischen den politischen Entscheidern und größeren Teilen der Bevölkerung durch Volksabstimmungen außer Kraft zu setzen. Diese Möglichkeit bestand auch in der Weimarer Republik. Es blieb der Bundesrepublik Deutschland vorbehalten, unter Erinnerung an die Verführung der Deutschen durch das NS-Regime, eine Ausnahme von der allgemeinen Regel zu verkörpern, das heißt, die radikale Form der repräsentativen Demokratie ohne plebiszitäre Notbremse vorzusehen.
Betrachtet man die Erfolgsgeschichte der repräsentativen Demokratie, kann die Tatsache nicht außer Acht gelassen werden, dass sich ihre Etablierung schon in einer relativ frühen Entwicklungsphase eng mit der Entstehung und dem langfristigen Erhalt politischer Parteien verband, sodass es schon bald naheliegend erscheinen mochte, die repräsentative Demokratie als eine Parteiendemokratie zu verstehen.
Den politischen Parteien wurde allerdings ein wechselhaftes und keineswegs von dauerhaftem Erfolg gekröntes Schicksal zuteil, was inzwischen zu Problemen führt, die zahlreiche Beobachter dazu veranlasst, von einer »Krise der Parteiendemokratie« zu sprechen. Aufgrund der engen Verbindung zwischen der repräsentativen Demokratie und der Existenz politischer Parteien verschwimmen dabei jedoch häufig die Grenzen zwischen einer die Parteien im engeren Sinne betreffenden Krise und einer Krise der repräsentativen Demokratie im Ganzen, sodass mittlerweile häufig verallgemeinernd von einer »Krise der Demokratie« gesprochen wird.
Bei genauerem Hinblicken erweist sich Folgendes: Den politischen Parteien konnte über längere Zeit die Fähigkeit zugeschrieben werden, die Interessen, Wünsche und Erwartungen verschiedener Bevölkerungsteile zu sammeln und gebündelt in verbindlicher Form an die politischen Entscheidungszentren weiterzuleiten, also als maßgebliche »Input«-Agenturen der Bevölkerung zu fungieren.4 Die grundlegende Voraussetzung hierfür war allerdings, dass sie die in der Gesellschaft bestehenden Trenn- und Spannungslinien (oder cleavages) zwischen größeren Teilgruppen der Bevölkerung, innerhalb derer relativ einheitliche Wert- und Interessenstrukturen bestanden, in ihren Programmen, in ihren parlamentarischen und/oder außerparlamentarischen Aktivitäten und in der Typik ihrer Repräsentanten abzubilden und gewissermaßen zu »verkörpern« vermochten.
In der bewegten Geschichte der deutschen Parteien zwischen dem zweiten Drittel des 19. Jahrhunderts und dem Parteienverbot durch das NS-Regime von 1933 spiegelt sich das fortgesetzte Bemühen um die Erreichung dieses Ziels eindrucksvoll wider. Dabei machten sich sowohl die soziale Gliederung der Bevölkerung in der sich stürmisch entwickelnden, modernen Industriegesellschaft als auch weltanschaulich-ideologische Komponenten geltend, welche die Bevölkerung teils quer durch die sozialen Trennlinien hindurch spalteten.
Ungeachtet erheblicher Schwierigkeiten, die »sozialmoralischen Milieus« der Bevölkerung5 und die Konstellation der politischen Parteien nachhaltig zur Deckung zu bringen, konnten die meisten Menschen in der Tat über mehrere Jahrzehnte hinweg in den Repräsentanten »ihrer« politischen Partei die legitimen Vertreter ihrer Interessen, Wünsche und Erwartungen sehen und sich mit ihnen problemlos identifizieren. Es konnte deshalb für sie auch selbstverständlich sein, die betreffenden Kandidaten – auch dann, wenn sie nicht von ihnen selbst aufgestellt worden waren – zu wählen und an sie ihre eigenen Souveränitätsrechte zu delegieren, ohne hierbei auch nur den Hauch eines Verlustgefühls zu empfinden. Schließlich konnten sie ja davon ausgehen, dass sie mit der Wahl »ihrer Leute« die wirksamste Möglichkeit für ihre eigene – wenngleich indirekte – Macht- und Entscheidungsteilhabe ergriffen hatten. Die Ausübung des Wahlrechts mitsamt der mit ihr verbundenen Ermächtigung anderer und die eigene Entscheidungsbeteiligung waren für sie somit letztlich ein und dasselbe. Grundsätzlich lag es für sie auch nahe, sich persönlich eng und dauerhaft an die »eigene« Partei zu binden, das heißt Mitglied zu werden und damit das Gefühl einer existenziellen Übereinstimmung deutlich zum Ausdruck zu bringen.
Tatsächlich bestand diese Konstellation, die sich als die historische Sternstunde der »Parteiendemokratie« bezeichnen lässt, über eine längere Zeitspanne hinweg, die in Deutschland vom Nationalsozialismus unterbrochen wurde und sich nach dem Zweiten Weltkrieg zunächst fortsetzte.6 In der Bundesrepublik spielte hierbei eine Rolle, dass die Parteienentwicklung – auch aufgrund der Möglichkeit, auf Teile des ehemaligen Führungspersonals zurückzugreifen – an die in der Endphase der Weimarer Republik bestehende Parteienkonstellation anknüpfen konnte.
Der fortlaufende gesellschaftliche Modernisierungsprozess und die so herbeigeführte Differenzierung und Pluralisierung der vorhandenen Lebenslagen, Berufsperspektiven und Selbstentfaltungsinteressen sowie die unabsehbare Vervielfältigung individueller Lebensentwürfe und -schicksale, kurz: ein anwachsender struktureller Individualismus als Kennzeichen der gesellschaftlichen Realverfassung, beendete diese historische Sternstunde der »Parteiendemokratie«. Zwar bemühten sich die politischen Parteien, mit der gesellschaftlichen Entwicklung Schritt zu halten, indem sie ideologischen Ballast abwarfen und sich am »Volksparteien«-Konzept orientierten. Dieses Konzept sollte eine gesamtgesellschaftliche Öffnung unter Abstreifung der Bindungen an eine historisch gewordene Entwicklungsstufe der gesellschaftlichen Differenzierung ermöglichen.7 Da diese von verschiedenen Seiten erfolgende Bemühung mit identischem Ziel einsetzte, musste jedoch die vorherige konzeptionelle Klarheit und eindeutige Unterscheidbarkeit der Parteien verloren gehen. Die Profile der Parteien wie auch ihre Angebote zur Wert- und Interessenvertretung begannen sich zu überschneiden. Die Bemühungen der Parteien um Unterscheidbarkeit, die angesichts dessen an Heftigkeit gewannen, verlagerten sich auf Einzelthemen (auf issues), wodurch die Einheitlichkeit und deutliche Erkennbarkeit ihrer Gesamtpositionen zunehmend litt. Ihre Profile fransten aus, sodass sich die »Volksparteien« in den Augen kritischer Beobachter nach und nach zu »Allerweltsparteien« wandelten. Vor allem in den Vorwahlperioden, auf welche sich die Wahlentscheidungen der immer stärker unter Druck stehenden Menschen zu konzentrieren begannen, setzte von allen Seiten ein hektisches Wettrennen um zugkräftige Themen ein, die man sich gegenseitig streitig zu machen suchte.
Die Parteien sind seitdem bemüht, den Vorraum von Wahlen mit Angeboten zu besetzen, auf die sie – gegebenenfalls auch im Widerspruch zu ihren eventuell vorhandenen Traditionskernen – vor allem deshalb zugreifen, weil sie sich von ihnen bei möglichst großen Wählergruppen Aufmerksamkeit und Zustimmung erhoffen. Gleichzeitig sind sie bestrebt, »Gesichter« und »Köpfe« herauszustellen, denen sie – warum auch immer – Attraktivität zuschreiben. Im Einzelfall geht es ihnen aber auch darum, die Hilflosigkeit vieler Menschen inmitten dieses Angebotsgedrängels auszuwerten, das sich teils in Verwirrungs- und Desorientierungsgefühlen niederschlägt, und sich – unter Absetzung von einem »abgehobenen Establishment« – als volksnahe Helfer oder Retter darzustellen. Die Lage kompliziert sich dadurch, dass die betroffenen Wettbewerbsteilnehmer solche »Spielverderber« als »populistische« und/oder radikale und letztlich antidemokratische Eindringlinge zu denunzieren versuchen, um die Menschen davon abzuhalten, sie zu wählen.
Zu dieser Entwicklung gehört stimmig hinzu, dass die Zahl der Wähler/innen, die bis zuletzt noch unentschlossen sind, stetig zugenommen hat. Sie vollziehen den Wahlakt aufgrund einer Mischung unklarer Impulse, über die sie sich selbst kaum mehr Rechenschaft abzulegen vermögen und die sie gegebenenfalls einer »sekundären Rationalisierung« unterziehen müssen, um ihre Selbstachtung als entscheidungsfähige Subjekte aufrechtzuerhalten. Zu dieser Gruppe rechneten im Jahr 1998 noch 26 Prozent, 2002 dann 29 Prozent und 2009 schon 32 Prozent, 2013 sogar 39 Prozent und 2017 schließlich 46 Prozent der Wahlberechtigten.8 Absehbar wird dieser Gruppe bei der Bundestagswahl 2021 bereits die Mehrheit der Wähler/innen angehören. Zunehmend viele Menschen entscheiden sich allerdings auch für eine Wahlenthaltung. Sie tun dies zumeist mit unguten Gefühlen, weil die Wahlbeteiligung weithin als eine Norm staatsbürgerlichen Verhaltens Bestand hat.9
Angesichts dieser Entwicklungen ist es kein Wunder, dass inzwischen »Verdrossenheit« gegenüber den politischen Parteien vorherrscht, zumal diese bemüht sind, kontrafaktisch die Fiktion aufrechtzuerhalten, nach wie vor die entscheidenden »Input«-Agenturen im politischen System zu sein.
Nach weithin dominierender Auffassung hat die »Parteien- und Politikerverdrossenheit« großer Teile der Bevölkerung ein derartiges Ausmaß angenommen, dass sie die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit fast schon widerstandslos auf sich zieht. Man kann sie insofern als ein die Szene bestimmendes Narrativ betrachten, das den Medien immer wieder neues »Futter« liefert. Davon abgesehen hat sie jedoch einen realen Kern in dem inzwischen bei breiten Teilen der Bevölkerung vorhandenen Gefühl, durch die Parteien keineswegs mehr »repräsentiert« zu werden. Das ehemals vorherrschende Gefühl, im Wahlakt auf die eigene demokratische Handlungs- und Entscheidungssouveränität ohne Verlustempfindungen verzichten zu können, da man die eigene Stimme bei »seiner« Partei in den bestmöglichen Händen wusste, gehört weitestgehend der Vergangenheit an. An seine Stelle tritt eher das Gefühl, die eigene Stimme an letztlich fremde und immer fremder werdende Kollektive abzutreten, die mit ihr – gedeckt durch den Artikel 38 des Grundgesetzes – nach eigenem Gutdünken umgehen, ohne sich an Wahlversprechen und auf diese bauende Wählererwartungen gebunden zu sehen. Dieser Eindruck kann gegebenenfalls schon beim Abschluss von Koalitionsverträgen entstehen, die mehr oder weniger breite Teile vorher formulierter und propagierter Wahlprogramme obsolet werden lassen. Zu dem Gesamtbild des Wählerverhaltens gehören dementsprechend zahlreiche Protestwähler/innen, die ihre Stimme derjenigen Partei geben, die die Trommel besonders kompromisslos gegen »die da oben« rührt und die somit der verbreiteten Neigung entgegenkommt, die Parteien generell als vertrauensunwürdige Stimmenjäger zu disqualifizieren.
Zu den Merkwürdigkeiten der sich einstellenden Beschäftigung mit der Parteien- und Politikerverdrossenheit gehört, dass diese als ein Evergreen der Demokratiekritik bereits frühzeitig auftauchte, phasenweise in Vergessenheit geriet, um jedoch anschließend wiederholt in mehr oder weniger unveränderter Form zu erscheinen. Wie Kai Arzheimer berichtet, war die Parteien- und Politikerverdrossenheit »bereits zu Beginn der achtziger Jahre Thema der Medienberichterstattung«. Anfang der 1990er Jahre »nahmen entsprechende Meldungen jedoch explosionsartig zu«.10 Während dieser Text im Jahr 2017 geschrieben wurde, hatte das Schreckbild wieder einmal Hochkonjunktur.
Bei alledem kann sich die Behauptung einer verbreiteten Parteien- und Politikerverdrossenheit auf eine Mehrzahl wissenschaftlicher Befunde stützen, deren empirische Faktizität unstrittig ist.
Zwar wird diese Faktizität fraglos des Öfteren überzeichnet, wenn von einem völligen Abbrechen der mentalen Beziehungen der Bevölkerungsmehrheit zu den politischen Parteien und einer bedeutsamen »Kluft« und Beziehungsleere zwischen den politischen Eliten und der Bevölkerung ausgegangen wird. Wie man den Daten des Politbarometers 2016 entnehmen kann, hatten immerhin noch 61,1 Prozent der Befragten eine »Neigung« zu einer politischen Partei, die in gut der Hälfte der Fälle als »sehr stark« oder »ziemlich stark« bezeichnet wurde.
Im Überblick betrachtet schält sich jedoch ein Gesamtbild heraus, das dem »Verdrossenheits«-Begriff zweifellos eine Berechtigungsgrundlage vermittelt. Nachstehend werden die infrage kommenden empirischen Befunde gerafft vorgestellt, wobei angesichts ihres inzwischen voraussetzbaren Bekanntheitsgrads auf genauere Zahlenangaben und Quellennennungen verzichtet wird:
So hat sich inzwischen die Tatsache herumgesprochen, dass es seit geraumer Zeit einen Abwärtstrend der Wahlbeteiligung gibt, der mit unterschiedlichen Steilheitsgraden sowohl die Bundestagswahlen als auch die Landtags- und Kommunalwahlen betrifft.
Gleichzeitig ist aber auch die durchschnittliche Parteibindung (die sogenannte Parteiidentifikation) der Wähler/innen in den zurückliegenden Jahren gesunken. Angesichts der bestehenden mentalen Restbeziehungen lässt sich allenfalls noch von einer in größeren Teilen der Bevölkerung vorhandenen »Parteisympathie« sprechen, die allerdings nur noch eine geringe Bindungswirkung besitzt, sodass sie beispielsweise das Wahlverhalten der Bevölkerung allenfalls begrenzt beeinflusst.
In Verbindung hiermit hat die Zahl der sogenannten Wechselwähler/innen kontinuierlich zugenommen und erreicht heute bei den großen Volksparteien einen Anteil von ca. 40 bis 45 Prozent, sodass diese Parteien nur noch mit einem stark verringerten Bestand von zuverlässigen »Stammwählern« rechnen können. Laut den von SWR.de mitgeteilten Ergebnissen einer Umfrage in Baden-Württemberg unmittelbar nach der Bundestagswahl 2017 lag der Anteil derjenigen, die »immer dieselbe Partei« wählen, sich also zu keinem Zeitpunkt für eine andere Partei entschieden, sogar nur bei 9 Prozent der Befragten!
Darüber hinaus haben diese Parteien im selben Zeitraum mehr und mehr – aktuell bis zu circa 50 Prozent – ihrer eingeschriebenen Mitglieder eingebüßt.
Besonders gravierend ist aber, dass sich bei Befragungen über die Einstellung der Bevölkerung zu »den Parteien und Politikern« in den zurückliegenden Jahren zunehmend negative Ergebnisse zeigten. Auf die Frage, ob die Politiker die Anliegen der Bevölkerung oder ihre eigenen Interessen im Auge hätten, antworteten in der letzten Zeit etwa zwei Drittel der Befragten mit »ihre eigenen Interessen«.
Geradezu erschreckend muss aber letztlich erscheinen, dass das »Vertrauen in die politischen Parteien« nach übereinstimmenden Ergebnissen zahlreicher Befragungen dramatisch gesunken ist und – je nach Fragestellung – im Extremfall bereits die 10-Prozent-Grenze unterschreitet. Mit anderen Worten hat sich bei der überwiegenden Mehrheit der Bevölkerung im Verhältnis zu den politischen Parteien und deren – von ihr selbst gewähltem – Personal eine gravierende Vertrauenslücke herausgebildet.
Fasst man all diese Fakten zusammen, gelangt man unschwer zu dem Befund, dass den politischen Parteien ihre einstmalige Fähigkeit, die Bedürfnisse, Wünsche und Erwartungen der Bevölkerung zu »repräsentieren«, weitgehend abhanden gekommen ist. Sucht man die Ursache dafür in der mangelnden Fähigkeit der politischen Parteien, den Anschluss an den mit der gesellschaftlichen Modernisierung verbundenen Strukturwandel zu finden, so lässt sich diese Feststellung mit der Diagnose verknüpfen, dass der mit dem erheblichen Verlust der Repräsentationsfähigkeit eingetretene Funktionsverlust irreversibel ist.
Bei einer systemtheoretischen Betrachtung11 fällt der Tatsache besondere Bedeutung zu, dass die politischen Parteien ihre ehemalige Funktion, den politischen Entscheidungszentren den gebündelten Interessen-, Bedürfnis- und Erwartungs-»Input« der Bevölkerung zuzuleiten und diese damit nachhaltig von der Mühsal politischer Selbstdurchsetzung zu entlasten, nicht mehr – oder allenfalls nur noch sehr eingeschränkt – wahrnehmen können, ohne dass jedoch, so mag es jedenfalls erscheinen, eine Ersatzinstanz zur Verfügung steht. So gesehen verbindet sich mit dem Ende der historischen Stunde der Parteiendemokratie scheinbar eine klaffende Funktionslücke im gesamtgesellschaftlichen Systemzusammenhang der Demokratie schlechthin, die dessen logisches Grundprinzip, das Easton mit dem Begriff systemic feedback loop kennzeichnet, infrage zu stellen scheint. Geht man davon aus, dass ein politisches System, gleich welcher Couleur, darauf angewiesen ist, die Interessen, Wünsche und Erwartungen der Bevölkerung – oder zumindest einer ausreichend großen Bevölkerungsmehrheit aufzunehmen und in einem hinlänglichen Maße zu befriedigen, um gewissermaßen im Gegenzug Zustimmung und Support zu erhalten, dann scheint mit der Entdeckung einer grundsätzlich gelagerten und offensichtlich irrreversiblen »Repräsentationsschwäche« der politischen Parteien eine fundmentale Systemgefährdung verknüpft zu sein. Zumindest gilt dies dann, wenn man in den politischen Parteien – gemäß dem Selbstverständnis der »repräsentativen Demokratie« – die entscheidenden »Input«-Agenturen des Systems verstehen will. Konkret scheint es dann naheliegend zu sein, von einer von den politischen Eliten »alleingelassenen« und somit unabsehbaren Existenzgefährdungen ausgelieferten Bevölkerung zu sprechen. Die historische Basisentscheidung für die »repräsentative Demokratie« scheint damit einer ihrer wesentlichen Rechtfertigungen beraubt zu sein. Man könnte angesichts dessen versucht sein, verallgemeinernd den Eintritt in eine »postdemokratische« Situation festzustellen,12 ebenso wie Colin Crouch und andere einen drohenden Systemzusammenbruch zu diagnostizieren und die Sturmglocke zu läuten.
Die gravierenden Verschiebungen der politischen Landschaft, die sich in den vorstehenden Ausführungen andeuten, lassen sich noch von einer anderen Seite betrachten. Hierbei kann die Frage in den Mittelpunkt gerückt werden, wie sie sich auf die »Kulturpsychologie«13 des Verhältnisses zwischen Bevölkerung und Politik auswirkten.
Es ist davon auszugehen, dass in der Sternstunde der politischen Parteien typischerweise eine sehr enge direkte Verknüpfung zwischen ihnen und ihren Anhängern bestand, die vor allem von ihren Ortsvereinen bzw. -verbänden getragen wurde und in der Regel persönliche Kontakte einschloss.
Das so gewährleistete Beziehungsnetz wurde dadurch ergänzt und verstärkt, dass auch sonstige Sozialorganisationen, denen die Individuen angehörten, eng mit den Parteien verbunden waren und deren Grundanschauungen teilten (man denke nur an die Gewerkschaften früheren Typs, an Arbeiter-Sport- und -Gesang-Vereine usw.).
Diese sozialkulturelle Verschränkung wurde dadurch intensiviert, dass die von den Parteien betreuten Menschen vor allem in den größeren Städten, in denen sich eine oftmals krasse sozialstrukturelle »Segregation« entfaltete, eng beieinander wohnten und relativ homogene räumliche Milieus bildeten. Zur räumlichen Homogenität kam eine weitgehende soziale Homogenität hinzu, d. h. also ähnliche Einkommens- und Wohnverhältnisse, Kleidungsgewohnheiten usw. Die ohnehin bestehenden Kontaktnetze wurden durch Nachbarschaftsbeziehungen im »Kiez«, wie auch durch den Besuch derselben Schulen, durch Freundschaften und Liebesbeziehungen ausgebaut und verdichtet. In der Regel herrschten auch innerhalb der Familien identische soziale Beziehungen, organisatorische Bindungen und Wertorientierungen vor. Soweit Parteimitgliedschaften vorlagen, betrafen sie mit großer Selbstverständlichkeit allesamt dieselbe Partei.
Eine Folge dieser vielfachen Überlagerungen war eine Loyalität gegenüber den politischen Parteien, deren Begründung bis tief in die Identitätskerne der Individuen hineinreichte. Die Parteien waren nicht nur Dienstleistungsanbieter und Interessenvertreter. Sie konnten vielmehr ihrerseits von ihren Mitgliedern, Parteigängern und Anhängern Solidarität und Identifikation mit den von ihnen vertretenen Positionen einfordern. Die Wünsche, Bedürfnisse und Erwartungen ihrer Anhänger wurden von ihnen nicht nur passiv aufgenommen, sondern auch aktiv artikuliert und in einer politisch vertretbaren Form zurückprojiziert, sodass diese sie in parteipolitisch »bearbeiteter« Form in ihr Bewusstsein übernehmen konnten. Den politischen Kampf ihrer Parteien um die Durchsetzung ihrer Ziele konnten die Anhänger somit unmittelbar als einen Kampf um die Realisierung ihrer eigenen Interessen, Wünsche und Bedürfnisse mitvollziehen.