Achtsam durch den Tag - Jan Chozen Bays - E-Book

Achtsam durch den Tag E-Book

Jan Chozen Bays

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  • Herausgeber: Windpferd
  • Kategorie: Ratgeber
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2021
Beschreibung

Ein Handbuch der Achtsamkeit. Die 53 Übungen richten sich an Menschen, die mit diesem Übungsprogramm mehr Achtsamkeit in ihren Alltag bringen möchten – unabhängig von Alter, Bildungsstand oder Beruf. Achtsamkeit reduziert Stress und fördert das körperliche und seelische Wohlbefinden. Dieses uralte Erfahrungswissen wird heute von der wissenschaftlichen Forschung bestätigt. Und Achtsamkeit mitten im Trubel des Alltags zu kultivieren, ist gar nicht kompliziert. Dr. med. Jan Chozen Bays zeigt, wie es geht: In 53 praktischen Übungen lernen wir, Alltagssituationen in Arbeit und Freizeit, Familienleben und Partnerschaft zu einem Abenteuerspielplatz unseres Bewusstseins zu machen. Jede dieser Übungen vermittelt überraschende Einsichten und führt uns in kleinen Schritten mit großer Wirkung zu mehr Gelassenheit und Lebensfreude.

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Seitenzahl: 271

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Jan Chozen Bays

Achtsamdurch den Tag

53 federleichte Übungen zur Schulung der Achtsamkeit

Aus dem amerikanischen Englisch übersetzt von Stephan Schuhmacher

Titel der Originalausgabe How to Train a Wild Elephant & Other Adventures in MindfulnessErschienen bei Shambhala Publications, Inc., Boston, MA, USAwww.shambhala.com© 2011 by Jan Chozen BaysAus dem amerikanischen Englisch übersetzt von Stephan Schuhmacher

7. Auflage 2018

© 2011 Windpferd Verlagsgesellschaft mbH, Oberstdorf

Alle Rechte vorbehalten

Umschlaggestaltung: Guter Punkt GmbH & Co. KG, München

Bildquelle Cover: Servikos/shutterstock

Satz und Layout: Marx Grafik und ArtWork

Gesetzt aus der Adobe Garamond

ISBN 978-3-86410-024-6

eISBN 978-3-86410-361-2

www.windpferd.de

Inhalt

Einführung

Was ist Achtsamkeit und warum ist sie wichtig?

Die Vorteile der Achtsamkeit

Missverständnisse über Achtsamkeit

Eine Gebrauchsanweisung für dieses Buch

1Die nichtdominante Hand benutzen

2Keine Spuren hinterlassen

3Füllwörter

4Die eigenen Hände wahrnehmen

5Beim Essen nur essen

6Wahre Komplimente

7Auf die Körperhaltung achten

8Dankbarkeit am Ende des Tages

9Auf Klänge lauschen

10Jedes Mal, wenn das Telefon klingelt

11Liebevolle Berührung

12Warten

13Ein Medien-Fasten

14Liebevolle Augen

15Im Geheimen Gutes tun

16Nur drei Atemzüge

17In neue Räume eintreten

18Auf Bäume achten

19Lassen Sie die Hände ruhen

20Ja sagen

21Die Farbe Blau sehen

22Die Fußsohlen

23Leerer Raum

24Ein Bissen nach dem anderen

25Endloses Verlangen

26Das Leiden studieren

27Alberne Gänge

28Wasser

29Nach oben sehen

30Abgrenzen und Verteidigen

31Gerüche bemerken

32Diese Person könnte heute Nacht sterben

33Hitze und Kälte

34Die große Erde unter Ihnen

35Abneigung bemerken

36Übersehen Sie etwas?

37Der Wind

38Zuhören wie ein Schwamm

39Wertschätzung

40Zeichen des Alterns

41Pünktlich sein

42Dinge aufschieben

43Ihre Zunge

44Ungeduld

45Angst

46Achtsames Autofahren

47Tief in die Nahrung hineinsehen

48Licht

49Ihr Magen

50Werden Sie sich Ihrer Mitte bewusst

51Liebende Güte für den Körper

52Lächeln

53Die Dinge besser hinterlassen, als wir sie vorgefunden haben

Sitzmeditation für Anfänger

Literaturempfehlungen

Über die Autorin

Einführung

Oft höre ich Menschen sagen: „Ich würde ja gern Achtsamkeit praktizieren, aber ich habe so viel zu tun, dass ich einfach keine Zeit dafür habe.“

Die meisten Menschen glauben, Achtsamkeit sei etwas, das sie irgendwie in einen schon übervollen Terminplan mit Beruf, Kindererziehung und Hausarbeit hineinquetschen müssten. Doch Achtsamkeit zu einem Teil Ihres Lebens zu machen, hat in Wirklichkeit mehr von einem Spiel wie ‚Verbinden Sie die Punkte‘ oder einem ‚Malen nach Zahlen‘. Erinnern Sie sich an jene Malvorlagen, auf denen jeder Teilbereich mit einer Zahl markiert war, die Ihnen sagte, welche Farbe Sie hier verwenden sollten? Ein hübsches Bild trat langsam hervor, indem Sie zuerst alle braunen, dann alle grünen und alle blauen Felder ausmalten.

Achtsamkeit zu üben, ist etwas ganz Ähnliches. Sie beginnen mit einem kleinen Teilbereich Ihres Lebens – sagen wir mit der Weise, wie Sie ans Telefon gehen. Wann immer es klingelt, halten Sie erst einmal inne, bevor Sie den Anruf annehmen, um drei langsame, tiefe Atemzüge zu nehmen. Sie machen dies etwa eine Woche lang, bis es zu einer Gewohnheit geworden ist. Dann fügen Sie eine weitere Achtsamkeitsübung, wie etwa das aufmerksame Essen, hinzu. Haben Sie diese Form der Präsenz in Ihr Leben integriert, fügen Sie eine weitere hinzu. Allmählich sind Sie dann im Alltag zunehmend präsent und aufmerksam. Die erfreuliche Erfahrung eines erwachten Lebens beginnt sich zu entwickeln.

Die Übungen in diesem Buch verweisen auf viele unterschiedliche Bereiche in Ihrem Leben, die Sie mit den warmen Farben einer offenherzigen Achtsamkeit ausfüllen können. Ich bin Meditationslehrerin und lebe in einem Zen-Kloster in Oregon. Ich bin aber auch Kinderärztin, Ehefrau, Mutter und Großmutter, und deshalb weiß ich sehr wohl, wie anstrengend und herausfordernd der Alltag sein kann. Viele dieser Übungen habe ich als Hilfe entwickelt, um inmitten des Ablaufs eines geschäftigen Lebens wacher, glücklicher und entspannter zu werden. Jetzt biete ich diese Sammlung all jenen an, die gern präsenter sein und die kleinen Momente des Lebens stärker genießen möchten. Um wieder Friede und Gleichgewicht in Ihr Leben zu bringen, müssen Sie nicht einen Monat lang in ein Kloster oder in eine Meditationsklausur gehen. Sie stehen Ihnen schon jetzt offen. Die tägliche Achtsamkeitsübung wird Ihnen helfen, Erfüllung und Befriedigung in ebendem Leben zu finden, das Sie jetzt führen.

Was ist Achtsamkeit und warum ist sie wichtig?

Unter Forschern, Psychologen, Ärzten, Erziehern, aber auch in der allgemeinen Öffentlichkeit hat das Interesse an Achtsamkeit während der letzten Jahre enorm zugenommen. Es gibt inzwischen eine Menge wissenschaftlicher Forschungsergebnisse, die die Vorteile der Achtsamkeit für die körperliche und geistige Gesundheit belegen. Doch was genau meinen wir mit „Achtsamkeit“?

Hier ist die Definition, die ich gern verwende:

Achtsamkeit bedeutet, dem, was um Sie herum und in Ihnen geschieht – in Ihrem Körper, Herzen und Geist –, bewusst die volle Aufmerksamkeit zu schenken. Achtsamkeit ist Aufmerksamkeit ohne Kritik und ohne Urteil.

Manchmal sind wir achtsam und manchmal nicht. Ein gutes Beispiel ist das Achten auf Ihre Hände am Steuer eines Autos. Erinnern Sie sich an Ihre erste Fahrstunde und daran, wie der Wagen damals in Schlangenlinien vorankam, während Ihre Hände das Steuer ungeschickt hin und her drehten, korrigierten und überkorrigierten. Sie waren hellwach und ganz und gar auf die Mechanik des Autofahrens konzentriert. Nach einer Weile lernten Ihre Hände dann, richtig zu steuern und automatisch feine Korrekturen vorzunehmen. Sie vermochten den Wagen flüssig voranrollen zu lassen, ohne noch bewusst auf Ihre Hände zu achten. Sie konnten gleichzeitig lenken, reden, essen und Radio hören.

Dies ist ein Beispiel für eine Erfahrung, die wir alle bereits gemacht haben – die des Fahrens, während wir auf Autopilot geschaltet haben. Sie suchen nach den Schlüsseln, öffnen die Autotür, setzen vorsichtig aus der Auffahrt zurück und … fahren in die Parkgarage am Arbeitsplatz. Aber Moment mal! Was passierte mit den dreißig Kilometern und vierzig Minuten, die zwischen Ihrem Haus und dem Arbeitsplatz liegen? Waren die Ampeln rot oder grün? Ihr Geist hat in irgendeinem angenehmen oder auch betrüblichen Bereich Ferien gemacht, während Ihr Körper Ihr Gefährt geschickt durch den fließenden Verkehr und Wartezeiten an roten Ampeln manövriert hat, bis Sie plötzlich an Ihrem Bestimmungsort wieder aufgewacht sind.

Ist das etwas Schlechtes? Es ist nicht schlecht in dem Sinne, dass Sie sich deshalb schämen oder schuldig fühlen sollten. Wenn Sie in der Lage sind, seit Jahren auf Autopilot zur Arbeit zu fahren, ohne einen Unfall zu bauen, dann ist das eine reife Leistung! Wir könnten jedoch sagen, dass es traurig ist. Verbringen wir nämlich viel Zeit, in der unser Körper eine Sache tut, während unser Geist woanders Ferien macht, so bedeutet dies, dass wir für einen guten Teil unseres Lebens nicht präsent sind. Und sind wir nicht präsent, dann haben wir dauernd ein vages Gefühl des Unbefriedigtseins. Dieses Gefühl der Unzufriedenheit, einer Kluft zwischen uns selbst und allen anderen Dingen und Menschen, ist eines der Grundprobleme des menschlichen Lebens. Es führt zu jenen Momenten, in denen uns ein Gefühl tiefen Zweifels und abgrundtiefer Einsamkeit durchfährt.

Der Buddha nannte dies die „Erste Wahrheit“: die Tatsache, dass jeder Mensch irgendwann diese Not erfährt. Natürlich gibt es in unserem Leben auch viele glückliche Momente, doch wenn unsere Freunde nach Hause gegangen sind, wenn wir einsam oder müde sind oder wenn wir uns enttäuscht, traurig oder betrogen fühlen, dann tauchen die Unzufriedenheit und das Unglücklichsein wieder auf.

Wir alle versuchen es mit rezeptfreien Heilmitteln – mit Essen, Drogen, Sex, Überarbeitung, Alkohol, Kino, Einkaufen, Spielen –, um das Leiden des gewöhnlichen Lebens als Menschenwesen zu lindern. Alle diese Heilmittel funktionieren für eine Weile, aber die meisten von ihnen haben Nebenwirkungen – wie etwa Schulden, einen Filmriss, Inhaftierung oder den Verlust von jemandem, den wir lieben –, und damit vergrößern sie auf lange Sicht unser Leiden nur noch.

Die Packungsbeilage dieser rezeptfreien Heilmittel besagt: „Nur zur vorübergehenden Linderung von Symptomen geeignet. Wenn die Symptome anhalten, suchen Sie einen Arzt auf.“ Im Laufe vieler Jahre habe ich ein verlässliches Heilmittel zur Linderung des immer wieder auftretenden Unbehagens und Unglücklichseins gefunden. Ich habe es mir selbst und vielen anderen Menschen verschrieben – mit ausgezeichneten Ergebnissen. Es ist die regelmäßige Übung von Achtsamkeit.

Viele der Unzufriedenheiten mit dem Leben werden verschwinden und viele einfache Freuden werden auftauchen, wenn wir lernen, für die Dinge, so wie sie sind, präsent zu sein.

Sie haben bereits Augenblicke der achtsamen Aufmerksamkeit erlebt. Jeder Mensch kann sich wenigstens an eine Gelegenheit erinnern, bei der er vollkommen wach war und alles klar und lebendig wurde. Wir nennen diese Momente Gipfelerfahrungen. Es kann dazu kommen, wenn wir etwas ungewöhnlich Schönes oder Beeindruckendes erfahren, wie etwa die Geburt eines Kindes oder den Tod eines geliebten Menschen. Es kann auch geschehen, wenn unser Auto ins Schleudern gerät. Die Zeit verlangsamt sich, während wir beobachten, ob es zu einem Unfall kommt oder nicht. Aber es muss gar nichts Dramatisches sein. Es kann während eines gewöhnlichen Spaziergangs dazu kommen, wenn wir um eine Ecke gehen und plötzlich alles für einen Augenblick leuchtet.

Was wir Gipfelerfahrungen nennen, sind Zeiten, zu denen wir vollkommen wach sind. Unser Leben und unsere Aufmerksamkeit sind nicht voneinander getrennt, sie sind eins. In diesen Momenten schließt sich die Kluft zwischen uns und allem anderen und das Leiden verschwindet. Wir fühlen uns zufrieden. Tatsächlich sind wir jenseits von Zufriedenheit und Unzufriedenheit. Wir sind gegenwärtig. Wir sind Gegenwart. Wir erhalten eine vielversprechende Kostprobe von dem, was die Buddhisten das erleuchtete Leben nennen.

Diese Momente verblassen unweigerlich und schon sind wir wieder getrennt – und sauer darüber. Wir können das Eintreten von Gipfelerfahrungen oder Erleuchtung nicht erzwingen. Das Werkzeug der Achtsamkeit kann uns jedoch helfen, die Lücken zu schließen, die unser Unglücklichsein verursachen. Achtsamkeit vereinigt unseren Körper, unser Herz und unseren Geist und bringt sie in gesammelter Aufmerksamkeit zusammen. Wenn wir auf diese Weise vereinigt sind, wird die Schranke zwischen „Ich“ und „alles andere“ immer durchlässiger, bis sie in einem einzigen Augenblick verschwindet! Für eine Weile, manchmal nur für einen kurzen Moment, aber gelegentlich auch für ein ganzes Leben, ist alles ganz, ist alles heilig und in Frieden.

Die Vorteile der Achtsamkeit

Die Übung von Achtsamkeit hat viele Vorzüge. Forschungen über das Glücklichsein, die Brown und Ryan an der Universität von Rochester angestellt haben, haben gezeigt, dass „Menschen mit großer Achtsamkeit exemplarisch sind für Menschen, die geistig gesund sind sowie blühen und gedeihen“. Achtsamkeit ist gut gegen alle Erkrankungen Ihres Herzens, Ihres Geistes und sogar Ihres Körpers. Aber glauben Sie mir das nicht nur, weil ich es gesagt habe. Versuchen Sie es für ein Jahr mit den Übungen in diesem Buch und finden Sie heraus, wie sie Ihr Leben verändern.

Hier sind einige der Vorteile der Achtsamkeit, die ich entdeckt habe:

1. Achtsamkeit spart Energie

Zum Glück können wir lernen, Aufgaben fachgerecht zu erledigen. Bedauerlicherweise erlaubt uns diese Fähigkeit jedoch, dabei unbewusst zu werden. Bedauerlich ist dies deshalb, weil wir einen großen Teil unseres Lebens versäumen, sobald wir unbewusst werden. Wenn wir „auschecken“, dann wandert unser Geist gern zu einem von drei Orten: der Vergangenheit, der Zukunft oder dem Land der Phantasie. Diese drei Bereiche besitzen außerhalb unserer Vorstellung keinerlei Realität. Genau hier, wo wir sind, ist der einzige Ort, an dem, und genau jetzt ist die einzige Zeit, zu der sich unser Leben abspielt.

Das Vermögen des menschlichen Geistes, sich an die Vergangenheit zu erinnern, ist eine einzigartige Gabe. Es hilft uns, aus unseren Irrtümern zu lernen und eine unvorteilhafte Ausrichtung unseres Lebens zu verändern. Schwenkt unser Geist jedoch zurück in die Vergangenheit, dann beginnt er oft, endlos über zurückliegende Fehler nachzugrübeln. „Hätte ich nur dieses gesagt …, dann hätte sie bestimmt jenes gesagt …“ Unglücklicherweise scheint unser Geist uns für dumm zu halten. Er bringt unsere Fehler der Vergangenheit immer wieder aufs Tapet, wiederholt dabei ständig seine Beschuldigungen und Kritik.

Nie würden wir 250-mal bezahlen, um uns denselben schmerzvollen Film anzusehen, doch wir lassen zu, dass unser Geist eine unangenehme Erinnerung immer und immer wieder abspielt, und wir erfahren dabei jedes Mal dieselbe Scham und dieselbe Bekümmerung. Nie würden wir ein Kind 250-mal an einen kleinen Fehler, den es gemacht hat, erinnern, aber wir lassen zu, dass unser Geist immer weiter die Vergangenheit heraufbeschwört und unser kleines inneres Wesen Scham und Wut aussetzt. Es sieht so aus, als fürchtete unser Geist, noch einmal einem Fehlurteil, der Unwissenheit oder Unachtsamkeit zum Opfer zu fallen. Er scheint uns nicht für klug zu halten – klug genug, um aus einem Fehler zu lernen und ihn nicht zu wiederholen.

Dummerweise bringt ein angsterfüllter Geist mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit gerade das hervor, was er am meisten fürchtet. Dem ängstlichen Geist ist nicht klar, dass er nicht für die Gegenwart wach ist, wenn er uns in Tagträume und Bedauern über die Vergangenheit verstrickt. Sind wir nicht fähig, präsent zu sein, dann neigen wir dazu, wenig weise und geschickt zu handeln. Es ist wahrscheinlich, dass wir dann genau das tun, was unser Geist befürchtet.

Die Fähigkeit des menschlichen Geistes, für die Zukunft vorauszuplanen, ist eine weitere unserer einzigartigen Gaben. Sie stellt uns eine Landkarte und einen Kompass zur Verfügung, nach denen wir steuern können. Dies verringert die Wahrscheinlichkeit, dass wir falsch abbiegen und einen langen Umweg machen werden. Sie vergrößert die Wahrscheinlichkeit, dass wir unser Lebensende zufrieden mit unserem Lebensweg und mit dem, was wir geschafft haben, erreichen.

Unglücklicherweise versucht unser Geist in seiner Sorge um uns, Pläne für eine riesige Zahl von möglichen Zukünften zu machen, von denen die meisten niemals eintreten. Diese ständigen Bocksprünge in die Zukunft sind eine Verschwendung unserer mentalen und emotionalen Energie. Die beste Vorbereitung auf die unbekannte Zukunft besteht darin, einen vernünftigen Plan zu machen und dann auf das zu achten, was eben jetzt geschieht. Dann können wir das, was auf uns zufließt, mit einem klaren, flexiblen Geist und mit offenem Herzen begrüßen. Dann sind wir bereit und fähig, unsere Pläne zu verändern und sie der Realität des Augenblicks anzugleichen.

Der Geist liebt es ebenfalls, Ausflüge in das Reich der Phantasie zu unternehmen, indem er einen inneren Film eines neuen und anderen Ichs kreiert – eines berühmten, schönen, machtvollen, talentierten, erfolgreichen, reichen und geliebten Ichs. Das Vermögen des menschlichen Geistes zu phantasieren ist etwas Wunderbares; es ist die Grundlage all unserer Kreativität. Es macht es uns möglich, uns neue Erfindungen vorzustellen, neue Kunstwerke und Kompositionen zu schaffen, neue wissenschaftliche Hypothesen aufzustellen und Pläne für etwas zu entwerfen, das von einem neuen Haus bis zu neuen Kapiteln unseres Lebens reichen kann. Unglücklicherweise kann das auch zu einer Flucht werden – einer Flucht vor allem, was am gegenwärtigen Augenblick unangenehm ist, einer Flucht aus der Angst vor dem Nichtwissen um das, was gegenwärtig auf uns zukommt, einer Flucht vor der Furcht, dass der nächste Moment (oder die nächste Stunde oder das nächste Jahr) uns Schwierigkeiten oder den Tod bringen könnte. Unablässiges Phantasieren und Tagträumen ist etwas anderes als zielgerichtete Kreativität. Kreativität entsteht daraus, dass der Geist in Neutralität verweilt, sodass er sich klären kann und eine saubere Leinwand entsteht, auf der neue Ideen, Gleichungen, Gedichte, Melodien oder farbenfrohe Pinselstriche entstehen können.

Gestatten wir es dem Geist, in der Gegenwart zu ruhen, voll von dem, was tatsächlich genau jetzt geschieht, und ziehen wir ihn ab von wiederholten fruchtlosen, unsere Energie aufzehrenden Ausflügen in die Vergangenheit, die Zukunft und in Phantasiewelten, dann tun wir etwas sehr Wichtiges. Wir erhalten die Energie des Geistes. Er bleibt frisch und offen, bereit, auf alles zu reagieren, was in ihm auftaucht.

Das mag sich trivial anhören, aber das ist es keineswegs. Gewöhnlich ruht unser Geist nie. Selbst während der Nacht ist er aktiv und erzeugt aus einer Mischung aus unseren Ängsten und den Ereignissen unseres Lebens Träume. Wir wissen, dass unser Körper ohne Verschnaufpausen nicht funktionieren kann, deshalb gönnen wir ihm jede Nacht wenigstens ein paar Stunden, in denen er sich hinlegen und ausruhen kann. Wir vergessen jedoch, dass auch unser Geist Ruhephasen braucht. Er findet sie im gegenwärtigen Moment, in dem er sich niederlassen und sich dem Fluss der Ereignisse überantworten kann.

Die Übung der Achtsamkeit erinnert uns daran, unsere Energie nicht für Reisen in die Vergangenheit und die Zukunft zu vergeuden, sondern immer wieder an ebendiesen Ort zurückzukehren und in dem zu ruhen, was genau jetzt geschieht.

2. Achtsamkeit schult und stärkt den Geist

Wir wissen alle, dass man den Körper trainieren kann. Wir können beweglicher werden (Turner und Akrobaten), graziöser (Balletttänzer), geschickter (Pianisten) oder stärker (Gewichtheber). Der Tatsache jedoch, dass es viele Aspekte des Geistes gibt, die man kultivieren kann, sind wir uns weniger bewusst. Kurz vor seiner Erleuchtung beschrieb der Buddha die Eigenschaften von Herz und Geist, die er über viele Jahre entwickelt hatte. Er hatte beobachten können, dass sein Geist „gesammelt, gereinigt, licht, unbefleckt, geschmeidig, gehorsam, frei von Mängeln und unerschütterlich“ geworden war. Wenn wir Achtsamkeit üben, lernen wir, den Geist aus seiner gewohnheitsmäßigen Voreingenommenheit herauszuheben und ihn an einem Ort unserer Wahl abzusetzen, um einen bestimmten Bereich unseres Lebens zu erhellen. Wir schulen ihn darin, leicht, machtvoll und flexibel zu sein und sich auf das zu konzentrieren, worauf wir ihn richten möchten.

Der Buddha sprach von der Notwendigkeit, den Geist zu zähmen. Er verglich diesen Vorgang mit dem Zähmen eines wilden Elefanten aus dem Dschungel. So wie ein wilder Elefant Schaden anrichten kann, indem er die Ernte niedertrampelt und Menschen verletzt, so kann der ungezähmte und launische Geist uns selbst und den Menschen um uns herum schaden. Unser menschlicher Geist besitzt viel mehr Macht und viel größere Kräfte, als uns klar ist. Die Achtsamkeit ist ein wirksames Instrument zur Schulung des Geistes; sie verschafft uns Zugang zum wahren Potenzial des Geistes – zu Einsicht, Freundlichkeit und Kreativität – und ermöglicht uns, es zu nutzen.

Der Buddha wies darauf hin, dass man einen wilden Elefanten, nachdem man ihn eingefangen und aus dem Dschungel herausgeführt hat, erst einmal an einen Pfahl binden muss. Was unseren Geist angeht, so nimmt der Pfahl die Form dessen an, worauf wir die Aufmerksamkeit in unserer Achtsamkeitsübung richten – zum Beispiel die Form des Atems, des Essens in unserem Mund, unserer Körperhaltung. Wir verankern den Geist, indem wir ihn immer und immer wieder zu einer Sache zurückkehren lassen. Das beruhigt ihn und befreit ihn von Ablenkungen.

Ein wilder Elefant hat viele ungestüme Gewohnheiten. Er läuft weg, wenn sich ihm Menschen nähern. Er greift an, wenn er sich fürchtet. Mit unserem Geist ist es ganz ähnlich. Wenn er Gefahr spürt, rennt er vor der Gegenwart davon. Er flüchtet sich in angenehme Phantasien, in Gedanken an künftige Rache, oder er wird einfach taub. Wenn er verängstigt ist, greift er vielleicht in einem Wutausbruch andere Menschen an, oder er richtet den Angriff nach innen mit stiller, aber zersetzender Selbstkritik.

Zu Lebzeiten des Buddha wurden Elefanten als Reittiere für den Krieg trainiert; man brachte ihnen bei, Befehlen zu gehorchen, ohne vor dem Lärm und dem Chaos auf dem Schlachtfeld zu fliehen. So kann auch ein durch Achtsamkeit geschulter Geist den sich schnell verändernden Bedingungen des modernen Lebens unerschütterlich standhalten. Ist unser Geist erst einmal gezähmt, vermag er ruhig und gefestigt zu bleiben, wenn er mit den unvermeidlichen Schwierigkeiten in dieser Welt konfrontiert wird. Schließlich laufen wir nicht mehr vor Problemen davon, sondern sehen sie als eine Möglichkeit, unsere physische und mentale Stabilität auf die Probe zu stellen und auszubauen.

Die Achtsamkeit hilft uns, die gewohnheitsmäßigen und konditionierten Fluchtmechanismen unseres Geistes zu erkennen, und gestattet es uns, eine alternative Weise des In-der-Welt-Seins auszuprobieren. Diese Alternative besteht darin, unseren Geist in den tatsächlichen Ereignissen des gegenwärtigen Augenblicks ruhen zu lassen – in den Klängen, die wir mit den Ohren hören, den Empfindungen, die wir über unsere Haut fühlen, den Farben und Formen, die die Augen aufnehmen. Achtsamkeit hilft, das Herz und den Geist zu stabilisieren, sodass sie von den unvorhergesehenen Ereignissen in unserem Leben nicht mehr so heftig durchgerüttelt werden. Üben wir Achtsamkeit lange und geduldig genug, dann interessieren wir uns schließlich für alles, was geschieht; wir werden neugierig darauf, was wir aus Widrigkeiten und schließlich sogar aus unserem eigenen Tod lernen können.

3. Achtsamkeit ist gut für die Umwelt

Der größte Teil dieser mentalen Aktivität, die endlos in den Reichen der Vergangenheit, der Zukunft und der Phantasie umherwandert, ist nicht nur nutzlos, sondern auch destruktiv. Warum? Sie wird nämlich angetrieben von einem ökologisch schädlichen Treibstoff: der Angst.

Sie fragen sich vielleicht, was Angst denn mit Ökologie zu tun hat. Wenn wir von Ökologie sprechen, dann denken wir gewöhnlich an eine Welt der physischen Beziehungen zwischen Lebewesen, etwa der Beziehungen zwischen Bakterien, Pilzen, Pflanzen und Tieren in einem Wald. Aber ökologische Beziehungen basieren auf einem Austausch von Energie – und Angst ist eine Energie.

Wir sind uns vielleicht dessen bewusst, dass es sich schädlich auf ein ungeborenes Kind auswirken kann, wenn eine Mutter in chronischer Angst lebt und sich deshalb der Fluss der Nährstoffe und der Hormone verändert, die den Fötus überfluten. Wenn wir Angst haben, dann beeinflusst das gleichermaßen die vielen „Lebewesen“ in unserem Inneren – unser Herz, unsere Leber, unseren Darm, die Milliarden von Bakterien in unserem Darm, unsere Haut. Die negativen Auswirkungen von Angst und Sorge sind nicht auf unseren Behälter, unseren Körper, beschränkt. Unsere Angst beeinflusst auch jedes Wesen, mit dem wir in Kontakt kommen. Angst ist ein höchst ansteckender Geisteszustand, der sich schnell über ganze Familien, Gemeinschaften und sogar Nationen ausbreitet.

Achtsamkeit bedeutet, dass wir unseren Geist an einem Ort ruhen lassen, an dem es keine Angst und keine Sorge gibt. Tatsächlich finden wir dort das genaue Gegenteil. Wir entdecken Einfallsreichtum, Mut und ein stilles Glück.

Wo befindet sich dieser „Ort“? Er kann nicht geographisch oder zeitlich lokalisiert werden. Er ist die fließende Zeit und der Ort des gegenwärtigen Augenblicks. Angst wird von den Gedanken an Vergangenheit und Zukunft genährt. Wenn wir diese Gedanken fahren lassen, dann lassen wir auch die Angst fahren und sind in Frieden. Doch wie gelingt uns dies? Wir lassen unsere Gedanken los, indem wir vorübergehend Energie von der Denkfunktion des Geistes abziehen und diese der Aufmerksamkeitsfunktion des Geistes zuführen. Diese bewusste Zufuhr von Energie ist die Essenz der Achtsamkeit. Entspannte, wache Aufmerksamkeit ist das Gegenmittel gegen Angst und Sorge, sowohl gegen unsere eigene als auch gegen die der anderen. Sie ist eine ökologisch förderliche Weise, ein menschliches Leben zu führen; sie verändert die Atmosphäre zum Besseren.

4. Achtsamkeit erzeugt Vertrautheit

Das, wonach wir am meisten hungern, ist nicht Nahrung, sondern Vertrautheit. Wenn es in unserem Leben an Intimität mangelt, dann fühlen wir uns von anderen Wesen getrennt, allein, verletzlich und in dieser Welt nicht geliebt.

Gewöhnlich erwarten wir, dass andere Menschen unser Bedürfnis nach Intimität befriedigen. Unsere Partner und Freunde können jedoch nicht immer so für uns da sein, wie wir es benötigen. Glücklicherweise ist uns stets eine sehr tief gehende Erfahrung von Vertrautheit zugänglich – alles, was es dazu braucht, ist, dass wir uns umdrehen und auf das Leben zugehen. Das verlangt einigen Mut. Wir müssen unsere Sinne bewusst öffnen und uns dessen bewusst werden, was sowohl innerhalb unseres Körpers und Herz-Geistes als auch draußen, in unserer Umgebung, passiert.

Achtsamkeit ist ein erstaunlich einfaches Werkzeug für jemanden, der bewusst werden möchte. Sie ist eine Übung, die uns hilft, aufzuwachen, präsent zu sein und das Leben in vollen Zügen zu genießen. Sie hilft uns, die Lücken in unserem Tagesablauf zu schließen, sodass wir nicht mehr so oft unbewusst werden und für große Teile unseres Lebens nicht gegenwärtig sind. Sie ist auch eine Übung, die uns helfen wird, die frustrierende Kluft zu schließen und das unsichtbare Schutzschild zu entfernen, die zwischen uns und anderen Menschen zu stehen scheinen.

5. Achtsamkeit beendet den Kampf und besiegt die Furcht

Achtsamkeit hilft uns, auch in Erfahrungen, die unangenehm sind, präsent zu bleiben. Gewöhnlich neigen wir dazu, die Welt und andere Menschen so arrangieren zu wollen, dass wir uns behaglich fühlen. Wir verwenden viel Energie auf den Versuch, die Temperatur in unserer Umgebung genau richtig zu machen, die Beleuchtung genau richtig, den Duft in unserer Wohnung genau richtig, den Geschmack unseres Essens genau richtig, unser Bett und unsere Sessel weich genug, die Farbe unserer Zimmerwände genau richtig, den Grund um unser Haus herum genau richtig und die Menschen um uns herum – unsere Kinder, unsere Partner, unsere Freunde, unsere Mitarbeiter und sogar unsere Haustiere – genau richtig.

Doch sosehr wir uns auch bemühen, die Dinge bleiben einfach nicht so, wie wir es gern hätten. Früher oder später bekommt unser Kind einen Wutanfall, brennt unser Abendessen an, fällt die Heizung aus oder werden wir krank. Sind wir in der Lage, präsent und offen zu bleiben und sogar Erfahrungen und Menschen willkommen zu heißen, die uns nicht angenehm sind, dann verlieren sie die Macht, uns zu ängstigen und die „Kampf-oder-Flucht“-Reaktion in uns auszulösen. Gelingt uns dies immer und immer wieder, dann haben wir eine erstaunliche Stärke erlangt, die in der Menschenwelt nur selten anzutreffen ist – nämlich die Fähigkeit, trotz sich ständig verändernder Bedingungen glücklich zu sein.

6. Achtsamkeit fördert unser spirituelles Leben

Die Hilfsmittel der Achtsamkeit sind eine Einladung, den vielen kleinen Aktivitäten des Lebens mit Aufmerksamkeit zu begegnen. Sie sind besonders für Menschen nützlich, die inmitten all der Ablenkungen des modernen Lebens Spiritualität kultivieren möchten. Der Zen-Meister Shunryu Suzuki Roshi sagte einmal: „Das Zen ist nichts besonders Aufregendes, sondern die Sammlung auf unsere gewöhnliche Alltagsroutine.“ Die Achtsamkeitsübung richtet unsere Aufmerksamkeit wieder auf diesen Körper, diese Zeit und diesen Ort. Und genau dort können wir mit der ewigen Präsenz, die wir das Göttliche nennen, in Berührung kommen. Wenn wir achtsam sind, dann wissen wir jeden Augenblick des einzigartigen Lebens, das uns gegeben wurde, zu schätzen. Achtsamkeit ist eine Weise, unsere Dankbarkeit für ein Geschenk, das wir niemals zurückzahlen können, zum Ausdruck zu bringen. Achtsamkeit kann zu einem fortlaufenden Gebet der Dankbarkeit werden.

Christliche Mystiker sprechen von einem „Leben unablässigen Gebets“. Was mag das bedeuten? Wie könnte so etwas möglich sein, wo wir doch ständig eilig in dem rasenden Verkehr des modernen Lebens unterwegs sind und die Kurve kratzen, ohne genug Zeit zu finden, mit unserer Familie, geschweige denn mit Gott zu sprechen?

Wahres Gebet ist kein Bitten um etwas, sondern ein Lauschen. Tiefes Lauschen. Wenn wir ganz tief lauschen, bemerken wir, dass selbst das „Geräusch“ unserer eigenen Gedanken störend, ja sogar lästig ist. Wenn wir von den Gedanken ablassen, treten wir in eine tiefere innere Stille und Empfänglichkeit ein. Ist es uns möglich, diese offene Stille in unserem Kern, ja als unseren Kern zu bewahren, dann lassen wir uns nicht mehr verwirren in dem Versuch, die unzähligen einander widersprechenden inneren Stimmen auf die Reihe zu bekommen und unter ihnen zu wählen. Unsere Aufmerksamkeit ist nicht mehr in das emotionale Dickicht in unserem Inneren verstrickt. Sie ist nach außen gerichtet. Wir suchen nach dem Göttlichen in allen Erscheinungen, hören auf das Göttliche in allen Klängen, werden in allen Berührungen vom Göttlichen gestreift. Wenn Dinge auf uns zukommen, reagieren wir angemessen und kehren dann dazu zurück, in der inneren Stille zu ruhen. Dies ist ein im Glauben gelebtes Leben, im Glauben an den Einen Geist, ein Leben des unablässigen Gebets.

Wenn wir Achtsamkeit nach und nach in unsere Routineaktivitäten einfließen lassen, dann erwachen wir zum Mysterium eines jeden Augenblicks, um das wir nicht wissen können, bis der Augenblick eintritt. Wenn die Dinge sich zeigen, sind wir bereit, sie anzunehmen und zu antworten. Wir sind empfänglich für das, was uns von Moment zu Moment von der Großen Gegenwart geschenkt wird. Es sind einfache Geschenke: die Wärme, die sich auf unsere Hände überträgt, während wir eine Schale Tee halten, Tausende von winzigen Liebkosungen durch die Kleidung auf unserer Haut, die komplexe Musik der Regentropfen und ein weiterer Atemzug. Wenn wir unsere volle Aufmerksamkeit auf die lebendige Wahrheit jedes einzelnen Augenblicks zu richten vermögen, dann durchschreiten wir das Tor zu einem Leben des unablässigen Gebets.

Missverständnisse über Achtsamkeit

Auch wenn sehr viel Reklame für Achtsamkeit gemacht wird, missverstehen die Leute sie oft. Zuerst einmal mögen sie fälschlicherweise annehmen, Achtsamkeit zu üben bedeute, angestrengt über etwas nachzudenken. Bei der Übung von Achtsamkeit benutzen wir das Denkvermögen des Geistes jedoch nur, um die Übung anzustoßen („Sei dir heute deiner Körperhaltung bewusst“) und um uns daran zu erinnern, zu der Übung zurückzukehren, wenn unser Geist während des Tages unvermeidlich abschweift („Richte deine Aufmerksamkeit wieder auf deine Körperhaltung“). Haben wir jedoch begonnen, den Anweisungen des Geistes zu folgen und die Methode anzuwenden, können wir unsere Gedanken fahren lassen. Wenn der denkende Geist sich beruhigt, dann geht er über in offenes Gewahrsein. Dann sind wir im Körper verankert, wach und präsent.

Ein zweites Missverständnis besteht darin, zu glauben, achtsam zu sein bedeute, alles ganz langsam zu machen. Es geht hier nicht um die Geschwindigkeit, mit der wir Dinge tun. Wir können eine Aufgabe langsam erledigen und trotzdem unaufmerksam sein. Tatsächlich müssen wir dann, wenn wir schneller vorgehen, oft aufmerksamer werden, um Fehler zu vermeiden. Wenn Sie einige der Achtsamkeitswerkzeuge in diesem Buch anwenden wollen, kann es sein, dass Sie langsamer werden müssen – zum Beispiel wenn Sie achtsames Essen üben. Bei anderen Übungen werden Sie aufgefordert, kurzfristig langsamer zu werden, um Geist und Körper zusammenzuführen, bevor Sie sich Ihren regulären Aktivitäten widmen – wenn Sie zum Beispiel den Geist während dreier Atemzüge ruhen lassen. Andere Aufgaben kann man in jeder beliebigen Geschwindigkeit ausführen, zum Beispiel die Übung, bei der Sie auf die Fußsohlen achten, während Sie sitzen, gehen oder laufen.

Ein drittes häufiges Missverständnis besteht darin, Achtsamkeit für ein zeitlich begrenztes Übungsprogramm zu halten, wie etwa eine 30-minütige Sitzmeditation. Achtsamkeit ist in dem Maße für uns hilfreich, wie sie sich in allen Aktivitäten unseres Lebens ausbreitet und das Licht einer höheren Bewusstheit sowie Neugier und ein Gefühl der Entdeckungsfreude in die weltlichen Aktivitäten des Lebens hineinträgt – etwa in das morgendliche Aufstehen, das Zähneputzen, das Durchschreiten einer Tür, das Annehmen eines Anrufs oder das Zuhören.

Eine Gebrauchsanweisung für dieses Buch

Dieses Buch bietet Ihnen eine Vielzahl unterschiedlicher Methoden, Achtsamkeit in Ihr tägliches Leben zu bringen. Wir nennen sie „Achtsamkeitsübungen“. Sie könnten diese auch als „Samen“ der Achtsamkeit ansehen, Samen, mit denen Sie in den vielen Furchen und Winkeln Ihres Lebens Achtsamkeit pflanzen und aufziehen, wobei Sie zusehen können, wie sie jeden Tag wachsen und Früchte tragen.

Jede Übung besteht aus mehreren Abschnitten. Zuerst einmal wird die Aufgabe beschrieben und Sie bekommen einige Anregungen, auf welche Weise Sie sich selbst daran erinnern können, diese Übung während des Tages und über eine Woche auszuführen. Es folgt ein Abschnitt, der mit „Entdeckungen“ überschrieben ist. Hierzu gehören die Beobachtungen der Übenden, Erkenntnisse oder Schwierigkeiten mit der Aufgabe sowie alle für diese Übung relevanten Forschungsergebnisse. In dem Abschnitt, den ich „Vertiefung“ genannt habe, erkunde ich die Themen und umfassenderen Lehren, die mit der Übung in Zusammenhang stehen. Jede Übung ist wie ein Fenster, das uns einen Ausblick auf das gewährt, was ein erwachtes Leben sein könnte. Und schließlich gibt es da noch einige „Schlussworte“, die die Übung zusammenfassen oder Sie dazu inspirieren, die Übungen weiter nachwirken zu lassen.

Eine mögliche Vorgehensweise wäre, jede Woche damit zu beginnen, dass Sie nur die Beschreibung der Aufgabe und die Gedächtnisstützen lesen. Blättern Sie nicht voraus, um zu sehen, wie es weitergeht! Bringen Sie die Erinnerungssätze oder -bilder an einer Stelle an, an der sie Ihnen während des Tages auffallen, sodass Sie an die Aufgabe erinnert werden. In der Wochenmitte könnten Sie dann den Abschnitt „Entdeckungen“ dieser speziellen Übung lesen, um zu sehen, welche Erfahrungen und Einsichten andere Menschen aus dieser Übung gewonnen haben. Das könnte Ihre Herangehensweise verändern. Am Ende der Woche könnten Sie den Abschnitt der „Vertiefung“ lesen, bevor Sie zu einer neuen Übung übergehen.

Vielleicht möchten Sie so vorgehen, wie wir es in unserem Kloster tun: Wir beginnen mit der ersten Achtsamkeitsübung und gehen die Übungen dann im Laufe des Jahres eine nach der anderen durch, wobei wir jede Übung eine Woche lang praktizieren. Sie könnten also jeden Montag mit einer neuen Aufgabe beginnen und sie am Sonntag abschließen, indem Sie den letzten Abschnitt lesen oder Ihre Erfahrungen in einem Tagebuch festhalten. Sie können aber auch in dem Buch herumblättern und nach einer speziellen Übung oder einem Thema suchen, das Ihren Lebensumständen in dieser Woche entspricht. Manchmal setzen wir dieselbe Achtsamkeitsübung auch für zwei oder drei Wochen fort, wenn sie uns weiterhin Einsichten beschert oder wir sie einfach besser beherrschen wollen.

Es macht Spaß, diese Übungen zusammen mit anderen zu praktizieren, wie wir das in unserem Kloster tun. Sie könnten eine Praxisgruppe für Achtsamkeit gründen, die jeweils eine Übung auswählt, die die Mitglieder eine oder zwei Wochen lang praktizieren, um sich beim nächsten Treffen über das auszutauschen, was sie gelernt haben. Bei unseren wöchentlichen Diskussionen gibt es immer viel Gelächter. Es ist wichtig, unser „Versagen“ nicht zu ernst zu nehmen. Jeder hat andere Erfahrungen, Einsichten und komische Geschichten über seine Versuche – und seine Misserfolge – mit diesen Übungen beizusteuern.