Kapriolen der Aufklärung - Helmut Klages - E-Book

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Helmut Klages

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Beschreibung

Mit dem Wort “Aufklärung” verbinden sich wesentliche Aspekte der gesellschaftlichen Entwicklung und Veränderung, die in der neueren Geschichte Europas ihren Ursprung hatten und die inzwischen globale Wirksamkeit entfalten. Der Kerngehalt dieses Wortes gelangt in der Vorstellung einer “vernunftgeleiteten” Nutzung der Möglichkeiten des menschlichen Selbstentwurfs zum Ausdruck, wobei Begriffe wie “Freiheit”, “Gleichheit” und “Brüderlichkeit”, aber auch “Demokratie” zentrale Leitplanken darstellen.
Diese Leitplanken sind allerdings variabel und mehrdeutig. Sie vermögen sich in vielfältige Richtungen zu entfalten, die sich als einander ausschließende Entwicklungen begegnen und durchkreuzen können. Die Dynamik des aufklärungsgeleiteten Denkens und Handelns verläuft somit keineswegs linear, sondern weist vielfältige Bewegungsfiguren auf, die sich ebenso durch kühne Ausgriffe, wie auch durch Zusammenstöße, Widersprüche und Überschneidungen kennzeichnen. Zwar lässt sich in diesen Bewegungsvarianten teils eine verborgene Gesetzlichkeit erkennen, deren Entzifferung u.a. zur Entstehung “dialektischer” Deutungssysteme beigetragen hat. In vielen Fällen kommt in ihnen jedoch eine unbeherrschbare Überschussenergie zum Vorschein, die ihre Kräfte aus einer zunehmenden Entfesselung des Menschen aus vormaligen Ordnungen und Einhegungen bezieht, wobei sich chaotische Wirbel entwickeln können, die im Grenzfall katastrophische oder auch karnevaleske Züge annehmen.
Es sind diese eruptiven Ausbrüche, die im vorliegenden Text als “Kapriolen der Aufklärung” bezeichnet und behandelt werden.

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Helmut Klages

Kapriolen der Aufklärung

© 2023 Europa Buch | Berlin

www.europabuch.com | [email protected]

Gestaltung der Titelseite: Graphikdesigner Max Hathaway,

Heidelberg

ISBN 9791220143844

Erstausgabe: 2023

Gedruckt für Italien von Rotomail Italia

Finito di stampare presso Rotomail Italia S.p.A. - Vignate (MI)

Kapriolen der Aufklärung

Vorbemerkungen

1.

Mit dem Wort "Aufklärung" lassen sich unterschiedliche Vorstellungen verknüpfen. es kennzeichnet einerseits einen bestimmten Zeitabschnitt innerhalb der europäischen Geschichte, in welchem – in einer gebildeten Elite – ein neues Denken entstand, das sich mit diesem Wort verband. Es bezieht sich heute dagegen eher auf den Inhalt dieses Denkens selbst, dem inzwischen weltweit zentrale Bedeutung für die Gestaltung der gesellschaftlichen und politischen Angelegenheiten zugeschrieben wird und der sich in allen Verfassungstexten an mehr oder weniger bevorzugter Stelle findet.

Genau an diesem letzteren für die Praxis der gesellschaftlichen und politischen Lebensgestaltung entscheidenden Punkt enthüllt das Wort „Aufklärung“ allerdings einen hochgradigen Spannungsgehalt, der sich aus der Unterschiedlichkeit der Interpretation maßgeblicher Begriffe, wie insbesondere der Begriffe "Freiheit", "Gleichheit" und "Demokratie“ ableitet, die sich mit ihm verbinden. Hält man sich ausschließlich an den Wortlaut dieser genannten Begriffe, dann wird man zwar – jedenfalls bei einem Vergleich der entwickelteren Teile der bewohnten Welt – kaum auf Unterschiede stoßen. Auch die von Misstrauen und bitterer Feindseligkeit begleitete gegenwärtige Unterscheidung zwischen den Ländern des „demokratischen Westens" und denjenigen Ländern, denen – aus westlicher Perspektive – ungeachtet einer auch hier verbreiteten Verwendung des Demokratiebegriffs – die Demokratiequalität abgesprochen wird, wird dann kaum verständlich werden.

In der Tat wird diesen Begriffen zugestanden werden müssen, dass sie sich – grundsätzlich gesehen – allesamt auf das gemeinsame Gedankengut der Aufklärung beziehen und wesentliche Teile seiner hauptsächlichen Inhalte auf mehr oder weniger abgekürzte und verdichtete Weise charakterisieren. Geht man ins Detail und fragt nach dem inhaltlichen Verständnis dieser Begriffe, dann wird man allerdings auf fundamentale Verschiedenheiten stoßen, was sich wahrscheinlich am ergiebigsten am Demokratiebegriff verdeutlichen lässt, der im Grunde genommen nur einen relativ abstrakten Oberbegriff über einer fast unübersehbaren Fülle höchst unterschiedlich gelagerter konkreter Gestaltungsmerkmale darstellt.

Ganz ähnlich verhält es sich aber auch mit den Begriffen der "Freiheit" und der "Gleichheit", die in den politischen Systemen, die in der heutigen Welt existieren, in höchst unterschiedlichen Ausformulierungen zur Geltung gelangen, wobei z.B. das, was aus einer bestimmten Perspektive betrachtet als die gerechte Bewertung und Belohnung unterschiedlicher Leistungsbereitschaften und -fähigkeiten erscheint, aus einer anderen Perspektive betrachtet in krassem Gegensatz hierzu als die katastrophale Folgeerscheinung unbehinderter Herrschaft eines brutalen "kapitalistischen" Besitzstrebens verurteilt werden mag. Ähnlich mag das, was in einem Fall als die Chance einer vollen Ausschöpfung der Möglichkeiten zu individueller Entfaltungsfreiheit erscheint, aus einer anderen Perspektive betrachtet mit voller Schärfe als irregeleitete und blinde Willkür der Überschreitung und Beiseitewerfung "natürlicher" Vorgegebenheiten und Grenzen verurteilt werden.

Angesichts dieser – und anderer – Möglichkeiten zur Entwicklung extremer Unterschiede bei der Interpretation scheinbar identischer Grundvorstellungen des Aufklärungsdenkens und -handelns braucht man sich nicht darüber zu wundern, dass sich die Angehörigen zahlreicher Nationen, die für sich in Anspruch nehmen, sich auf den Spuren der Aufklärung zu bewegen, heute zwar allesamt in scheinbarer Friedlichkeit auf den Sesseln des großen Sitzungssaals des New Yorker UNO-Gebäudes einander gegenübersitzen, sich zugleich aber – zumindest teilweise – auf aktuellen und potentiellen Schlachtfeldern waffenstarrend gegenüberstehen. Aber auch die teils bitteren Feindschaften zwischen den politischen Parteien „demokratischer“ Nationen finden in dem höchst unterschiedlichen Verständnis wesentlicher Grundvorstellungen des Aufklärungsdenkens ihre hauptsächliche Erklärung.

In Anbetracht des kaum überschaubaren Umfangs der Literatur, die sich mit den damit zusammenhängenden Fragen beschäftigt, ist eine sehr deutliche Eingrenzung der mit dem vorliegenden Text verbundenen Absichten unvermeidlich. Dieser Text soll sich ausschließlich mit denjenigen Entwicklungen und -verschiebungen des begrifflichen Verständnisses und der Praxis der Aufklärung beschäftigen, die sich aufgrund einer signifikanten Verzerrung deren eigentlicher Zielrichtung als "Kapriolen" bezeichnen lassen. Mit diesem Begriff, der seinen Ursprung vermutlich im Bereich der vor allem im Zirkusbereich gehandhabten Pferdedressur besitzt, verbindet sich die Assoziation von extremen Umschwüngen und Gegenläufigkeiten des Aufklärungsverständnisses im Zeitablauf, die dessen essentielle Bereiche substanziell betrafen und die ggf. dort, wo sie eintraten, seine weitere Entwicklung einschneidend veränderten.

2.

Zur Vermeidung des Vorwurfs oberflächlicher Auslassungen legt es sich nahe, den Begriff der " Kapriole" sehr eindeutig von dem keinesfalls mitgemeinten Begriff der "Dialektik" abzugrenzen. Direkte Berührungspunkte könnten insofern vermutet werden, als z.B. Max Horkheimer und Theodor W. Adorno in ihrem Buch "Dialektik der Aufklärung" an einer bestimmten Stelle einen historischen Prozess als „dialektisch“ ansprechen, der sich in der durch ihn herbeigeführten modernen Wissenschaftsentwicklung "überschlagen" habe (vgl. Horkheimer und Adorno, 1947, S. 27), wobei sie einen bildhaften Ausdruck verwenden, der an Bezeichnungen erinnern, die wir vorstehend für die Beschreibung der „Kapriole“ benutzt haben.

Der hauptsächliche Grund für die deutliche Abgrenzung von diesen beiden Autoren, wie auch von G.W.F. Hegel und weiteren Vertretern einer dialektischen Geschichtsinterpretation ist die Tatsache, dass sie allesamt mit dem Begriff der „Dialektik“ einen sehr allgemeinen, immerwährend wiederholten und gewissermaßen normalen Vorgang der insgesamt als Fortschrittsprozess verstandenen Geistes- und Gesellschaftsgeschichte ansprechen wollen. Im Unterschied hierzu geht es bei der hier beabsichtigten Beschäftigung mit "Kapriolen" zwar ebenfalls um historische Prozesse oder Ereignisse, die ihrerseits Ursachen in vorausgegangenen aufklärungsbezogenen Abläufen hatten, aus denen sie sich jedoch nicht mit logischer oder historischer Notwendigkeit ableiteten, zu denen sie vielmehr in diametralem Widerspruch stehen konnten und in deren eigentlich erwartbare oder auch unmittelbar beabsichtigte historische Wirksamkeit sie – wenngleich auch nur zeitweilig – als Gegenkräfte unter mehr oder weniger gravierender Beeinträchtigung ihrer Entwicklungsrichtung und -dynamik eingriffen.

Eine dieser Definition notwendigerweise hinzuzufügende Ergänzung ist, dass diese Gegenkräfte keinesfalls als offenkundig feindselige, so etwa „konservative“, d.h. vergangenen Zuständen verhaftete Abwehrkräfte, sondern allesamt als scheinbar fördernde Elemente der Aufklärung in Erscheinung traten und in der Tat in ihr selbst zu suchende Entstehungsursachen hatten. Der vorliegende Text benennt und behandelt solche dem Aufklärungsprozess gewissermaßen „immanente“ Gegenläufigkeiten zwar unter Aufgreifen einer – keineswegs vollständigen – Reihe von Einzelfällen, d.h. also unter Verarbeitung von historischem Material. Er findet seine Grenze jedoch darin, dass er – jedenfalls vorerst – auf Vollständigkeit, wie auch darauf verzichtet, hierzu eine allgemeine „Theorie“ zu entwickeln. Dass der gesamte Aufklärungsverlauf im United Kingdom ausgelassen wurde, sei an dieser Stelle nur am Rande erwähnt.

3.

Die abschließende Information, die wir diesen Vorbemerkungen hinzufügen wollen, betrifft den zugegebenermaßen ungewöhnlich großen Zeitraum, den wir ins Auge fassen. Er ist im Grunde genommen insofern unbegrenzt, als er den Entwicklungsprozess der Menschheit – zumindest andeutungsweise – von allem Anfang an einbezieht. Es soll hiermit deutlich gemacht werden, dass die grundsätzlich der neueren Geschichte zuzuordnende Aufklärung mitsamt der ihr zuzurechnenden mehr oder weniger gefährlichen Kapriolen einen verhältnismäßig jungen Ereigniszusammenhang darstellt, dessen Entwicklungs- und Wirkungsspielraum bisher noch keinesfalls ausgeschöpft ist.

Der lange Weg zur Aufklärung

 

Die vorgeschichtlichen Anfänge

 

Verfolgt man die Vorgeschichte der Aufklärung bist zum frühestmöglichen Punkt, d.h. bis in die Frühzeit der menschlichen Entwicklungsgeschichte, dann hat man einen Zeitraum ins Auge zu fassen, der – von den ältesten Skelettfunden her beurteilt – einige Millionen Jahre zurückliegt. Der homo erectus, dem wir dort in seinen Anfangsstadien begegnen, lebte vermutlich in kleinen Gruppen, die jeweils einige Männer und Frauen und viele Kinder umfassten, in Unterkünften, welche, die Natur anbot, d.h. also vor allem in Höhlen, als sogenannte „Jäger und Sammler" mit rudimentären Steinwerkzeugen, die er zur Abwehr von wilden Tieren und gelegentlichen Angriffen benachbarter Gruppen verwendete.

 

Hinsichtlich der Gruppengröße und Gruppenstruktur war man – und ist man noch immer – auf Vermutungen angewiesen. Der Darwin’schen Vorstellung zufolge gab es, wie S. Freud (vgl. S. Freud 1974, S. 424 ff.) berichtet, als kaum variierte Standardform eine sog. „Urhorde“, die aus einem autoritär herrschenden pater familias mit exklusivem Anspruch auf sexuellem Zugang zu den Frauen der Gruppe, sowie aus einigen Jungmännern ohne sexuelle Rechte bestand, die ungeduldig auf den Augenblick warteten, in welchem sie den vermutlich verhassten Vater töten, rituell verzehren, und sich der „Weibchen“ bemächtigen konnten.

 

Wäre dies alles gewesen, was über die ursprüngliche Kleinstgruppe gesagt werden könnte und wäre das wenige, das gesagt – oder vermutet – wurde, zutreffend gewesen, dann wäre die "Urhorde" allerdings einer weiterführenden Entwicklung der Menschheit entschieden im Wege gewesen, denn diese Gruppe war ja, dem Darwin´schen Konzept zufolge, von einer fundamentalen Spannung erfüllt, die unvermeidlich zum "Kampf aller gegen alle" und höchstwahrscheinlich in einem Großteil der Fälle zur Selbstvernichtung der Gruppe geführt hätte. S. Freud ist insofern Recht zu geben, wenn er feststellt, dass die Darwin'sche Beschreibung – neben einigen Dingen, die zu streichen seien – durch die Hinzufügung der Annahme ergänzt werden müsse, dass in der Gruppe in der Regel ein mit einem strikten Tabu verknüpftes Inzestverbot bestand, so dass die jungen Männer bei der Suche nach einer Frau das soziale Umfeld der Gruppe aufsuchen mussten, das heißt in benachbarten Gruppen einen Frauenraub begehen, bzw. eine Frau kaufen oder – auf friedlichem und ggf. freundschaftlichem Wege – eintauschen mussten.

 

Fragen wir noch nach der vermutlichen Rollenstruktur innerhalb der ursprünglichen Vergesellschaftungsform (wobei wir von denjenigen Sozialverbänden ausgehen wollen, die sich sehr frühzeitig angesichts der vielfältigen Vorteile der Zusammenfügung mehrerer Familien oder „Urhorden“ zu einem größeren Verband ableiteten), dann drängt sich unvermeidlich die folgende Antwort auf: