Expedition zur Mitte - Helmut Klages - E-Book

Expedition zur Mitte E-Book

Helmut Klages

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Beschreibung

Wenn Politiker_innen sich der gesellschaftlichen »Mitte« zuwenden, die sie repräsentieren möchten, bleibt gewöhnlich offen, wer damit gemeint ist. Im Grenzfall handelt es sich dabei um alle Wahlfähigen. Helmut Klages unternimmt in seinem Buch eine Expedition in die zerklüftete Landschaft der sogenannten »Mitte«. Auf Basis umfangreicher Daten des Politbarometers beleuchtet er die Gruppe von Wähler_innen, indem er sich denjenigen Menschen widmet, die sich weder links noch rechts verorten wollen. Die Frage, wer sie sind und welche Eigenschaften sie haben, führt zu überraschenden Einsichten.

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Helmut Klages

Expedition zur Mitte

Über die Eigenschaften der Wählerschaft zwischen links und rechts

Campus Verlag Frankfurt / New York

Unter Mitarbeit von Mario Wolf

Über das Buch

Wenn Politiker_innen sich der gesellschaftlichen »Mitte« zuwenden, die sie repräsentieren möchten, bleibt gewöhnlich offen, wer damit gemeint ist. Im Grenzfall handelt es sich dabei um alle Wahlfähigen. Helmut Klages unternimmt in seinem Buch eine Expedition in die zerklüftete Landschaft der sogenannten »Mitte«. Auf Basis umfangreicher Daten des Politbarometers beleuchtet er die Gruppe von Wähler_innen, indem er sich denjenigen Menschen widmet, die sich weder links noch rechts verorten wollen. Die Frage, wer sie sind und welche Eigenschaften sie haben, führt zu überraschenden Einsichten.

Vita

Helmut Klages ist Professor für Soziologie an der Hochschule für Verwaltungswissenschaften in Speyer.

Inhalt

Einleitung

Die Bedeutungsvielfalt des Wortes »Mitte«

Ausblick auf die Bedeutung der Mitte für moderne Volksparteien

»Mitte« in der Geistesgeschichte (1): Aristoteles

»Mitte« in der Geistesgeschichte (2.): Jean-Jacques Rousseau und Immanuel Kant

»Mitte« in der Geistesgeschichte (3.): G.W.F. Hegel

»Mitte« in der Geistesgeschichte (4.): Friedrich Nietzsche

Gefährdung der Mitte als Thema

Die »Mitte« als dissonantes Forschungsthema

Methodische Entscheidungen bei der Expeditionsplanung

»Zählt« eine politische Selbstpositionierung zwischen Links und Rechts?

Ein Seitenblick auf alternative empirische Ansätze

Überraschungen bei der Erkundung der sozialstrukturellen Platzierung der politischen Mitte

Andrang bei der Selbstpositionierung in der politischen Mitte

Weder links noch rechts ist gleich neutral?

Eine Überraschung für sich: Linksradikalismus verbreiteter als Rechtsradikalismus

Politische Übereinstimmungen in West- und Ostdeutschland

Die sozialstukturelle »Ortlosigkeit« der politischen Mitte

Die politische Mitte als Sozialtypus

Die abgesenkte politische Intensität der Mitte

Alle Bevölkerungsgruppen, einschließlich der Mitte »schwanken« übereinstimmend!

Warum die politische Mitte bevorzugt die CDU wählte

Der »personale« Hintergrund für die CDU-Präferenz der politischen Mitte

Das »pragmatische« Einstellungs- und Werteprofil der politischen Mitte

Lässt sich der politischen Mitte eine gesamtgesellschaftliche Funktion zuschreiben?

Die politische Mitte als gesellschaftlicher »Tranquilizer«

Die Stellung der politischen Mitte jenseits von Panik und Resignation

Die Option der Mitte für eine handlungsfähige Politik

Das Gespür der politischen Mitte für den Wellengang gesellschaftlicher Veränderung

Auch die politische Mitte ist »verdrossen«!

Erwartungen der politischen Mitte an die Politik

Die Linksdrift der politischen Mitte

Bezüge der Mitteforschung zur Werteforschung? – Eine entscheidend weiterführende Fragestellung

Politische Positionierung und Wertestruktur – eine empirische Gegenüberstellung

Die folgenreiche Bestätigung einer Vermutung: In der politischen Mitte vollzieht sich eine »Wertesynthese«!

Die politische Mitte im Licht der Persönlichkeitsforschung

Kann die politische Mitte ein Bewusstsein von alledem besitzen?

Die Position der politischen Mitte in der organisierten Zivilgesellschaft

Die politische Mitte ist gerade wegen ihrer sozialstrukturellen »Ortlosigkeit« nicht schwach, sondern stark!

Die Soziodemografie der politischen Mitte

Rückblick und Einführung

Nur wenige Überraschungen bei der Überprüfung der Geschlechtszusammensetzung

Die Mitte ist durchschnittlich älter als die politischen Flügel!

Der Anteil der Rentner/innen entspricht der unterschiedlichen Alterszusammensetzung

Auch der Anteil der Vollzeitbeschäftigten ist von der Alterszusammensetzung beeinflusst

Der Abiturient/innenanteil ist bei den Flügeln deutlich höher!

Übereinstimmend: Häufigerer Abschluss von Berufsausbildungen in der »Mitte«

Das Geld ist in der Mitte knapper als bei den Flügeln!

Auch die siedlungsstrukturelle Verteilung der Gruppen unterscheidet sich erheblich!

Zum Abschluss: Deutliche Unterschiede auch bei der Religiosität

Eine »verteidigende« Kommentierung des Gesamtbefundes

Fortsetzung der Kommentierung über die bloße »Verteidigung« hinaus

Zurück zu Aristoteles als Konsequenz?

Würdigung und Einordnung unserer Typus-Entdeckung aus verschiedenen Blickrichtungen

Würdigung aus der Perspektive einer bewertend ausgerichteten Mitte-Erörterung

Einordnung unseres »Mitte«-Verständnisses in die relevante Forschungslandschaft

Der gesellschaftliche Nutzen unseres Mitte-Verständnisses

Einschätzung der wissenssystematischen Stellung unseres Mitte-Verständnisses

Evaluierung des Erreichten; Ausblick auf mögliche Fortsetzungen

Kann die Untersuchung als erfolgreich eingeschätzt werden?

Sehen wir die Möglichkeit zu einer direkten Fortsetzung der Untersuchung?

Liefert die Untersuchung eine Basis für weitere wissenschaftliche Tätigkeit?

Zusammenführung mit vorhandenen Typisierungsansätzen als Perspektive?

Mitte + Flügel als Forschungsperspektive?

Literatur

Einleitung

Die Bedeutungsvielfalt des Wortes »Mitte«

Sucht man nach der Bedeutung des Wortes »Mitte«, und geht man hierbei vom Einfachsten, Erfahrungsnächsten und möglicherweise Ursprünglichsten aus, dann trifft man auf die »Mitte« als einen unverzichtbaren Bestandteil räumlicher Orientierung. So begegnet sie uns etwa als Mittelpunkt eines Kreises, wobei sich vielfältige weiterführende Assoziationen einstellen, so zum Beispiel die Orts- oder Stadtmitte, beziehungsweise das Stadtzentrum, mit welchem sich wiederum Assoziationen anderer Art verbinden, die ins Gesellschaftliche, ins Kommerzielle, oder auch ins Politische hinein verweisen: Das Stadtzentrum als klassischer Standort des zentralen Marktes, führender Handelskontore, des Bankendistrikts, des Rathauses oder Regierungssitzes, und so weiter Verbleibt man näher beim Ausgangspunkt räumlicher Gliederung, dann eröffnet sich eine Vielfalt weiterer Assoziationsräume: Die »Mitte« begegnet uns an der Hälfte einer beliebigen Strecke zwischen A und B, das heißt als Äquidistanzpunkt zwischen einander gegenüberliegenden – oder einander entgegengestellten – Endpunkten, oder, anders formuliert, als Grenze, oder auch als Begegnungsort oder Kampfplatz zwischen »links«, und »rechts«, wie auch »oben« und »unten«, das heißt zwischen Dimensionen, die sich ebenso als ein standortbezogenes Naturlandschafts- ,Soziallandschafts- oder Rangordnungs-»mapping«, wie auch als Vektorenschema zueinander hin-, oder voneinander wegstrebender Kräfte, Mächte, oder Ideologien, etc. verstehen lassen.

Bis zu dem hier erreichten Punkt scheint »Mitte« etwas sehr Eindeutiges und scharf Umrissenes zu sein. Von »Mitte« kann allerdings auch in wesentlich offeneren, sehr viel unschärfer umrissenen, oder auch unbestimmteren Zusammenhängen die Rede sein. Schon in dem Wort »Körpermitte« verliert die Mitte den Charakter einer genauen Bestimmtheit. Noch deutlicher ist dies zum Beispiel bei der Wortfolge »inmitten des Siedlungsgebietes…« der Fall. Es handelt sich zwar auch hier noch um eine Ortsangabe, hinter der sich jedoch zahlreiche verschiedenartige Ortsangaben konkreterer Art verbergen können. Nochmals deutlicher verhält es sich diesbezüglich zum Beispiel bei der Aussage »mitten im Gespräch«. Bei der Verwendung des Wortes »Mitte« kann die Orts- oder Zeitbeziehung am Ende aber auch gänzlich fehlen. Dies ist zum Beispiel der Fall bei dem Satzteil »Im Mittelpunkt der Rede stand die Feststellung…«. Die Verwendung des Wortes »Mitte« deutet hier auf etwas Hervorzuhebendes, besonders Bedeutsames oder Herausragendes hin.

Es wird sich im weiteren Verlauf dieses Textes sehr bald herausstellen, dass wir von den unterschiedlichen Möglichkeiten zur Verwendung des »Mitte«-Begriffs reichlich Gebrauch zu machen haben, wenn wir unseren Gegenstandsbereich – oder auch nur größere Ausschnitte aus ihm – überblicken wollen.

Ausblick auf die Bedeutung der Mitte für moderne Volksparteien

Greifen wir aus der Fülle des sich anbietenden Materials den politischen Bereich heraus und halten uns – späteren Erörterungen vorgreifend – ans aktuell Gegebene, dann fällt das übereinstimmende Bemühen der sogenannten »Volksparteien« ins Auge, die Wähler-»Mitte« für sich zu gewinnen.

Der »Mitte« kommt daher ein hochrangiger Stellenwert im Vokabular und im Verhaltensrepertoire der Parteiendemokratie zu. Man braucht sich angesichts dessen nicht darüber zu wundern, dass es zwischen den Parteien des Öfteren Streit darüber gegeben hat, welche Partei die Mitte repräsentiert, oder auch unmittelbar verkörpert (siehe zum Beispiel Bergedorfer Gesprächskreis, 1973). Gleichzeitig fällt die Tatsache ins Auge, dass in Verbindung damit häufig vom »Medianwähler« die Rede ist, wobei in der Regel ein inmitten der Mitte gelegener Häufungspunkt der Wählermasse gemeint ist, auf den sich das Bemühen um die Wählergewinnung im Wahlkampf konzentrieren soll. Der Mitte wird dabei primär eine quantitative Bedeutung zugeschrieben, wobei eine Rolle spielt, dass sie häufig mit der Bevölkerungsmehrheit gleichgesetzt wird. Naturgemäß verbindet sich hiermit auch ein Interesse für ihre qualitative Beschaffenheit, das von der Zielsetzung der Beeinflussung des Wahlverhaltens der Bevölkerung getragen wird. Angesichts der Tatsache, dass sich mehrere Parteien – natürlich vor allem die »Volksparteien« – um die Gewinnung der Mitte bemühen, ist davon auszugehen, dass sie entweder unterschiedliche Vorstellungen von ihr haben und ihr unterschiedlich begegnen, oder aber dazu bereit sind, ihr größtmöglich entgegenzukommen, das heißt auf den Sieg in einer Überbietungskonkurrenz zu setzen.

»Mitte« in der Geistesgeschichte (1): Aristoteles

Behalten wir den politischen Bereich im Auge und wählen – weit zurückblickend – den griechischen Philosophen Aristoteles (485 v.Chr.–422 v. Chr.) als Ansatzpunkt, dann entdecken wir, dass für ihn der »Mitte« der Bevölkerung entscheidende Bedeutung für die Stabilität eines jeden politischen Gemeinwesens zukam. Ausgangspunkt war für ihn eine als Normalität vorausgesetzte Dreiteilung der Bevölkerung einer »Polis«, die er folgendermaßen beschrieb: »In allen Staaten gibt es drei Klassen von Bürgern: sehr reiche, sehr arme und drittens solche, die zwischen beiden in der Mitte stehen.« (Aristoteles 1958, S. 145) Das Wohlergehen der gesamten Polis hing seiner Meinung zufolge insofern von einer kräftigen Ausprägung der Mitte ab, als, wie er meinte, ein »mittlerer Vermögensstand« einem vernunftgesteuerten Verhalten am meisten entgegenkomme, während sich Reichtum mit einer Gier nach seiner weiteren Vermehrung und mit einer Verachtung aller Einschränkungen mit sich bringenden Gerechtigkeitsprinzipien, und Armut mit Neid und einem Verlangen nach Gleichheit verbinde, das zur Empörung und zu Aufständen treibe. Aristoteles ließ keinen Zweifel daran, dass daher nur dem Mittelstand die Fähigkeit eigne, ein »glückliches Leben gemäß unbehinderter Tugend« zu führen und gesellschaftlich vorzuleben, sodass sein Vorhandensein und seine zahlenmäßige Stärke eine entscheidende Voraussetzung dafür biete, dass sich die Polis in einer glücklichen, von gegenseitiger Freundschaft und nicht von wechselseitigem Hass bestimmten Verfassung befinde. Wir werden das Mitte-Verständnis von Aristoteles im Auge behalten, um einen Vergleichsmaßstab für die Bewertung unserer gegenwartsbezogenen Ergebnisse zur Verfügung zu haben.

»Mitte« in der Geistesgeschichte (2.): Jean-Jacques Rousseau und Immanuel Kant

Natürlich müssen wir es uns versagen, im Rahmen einer empirischen Studie einen vollständigen Überblick über die Geistesgeschichte des Mitte-Verständnisses zu liefern. Wir wollen jedoch wenigstens einige neuere Positionen erwähnen, die sich im Anschluss an unsere Aristoteles-Skizze nahelegen, wobei wir uns an einigen Stellen Herfried Münkler anschließen (vgl. Münkler 2012).

Wir müssen zu diesem Zweck einen großen Zeitsprung unternehmen und radikal veränderte Realitätsgrundlagen in Betracht ziehen: Die kleinteilige, in eine kaum überschaubare Vielfalt von Stadtstaaten im Klein- bis Mittelstadtformat aufgelöste Welt der »Polis«, in der Aristoteles seine »Politik« schrieb, gehört beim Erscheinen der nachstehend behandelten Werke schon seit undenklichen Zeiten der Vergangenheit an. Zwischenzeitlich sind Weltreiche entstanden und wieder zerfallen, die »Moderne« ist eingekehrt, die Kugelgestalt der Erde wurde entdeckt und ermöglichte den Übergang zu einem »globalen« Denken, das inzwischen in Europa Fuß gefasst und sein Ausgreifen in die Weite anderer Erdteile nach sich gezogen hat. In Europa selbst haben sich – unter anderem – große Flächenstaaten entwickelt, die noch – oder wieder – monarchisch regiert werden, wenngleich ein neues, durch die Französische Revolution angestoßenes demokratisches Denken die Geister beunruhigt.

Jean Jaques Rousseau (1712–1778) schließt, wie Münkler beobachtet, ungeachtet des zeitlichen Abstands »in vieler Hinsicht (Münkler 2012, S. 88) an Aristoteles an. Allerdings ist dessen Mitte-Verständnis nur dann angemessen nachvollziehbar, wenn man sich vor Augen führt, dass er einen normativen Gesellschaftsentwurf vorlegt, der an wesentlichen Punkten von der realen französischen Gesellschaft der zweiten Hälfte des 18 Jahrhunderts abweicht. Rousseau abstrahiert in diesem Entwurf sowohl von der Aristokratie als auch vom armen (weil landlosen) Bauerntum und vom Pariser Pöbel und setzt damit eine fiktive Gesellschaft voraus, in der eine weitestgehende Gleichheit vorherrscht. Der im vorliegenden Zusammenhang entscheidende Punkt ist, dass Rousseau dieser egalitären Gesellschaft zwingend eine mittelständische »Gleichheit in Stand und Vermögen« zuschreibt, die sich insoweit der gesellschaftlichen Mitte im aristotelischen Sinn gleichsetzen lässt. Der Unterschied zu Aristoteles besteht im Wesentlichen darin, dass die Rousseau’sche Mitte nicht trennend zwischen zwei Klassen eingelagert ist, sondern sich »bis an die sozialen Ränder des Gemeinwesens« ausdehnen soll.

Auch Immanuel Kant (1724–1804) beschäftigt sich nicht mit der aus verschiedenen Klassen oder Schichten bestehenden Gesamtgesellschaft, wobei er allerdings keine normative Konstruktion zugrunde legt wie Rousseau, sondern vielmehr die real existierende »bürgerliche Gesellschaft« des ausgehenden 18. Jahrhunderts, die er als die gesellschaftliche Mitte versteht. Ähnlich wie Rousseau befasst er sich nicht mit deren Einbettung zwischen Aristokratie, ländlicher Bevölkerung und städtischer Unterschicht, sondern vielmehr nur mit den ihr selbst zuzuschreibenden Eigenschaften. Er richtet an sie die entscheidende Frage, inwieweit ihre sozialmoralischen und ökonomischen Qualitäten eine ermöglichende Grundlage für die von ihm normativ vorausgesetzten Werte der Freiheit und Gleichheit bieten. Eine ausschlaggebende Rolle spielt für ihn hierbei die sogenannte »sibisufficientia«, das heißt die wirtschaftliche Selbstständigkeit. Er geht so weit, sich auf den Standpunkt zu stellen, dass diejenigen Bürger, die dieser Anforderung nicht genügen, das heißt nicht selbst für ihren Lebensunterhalt sorgen können, ohne in ein wirtschaftliches Abhängigkeitsverhältnis zu geraten, kein volles Bürgerrecht beanspruchen können sollen. Auch hier tritt also an entscheidender Stelle ein aristotelisches Prinzip in Erscheinung.

»Mitte« in der Geistesgeschichte (3.): G.W.F. Hegel

Was G. W. F. Hegel (1779–1831) in seiner »Rechtsphilosophie« unternimmt, ist modern ausgedrückt der Versuch, vor dem Hintergrund zurückliegender Umstürze und Umbrüche und inmitten aktueller Unsicherheiten und Aufgeregtheiten eine Orientierung anzubieten, die an die Stelle vielfältig aufflackernder Meinungen über das Zukünftige, Sinnvolle und Wünschenswerte die Auffassung treten lässt, dass das bereits bestehende »Wirkliche« gleichzeitig auch als das »Vernünftige« zu gelten habe.

Bei der Ausführung dieses – aus heutiger Perspektive eher konservativ anmutenden – Arbeitsprogramms stimmt Hegel insofern mit Aristoteles überein, als auch er die Frage nach dem Gemeinwesen und den es erhaltenden Kräften aufwirft und hierbei der Kategorie der Mitte eine entscheidende Rolle zuweist.

Die Mitte sucht er allerdings nicht in der »bürgerlichen Gesellschaft«, die im zeitgenössischen Denken – siehe unter anderem Kant – eigentlich eine dominierende Rolle spielt und auf deren Entwicklung und fortschreitende »Emanzipation« sich dieses Denken – soweit es »aufgeklärt« sein will – konzentriert. Zwar sieht auch er in der Gesellschaft zwei antagonistische Kräfte am Werke, die man als »Reichtum« und »Armut« ansprechen könne und die sich – ebenso wie bei Aristoteles – gegenseitig bekämpfen würden, wobei die arme Seite – bei Hegel tritt sie als »arbeitende Klasse« in Erscheinung – zunehmend das »Gefühl des Rechts, der Rechtlichkeit und der Ehre« verliere und zum »Pöbel« herabsinke, was sich, wie Hegel erklärt, an Englands Beispiel beobachten lasse (Hegel 1956, § 243 und 244). In deutlichem Gegensatz zu Aristoteles interveniert bei ihm in diesem Kampf der Klassen allerdings kein dazwischen liegender bürgerlicher Mittelstand, dem er zwar mit Sicherheit alltäglich an seinem Wohnort begegnet, dem er allerdings keine Aufmerksamkeit widmet, weil er ihn offenbar als gesellschaftlich unbedeutend und wirkungslos ansieht.

Man könnte, an diesem Punkt angelangt, versucht sein, zu meinen, dass Hegel mit seiner Gesellschaftsbeschreibung bereits »den ganzen Marx« vorwegnimmt. Er wechselt an diesem Punkt jedoch überraschend die Perspektive, indem er eine regulative Kraft von außen ins Spiel bringt die er als »polizeiliche Vorsorge« bezeichnet, wobei man ihm unterstellen darf, dass er das Wort »Polizei« in einem damals noch üblichen Sinn als »Polizey«, das heißt als umfassende staatliche Wohlfahrtsfürsorge versteht, die er durch die »sittlichen Ordnungskräfte« der »Korporationen« der bürgerlichen Gesellschaft, das heißt, modern ausgedrückt, durch deren staatlich legitimierte Verbandsstruktur unterstützt sieht. An Stelle der Gesellschaft ist es für ihn letztlich der Staat, der als Ordnungsmacht einzugreifen hat. Von daher wird letzten Endes auch verständlich, wieso Hegel »die Mitglieder der Regierung und die Staatsbeamten« als den »Hauptteil desjenigen Mittelstandes« in Betracht ziehen kann, in welchen »die gebildete Intelligenz und das rechtliche Bewusstsein der Masse eines Volkes« falle. Für Hegel sollen die antagonistisch auseinanderstrebenden Kräfte der bürgerlichen Gesellschaft aufgrund der Einwirkung dieses gewissermaßen gesellschaftsexternen ›Mittelstands‹, dessen Mitte-Position sich nicht aus seinem sozioökonomischen gesellschaftlichen Standort, sondern aus seinem Staatsdiener-Ethos und -Auftrag ableitet, einen autoritativ fundierten Frieden finden.

»Mitte« in der Geistesgeschichte (4.): Friedrich Nietzsche

Der Übergang zu Friedrich Nietzsche (1844–1900) zwingt uns zur Beschäftigung mit einem Mitte-Verständnis, das insofern radikal andersartiger Natur ist, als es – jedenfalls auf den ersten Blick – negativ gelagert ist. Für Nietzsche ist die überwiegende Mehrheit der Gesellschaft des zweiten deutschen Kaiserreiches, wie auch der Moderne insgesamt, die er als sein Beobachtungsobjekt wahrnimmt, ebenso grundsätzlich wie uneingeschränkt »mittelmäßig« beziehungsweise »medioker«, das heißt das vorherrschende Mittelmaß nicht überschreitend. Gleichzeitig stellt sich für ihn diese das Gesellschaftsganze übergreifende Mitte (= Mittelmäßigkeit) allerdings auch als besonders robust, durchsetzungs- und widerstandsfähig, das heißt als Besitzerin einer Eigenschaft dar, die zwar einerseits mit kultureller Beschränktheit einhergeht, die ihr jedoch andererseits auch eine hohe potentielle Tragfähigkeit als Basis einer möglicherweise über alles Bisherige hinausgehenden Kulturentwicklung jenseits ihrer selbst vermittelt…

Nietzsches Mitte-Verständnis ist insofern zutiefst ambivalent. Das quantitative Vorherrschen einer mittelmäßigen Mitte kann ihm zufolge letztlich nicht ausschließlich negativ beurteilt werden. »Bei einer (…) extremen Bewegung in Hinsicht auf Tempo und Mittel, wie sie unsere Zivilisation darstellt, verlegt sich das Schwergewicht der Menschen auf die es ankommt, die es gleichsam auf sich haben, die (…) große Gefahr einer solchen krankhaften Bewegung zu kompensieren; – es werden die Verzögerer (…) die langsam-Aufnehmenden, die Schwer-Loslassenden, die relativ Dauerhaften inmitten dieses ungeheuren Wechsels und Mischens von Elementen sein. Das Schwergewicht fällt unter solchen Umständen notwendig den Mediokren zu: Gegen die Herrschaft des Pöbels und der Exzentrischen (beide meist nicht verbündet) konsolidiert sich die Mediokrität als die Bürgschaft und Trägerin der Zukunft« (vgl. das Zitat bei Münkler 2012, S. 124).

Dies ist eine Feststellung, aus der sich – dem ersten Eindruck und einer vorherrschenden Nietzsche-Interpretation auf überraschende Weise widersprechend – letztlich wiederum eine gleichsam als ein Palimpsest unterlegte ›aristotelische Bedeutung‹ ablesen lässt.

Gefährdung der Mitte als Thema

Die Erinnerung an das Gesellschaftsbild von Aristoteles mag als Gegenbild aufblitzen, wenn man sich die Tatsache vergegenwärtigt, dass die Mitte in späteren Zeiten manchmal in Verbindung mit einer denkbaren – oder auch bereits in Gang befindlichen – Infragestellung durch gefährdende Kräfte und Entwicklungen gebracht wurde, die von verschiedenen Seiten einwirken mochten. Man mag hierbei an Karl Marx und Friedrich Engels denken, die im »Kommunistischen Manifest« vorhersagten, der »Mittelstand« werde angesichts der Gesetzlichkeiten der kapitalistischen Entwicklung unweigerlich »ins Proletariat hinabfallen«, oder auch an den Soziologen Theodor Geiger, der ein knappes Jahrhundert später auf der Grundlage empirischer Studien feststellte, der Mittelstand sei unter der Bedrohung durch eben dieselben gesellschaftlichen Kräfte dabei, sich zu seiner Rettung dem nationalsozialistischen Totalitarismus in die Arme zu werfen. Man mag aber auch, in Verbindung mit einem weiteren Zeitsprung, an die gegenwärtige Situation denken. Folgen wir zum Beispiel der Einleitung, die Nadine M. Schöneck und Sabine Ritter einem von ihnen herausgegebenen Sammelband (vgl. Schöneck/Ritter, 2018) vorausschickten, dann hören wir, dass »objektive Schrumpfungstendenzen und subjektive Abstiegssorgen der Mittelschichtangehörigen vieler westlich geprägter Gesellschaften intensiv debattiert« werden.